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In diesem Klassiker der Chemiegeschichte schildert Albert Hofmann die Umstände der Entdeckung des LSD. Er berichtet von seinen Begegnungen mit Wissenschaftlern, Künstlern, Schriftstellern und Exponenten der Hippiebewegung, die an LSD jeweils aus ganz unterschiedlichen Gründen interessiert waren. Und von seiner berühmten Fahrradfahrt, dem ersten LSD-Rausch überhaupt ... »Ich konnte nur noch mit größter Anstrengung verständlich sprechen und bat meine Laborantin, die über den Selbstversuch orientiert war, mich nach Hause zu begleiten. Schon auf dem Heimweg mit dem Fahrrad nahm mein Zustand bedrohliche Formen an ...«
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Seitenzahl: 259
Albert Hofmann
LSD – mein Sorgenkind
Die Entdeckung einer »Wunderdroge«
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Klett-Cotta
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Peoplemaking«
© 1979 by J.G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Unter Verwendung der Fotografie »Strings of Life«, 1999, von Wolfgang Tillmans, mit freundlicher Genehmigung von Galerie Buchholz, Köln
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Printausgabe: ISBN 978-3-608-94618-5
E-Book: ISBN 978-3-608-11513-0
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Vorwort
Vorwort zur Ausgabe von 1993, 50 Jahre nach der Entdeckung von LSD
1 Wie LSD entstand
2 LSD im Tierversuch und in der biologischen Forschung
3 Die chemischen Abwandlungen von LSD
4 Anwendung von LSD in der Psychiatrie
5 Vom Heilmittel zur Rauschdroge
6 Gefahren bei nicht-medizinischen LSD-Versuchen
7 Der Fall Dr. Leary
8 Fahrten in den Weltraum der Seele
9 Die mexikanischen Verwandten von LSD
10 Auf der Suche nach der Zauberpflanze Ska Maria Pastora
11 Einstrahlung von Ernst Jünger
12 Begegnung mit Aldous Huxley
13 Korrespondenz mit dem Dichter-Arzt Walter Vogt
14 Besucher aus aller Welt
15 LSD-Erfahrung und Wirklichkeit
Formelschema
Register
Es gibt Erlebnisse, über die zu sprechen die meisten Menschen sich scheuen, weil sie nicht in die Alltagswirklichkeit passen und sich einer verstandesmäßigen Erklärung entziehen. Damit sind nicht besondere Ereignisse in der Außenwelt gemeint, sondern Vorgänge in unserem Inneren, die meistens als bloße Einbildung abgewertet und aus der Erinnerung verdrängt werden. Das vertraute Bild der Umgebung erfährt plötzlich eine merkwürdige, beglückende oder erschreckende Verwandlung, erscheint in einem anderen Licht, bekommt eine besondere Bedeutung. Ein solches Erlebnis kann uns nur wie ein Hauch berühren oder aber sich tief einprägen.
Aus meiner Knabenzeit ist mir eine derartige Verzauberung ganz besonders lebendig in der Erinnerung geblieben. Es war an einem Maimorgen. Das Jahr weiß ich nicht mehr, aber ich kann noch auf den Schritt genau angeben, an welcher Stelle des Waldweges auf dem Martinsberg oberhalb von Baden (Schweiz) sie eintrat. Während ich durch den frisch ergrünten, von der Morgensonne durchstrahlten, von Vogelgesang erfüllten Wald dahinschlenderte, erschien auf einmal alles in einem ungewöhnlich klaren Licht. Hatte ich vorher nie recht geschaut, und sah ich jetzt plötzlich den Frühlingswald, wie er wirklich war? Er erstrahlte im Glanz einer eigenartig zu Herzen gehenden, sprechenden Schönheit, als ob er mich einbeziehen wollte in seine Herrlichkeit. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl der Zugehörigkeit und seligen Geborgenheit durchströmte mich.
Wie lange ich gebannt stehenblieb, weiß ich nicht, aber ich erinnere mich der Gedanken, die mich beschäftigten, als der verklärte Zustand langsam dahinschwand und ich weiterwanderte. Warum dauerte die beseligende Schau nicht weiter an, da sie doch eine durch unmittelbares, tiefes Erleben überzeugende Wirklichkeit offenbart hatte? Und wie konnte ich, wozu mich meine überquellende Freude drängte, jemandem von meinem Erlebnis berichten, da ich doch sogleich spürte, daß ich keine Worte für das Geschaute fand? Es schien mir seltsam, daß ich als Kind etwas so Wunderbares gesehen hatte, das die Erwachsenen offensichtlich nicht bemerkten, denn ich hatte sie nie davon reden hören.
In meiner späteren Knabenzeit hatte ich auf meinen Streifzügen durch Wald und Wiesen noch einige solche beglückende Erlebnisse. Sie waren es, die mein Weltbild in seinen Grundzügen bestimmten, indem sie mir die Gewißheit vom Dasein einer dem Alltagsblick verborgenen, unergründlichen, lebensvollen Wirklichkeit gaben.
Oft beschäftigte mich damals die Frage, ob ich vielleicht später als Erwachsener fähig sein würde, anderen diese Erfahrungen mitzuteilen, ob ich als Dichter oder Maler das Geschaute darzustellen vermöchte. Aber ich fühlte mich weder zu dem einen noch zu dem anderen berufen, und so würde ich wohl diese Erlebnisse, die mir so viel bedeuteten, für mich behalten müssen.
Auf unerwartete Weise, aber kaum zufällig, ergab sich erst in der Mitte meines Lebens ein Zusammenhang zwischen meiner beruflichen Tätigkeit und der visionären Schau meiner Knabenzeit.
Ich bin Chemiker geworden, weil ich Einblick in den Bau und das Wesen der Materie gewinnen wollte. Mit der Pflanzenwelt seit früher Kindheit eng verbunden, wählte ich als Arbeitsgebiet die Erforschung der Inhaltsstoffe von Arzneipflanzen, wozu sich in den pharmazeutisch-chemischen Laboratorien der Sandoz AG in Basel Gelegenheit bot. Dabei stieß ich auf psychoaktive, Halluzinationen erzeugende Substanzen, die unter bestimmten Bedingungen den geschilderten spontanen Erlebnissen ähnliche visionäre Zustände hervorzurufen vermögen. Die wichtigste dieser halluzinogenen Substanzen ist unter der Bezeichnung »LSD« bekannt geworden. Halluzinogene fanden als wissenschaftlich interessante Wirkstoffe Eingang in die medizinische Forschung, in die Biologie und Psychiatrie und erlangten später auch in der Drogenszene weite Verbreitung, vor allem LSD.
Beim Studium der mit diesen Arbeiten in Zusammenhang stehenden Literatur lernte ich die große, allgemeine Bedeutung der visionären Schau kennen. Sie nimmt einen wichtigen Platz ein, nicht nur in der Geschichte der Religionen und in der Mystik, sondern auch im schöpferischen Prozeß, in Kunst, Literatur und Wissenschaft. Neuere Untersuchungen haben ergeben, daß viele Menschen auch im täglichen Leben visionäre Erlebnisse haben, aber ihren Sinn und Wert meistens nicht erkennen. Mystische Erfahrungen, wie ich sie in meiner Kindheit hatte, scheinen gar nicht so selten zu sein.
Visionäres Erkennen einer tieferen, umfassenderen Wirklichkeit als der, welche unserem rationalen Alltagsbewußtsein entspricht, wird heute auf verschiedenen Wegen angestrebt, und zwar nicht nur von Anhängern östlicher religiöser Strömungen, sondern auch von Vertretern der Schulpsychiatrie, die ein solches Ganzheitserlebnis als heilendes Grundelement in ihre Therapie einbauen.
Ich teile den Glauben vieler Zeitgenossen, daß die geistige Krise in allen Lebensbereichen unserer westlichen Industriegesellschaft nur überwunden werden kann, wenn wir das materialistische Weltbild, in dem Mensch und Umwelt getrennt sind, durch das Bewußtsein einer alles bergenden Wirklichkeit ersetzen, die auch das sie erfahrende Ich einschließt und in der sich der Mensch eins weiß mit der lebendigen Natur und der ganzen Schöpfung.
Alle Mittel und Wege, die zu einer solchen grundlegenden Veränderung des Wirklichkeitserlebens beitragen können, verdienen daher ernsthafte Beachtung. Dazu gehören in erster Linie die verschiedenen Methoden der Meditation in religiösem oder weltlichem Rahmen, deren Ziel es ist, ein mystisches Ganzheitserlebnis herbeizuführen und dadurch ein solches vertieftes Wirklichkeitsbewußtsein zu erzeugen. Ein anderer wichtiger, aber noch umstrittener Weg zum gleichen Ziel ist die Nutzbarmachung der bewußtseinsverändernden halluzinogenen Psychopharmaka. So kann LSD in der Psychoanalyse und Psychotherapie als Hilfsmittel dienen, um dem Patienten seine Probleme in ihrer wirklichen Bedeutung bewußtzumachen.
Die geplante Hervorrufung mystischer Ganzheitserlebnisse, besonders durch LSD und verwandte Halluzinogene, ist im Unterschied zu spontanem visionären Erleben mit nicht zu unterschätzenden Gefahren verbunden: eben dann, wenn dem spezifischen Wirkungscharakter dieser Substanzen, ihrem Vermögen, den innersten Wesenskern des Menschen, das Bewußtsein, zu beeinflussen, nicht Rechnung getragen wird. Die bisherige Geschichte von LSD zeigt zur Genüge, was für katastrophale Folgen es haben kann, wenn seine Tiefenwirkung verkannt wird und wenn man diesen Wirkstoff mit einem Genußmittel verwechselt. Besondere innere und äußere Vorbereitungen sind notwendig, damit ein LSD-Versuch ein sinnvolles Erlebnis werden kann. Falsche und mißbräuchliche Anwendung haben LSD für mich zu einem rechten Sorgenkind werden lassen.
In diesem Buch möchte ich ein umfassendes Bild von LSD, von seiner Entstehung, seinen Wirkungen und Anwendungsmöglichkeiten geben und vor den Gefahren warnen, die mit einem Gebrauch verbunden sind, der dem außergewöhnlichen Wirkungscharakter dieser Substanz nicht Rechnung trägt. Wenn man lernen würde, die Fähigkeit von LSD, unter geeigneten Bedingungen visionäres Erleben hervorzurufen, in der medizinischen Praxis und in Verbindung mit Meditation besser zu nutzen, dann könnte dieses neuartige Psychopharmakon, glaube ich, von einem Sorgenkind zum Wunderkind werden.
Am Schluß des vor achtzehn Jahren verfaßten Vorworts wurde der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß aus dem Sorgenkind LSD ein Wunderkind werden könnte, wenn man lernen würde, seine außergewöhnlichen psychischen Wirkungen besser zu nutzen.
Doch LSD ist ein Sorgenkind geblieben.
Nachdem LSD fast ausschließlich in der Medizin und in der biologischen Forschung angewandt worden war, geriet es in den sechziger Jahren in die Drogenszene und war eine Zeitlang, vor allem in den USA, die Droge Nummer l, was Massenkonsum und die damit zusammenhängenden Probleme betrifft. Die Gesundheitsbehörden erließen daraufhin ein drakonisches Verbot, das die Verwendung von LSD und verwandten Substanzen auch in der medizinischen Praxis, in der Psychiatrie und Psychologie untersagte – dieses Verbot gilt heute noch. So kam die medizinische Anwendung zum Stillstand, aber der Gebrauch in privaten Kreisen geht weiter, mit allen Gefahren und negativen Begleitumständen eines in die Illegalität verdrängten Konsums.
Bemühungen von seiten der Psychiatrie bei den Gesundheitsbehörden, LSD für die medizinische Anwendung wieder freizugeben, sind bis jetzt erfolglos geblieben. Das ist schwer verständlich, denn die vorliegenden Erfahrungen zeigen, daß der Gebrauch im medizinischen Rahmen gefahrlos ist und daß LSD in der Psychiatrie als medikamentöses Hilfsmittel nutzbringend eingesetzt werden kann.
Das Verbot erscheint auch in einem anderen Licht fragwürdig, nachdem in gewissen mexikanischen Zauberdrogen, die seit Jahrtausenden medizinisch angewendet werden, LSD-ähnliche Wirkstoffe aufgefunden wurden. Hier liegt ein Erfahrungsschatz mit diesen Substanzen vor, den es zu berücksichtigen gilt.
Es ist kein Zufall, daß es LSD war, das diese Drogen für die chemische Untersuchung in mein Laboratorium geleitet hat. Es war die Ähnlichkeit in der psychischen Wirkung dieser Zauberpflanzen und von LSD, was die Ethnologen und Botaniker, die ihren Gebrauch bei den Indianern in den gebirgigen Regionen Südmexikos erforscht hatten, veranlaßte, die chemische Analyse dem Laboratorium, in dem LSD entdeckt worden war, zu übertragen. Die Analyse ergab das überraschende Resultat, daß die chemische Struktur der aus diesen Pflanzen isolierten Wirkstoffe der Struktur des LSD nah verwandt ist.
Daraus ergab sich der bedeutsame Befund, daß LSD chemisch und nach der Art seiner psychischen Wirkungen zur Gruppe der mexikanischen Zauberdrogen gehört.
So fand das Abenteuer der Entdeckung von LSD fünfzehn Jahre später eine überraschende Fortsetzung in der spannenden Erforschung alter Zauberdrogen, deren Schilderung einen großen Teil des vorliegenden Buches ausmacht.
1
Dans les champs de l’observation
le hasard ne favorise que les esprits préparés.
Louis Pasteur
Immer wieder wird gesagt und geschrieben, LSD sei eine Zufallsentdeckung. Das ist nur teilweise richtig, denn es wurde im Rahmen einer planmäßigen Forschung hergestellt, und erst später kam der Zufall ins Spiel: Als LSD schon fünf Jahre alt war, erfuhr ich seine unerwarteten Wirkungen am eigenen Leib – richtiger gesagt, am eigenen Geist.
Wenn ich in Gedanken Rückschau auf meine berufliche Laufbahn halte, um all die richtunggebenden Entscheidungen und Ereignisse zu ermitteln, die schließlich meine Tätigkeit in jenes Forschungsgebiet leiteten, in dem ich LSD synthetisierte, dann führt das zurück bis zur Wahl des Arbeitsplatzes nach dem Abschluß meines Chemiestudiums: Hätte ich mich an irgendeiner Stelle anders entschieden, dann wäre jene Wirksubstanz, die unter der Bezeichnung »LSD« weltbekannt geworden ist, sehr wahrscheinlich im Unerschaffenen geblieben. Ich muß daher, wenn ich die Entstehungsgeschichte von LSD erzählen will, auch meine Laufbahn als Chemiker, mit der sie unlösbar verknüpft ist, kurz schildern.
Ich trat im Frühjahr 1929 nach Abschluß des Chemiestudiums an der Universität Zürich in das pharmazeutischchemische Forschungslaboratorium der Firma Sandoz in Basel ein als Mitarbeiter von Professor Dr. Arthur Stoll, dem Gründer und Leiter der pharmazeutischen Abteilung. Ich wählte diesen Arbeitsplatz, weil sich mir hier die Gelegenheit bot, über Naturstoffe zu arbeiten. Stellenangebote von zwei anderen Unternehmen der Basler chemischen Industrie lehnte ich ab, weil ich dort auf dem Gebiet der synthetischen Chemie hätte tätig sein müssen.
Meine Vorliebe für die Chemie der Tier- und Pflanzenwelt hatte schon das Thema meiner Doktorarbeit bei Professor Paul Karrer bestimmt. Mit Hilfe des Magendarmsaftes der Weinbergschnecke war mir erstmals der enzymatische Abbau des Chitins gelungen, der Gerüstsubstanz, aus der die Panzer, Flügel und Scheren der Insekten, der Krebse und anderer niederer Tiere aufgebaut sind. Aus dem beim Abbau erhaltenen Spaltprodukt, einem stickstoffhaltigen Zucker, konnte die chemische Struktur von Chitin abgeleitet werden, die derjenigen der pflanzlichen Gerüstsubstanz Cellulose analog ist. Dieses wichtige Ergebnis der nur drei Monate dauernden Untersuchung führte zu einer »mit Auszeichnung« bewerteten Doktorarbeit.
Bei meinem Eintritt in die Firma Sandoz war der Personalbestand der pharmazeutisch-chemischen Abteilung noch recht bescheiden. In der Forschung arbeiteten vier, in der Produktion drei Chemiker mit Akademikergrad.
Im Stollschen Laboratorium fand ich eine Tätigkeit, die mir als Forschungschemiker sehr zusagte. Professor Stoll setzte sich zum Ziel, mit schonenden Methoden die unversehrten wirksamen Prinzipien aus bewährten Arzneipflanzen zu isolieren und in reiner Form darzustellen. Das ist besonders sinnvoll bei Arzneipflanzen, deren Wirkstoffe leicht zersetzlich sind und deren Wirkstoffgehalt großen Schwankungen unterworfen ist, was einer exakten Dosierung entgegensteht. Liegt aber der Wirkstoff in reiner Form vor, dann ist die Voraussetzung für die Herstellung eines stabilen, mit der Waage genau dosierbaren pharmazeutischen Präparates gegeben. Aus solchen Überlegungen hatte Stoll altbekannte, wertvolle pflanzliche Drogen wie den Fingerhut (Digitalis), die Meerzwiebel (Scilla maritima) und das Mutterkorn (Secale cornutum), die aber wegen ihrer Zersetzlichkeit und unsicheren Dosierung bis dahin nur beschränkte medizinische Anwendung gefunden hatten, in Bearbeitung genommen.
Die ersten Jahre meiner Tätigkeit im Sandoz-Laboratorium waren fast ausschließlich Untersuchungen über die Wirkstoffe der Meerzwiebel gewidmet. Dr. Walter Kreis, einer der ersten Mitarbeiter von Professor Stoll, führte mich in das Arbeitsgebiet ein. Die wichtigsten aktiven Bestandteile der Meerzwiebel lagen bereits in reiner Form vor. Ihre Isolierung ebenso wie die Reindarstellung der Inhaltsstoffe des wolligen Fingerhutes (Digitalis lanata) hatte hauptsächlich Dr. Kreis mit außerordentlichem experimentellen Geschick durchgeführt.
Die Wirkstoffe der Meerzwiebel gehören zur Gruppe der herzaktiven Glykoside (zuckerhaltige Substanzen) und dienen wie die des Fingerhutes zur Behandlung von Herzmuskelschwäche. Die Herzglykoside sind hochaktive Substanzen. Ihre therapeutische (heilsame) und ihre toxische (giftige, zu Herzstillstand führende) Dosis liegen nahe beieinander, so daß hier eine genaue Dosierung mit Hilfe der Reinsubstanzen besonders wichtig ist.
Zu Beginn meiner Untersuchungen hatte Sandoz bereits ein pharmazeutisches Präparat mit Scilla-Glykosiden in die Therapie eingeführt, doch war die chemische Struktur dieser Wirksubstanzen mit Ausnahme des Zuckerteiles noch völlig unbekannt.
Mein Hauptbeitrag an der Scilla-Forschung bestand in der Aufklärung des chemischen Aufbaus des Grundkörpers der Scilla-Glykoside, aus dem einerseits der Unterschied gegenüber den Digitalis-Glykosiden, andererseits die nahe strukturelle Verwandtschaft mit den Giftstoffen der Hautdrüsen von Kröten hervorging. Diese Arbeiten fanden 1935 einen vorläufigen Abschluß.
Auf der Suche nach einem neuen Arbeitsgebiet bat ich Professor Stoll um die Erlaubnis, Untersuchungen über die Alkaloide des Mutterkorns wiederaufzunehmen, die er 1917 begonnen hatte und die bereits 1918 zur Isolierung von Ergotamin führten. Das von Stoll entdeckte Ergotamin war das erste in chemisch reiner Form aus dem Mutterkorn gewonnene Alkaloid. Obwohl Ergotamin schon bald als blutstillendes Mittel in der Geburtshilfe und als Medikament zur Behandlung von Migräne einen bedeutenden Platz im Arzneimittelschatz einnahm, war die chemische Mutterkornforschung in den Sandoz-Laboratorien nach der Reindarstellung von Ergotamin und der Ermittlung seiner chemischen Summenformel stehengeblieben. Inzwischen hatte man aber Anfang der dreißiger Jahre in englischen und amerikanischen Laboratorien mit der Ermittlung der chemischen Struktur von Mutterkornalkaloiden begonnen. Nun war dort zudem ein neues, wasserlösliches Mutterkornalkaloid entdeckt worden, das auch aus den Mutterlaugen der Ergotamin-Fabrikation isoliert werden konnte. Es schien mir daher an der Zeit, die chemische Bearbeitung der Mutterkornalkaloide wiederaufzunehmen, wenn Sandoz nicht Gefahr laufen wollte, den führenden Platz auf dem damals schon wichtigen Arzneimittelsektor zu verlieren.
Professor Stoll war mit meinem Anliegen einverstanden, bemerkte aber: »Ich warne Sie vor den Schwierigkeiten, denen Sie beim Arbeiten mit Mutterkornalkaloiden begegnen werden. Es sind äußerst empfindliche, leicht zersetzliche Substanzen, bezüglich Stabilität ganz verschieden von den Verbindungen, mit denen Sie auf dem Herzglykosid-Gebiet gearbeitet haben. Aber wenn Sie wollen, versuchen Sie es halt einmal.«
Damit waren die Weichen gestellt, das Hauptthema meiner beruflichen Laufbahn festgelegt. Ich erinnere mich noch deutlich des Gefühls der Erwartung von Schöpferglück, das ich im Hinblick auf die geplanten Untersuchungen auf dem damals noch wenig erschlossenen Gebiet der Mutterkornalkaloide empfand.
Hier sind rückblendend einige Angaben über das Mutterkorn am Platz.1 Mutterkorn wird durch einen niederen Pilz (Claviceps purpurea) erzeugt, der vor allem auf Roggen, aber auch auf anderen Getreidearten und auch auf Wildgräsern wuchert. Die von diesem Pilz befallenen Körner entwickeln sich zu hellbraunen bis violettbraunen gebogenen Zapfen (Sklerotien), die sich anstelle eines normalen Kornes aus den Spelzen hervordrängen. Botanisch stellt Mutterkorn ein Dauermycel, die Überwinterungsform des Mutterkornpilzes, dar. Offiziell, das heißt für Heilzwecke, wird das Mutterkorn des Roggens (Secale cornutum) verwendet.
Kaum eine andere Droge hat eine so faszinierende Geschichte wie das Mutterkorn. In ihrem Verlauf hat sich seine Rolle und Bedeutung umgekehrt: Zuerst als Giftträger gefürchtet, wandelte es sich im Laufe der Zeit in eine reiche Fundgrube von wertvollen Heilmitteln.
Erstmals tritt das Mutterkorn im frühen Mittelalter als Ursache epidemieartig auftretender Massenvergiftungen ins Blickfeld der Geschichte, denen jeweils Tausende von Menschen zum Opfer fielen. Die Krankheit, deren Zusammenhang mit dem Mutterkorn lange nicht erkannt wurde, trat in zwei charakteristischen Formen auf, als Brandseuche (Ergotismus gangraenosus) und als Krampfseuche (Ergotismus convulsivus). Auf die gangränöse Form des Ergotismus bezogen sich Krankheitsbezeichnungen wie »mal des ardents«, »ignis sacer«, heiliges Feuer. Der Schutzheilige der Mutterkornkranken war der heilige Antonius (siehe Abbildung Seite 135), und es war der Orden der Antoniter, der sich vor allem ihrer Pflege annahm. In den meisten europäischen Ländern und auch in gewissen Gebieten Rußlands war bis in die Neuzeit das epidemieartige Auftreten von Mutterkornvergiftungen zu verzeichnen. Mit der Verbesserung des Ackerbaus und nachdem man im 17. Jahrhundert erkannt hatte, daß mutterkornhaltiges Brot die Ursache des Ergotismus war, nahm die Häufigkeit und das Ausmaß von Mutterkornepidemien immer mehr ab. Die letzte größere Epidemie suchte in den Jahren 1926/27 gewisse Gebiete Südrußlands heim.2
Die erste Erwähnung einer medizinischen Anwendung von Mutterkorn, nämlich als Wehenmittel, findet sich im Kräuterbuch des Frankfurter Stadtarztes Adam Lonitzer, Lonicerus, aus dem Jahre 1582. Obwohl Mutterkorn, wie aus dieser Stelle hervorgeht, von jeher von Hebammen als Wehenmittel benutzt worden war, hat diese Droge erst 1908 aufgrund einer Arbeit des amerikanischen Arztes John Stearns, betitelt ›Account of the pulvis parturiens, a Remedy for Quickening Child-birth‹, Eingang in die Schulmedizin gefunden. Die Anwendung von Mutterkorn als Wehenmittel bewährte sich jedoch nicht. Die große Gefahr für das Kind, die vor allem in der unzuverlässigen und zu hohen Dosierung lag, was zum Gebärmutterkrampf führte, wurde schon früh erkannt. Von da an beschränkte sich die Anwendung von Mutterkorn in der Geburtshilfe auf das Stillen der Nachgeburtsblutungen.
Nach der Aufnahme des Mutterkorns in verschiedene Arzneibücher in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzten auch die ersten chemischen Arbeiten zur Isolierung der Wirkstoffe dieser Droge ein. Den zahlreichen Bearbeitern, die sich in den ersten hundert Jahren der Forschung mit diesem Problem befaßten, gelang es aber nicht, die eigentlichen Träger der therapeutischen Wirkung zu identifizieren. Erst die Engländer G. Barger und F.H. Carr isolierten 1907 ein wirksames, aber, wie ich fünfunddreißig Jahre später zeigen konnte, nicht einheitliches Alkaloidpräparat, das sie »Ergotoxin« nannten, weil es mehr die toxischen als die therapeutischen Wirkungen des Mutterkorns aufwies. Immerhin entdeckte der Pharmakologe H.H. Dale bereits bei Ergotoxin – neben dem gebärmutterkontrahierenden Effekt – die für die therapeutische Anwendung gewisser Mutterkornalkaloide wichtige, zu Adrenalin antagonistische Wirkung auf das vegetative Nervensystem. Erst mit der schon erwähnten Isolierung von Ergotamin durch A. Stoll fand ein Mutterkornalkaloid Eingang in die Heilkunde und weitverbreitete Anwendung.
Anfang der dreißiger Jahre begann eine neue Phase der Mutterkornforschung, da, wie schon erwähnt, englische und amerikanische Laboratorien anfingen, die chemische Struktur von Mutterkornalkaloiden zu ermitteln.W. A. Jacobs und L.C. Craig vom Rockefeller Institute in New York gelang es durch chemische Spaltung, den allen Mutterkornalkaloiden gemeinsamen Grundbaustein zu isolieren und zu charakterisieren. Sie nannten ihn »Lysergsäure« (lysergic acid). Einen wichtigen Fortschritt sowohl in chemischer als auch in medizinischer Hinsicht brachte später die Isolierung des spezifisch auf die Gebärmutter wirksamen, blutstillenden Prinzips des Mutterkorns, die gleichzeitig von vier voneinander unabhängigen Instituten, darunter vom Sandoz-Laboratorium, publiziert wurde. Es handelte sich um ein verhältnismäßig einfach gebautes Alkaloid, das von A. Stoll und E. Burckhardt die Bezeichnung »Ergobasin« (syn. Ergometrin, Ergonovin) erhielt. Beim chemischen Abbau des Ergobasins erhielten W.A. Jacobs und L.C. Craig als Spaltprodukte Lysergsäure und den Aminoalkohol Propanolamin.
Die erste Aufgabe, die ich mir in meinem neuen Arbeitsgebiet stellte, war die synthetische Herstellung dieses Alkaloids durch chemische Verknüpfung der beiden Bausteine von Ergobasin, also Lysergsäure, und Propanolamin (vgl. Formelschema S.219).
Die für diese Versuche benötigte Lysergsäure mußte durch chemische Spaltung irgendeines anderen Mutterkornalkaloids gewonnen werden. Da als reines Alkaloid einzig Ergotamin zur Verfügung stand, das in der pharmazeutischen Produktionsabteilung damals bereits in Kilogramm-Mengen hergestellt wurde, wollte ich es als Ausgangsmittel für meine Versuche verwenden. Als ich aus der Mutterkornproduktion 0,5g Ergotamin beziehen wollte und der interne Bestellschein Professor Stoll zur Gegenzeichnung vorgelegt wurde, erschien er persönlich im Laboratorium. Aufgebracht rügte er mich: »Wenn Sie mit Mutterkornalkaloiden arbeiten wollen, dann müssen Sie sich mit den Methoden der Mikrochemie vertraut machen. Es geht nicht an, daß Sie eine so große Menge meines kostbaren Ergotamins für Ihre Versuche verbrauchen.« (»Mikrochemie« nennt man die chemische Untersuchung mit sehr kleinen Substanzmengen.)
In der Mutterkorn-Produktionsabteilung wurde neben Mutterkorn schweizerischer Herkunft, aus dem Ergotamin gewonnen wurde, auch portugiesisches Mutterkorn extrahiert, aus dem ein amorphes Alkaloidpräparat anfiel, das dem schon erwähnten von Barger und Carr erstmals hergestellten Ergotoxin entsprach. Dieses weniger wertvolle Ausgangsmaterial verwendete ich nun für die Gewinnung von Lysergsäure. Allerdings mußte das aus der Fabrikation bezogene Alkaloid noch weiter gereinigt werden, bevor es sich für die Spaltung in Lysergsäure eignete. Bei diesen Reinigungsprozessen machte ich Beobachtungen, die darauf hindeuteten, daß Ergotoxin kein einheitliches Alkaloid, sondern ein Gemisch von mehreren Alkaloiden sein könnte. Auf die weitreichenden Folgen dieser Beobachtungen komme ich später noch zu sprechen.
Hier scheinen mir einige Bemerkungen über die damaligen Arbeitsbedingungen und Arbeitsmethoden angezeigt. Sie dürften für die heutige Generation von Forschungschemikern in der Industrie, die andere Verhältnisse gewohnt ist, von Interesse sein.
Man war sehr sparsam. Einzellaboratorien galten als nicht vertretbarer Luxus. Während der ersten sechs Jahre meiner Tätigkeit bei Sandoz teilte ich das Laboratorium mit zwei Kollegen. Wir, drei Akademiker mit je einem Laborgehilfen, arbeiteten im gleichen Raum auf drei verschiedenen Gebieten: Dr. Kreis über Herzglykoside, Dr. Wiedemann, der bald nach mir bei Sandoz eingetreten war, über den Blattfarbstoff Chlorophyll und ich schließlich über Mutterkornalkaloide. Das Laboratorium war mit zwei »Kapellen« (mit Abzügen versehene Abteile) ausgestattet, deren Lüftung durch Gasflammen recht wenig wirksam war. Als wir den Wunsch äußerten, diese durch Ventilatoren zu ersetzen, wurde das vom Chef abgelehnt mit der Begründung, im Willstätterschen Laboratorium habe diese Art von Ventilation auch genügt.
Professor Stoll war während der letzten Jahre des Ersten Weltkrieges in Berlin und München Assistent bei dem weltberühmten Chemiker und Nobelpreisträger Professor Richard Willstätter gewesen und hatte mit ihm die grundlegenden Untersuchungen über Chlorophyll und die Assimilation der Kohlensäure durchgeführt. Es gab kaum eine wissenschaftliche Diskussion mit Professor Stoll, bei der er nicht auf seinen verehrten Lehrer Willstätter und seine Tätigkeit in dessen Laboratorium zu sprechen kam.
Albert Hofmann im Labor
Die Arbeitsmethoden, die damals, Anfang der dreißiger Jahre, dem Chemiker auf dem Gebiet der organischen Chemie zur Verfügung standen, waren im wesentlichen noch die gleichen, die schon Justus von Liebig hundert Jahre früher angewandt hatte. Der wichtigste seither erzielte Fortschritt war die Einführung der Mikroanalyse durch B. Pregl, die es ermöglicht, die elementare Zusammensetzung einer Verbindung schon mit einigen Milligramm Substanz zu ermitteln, während vorher einige Zehntelgramm dazu benötigt wurden. Alle die anderen physikalisch-chemischen Methoden, die dem Chemiker heute zur Verfügung stehen und die seine Arbeitsweise gewandelt, schneller und wirkungsvoller gemacht und ganz neue Möglichkeiten vor allem der Strukturaufklärung geschaffen haben, existierten damals noch nicht.
Für die Untersuchungen über Scilla-Glykoside und die ersten Arbeiten auf dem Gebiet des Mutterkorns wandte ich noch die alten Trennungs- und Reinigungsmethoden aus Liebigs Zeiten an: fraktionierte Extraktion, fraktionierte Fällung, fraktionierte Kristallisation usw. Die Einführung der Säulenchromatographie, der erste wichtige Schritt in die moderne Labortechnik, war mir dann bei späteren Untersuchungen von großem Nutzen. Für Strukturbestimmungen, die heute mittels spektroskopischer Methoden und mittels Röntgenstrukturanalyse schnell und elegant durchgeführt werden können, standen in den ersten, grundlegenden Mutterkornarbeiten nur die alten, mühsamen Methoden des chemischen Abbaus und der chemischen Abwandlung zur Verfügung.
Lysergsäure erwies sich als eine leicht zersetzliche Substanz, und ihre Verknüpfung mit basischen Resten bereitete Schwierigkeiten. In der als »Curtiussche Synthese« bekannten Methode fand ich schließlich ein Verfahren, das die Lysergsäure mit basischen Resten zu verbinden gestattete.
Mit dieser Methode stellte ich eine große Zahl von Lysergsäure-Verbindungen her. Bei der Verknüpfung von Lysergsäure mit dem Aminoalkohol Propanolamin entstand eine Verbindung, die mit dem natürlichen Mutterkornalkaloid Ergobasin identisch war. Damit war die erste Partialsynthese eines Mutterkornalkaloids geglückt. (Partialsynthese heißt künstliche Herstellung, bei der ein natürlicher Baustein, in diesem Fall Lysergsäure, mitbenutzt wird.) Sie war nicht nur von wissenschaftlichem Interesse als Bestätigung des chemischen Aufbaus von Ergobasin, sondern auch von praktischer Bedeutung, denn der spezifisch gebärmutterkontrahierende, blutstillende Faktor Ergobasin ist im Mutterkorn nur in sehr geringer Menge vorhanden. Mit dieser Partialsynthese wurde es nun möglich, die anderen im Mutterkorn reichlich vorhandenen Alkaloide in das für die Geburtshilfe wertvolle Ergobasin umzuwandeln.
Nach diesem ersten Erfolg auf dem Mutterkorngebiet liefen meine Untersuchungen in zwei Richtungen weiter. Erstens versuchte ich, die pharmakologischen Eigenschaften von Ergobasin durch Änderungen an seinem Aminalkohol-Teil zu verbessern. Zusammen mit meinem Kollegen Dr. J. Peyer wurde ein Verfahren zur rationellen Herstellung von Propanolamin und anderen Aminoalkoholen entwickelt. Tatsächlich lieferte der Ersatz des im Ergobasin enthaltenen Propanolamins durch den Aminoalkohol Butanolamin einen Wirkstoff, der das natürliche Alkaloid in seinen therapeutischen Eigenschaften noch übertraf. Dieses verbesserte Ergobasin hat unter dem Markenzeichen »Methergin« als zuverlässiges gebärmutterkontrahierendes und blutstillendes Mittel weltweite Anwendung gefunden und ist heute das führende Medikament für diese Indikation in der Geburtshilfe.
Ferner setzte ich meine Synthesemethode ein, um neue Lysergsäure-Verbindungen herzustellen, bei denen nicht die Wirkung auf die Gebärmutter im Vordergrund stand, von denen aber aufgrund ihrer chemischen Struktur andersartige interessante pharmakologische Eigenschaften erwartet werden konnten. Die 25. Substanz in der Reihe dieser synthetischen Lysergsäure-Abkömmlinge, das Lysergsäure-diäthylamid, für den Laboratoriumsgebrauch abgekürzt LSD-25, habe ich 1938 erstmals hergestellt. Ich hatte die Synthese dieser Verbindung mit der Absicht geplant, ein Kreislauf- und Atmungsstimulans (Analeptikum) zu gewinnen. Vom Lysergsäure-diäthylamid konnten die Eigenschaften eines solchen Anregungsmittels erwartet werden, weil es im chemischen Aufbau Ähnlichkeit mit dem damals schon bekannten Analeptikum Nicotinsäure-diäthylamid (»Coramin«) aufweist (vgl. Formelschema S.219). Bei der Prüfung von LSD-25 in der pharmakologischen Abteilung von Sandoz, deren Leiter damals Professor Ernst Rothlin war, wurde eine starke Wirkung auf die Gebärmutter festgestellt. Sie betrug etwa siebzig Prozent der Aktivität von Ergobasin. Im übrigen war im Untersuchungsbericht vermerkt, daß die Versuchstiere in der Narkose unruhig wurden. Die neue Substanz erweckte aber bei unseren Pharmakologen und Medizinern kein besonderes Interesse; weitere Prüfungen wurden deshalb unterlassen.
Die nächsten fünf Jahre blieb es still um die Substanz LSD-25. Inzwischen gingen meine Arbeiten auf dem Mutterkorngebiet in anderer Richtung weiter. Bei der Reinigung von Ergotoxin, dem Ausgangsmaterial für Lysergsäure, gewann ich, wie schon erwähnt, den Eindruck, dieses Alkaloidpräparat könne nicht einheitlich, sondern müsse eine Mischung verschiedener Substanzen sein. Die Zweifel an der Einheitlichkeit von Ergotoxin verstärkten sich, als bei seiner Hydrierung zwei deutlich verschiedene Hydrierungsprodukte entstanden, während das einheitliche Alkaloid Ergotamin unter den gleichen Bedingungen nur ein einziges Hydrierungsprodukt lieferte. Ausgedehnte systematische Versuche zur Zerlegung des vermuteten Ergotoxin-Gemisches führten schließlich zum Ziel, indem es mir gelang, dieses Alkaloidpräparat in drei einheitliche Komponenten aufzuteilen. Das eine der drei chemisch einheitlichen Ergotoxin-Alkaloide erwies sich als identisch mit einem kurz vorher in der Produktionsabteilung isolierten Alkaloid, das A. Stoll und E. Burckhardt als »Ergocristin« bezeichnet hatten. Die beiden anderen Alkaloide waren neu. Das eine nannte ich »Ergocornin«, und dem anderen, zuletzt isolierten, das lange in den Mutterlaugen verborgen geblieben war, gab ich die Bezeichnung »Ergokryptin« (»kryptos« bedeutet verborgen). Später wurde festgestellt, daß Ergokryptin in zwei strukturisomeren Formen vorkommt, die als α- und β-Ergokryptin unterschieden werden.
Die Lösung des Ergotoxin-Problems war nicht nur von wissenschaftlichem Interesse, sondern hatte auch praktische Auswirkungen. Es ging daraus ein wertvolles Heilmittel hervor. Die drei hydrierten Ergotoxin-Alkaloide, Dihydro-ergocristin, Dihydro-ergokryptin und Dihydroergocornin, die ich im Laufe dieser Untersuchung herstellte, zeigten bei der Prüfung in der pharmakologischen Abteilung von Professor Rothlin medizinisch interessante Eigenschaften. Aus diesen drei Wirkstoffen wurde das pharmazeutische Präparat »Hydergin« entwickelt, ein Medikament zur Förderung der peripheren und zerebralen Durchblutung und zur Verbesserung der Hirnfunktionen bei der Bekämpfung von Altersbeschwerden. Hydergin hat sich in der Geriatrie als ein für diese Indikation wirksames Heilmittel bewährt. Es steht heute (1979) umsatzmäßig an der Spitze der Sandoz-Pharmaprodukte.
Auch Dihydro-ergotamin, das ich ebenfalls im Rahmen dieser Untersuchungen herstellte, hat unter der Markenbezeichnung »Dihydergot« als kreislauf- und blutdruckstabilisierendes Medikament Eingang in den Arzneimittelschatz gefunden.
Während heute Forschung an wichtigen Projekten fast ausschließlich als Gruppenarbeit, als Teamwork, betrieben wird, habe ich diese Untersuchungen über Mutterkornalkaloide noch im Alleingang durchgeführt. Auch die weiteren chemischen Stufen in der Entwicklung bis zum Verkaufspräparat, das heißt die Herstellung größerer Substanzmengen für die klinischen Prüfungen und schließlich die Ausarbeitung der ersten Verfahren für die Großproduktion der Wirkstoffe von »Methergin«, »Hydergin« und »Dihydergot«, blieben in meinen Händen. Das galt ebenso für die analytische Kontrolle bei der Entwicklung der ersten galenischen Formen für diese drei Präparate, der Ampullen, Tropflösungen und Tabletten. Ein Laborant, ein Laborgehilfe und später zusätzlich eine Laborantin und ein Chemietechniker waren meine damaligen Hilfskräfte.
Alle hier nur kurz geschilderten, aber ergebnisreichen Arbeiten, die sich aus der Lösung des Ergotoxin-Problems heraus entwickelten, ließen jedoch die Substanz LSD-25 nicht völlig in Vergessenheit geraten. Eine merkwürdige Ahnung, dieser Stoff könnte noch andere als nur die bei der ersten Untersuchung festgestellten Wirkungsqualitäten besitzen, veranlaßte mich, fünf Jahre nach der ersten Synthese LSD-25 nochmals herzustellen, um es erneut für eine erweiterte Prüfung in die pharmakologische Abteilung zu geben. Das war insofern ungewöhnlich, als Prüfsubstanzen, wenn sie von pharmakologischer Seite als uninteressant befunden worden waren, in der Regel endgültig aus dem Forschungsprogramm gestrichen wurden.
Im Frühjahr 1943 wiederholte ich also die Synthese von LSD-25. Es handelte sich – wie schon bei der ersten Herstellung – nur um eine Gewinnung von einigen Zehntelgramm dieser Verbindung.
In der Schlußphase der Synthese, bei der Reinigung und Kristallisation des Lysergsäure-diäthylamids in Form des Tartrates (weinsaures Salz), wurde ich in meiner Arbeit durch ungewöhnliche Empfindungen gestört. Ich entnehme die Schilderung dieses Zwischenfalls dem Bericht, den ich damals an Professor Stoll sandte:
»Vergangenen Freitag, 16. April 1943, mußte ich mitten am Nachmittag meine Arbeit im Laboratorium unterbrechen und mich nach Hause begeben, da ich von einer merkwürdigen Unruhe, verbunden mit einem leichten Schwindelgefühl, befallen wurde. Zu Hause legte ich mich nieder und versank in einen nicht unangenehmen rauschartigen Zustand, der sich durch eine äußerst angeregte Phantasie kennzeichnete. Im Dämmerzustand bei geschlossenen Augen – das Tageslicht empfand ich als unangenehm grell – drangen ununterbrochen phantastische Bilder von außerordentlicher Plastizität und mit intensivem, kaleidoskopartigem Farbenspiel auf mich ein. Nach etwa zwei Stunden verflüchtigte sich dieser Zustand.«