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Von der Vollbeschäftigung in die Krise – und wieder heraus Seit 45 Jahren nehmen in Europa Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigung zu. Der Sozialstaat wurde geschwächt, Millionen Menschen leben in Armut. Immer mehr erhoffen sich soziale Wärme in der nationalen Volksgemeinschaft oder flüchten sich in populistische Weltbilder. Doch was löste die Finanzkrise aus und weshalb wird sie durch neoliberale Empfehlungen nur noch verschärft? Wie prägt eine Ideologie, nach der nur die Konkurrenz das ökonomisch Beste ermöglicht, unser Zusammenleben? Welche Alternativen gibt es? Verständlich und detailliert erklärt Stephan Schulmeister in Der Weg zur Prosperität die vorherrschende neoliberale Wirtschaftstheorie und benennt die Ursachen für den beständigen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Niedergang Europas. - Was können wir aus der unterschiedlichen Beurteilung der Krise in Griechenland lernen? - Wie unterscheiden sich Keynesianismus und Neoliberalismus in ihrem Blick auf Wirtschaft, Märkte und Menschen? - Wie konnte der europäische Wohlstand gelingen und was gefährdet ihn heute? - Auf Basis welcher Theorien entstand die Eurozone? Ist sie stabil? - Wie radikal haben neoliberale Grundwerte unser politisches und gesellschaftliches Leben verändert? Warum wir den Finanzkapitalismus überwinden müssen Stephan Schulmeister, einer der bekanntesten Ökonomen Österreichs, erklärt in seinem Buch den »marktreligiösen« Charakter der neoliberalen Theorien. Er kritisiert den Neoliberalismus als Ideologie im Interesse des Finanzkapitals. In dieser Form des Kapitalismus werden keine realen Werte produziert, sondern nur noch versucht, Geldwerte zu vermehren. Die Realwirtschaft benötigte noch gutverdienende Menschen, die die Produkte kaufen können. In der neoliberalistischen Weltordnung erscheint der Arbeiter nur noch als Kostenfaktor, den es zu senken gilt. Dies führt zu einem Teufelskreis aus zunehmender Arbeitslosigkeit, Staatsschulden und Sozialabbau. Doch »Am Ende einer Sackgasse muss man neue Wege suchen.« Der Ökonom Stephan Schulmeister rechnet nicht nur mit dem Neoliberalismus ab – er hat die Navigationskarte für den Weg aus der Finanzkrise entworfen!
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STEPHAN SCHULMEISTER
Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger
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1. Auflage
© 2018 Ecowin Verlag bei Benevento Publishing, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Gesetzt aus der Minion Pro, Helvetica Neue, BaseTwelve
Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:
Red Bull Media House GmbH
Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15
5071 Wals bei Salzburg, Österreich
Statistik: Eva Sokoll
Grafik: Studio 2000, Wolfgang Fuehrer
Lektorat: Bernd Klöckener
Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT
Umschlaggestaltung: b3K design, Andrea Schneider, diceindustries
ISBN 978-3-7110-0148-1
eISBN 978-3-7110-5215-5
Den Neoliberalen in allen Parteien,in den Medien und in der Wissenschaft.
1.Einleitung
Teil ITheorieproduktion als sozialer Prozess
2.Der Markt als höheres Wesen:Idealistische versus realistische Wirtschaftstheorien
3.Exkursion mit Ludwik Fleck:Wissenschaftliche Weltbilder als »Harmonie der Täuschungen«
4.Die »unsichtbare Hand«:Markt als Subjekt, Mensch als Objekt und der missbrauchte Adam Smith
Teil IIVon der Depression zur Prosperität und zurück
5.Lernen aus der Weltwirtschaftskrise:Keynesianismus als Fundament von sozialer Marktwirtschaft und Prosperität
6.Restauration der »Marktreligiosität«:Gegen-Aufklärung bereitet den Boden für den Wechsel der »Spielanordnung«
7.Ent-Fesselung der Finanzmärkte und Selbst-Entmündigung der Politik:Der lange Weg in die große Krise
Teil IIIEin neuer theoretischer Rahmen
8.Realkapitalismus und Finanzkapitalismus:Zwei »Spielanordnungen« wechseln sich ab
9.»Lassen wir unser Geld arbeiten«:Finanzspekulation und ihre Folgen
10.Zwillingsprobleme:Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung
Teil IVEuropa in der Sackgasse
11.Therapie als Teil der Krankheit:Südeuropa in der Depression
12.Vor der Finanzkrise:Südeuropa expandiert, Deutschland stagniert
13.Austeritätspolitik:Zwanzig Jahre nach den USA setzt sich auch Deutschland ab
14.Der Euro:Das Richtige im Falschen
Teil VEine verheerende Gesamtbilanz
15.Vertrauensverlust und Zukunftsangst:Die herrschende »Spielanordnung« demoliert das Europäische Sozialmodell
16.Eigennutz, Leistungsstärke und Konkurrenz:Wie neoliberale Grundwerte unser Leben verändern
17.Neoliberalismus als Theorie und Politik:Ein unfassbar falsches Ganzes
Teil VINavigation aus der Krise
18.Überwindung des Finanzkapitalismus:Es braucht menschengerechte Theorien
19.Erneuerung des Europäischen Sozialmodells:Konkrete Vorschläge
20.Die Rolle von Ökonomen:Von der »Marktreligiosität« zurück zu Aufklärung und Anteilnahme
Anmerkungen
Literatur- und Quellenverzeichnis
Danksagung
Register
Was ist los mit Europa? 20 Millionen Menschen sind arbeitslos, 100 Millionen müssen sich mit »atypischen« Jobs zufriedengeben, die Staatsverschuldung steigt seit vierzig Jahren, »wir« können uns den Sozialstaat nicht mehr leisten. Eigenverantwortung reicht aber auch nicht: Junge Menschen können schwer selbstständig werden, weder Jobs noch Wohnraum sind leicht zu finden. Einkommen und Vermögen einer kleinen Oberschicht wachsen weiter, während Armut unübersehbar geworden ist. Gleichzeitig nehmen nationalistische Spannungen zu, es drohen Handelskriege, die Nervosität auf den Finanzmärkten steigt.
Wachsende Ungleichheit nährt Verbitterung, Wut und Angst – auch unter den Noch-nicht-Deklassierten. Rechtspopulistische Politiker »arbeiten« mit diesen Gefühlen und lenken sie gegen Schuldige: die Globalisierung, die Europäische Union, das Establishment oben und die Muslime, die Flüchtlinge oder die Fremden unten. Und sie versprechen Sicherheit, soziale Wärme und Übersichtlichkeit in den nationalen Volksgemeinschaften – Erfüllung der Sehnsüchte von immer mehr Menschen.
Der Aufstieg der rechten Verführer beschleunigt das Auseinanderdriften Europas. Der EU-Austritt Großbritanniens ist nur ein Schritt in diesem Prozess, der bis zur Auflösung der EU führen könnte. Denn in Wissenschaft, Medien und Politik ist weiterhin jene Theorie unangefochten, deren Empfehlungen in eine Sackgasse führten. Demnach verwandle die Marktkonkurrenz mit »unsichtbarer Hand« den Eigennutz der Individuen ins allgemeine (ökonomisch) Beste. Daher müssen der Sozialstaat »verschlankt« und die Märkte durch »Strukturreformen« dereguliert werden.
Vor fünfzig Jahren herrschte Vollbeschäftigung, die Staatsverschuldung war zwanzig Jahre lang gesunken, der soziale und europäische Zusammenhalt war stärker als heute. Warum hat sich die Lage in Europa seither schleichend verschlechtert? Welche Einsichten braucht es, damit wir die gesellschaftliche Entwicklung nicht als »Sachzwang« erleben, sondern als gestaltbar, und zwar von uns selbst? Welche Wege führen aus der Krise?
Dieses Buch gibt konkrete Antworten auf diese Fragen. Es erklärt die Abfolge von Prosperität und Krise systemisch und konkret. Dabei spielt die Wechselwirkung zwischen Theorie und Realität eine zentrale Rolle: Ökonomische Theorien werden in Reaktion auf Entwicklungen in der Realität erdacht und durchgesetzt, sie dienen dann als »Navigationskarte« und verändern ihrerseits die Realität. So legte der englische Ökonom John Maynard Keynes durch Aufarbeitung der Weltwirtschaftskrise das Fundament der »realkapitalistischen Spielanordnung« der Prosperitätsphase: Strikte Regulierung der Finanzmärkte lenkte die ökonomische »Kernenergie«, das Profitstreben, systematisch auf die »Turbinen der Realwirtschaft«, die Gütermärkte wurden liberalisiert, der Sozialstaat ausgebaut.
Ironischerweise bereitete dieser Erfolg den Boden für den Siegeszug des Neoliberalismus. Bei anhaltender Vollbeschäftigung gingen Gewerkschaften, Sozialdemokratie und Intellektuelle in den 1960er-Jahren in die Offensive; der linke Zeitgeist, Verteilungskämpfe, steigende Inflation und ein drohender Machtverlust der Vermögenden erleichterten es den neoliberalen Ökonomen, ihre Theorie durchzusetzen. Sie bildet die ideologische Basis der »finanzkapitalistischen Spielanordnung«, in der sich das Gewinnstreben von der Real- zur Finanzwirtschaft verlagert (»Lassen wir unser Geld arbeiten«).
Noch nie in der Geschichte hat eine ökonomische Weltanschauung so lange und so umfassend dominiert wie die neoliberale Theorie. Aus ihr wurde jene »Navigationskarte« für die Politik abgeleitet, die Europa seit fast fünfzig Jahren immer tiefer in die Krise führte:
•Die »Ent-Fesselung« der Finanzmärkte verlagerte das Gewinnstreben von der Realwirtschaft (wo die ökonomischen Stärken Europas liegen) zur »Finanzalchemie«.
•Der Rückgang des Wachstums von Realinvestitionen und Produktion ließ Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung steigen.
•Sparpolitik, Lohnsenkungen, Ausweitung prekärer Beschäftigung, Lockerung des Arbeitnehmerschutzes etc. schwächten den sozialen Zusammenhalt und die Realwirtschaft.
•Gleichzeitig verursachte Finanzspekulation immer größere Schwankungen von Wechselkursen, Rohstoffpreisen, Aktien- und Anleihekursen und Immobilienpreisen.
•Die Schwankungen in der Bewertung der entsprechenden Vermögen lösten schwere Wirtschaftskrisen aus – von den »Ölpreisschocks« der 1970er- Jahre bis zur Finanzkrise 2008.
Jede Theorie gleicht einer Brille mit einem bestimmten Schliff. Man kann mit ihr nur wahrnehmen, worauf sie den Blick fokussiert. Verteilungskämpfe und dadurch verursachte Inflationsschübe, Finanzspekulation als Ursache von »Bullen- und Bärenmärkten«, »unfreiwillige« Arbeitslosigkeit und vom Staat »erlittene« Defizite – all das ist in der neoliberalen Theorie nicht vor-gesehen. Und so ist sie auch blind für den von ihr forcierten »Wechselschritt«: Neoliberale Maßnahmen schaffen Probleme (etwa steigende Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung durch ent-fesselte Finanzmärkte), entsprechende »Therapien« (Sparpolitik, Senkung von Löhnen und Arbeitslosengeld) vertiefen die Krise, machen weitere Maßnahmen nötig usw.
Um diesem Zirkel zu entkommen, braucht es einen neuen theoretischen Rahmen: Die ökonomische, soziale und politische Entwicklung lässt sich als Abfolge zweier kapitalistischer »Spielanordnungen« verstehen. Im Realkapitalismus dominieren die – überwiegend gemeinsamen – Interessen von Realkapital und Arbeit, Finanzkapital wird »ruhiggestellt«, bei festen Wechselkursen, Rohstoffpreisen sowie Zinssätzen unter der Wachstumsrate kann sich das Profitstreben nur in der Realwirtschaft entfalten. Im Finanzkapitalismus lenken die Anreizbedingungen, insbesondere schwankende Wechselkurse, Rohstoffpreise, Aktien- und Anleihekurse sowie Zinssätze über der Wachstumsrate, das Profitstreben auf Finanzspekulation; auch Großkonzerne der Realwirtschaft verstärken ihre Finanzinvestitionen auf Kosten von Realinvestitionen.
Die realkapitalistische »Spielanordnung« zielte ab auf eine Integration von Polaritäten wie Ökonomie und Politik, Markt und Staat, Konkurrenz und Kooperation, individuelles Glücksstreben und gesellschaftlicher Zusammenhalt, Unternehmerschaft und Gewerkschaften. Das finanzkapitalistische System gibt hingegen jeweils einem Pol den Vorrang: Nur die Konkurrenz der Individuen auf deregulierten Märkten ermögliche die wirtschaftlich besten Lösungen, die Koordination übernimmt ja die »unsichtbare Hand«.
Das »Navigationssystem« ermöglicht eine Positionsbestimmung im gegenwärtigen »langen Zyklus« von Prosperität und Depression, und es weist die wichtigsten Schritte auf dem Weg zu einer neuen realkapitalistischen »Spielanordnung« in Europa mit ökologischem und sozialen Schwerpunkten.
Ihren Ausgang nehmen meine Überlegungen jeweils bei einem bestimmten Problem – von der Durchsetzung der neoliberalen Theorien seit den 1960er-Jahren bis zum Anstieg der Finanzinstabilität, der Arbeitslosigkeit und prekärer Beschäftigung sowie der Staatsverschuldung –, das ich mit den Erklärungen und Therapien der herrschenden Theorie konfrontiere. Dabei werden immer wieder die enormen Widersprüche zwischen Theorie und Empirie sichtbar.
Die Hauptaussagen dieses Buches und der Ertrag seiner Lektüre lassen sich in zwanzig Thesen zusammenfassen. Leserinnen und Leser werden jede von ihnen erläutern, ihre Begründung verstehen und sie (wenn sie die Thesen teilen) in Debatten verfechten können.
1.Noch nie hat ein ökonomisches Denksystem so lange und so umfassend das Denken der Eliten geprägt wie die neoklassisch-neoliberale Theorie seit den 1970er-Jahren.
2.Diese idealistische Theorie ist ein geschlossenes System, sie bietet keinen Raum für alternative Sichtweisen und Erklärungen.
3.Ihre Grundannahmen – Menschen sind nur Individuen, nur rationale, nur eigennützige, nur konkurrierende Wesen – verleugnen die Realität.
4.Innerhalb dieser Theorie erscheint »der Markt« als ein mit »unsichtbarer Hand« lenkendes Subjekt, dem sich die Menschen zu unterwerfen haben.
5.Der Neoliberalismus ist das erfolgreichste Projekt der Gegen-Aufklärung und der Selbst-Entmündigung der Politik.
6.Der Primat des Marktes ist unvereinbar mit Demokratie (»am Markt« zählen »Geldstimmen«).
7.Ethik und Moral haben in dieser Weltanschauung keinen Platz, die Frage »In welcher Gesellschaft wollen wir leben?« erübrigt sich – »der Markt« gibt die Antwort.
8.Individualistischer Eigennutz als Leitlinie des Handelns macht Menschen egozentrischer und ärmer.
9.Der negative Freiheitsbegriff als Freiheit von (staatlichem) Zwang schließt einen auch positiven Freiheitsbegriff als Entfaltungschancen aus.
10.Die »Ent-Fesselung« der Finanzmärkte hat unternehmerische Aktivitäten in der Realwirtschaft erschwert und Finanzspekulation attraktiv gemacht.
11.Der Neoliberalismus ist die Ideologie im Interesse des Finanzkapitals (der »Rentiers«), nicht des Realkapitals (der Unternehmer).
12.Die neoliberalen »Therapien« verschlimmern die »Krankheiten« Arbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigung, Staatsverschuldung, soziale Unsicherheit und Armut.
13.Die »Spielanordnung« ist Hauptursache der Krise Europas, nicht der Euro. Er war und ist das Richtige im Falschen.
14.Der Neoliberalismus zerstört zwei der drei Grundwerte »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« und damit das »Europäische Sozialmodell« – für die Freiheit der wenigen.
15.Die neoliberalen Leitlinien und ihre Übernahme durch die EU haben die Menschen in Europa in viel höherem Maß ihren Traditionen entfremdet als? in den USA.
16.Das neoliberale Gesellschaftsmodell ist ein »falsches Ganzes«, das nur »im Ganzen« überwunden werden kann.
17.Dafür braucht es eine neue »Navigationskarte«, welche den Weg in die Krise erklärt und (damit) Wege aus der Krise weist.
18.Grundlage der »Navigationskarte« sind Theorien, welche die »Polaritäten« des Menschen als individuelles und soziales, als rationales und emotionales, als eigennütziges und anteilnehmendes sowie als konkurrierendes und kooperierendes Wesen berücksichtigen.
19.Wird das Gewinnstreben von der »Finanzalchemie« wieder auf die Realwirtschaft gelenkt und nimmt die Politik die Bewältigung der bedrückendsten Probleme in Angriff, kann Europa innerhalb eines Jahrzehntes echte? Vollbeschäftigung (ohne prekäre Jobs) erreichen.
20.Dies mildert die Ungleichheit, stärkt den sozialen und europäischen Zusammenhalt und wird von den meisten Bürgerinnen und Bürgern Europas gewünscht – was fehlt, ist Aufklärung und Mut.
Ich zeichne nach, wie das Lernen aus der Weltwirtschaftskrise die Grundlagen für den nachhaltigen wirtschaftlichen Aufschwung legte, bis sich das neoliberale Weltbild (wieder) durchsetzte und schließlich »der Markt« sogar zu einem Subjekt wurde, dem sich der Mensch zu unterwerfen habe (»there is no alternative«).
Dann skizziere ich den neuen theoretischen Rahmen, der nötig ist, um die Abfolge von Prosperität und Depression, die Auswirkungen der Finanzspekulation auf die Realwirtschaft und die gemeinsame Ursache von Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung – den Wechsel von einer real- zu einer finanzkapitalistischen »Spielanordnung« – zu verstehen.
Am Beispiel der Entwicklung in Südeuropa nach der Finanzkrise 2008 und der wirtschaftspolitischen Strategien in den USA und Deutschland seit Anfang der 1990er-Jahre zeige ich die unterschiedliche Erklärungskraft der neoliberalen Theorie und meines Alternativansatzes. Ein fataler Widerspruch kennzeichnet die Europäische Währungsunion: Inhaltlich ist sie ein antineoliberales Projekt (endgültige Überwindung von Devisenspekulation). Ihr Regelwerk aber ist durch und durch neoliberal, von der Dominanz der Geldwertstabilität bis zu den Fiskalregeln. Der Euro ist das Richtige im Falschen der »Spielanordnung«, Letztere ist daher »abzuwickeln«, nicht der Euro.
Neoliberalismus und Finanzkapitalismus haben Europa in eine Identitätskrise geführt. Sie sind unvereinbar mit den Grundwerten »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«, mit der Bedeutung gemeinschaftlicher Institutionen wie Verbänden oder Sozialstaat und mit der ökonomischen Stärke Europas, die in der Realwirtschaft liegt. Neoliberale »Grundwerte« wie Eigennutz und Konkurrenz hingegen bestimmen unser Verhalten im Alltag, entfremden uns von uns selbst und von unseren Mitmenschen: Die Sehnsucht nach »Ganzheit« auf individueller und sozialer Ebene ist blockiert, wenn das Bedürfnis der Menschen nach Anteilnahme und Solidarität unterdrückt wird.
Anschließend erkläre ich, wie die Grundzüge einer »menschengerechten« Wirtschaftstheorie aussehen müssten. Auf Basis einer konkreten Erklärung der drückendsten Probleme – von Arbeitslosigkeit, prekärer Beschäftigung und Armut bis zum Klimawandel – skizziere ich Maßnahmen, deren Umsetzung Europa zu neuer Prosperität, besserer Umwelt und mehr Zusammenhalt in der Gesellschaft verhelfen kann. Dazu gehören die thermische Sanierung des gesamten Gebäudebestandes in der EU, der Ausbau des Netzes für Hochgeschwindigkeitszüge, die Vorgabe eines Preispfades für fossile Energieträger als Anreiz für Investitionen in die Energieeffizienz (die Differenz zum Weltmarktpreis wird durch eine Steuer abgeschöpft), die Ersetzung des Fließhandels an den Börsen durch elektronische Auktionen, die Stärkung des Sozialstaates und nicht zuletzt die Überwindung der Abhängigkeit der EU von US-Konzernen in der Informationstechnologie (Betriebssysteme, Suchmaschinen, Standardsoftware, Online-Plattformen, insbesondere für soziale Medien). Binnen eines Jahrzehntes könnte ein Wirtschaftswachstum, das die Umwelt verbessert und den sozialen Zusammenhalt stärkt, echte Vollbeschäftigung sowie die Erneuerung des Europäischen Sozialmodells bewirken und so wieder ein Gefühl von »europäischer Identität« nähren.
Nicht-Ökonomen scheuen die Auseinandersetzung mit den Experten aus Respekt vor deren mathematischen Modellen oder wegen der rätselhaften »Kürzel« der Finanzprofis (CDS, CDO, ABS, CFD, CTA etc.). Doch um zu verstehen, wie ökonomische Theorien die gesellschaftliche Entwicklung prägen, bestimmte Interessen (etwa durch Liberalisierung der Finanzmärkte) begünstigen, eine bestimmte Wirtschaftspolitik (etwa die Schwächung des Sozialstaates) legitimieren und unser alltägliches Verhalten (etwa durch den Vorrang für »Jeder ist seines Glückes Schmied«) ändern, muss man die unterschiedlichen »Theorieschulen« verstehen. Dazu übersetze ich Annahmen und Empfehlungen der herrschenden Theorie in die »gewöhnliche Sprache«, und das ist gar nicht schwer.
Zunächst erläutere ich das universelle Wahrnehmungsraster der Mainstream-Ökonomen, das Marktdiagramm mit Angebotskurve, Nachfragekurve und deren Schnittpunkt, dem Gleichgewicht, und illustriere dies am Beispiel der Entwicklung der Arbeitslosigkeit und der Finanzkrise 2008. An diesen Beispielen verdeutliche ich die Sichtweise der Mainstream-Ökonomen und skizziere einen alternativen Erklärungsansatz.
Die meisten Teile dieses Buches stellen für Mainstream-Ökonomen eine emotionelle und in der Folge auch intellektuelle Herausforderung dar. Denn das Schwierigste am Lernen ist das Ver-Lernen, besonders des »gesicherten Wissens« und der »wahren Modelle«. Voraussetzung dafür ist der Zweifel, und dem geben die vielen Grafiken Nahrung. Ob die Abwehrmechanismen stärker sind oder der Mut wächst, aus dem eigenen Denksystem – wenigstens »probeweise« – auszusteigen und es »von außen« zu betrachten, muss jeder selbst entscheiden. Doch nur wenn es gelingt, das aufklärende, anteilnehmende und problemorientierte Denken zu fördern, wird es möglich sein, den Weg zur Prosperität zu finden und zu gehen.
Innerhalb der Wirtschaftswissenschaften kann man zwei gegensätzliche »Denkstile« und Theorietypen unterscheiden, die idealistische und die realistische Ökonomie.
Im ersten Fall geht der Theoretiker von einem Idealzustand aus: Die ökonomische Interaktion von Menschen auf Märkten führt zu einem allgemeinen Gleichgewicht, das den effizientesten Einsatz knapper Mittel und den maximalen Nutzen gewährleistet. Man analysiert, welche Annahmen über Akteure und Markteffizienz nötig sind, damit eine solche Modelllösung möglich wird: Menschen werden als nur individuelle, nur rationale, nur eigennützige Wesen mit identischen Präferenzen und vollkommener Information »modelliert«.1
Der Denkprozess ist deduktiv. Empirisch beobachtete Abweichungen vom theoretischen Optimum werden »theoriekonsistent«, also innerhalb der Logik des Modells, erklärt. Daher muss etwa Arbeitslosigkeit durch überhöhte Lohnkosten und/oder Regulierungen verursacht sein. Idealistische Ökonomen sehen sich als »wertfreie Wissenschaftler«, Abstraktion verdeckt ihr Erkenntnisinteresse, Mathematik verleiht den Schein von Objektivität.2
Als »realistische Ökonomie« bezeichne ich einen Denkansatz, der vom Konkreten ausgeht, die »Polaritäten« der Menschen als rationale und emotionale, individuelle und soziale, eigennützige und altruistische Wesen berücksichtigt und auf induktivem Weg Regelmäßigkeiten in ihren Verhaltensweisen und Interaktionen herauszufinden sucht. Auch in diesem Falle werden die Beobachtungen vorstrukturiert, doch ist das Wahrnehmungsraster beweglicher und weiter als in der idealistischen Ökonomie und daher offen für Neues. Realistische Ökonomen begreifen sich selbst nicht als wertfreie Wissenschaftler, weil sie wissen: Theorien verändern sich als Reaktion auf – »rätselhafte« – Entwicklungen in der Realität; haben sie sich durchgesetzt, verändern sie umgekehrt die Realität.
Der unübertroffene Meister der realistischen Ökonomie ist Adam Smith (siehe Kapitel 4). Andere große Ökonomen wie David Ricardo, Karl Marx, John Maynard Keynes oder Friedrich von Hayek folgen in manchen Bereichen dem idealistischen, in anderen dem realistischen Denkstil.3
Umwälzende Erkenntnisse werden immer auf realistisch-induktivem Weg gewonnen. Denn sie stellen Lösungen großer »Rätsel« dar, die nur gelingen können, wenn man aus den »eingeschliffenen Gedankenbahnen« ausbricht, sich in die Widersprüche zwischen der herrschenden Theorie und der Empirie vertieft und die »kognitiven Dissonanzen« nutzt, um sie in Impulse für das Neue zu verwandeln.
Das Wechselspiel zwischen Theorie und Realität prägt die langfristige Wirtschaftsentwicklung. So hat die Dominanz der idealistischen Gleichgewichtstheorie in den 1920er-Jahren zur nachfolgenden Depression beigetragen. Deren Erklärung durch die realistische Theorie von Keynes prägte die Entwicklung bis in die 1970er-Jahre. Seither dominiert wieder der idealistische Denkstil.
Um den idealistischen Denkstil zu begreifen, muss man jenes Raster kennen, das Ökonomen zur Ordnung und Interpretation ihrer Beobachtungen verwenden: das Marktdiagramm. Es stellt gewissermaßen den »Grundschliff« der »neoliberalen Brille« dar. Mit ihm erklärt man die Veränderungen von Preisen und Mengen eines Gutes aus dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage. Der Marktmechanismus sorgt dafür, dass sie ins Gleichgewicht kommen.
Nachfrage- und Angebotskurven sind gedankliche Konstruktionen, die (hypothetische) Veränderungen von angebotener und nachgefragter Menge als Folge von (hypothetischen) Preisänderungen darstellen.4 Empirisch beobachtbar sind die Kurven nicht, sondern lediglich einzelne Tauschakte – ob sie zu Gleichgewichtspreisen erfolgten, weiß man nicht. Nur unter der Annahme, dass der Preis- und Konkurrenzmechanismus allein ausreicht, angebotene und nachgefragte Menge zum Ausgleich zu bringen, lassen sich Ungleichgewichte auf Abweichungen der tatsächlichen Preise von ihren Gleichgewichtswerten zurückführen.
Ist etwa eine Theateraufführung frühzeitig ausverkauft (die nachgefragte Menge übersteigt das Angebot), war der Eintrittspreis zu niedrig; bleibt ein Kinosaal fast leer, so war der Preis zu hoch; droht ein Obsthändler am Wochenendmarkt auf seinem Erdbeerangebot (teilweise) sitzen zu bleiben, so hat er den Preis zu hoch angesetzt (und senkt ihn gegen Verkaufsschluss).
Abbildung 2.1 a): Das Marktdiagramm (Basisdiagramm)
Abbildung 2.1 zeigt das Marktdiagramm von Nachfragekurve D0, Angebotskurve S0 sowie Preis und Menge im Gleichgewicht (D und S stehen für »demand« und »supply«). Die Nachfragekurve hat fallenden Verlauf: Je niedriger der Preis, desto größer die nachgefragte Menge (ist die Kurve steil, so reagiert die Nachfrage auf Preisänderungen nur schwach, wie etwa jene nach Zigaretten oder Erdöl). Die Angebotskurve hat einen steigenden Verlauf: Je höher der Preis, desto mehr wird angeboten bzw. produziert (kurzfristig ist die Kurve steil, weil die Produktion nicht rasch auf Preisänderungen reagieren kann).
Im Schnittpunkt befindet sich der Markt im Gleichgewicht, und zwar bei einem Preis von P0 und einer Menge Q0 (angebotene und nachgefragte Menge sind gleich). Liegt der Preis darüber, etwa bei P2, dann ist die angebotene Menge Q2 größer als die nachgefragte Menge Q1, das Umgekehrte gilt bei einem Preis unter dem Gleichgewichtsniveau. Die Konkurrenz zwischen Anbietern bzw. Nach-fragern wird dann den Preis zu seinem Gleichgewicht treiben.
Innerhalb dieser erdachten Welt lassen sich Preis- und Mengenänderungen auf Verschiebungen der Nachfrage- bzw. Angebotsfunktion reduzieren, ohne dass man deren Ursachen kennen muss. Wenn Preise und (umgesetzte) Mengen steigen, dann muss die Nachfrage stärker geworden sein (die entsprechende Kurve hat sich nach rechts oben verschoben). Dahinter können eine höhere Kaufkraft der Konsumenten (als Folge von Lohnsteigerungen), eine erfolgreiche Werbekampagne oder eine Mode stecken. Gehen hingegen Preis und Menge gleichzeitig zurück, kann das nur daran liegen, dass die Nachfrage sinkt, sei es wegen nachlassender Kaufkraft oder weil das Gut außer Mode kommt (die Kurve verschiebt sich somit nach links unten).
Die Angebotsfunktion verändert sich in Abhängigkeit von den Produktionskosten oder durch »Schocks« wie Naturkatastrophen oder Ernteschwankungen. Steigen etwa die Kosten oder kommt es zu einer Missernte, so verschiebt sich die Angebotskurve nach links oben, und der Schnittpunkt »wandert« auf der Nachfragekurve aufwärts. Umgekehrt gilt: Wenn ich steigende Preise und sinkende Umsätze beobachte, so muss sich die Angebotskurve nach links oben verschoben haben.
Das Marktdiagramm bildet das Fundament jedes Ökonomiestudiums und dient jedem Ökonomen als Orientierungssystem. Innerhalb dieser Denkwelt lassen sich Beobachtungen leicht zuordnen und erklären. Wenn etwa Griechenland weniger exportiert als importiert, dann müssen griechische Güter zu teuer sein und können am besten durch eine Abwertung verbilligt werden (daher sollte Griechenland die Währungsunion verlassen). Zu solchen Schlüssen regen Gedankenexperimente auf Basis des Marktdiagramms an. Dazu muss man freilich immer die Annahme ceteris paribus machen (»wenn alles andere gleich bleibt, dann …«) – leider ist das in der Praxis nie der Fall.
Für eine detaillierte empirische Analyse der Entwicklungen auf konkreten Märkten ist das Marktdiagramm ungeeignet (und wird dafür auch nicht eingesetzt). Denn da die Analyse auf Mengen und Preise beschränkt ist, müssen alle auf einem Markt gehandelten Güter homogen sein, dürfen sich also nicht unterscheiden. Genau genommen könnte man beispielsweise nur dann von einem Markt für Mittelklasse-Pkw in Europa sprechen, wenn VW, Renault, Fiat etc. dasselbe Pkw-Modell produzierten. Dann würde sich reine Preiskonkurrenz entfalten – im Gleichgewicht kann es dann keinen Gewinn geben (sondern nur eine Rendite für das eingesetzte Kapital und gegebenenfalls einen »Unternehmerlohn« für Arbeitsleistungen des Unternehmers).5
Weil ein idealistisches Konzept für die Erklärung des Konkreten nicht taugt, verwenden Ökonomen das Marktdiagramm gewissermaßen nur »schlampig« als ein Wahrnehmungs- und Orientierungssystem, das (die erwünschten) Schlussfolgerungen »wissenschaftlich« fundiert.6 Da im Denksystem nur Preise und Mengen vorkommen, müssen Ungleichgewichte (Abweichungen von angebotener und nachgefragter Menge) durch »falsche« Preise verursacht worden sein (was wiederum darauf zurückzuführen sein muss, dass sich die Marktkräfte nicht frei entfalten konnten). Wendet man die Diagrammlogik – »mega-schlampig« – auf »den Arbeitsmarkt« an, dann folgt daraus: Die Ursache von Arbeitslosigkeit sind überhöhte Löhne. Die »Schlampigkeit« hat also Methode.
Seit den 1970er-Jahren wurde das Marktdiagramm (wieder) Universalinstrument zur Analyse von Entwicklungen nicht nur auf Einzelmärkten (Mikroökonomie), sondern auch in der Gesamtwirtschaft (Makroökonomie). Dies musste zu fatalen Fehlschlüssen führen, weil dann die Ceteris-paribus-Annahme gänzlich unhaltbar ist: Wenn etwa das gesamtwirtschaftliche Lohnniveau gesenkt wird, sinkt notwendig auch die Kaufkraft und damit die Güternachfrage.
Auch die Verwendung des Marktdiagramms zu Erklärung des Zinsniveaus ergibt keinen Sinn: Die Gleichgewichtstheorie nimmt an, dass Sparen (Angebot an Finanzierungsmittel) und Investieren (Nachfrage nach Finanzierungsmittel) in der Gesamtwirtschaft durch den Zins in Übereinstimmung gebracht werden. Tatsächlich wird der Zins nicht auf einem Markt für Finanzierungsmittel bestimmt, sondern – im Wesentlichen – von der Zentralbank.
Das Problem der gesamtwirtschaftlichen Arbeitslosigkeit analysieren Mainstream-Ökonomen ebenfalls auf Basis des Marktdiagramms. Dies widerspricht allerdings dem neoklassischen Begriff von Markt, auf dem ja homogene Güter getauscht werden. Bei »schlampiger« Verwendung mag man von einem Markt für Automechaniker oder Lebensmitteltechniker sprechen, aber einen Markt aller Arbeitskräfte kann es nicht geben. Dennoch wird die makroökonomische Beschäftigungssituation als »Lage auf dem Arbeitsmarkt« angesprochen.
Ist in einem Land die Zahl der Beschäftigten kleiner als die aller Arbeitskräfte, besteht also Arbeitslosigkeit, so wird diese im Kontext des Marktdiagramms interpretiert: Die Nachfragekurve der Unternehmer wird als gegeben angesehen, es steht somit fest, wie viele (neue) Jobs entstehen würden, wenn der Lohn sinken würde. (Abbildung 2.1, Diagramm d).
Arbeitslosigkeit erklärt sich somit aus der Differenz zwischen der von Unternehmern nachgefragten und der von Arbeitnehmern angebotenen Arbeitsmenge. Ihre Ursache liegt darin, dass das realisierte Lohnniveau über dem Gleichgewichtsniveau liegt, etwa weil die Gewerkschaften überhöhte Lohnforderungen durchsetzen (womit sie den Arbeitslosen schaden, die bereit wären, zu einem »marktgemäßen« Preis zu arbeiten).
Der erste Schritt zur Besserung besteht dann darin, das Lohnniveau zu senken. Da Erwerbsfähige jedoch nur bereit sind, Arbeit anzubieten (aufzunehmen), wenn der Lohn höher ist als das Arbeitslosengeld oder Sozialleistungen, kann Arbeitslosigkeit nur durch »Strukturreformen« wie die »Agenda 2010« bzw. »Hartz IV« beseitigt werden: Man senkt die Sozialleistungen, schafft »atypische« Beschäftigungsformen, lockert den Arbeitnehmerschutz und die Verbindlichkeit von Tarif- bzw. Kollektivverträgen: Die Kurve des Arbeitsangebotes wird auf diese Weise nach unten gedrückt und flacher gemacht – nunmehr reichen schon Löhne aus, die nur wenig über der Grundoder Mindestsicherung (»Hartz IV«) liegen, um die Arbeitnehmer zur Annahme von (Niedriglohn-)Jobs zu veranlassen bzw. zu nötigen.
Wie sehr eine ökonomische Theorie und die daraus abgeleiteten »Therapien« die Lebensbedingungen von Millionen Menschen verschlechtern können, zeigte sich nach der Finanzkrise in Südeuropa: Noch nie in der Nachkriegszeit wurden »Strukturreformen« so radikal umgesetzt, und noch nie sind Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung so dramatisch gestiegen (siehe Kapitel 11 und 12).
Abbildung 2.1 d): Arbeitsmarkt
Nach der Logik des (Arbeits-)Marktdiagramms muss die Ursache der Diskrepanz zwischen nachgefragter (Q1) und angebotener (Q2) Arbeitsmenge (= Arbeitslosigkeit) im überhöhten Lohnniveau W2 (»wage«) liegen; nur wenn dieses gedrückt wird (auf W0), kann die Arbeitslosigkeit überwunden werden.
Liegt die Beschäftigung im Gleichgewicht Q0 unter dem (Voll-)Beschäftigungsniveau Q2, so muss die Politik die Angebotskurve nach unten verschieben und flacher machen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Kurve des Arbeitsangebotes einen horizontalen Bereich aufweist. Er markiert jenes Lohnniveau RW (»reservation wage«), unter dem man nicht bereit ist zu arbeiten, weil Ersatzleistungen zur Verfügung stehen (primär das Arbeitslosengeld).7
Um die Beschäftigung zu steigern, muss man daher das Arbeitslosengeld senken (von RW0 auf RW1) und die Angebotskurve flacher machen durch Lockerung des Arbeitnehmerschutzes und durch Schaffung prekärer Arbeitsverhältnisse (Ausbau eines Niedriglohnsektors). Dann verschiebt sich die Angebotskurve von S0 nach S1 und schneidet die Nachfragekurve beim erwünschten Beschäftigungsniveau Q2 (Abbildung 2.1, Diagramm d). Gleichzeitig sinkt das Niveau des Arbeitslosengeldes auf RW1 und jenes der Löhne auf W1.
Seit den 1970er-Jahren hat die »Ent-Fesselung« der Finanzmärkte das Gewinnstreben der Unternehmen von Real- zu Finanzinvestitionen verlagert (siehe Kapitel 10). Dadurch nahm die Zahl der »normalen« Arbeitsplätze langsamer zu als jene der Arbeitskräfte, also stieg die Arbeitslosigkeit (sie stellt ein Defizit an Arbeitsplätzen dar). Zusätzlich wurden immer mehr atypische Jobs geschaffen.8 Folglich stiegen die Sozialausgaben, und die Staatseinnahmen gingen zurück.
Unter den »realkapitalistischen« Anreizbedingungen der 1950er- und 1960er-Jahre konzentrierte sich das Profitstreben auf Realinvestitionen und damit indirekt auf die Schaffung von Arbeitsplätzen. Bei stabilem Wirtschaftswachstum und überdurchschnittlich steigenden Reallöhnen herrschte Vollbeschäftigung.9 Wollte man diese Entwicklung mit dem Marktdiagramm beschreiben (obwohl es, wie gesagt, prinzipiell ungeeignet ist, die gesamtwirtschaftliche Beschäftigungslage abzubilden), so wäre die für die Prosperitätsphase typische Entwicklung – steigende Lohnquote (Reallöhne wuchsen rascher als die Arbeitsproduktivität) bei gleichzeitig steigender Beschäftigung – als Erhöhung der unternehmerischen Nachfrage nach Arbeitskräften zu beschreiben: Die Nachfragekurve verschiebt sich nach rechts oben, also steigen die Löhne, und die Zahl der Arbeitsplätze nimmt zu. Die herrschende (neoklassische) Beschäftigungstheorie schließt dies jedoch durch die Annahme aus, dass die Lage dieser Kurve durch die Gleichgewichte auf den Gütermärkten bestimmt wird, also weder durch eine expansive Wirtschaftspolitik noch durch realkapitalistische Anreizbedingungen beeinflusst werden kann (und soll).
Mit dem Marktdiagramm als Wahrnehmungsraster konnte man auch den systemischen Charakter der Finanzkrise 2008 nicht wahrnehmen: Zum ersten Mal seit 1929 sanken Aktienkurse, Rohstoff- und Immobilienpreise gleichzeitig, nachdem zuvor drei Bullenmärkte ein »Absturzpotenzial« aufgebaut hatten (Abbildung 2.5).
Für Trader und Finanzinvestoren stellen »bullishness« und »bearishness« zwei Marktstimmungen dar, welche ihr Transaktionsverhalten mitbestimmen: Im Bullenmarkt beflügelt der Optimismus den Kursanstieg, der wiederum den Optimismus stärkt. Eine analoge negative Rückkoppelung prägt einen Bärenmarkt.
Gleichgewichtsökonomen schirmen ihre sogenannte Markteffizienzhypothese (»efficient market hypothesis« – EMH) gegen die empirische Evidenz durch folgende Annahmen ab: Alle Marktteilnehmer sind mit perfekter Information ausgestattet und bilden ihre (»rationalen«) Erwartungen nach dem »wahren« Modell, jenem der Gleichgewichtsökonomen selbst. Kommt es zu einem »Schock«, etwa einer Missernte bei Weizen, so treiben rationale Spekulanten den Weizenpreis zu seinem neuen (höheren) Fundamentalwert. Destabilisierende Spekulation – sie treibt den Preis von seinem Gleichgewichtswert weg – kann es unter diesen Annahmen nicht geben. Da »Schocks« zufällig auftreten, folgen die Preise einem Zufallsprozess. Spekulationstechniken von »Systemspielern« können daher nicht funktionieren.
Alle Akteure, etwa jene am Markt für Weizenderivate, kennen laut EMH die »Fundamentalfaktoren«, in unserem Beispiel die Angebots- und Nachfragekurve am Weltmarkt für (echten) Weizen. Sie wissen, wie eine Missernte die Angebotskurve verschiebt und wo sich diese mit der Nachfragekurve kreuzt, wo also der neue (höhere) Gleichgewichtspreis liegen wird. Somit müsste der auf dem Markt realisierte Preis theoretisch sofort mit Bekanntwerden der Missernte auf das neue Niveau springen. Da sich die Preise in der Praxis kontinuierlicher entwickeln, modifizieren die Theoretiker ihr Modell durch folgende Annahme: Zwar kennen alle rationalen Spekulanten den neuen Gleichgewichtspreis, doch wissen sie nicht, dass auch die anderen diesen kennen. Also braucht es Transaktionen, die den Preis zu seinem neuen Gleichgewicht hinführen. Dieser Preisfindungsprozess (»price discovery process«) ist abgeschlossen, sobald das neue Preisniveau erreicht ist. Unter diesen Annahmen entspricht der Preis am Finanzmarkt (von kurzen Anpassungsphasen nach Schocks abgesehen) immer dem Fundamentalwert (siehe Abbildung 2.2).10
Ich habe viele Jahre über Finanzspekulation geforscht und daraus eine Alternativhypothese, die »Bullen-Bären-Hypothese« (BBH), entwickelt (siehe Kapitel 9): Die einzelnen Akteure haben unterschiedliche Informationen und verwenden unterschiedliche Modelle für ihre Transaktionen. Diese werden nicht nur von rationalen Erwägungen bestimmt, sondern auch von emotionellen Faktoren (Gier, Neid, Ehrgeiz, Selbstüberschätzung etc.), die durch soziale Interaktion häufig zu Herdenverhalten »gebündelt« werden (Euphorie, Panik, Depression).11
Wenn neue Informationen über die Bildschirme flimmern (etwa über eine Missernte, ein neues Patent oder ein unerwartet hohes Budgetdefizit etc.), so haben Trader oft kaum eine Sekunde Zeit, jene Preisbewegung zu nutzen, welche die »news« auslösen wird. Sie bilden daher nur Richtungserwartungen – wird der Preis eher steigen oder sinken?
Die durch »news« ausgelöste Preisbewegung kommt nicht beim neuen Gleichgewichtsniveau zum Halten – schon weil es keinen Konsens darüber gibt, wo dieses Niveau genau liegt –, sondern »schießt« regelmäßig darüber hinaus (Abbildung 2.2). Allerdings verliert jeder Preisschub an Dynamik, je länger er dauert – es springen ja immer weniger Trader auf den »Mini-Trend« auf (oft dauert er nur Sekunden).
Schon vor mehr als zweihundert Jahren haben »Systemspieler« damit begonnen, Kursschübe (»price runs«), also das »trending« spekulativer Preise, mit »trading systems« auszunutzen. Sie werden unter dem Oberbegriff »technische Analyse« zusammengefasst. Diese Art der »Finanzalchemie« hat mit der Computertechnologie und dem Internet enorm an Bedeutung gewonnen (heute spricht man von »algo trading« als Abkürzung für algorithmic trading).
Gemeinsam ist diesen Spekulationssystemen, dass sie von Trends zu profitieren versuchen (»the trend is your friend«) – sei es, dass sie in der Frühphase eines Preisschubs auf diesen »aufspringen« (»trend-followers«) oder in seiner Spätphase auf einen Gegentrend setzen (»contrarians«). In erster Linie diese Systemspieler sind es, die dafür sorgen, dass der Kurs über den theoretisch angenommenen Gleichgewichtswert hinausschießt.12 Sie verstärken Trends in ihrer Frühphase und tragen in ihrer Spätphase dazu bei, dass sie in einen Gegentrend kippen (siehe Kapitel 9).
Das Überschießen charakterisiert nicht nur die kurzfristige Dynamik spekulativer Preise, sondern auch ihre langfristigen Zyklen. Trader reagieren nämlich auf »news«, die der Markstimmung entsprechen, stärker als auf solche, welche ihr widersprechen. Während einer optimistischen Marktstimmung dauern Kursschübe nach oben etwas länger als Gegenbewegungen und akkumulieren sich so zu einem mehrjährigen Bullenmarkt. Analog entwickelt sich ein Bärenmarkt bei einer pessimistischen Marktstimmung.
Dieser Prozess ist natürlich nicht losgelöst von der Entwicklung der Fundamentalwerte (»market fundamentals«) – schließlich werden Kursschübe (»price runs«) zumeist von ökonomischen »news« ausgelöst. Doch werden Auf- und Abwertungsprozesse durch Spekulation verlängert und verstärkt. Mit der Über- bzw. Unterbewertung des jeweiligen Vermögenstitels werden die Gegenkräfte stärker, die zu einem langfristigen Gegentrend führen. Daher schwanken die für unternehmerische Aktivitäten in der Realwirtschaft wichtigsten Preise – Wechselkurse, Rohstoffpreise und Aktienkurse – in langen, irregulären Zyklen um ihr Fundamentalgleichgewicht, ohne gegen dieses »Gravitationszentrum« zu konvergieren.
Die Abbildung 2.3 veranschaulicht diese Dynamik am Beispiel von Aktienkursen, des Ölpreises und des Wechselkurses Dollar je Euro: Es ist unmöglich, dass sich der »wahre« Wert der dreißig wichtigsten Aktiengesellschaften Deutschlands zwischen 1996 und 2000 sowie zwischen 2003 und 2007 verdreifacht hat – genau deshalb folgte dem Bullenmarkt jeweils ein Bärenmarkt. Trotz unterschiedlicher Wirtschaftsentwicklung schwankten die Kurse in Deutschland und den USA parallel.
Noch extremer entwickelte sich der Ölpreis, er stieg zwischen Januar 2007 und Juli 2008 von 50 auf fast 150 Dollar je Barrel und stürzte im Zuge der Finanzkrise auf unter 40 Dollar. Der Euro-Kurs wiederum hat sich gegenüber dem US-Dollar zwischen 2002 und 2008 nahezu verdoppelt. Laut der Gleichgewichtstheorie sollten längerfristige Wechselkursänderungen die Inflationsdifferenziale zwischen den beiden Währungsräumen widerspiegeln. Diese waren aber zwischen dem Euroraum und den USA gering.
Die Dynamik der Nahrungsmittelpreise – sie werden wie alle Rohstoffpreise auf Derivatmärkten gebildet (siehe Kapitel 9) – zeigt eine ähnliche Abfolge von Bullen- und Bärenmärkten wie die Aktienkurse oder der Ölpreis (Abbildung 2.4). Dies macht deutlich, dass nicht die Fundamentalfaktoren, sondern Spekulation ihr treibender Faktor war. Denn warum sollten sich Angebot und Nachfrage für so unterschiedliche Produkte wie Reis, Mais, Erdöl und Weizen in ähnlicher Weise verschieben?
Abbildung 2.3: Dynamik spekulativer Preise
Abbildung 2.4: Dynamik der Rohstoffpreise
So unterschiedliche Rohstoffe wie Erdöl, Weizen, Mais oder Reis schwanken in einer Abfolge von übermäßigen Anstiegen (»Bullenmärkte« wie 2007/2008) und übermäßigen Rückgängen (»Bärenmärkte« wie 2008/2009). Dies gilt auch für Aktien- und Wechselkurse (Abbildung 2.3).
Für Mainstream-Ökonomen war die Finanzkrise 2008 ein Schock. Jahrelang hatten sie versichert, die Wirtschaft sei durch Marktliberalisierung stabiler geworden. Die Finanzkrisen in Ostasien, Russland und Lateinamerika zwischen 1997 und 2000, der Zusammenbruch des weltweit größten Hedgefonds (»Long-Term Capital Management«) 1998 und das Platzen der Internet-Bubble 2000 waren »Warnsignale« – mit »neoliberaler Brille« aber nicht zu erkennen.
Also hielt man sich an die Abläufe an der Oberfläche. US-Banken hatten in gewaltigem Umfang Hypothekarkredite an nahezu mittellose Haushalte vergeben, zu verlockenden Konditionen. Die Banken bündelten diese Kredite zu Wertpapieren und verkauften sie weltweit. Als die Zinsen zu steigen und die Immobilienpreise zu fallen begannen, wurden Millionen Hausbesitzer zahlungsunfähig und die Wertpapiere wertlos.
Diese »Standarderklärung« der Krise stellt keine Analyse, sondern eine Symptomdiagnose dar. Dieser entsprach die Symptomkur: faule Kredite »entsorgen«, Liquidität bereitstellen, den Banken Eigenkapital zuführen und an diese appellieren, einander wieder zu vertrauen. Den Kontrapunkt dazu bildet (m)eine systemische Alternativsicht: Die große Krise ist das Ergebnis der finanzkapitalistischen »Spielanordnung«, in der Bullen- und Bärenmärkte ganz normal sind.13 Fatal war allerdings deren synchrone Entwicklung: Nachdem die Immobilienpreise in den USA bereits seit 1996 immer stärker gestiegen waren, begannen Ende 2001 auch die Rohstoffpreise und Ende 2002 die Aktienkurse (wieder) zu boomen. Dies baute das »Absturzpotenzial« für drei Bärenmärkte auf. Ende 2006 begannen die Immobilienpreise zu sinken, 2007 die Aktienkurse und 2008 die Rohstoffpreise (Abbildung 2.5).14
In den folgenden Monaten brachen Industrieproduktion und Welthandel teilweise stärker ein als nach dem Börsenkrach 1929: Die Haushalte, Unternehmen, Banken und Länder reagierten auf die dreifache Vermögensentwertung mit einer massiven Einschränkung der leicht verschiebbaren Ausgaben: Die Nachfrage nach dauerhaften Konsumgütern, insbesondere nach Pkw, ging ebenso zurück wie die Nachfrage nach Maschinen und sonstigen Investitionsgütern. Davon war der »Exportweltmeister« Deutschland am stärksten betroffen.
Mit der Rettung von Banken und mit Konjunkturpaketen bekämpfte die Politik die Folgen der Krise (anders als nach dem Börsenkrach von 1929), nicht aber ihre systemischen Ursachen, die finanzkapitalistische »Spielanordnung« und ihre wissenschaftliche Legitimation.
Im März 2009 war der Absturz der Aktienkurse zum Halten gekommen, und ein neuerlicher Boom begann (Abbildungen 2.3 und 2.5). Dies erleichterte es den Eliten, den Schrecken des Wirtschaftseinbruches zu verdrängen.15
Doch ein Schuldgefühl lastete auf ihnen: Ihre Deregulierungen hatten das Treiben auf den Finanzmärkten begünstigt, das Millionen Menschen den Job und die Staaten Billionen »Rettungsgelder« kostete. Die von den Eliten vor und nach der Krise geförderten »gierigen Banker« waren keine geeigneten Objekte für ihre Schuldabfuhr. Dazu brauchte es einen Schuldigen, der ins neoliberale Weltbild passte: Nicht Marktprozesse, sondern die Politiker müssen versagt haben, nicht der Markt, sondern der Staat muss in desaströser Verfassung sein, nicht Sparen, sondern das »Über-seine-Verhältnisse-Leben« muss in die Krise geführt haben. Im Oktober 2009 war der passende Schuldige gefunden.
Abbildung 2.5: Verfall von Immobilienpreisen, Aktienkursen sowie Rohstoffpreisen und die große Krise
Zwischen 2002 und 2007 boomten Rohstoffpreise, Aktienkurse und Immobilienpreise gleichzeitig und bauten ein enormes »Absturzpotential« auf. Dieses wurde 2007/2008 »aktiviert«. Die gleichzeitige Entwertung von Rohstoff-, Aktien- und Immobilienvermögen (erstmals seit 1929) stellt die systemische Hauptursache der Finanz- und Wirtschaftskrise dar.
Zu diesem Zeitpunkt musste der neu gewählte Ministerpräsident Griechenlands, Giorgos Papandreou, zugeben: Die Vorgängerregierung hatte (sehr) falsche Budgetzahlen nach Brüssel gemeldet, statt 6 Prozent des BIP sei das Defizit mehr als doppelt so hoch. Er bat um Finanzhilfen von der EU, anders lasse sich ein Staatsbankrott nicht vermeiden.
Die Erregung in den übrigen EU-Ländern stand in keinem Verhältnis zur Höhe der benötigten Mittel. Auf rationaler Ebene konnte man das kleine Land nicht für die große Krise verantwortlich machen. Auf emotionaler Ebene reagierten die Eliten auf das Defizitgeständnis so, als wäre Griechenland an der Krise schuld, am meisten in Deutschland: Noch nie seit 1945 war in den Massenmedien eine Kampagne gegen ein ganzes Volk geführt worden. »Die Pleite-Griechen« oder »die Schummel-Griechen« wurden gängige Ausdrucksformen. Selbst Angela Merkel konnte sich dieser Stimmung nicht entziehen und bediente das Vorurteil von den faulen Südeuropäern. Statt die BILD-Zeitung hätte sie die Statistik konsultierten sollen (Abbildung 11.7).
Die Emotionalisierung ließ in Vergessenheit geraten, dass es keine Kollektivschuld geben kann. Faktisch wurde aber das griechische Volk für seine Politiker kollektiv bestraft, indem etwa Menschen ihre soziale Krankenversicherung verloren. Nach den Wahlen in Griechenland vom Januar 2015 nahm die Emotionalität in der Auseinandersetzung dramatisch zu. Denn die Syriza-Regierung wollte nicht nur im eigenen Land die Austeritätspolitik aufgeben, sondern forderte dies für ganz Europa. Im Juli 2015 stellte der stellvertretende CDU-Vorsitzende Thomas Strobl fest: »Der Grieche hat jetzt lang genug genervt.«
Aus psychologischer Perspektive war die Erregung verständlich: Die Eliten selbst hatten durch Übernahme der neoliberalen Navigationskarte Europa immer tiefer in eine Krise geführt. Sie brauchten daher einen Schuldigen zur eigenen Entlastung und zur Ablenkung der Frustration der Krisenopfer im eigenen Land. »Die Griechen« waren dafür ideal, weil die Politik tatsächlich falsche Budgetzahlen geliefert hatte, weil der griechische Staat tatsächlich in einem desolaten Zustand ist, weil die Wirtschaftsstruktur tatsächlich zu konsumorientiert ist und weil Griechenland tatsächlich über seine Verhältnisse lebte, also permanent mehr importierte als es exportierte. Zudem ist Griechenland ein kleines Land – ein großes Land wie Spanien oder Italien wäre aus europapolitischen Gründen ungeeignet gewesen für die Rolle als schuldiger Schuldner.
Allerdings ist der katastrophale, sechs Jahre anhaltende Wirtschaftseinbruch in Griechenland ausschließlich Folge der austeritätspolitischen Spezialmaßnahmen, die diesem Land und seinen Bewohnern auferlegt wurden. Auch in den übrigen Ländern Südeuropas wurde die Krise durch die Wirtschaftspolitik verlängert und vertieft (siehe Kapitel 11 und 12).
Sind Diagnosen und Therapien selbst Teil der Krankheit, ist das Denksystem »im Ganzen« falsch. Gleichzeitig scheint es in sich widerspruchsfrei und alternativlos. Im nächsten Kapitel untersuchen wir daher die Beharrungstendenz eines wissenschaftlichen Weltbildes als eine »Harmonie der Täuschungen« und den Lernwiderstand des »Denkkollektivs«. An seiner Überwindung führt kein Weg zum Wohlstand vorbei.
Zwischen den Beobachtungen des Konkreten und der sie (ein-)ordnenden Welt-Anschauung besteht eine Wechselwirkung – Induktion und Deduktion, Empirie und Theorie bedingen, beschränken oder bereichern einander. Der beschränkende Faktor dominiert, wenn es sich bei der Theorie um ein geschlossenes System mit exklusivem Wahrheitsanspruch handelt (was nicht vor-gesehen ist, kann man nicht sehen), der bereichernde Faktor dominiert, wenn die Theorie die Notwendigkeit ihres eigenen Wandels mit einschließt.
Die Neoklassik stellt ein geschlossenes Denksystem dar, sie ist widerspruchsfrei konstruiert und basiert auf »idealistischen« Annahmen. Am Anspruch, die Realität näherungsweise abzubilden, hält die Theorie dennoch fest. Da Menschen auf der Grundlage von Erwartungen handeln, müssen auch darüber Annahmen getroffen werden. Dieses Problem hatten die Erfinder der Neoklassik vor einhundertfünfzig Jahren übersehen, wohl auch deshalb, weil die Newton’sche Himmelsmechanik ihr wissenschaftliches Leitbild war.16
Die Vernachlässigung der Erwartungen war eine Hauptkritik von Keynes an der Neoklassik: Erwartungen sind Grundlage jeder Entscheidung, sie werden stets unter der Bedingung von Unsicherheit über die Zukunft gebildet und sind (daher) auch von Emotionen geprägt – auf der individuellen wie der sozialen Ebene.
Die antikeynesianischen Denker mussten eine Alternativlösung liefern, welche die logische Konsistenz zwischen ihrer Theorie und der angenommenen Erwartungsbildung gewährleistet (»theory-consistent expectations«): Alle Akteure sind mit gleichen Informationen ausgestattet und bilden ihre Erwartungen nach dem »wahren« Modell, dieses ist die Theorie der Ökonomen selbst (»rationale Erwartungen«). Stellt etwa Apple ein neues Produkt vor, so wissen alle Menschen, welche Gewinne dieses in alle Zukunft bringen wird und wo daher der neue Gleichgewichtskurs der Apple-Aktie liegt. Und auf dieses Niveau springt der Kurs sofort.
Die Theorie unterstellt, dass es ein zeitlos »wahres« Modell gäbe darüber, wie die Nutzenmaximierung aller Akteure, ausgestattet mit bestimmten Vermögen (einschließlich ihrer Fertigkeiten als »Humankapital«) und mit festen Vorlieben (»Präferenzen«), ein Gleichgewicht auf allen Märkten ermöglicht, also das »allgemeine Gleichgewicht«. Eine solche Annahme ist allen anderen Wissenschaften fremd. Theorien sind ja nur Vorstellungen über mögliche Zusammenhänge, sie werden von anderen Theorien abgelöst, die neue Fragen beantworten oder alte Probleme besser erklären (auf Ptolemäus folgten Kopernikus, Newton, Einstein, Bohr etc.).
Das Neue entsteht aus dem Zweifel am Alten; dieser kann nur gedeihen, wenn man Beobachtungen gegenüber offen ist, sie sammelt und prüft: Welche Entwicklungen in der Realität kann ich in meinem Weltbild »unterbringen«, welche muss ich ausblenden? Wenn etwa Arbeitslosigkeit umso stärker steigt, je mehr die Löhne sinken, oder wenn die Staatsverschuldung umso stärker zunimmt, je radikaler gespart wird, wenn die »freiesten« Märkte »manischdepressive« Preisschwankungen generieren, dann zwingen »kognitiven Dissonanzen« einen neoliberalen Ökonomen wegzuschauen oder zu zweifeln. Sie sind also Chancen für Verlernen als Voraussetzung für Lernen.
Haupthindernis für das Verlernen: Innerhalb eines Denksystems kann man dieses selbst nicht als Krisenursache begreifen. Man muss also aus dem eigenen System aussteigen und die Welt mit einer anderen – vorerst nur grob »geschliffenen« – »Test-Brille« betrachten.
Wie wurde in den letzten fünfzig Jahren ein ökonomisches Weltbild durchgesetzt, das schon vor der Weltwirtschaftskrise dominiert hatte? Warum prägt diese Theorie weiterhin das Denken der Eliten, obwohl sie keine konkreten Erklärungen für die bedrückendsten Probleme bietet und ihre Empfehlungen die ökonomische Performance verschlechtert haben?
Auf der Suche nach Antworten lassen wir uns von den Einsichten Ludwik Flecks leiten, einem der originellsten Erkenntnis- und Wissenschaftstheoretiker, ohne den meine Forschungen und daher auch dieses Buch nicht zustande gekommen wären.
Ludwik Fleck wurde 1896 in Lemberg (heute Lwiw) als Pole jüdischen Glaubens geboren. Er studierte Medizin, arbeitete danach in der bakteriologischen Forschung und wurde ein führender Virologe. Daneben entwickelte er eine Wissenschaftstheorie, die er 1935 in einem (bald in Vergessenheit geratenen) Essay zusammenfasste. 1943 wurde Fleck nach Auschwitz deportiert, 1944 kam er ins KZ Buchenwald. Dort hatte ihm die SS ein Labor eingerichtet, damit er einen Impfstoff gegen Typhus entwickle. Dies gelang, doch lieferte Fleck der SS ein Placebo, das echte Medikament bekamen Mithäftlinge.
Fleck wurde 1947 Universitätsprofessor in Lublin und 1954 Mitglied der polnischen Akademie der Wissenschaften. Er wanderte 1957 nach Israel aus, wo er 1961 starb.17 Im folgenden Jahr publizierte Thomas S. Kuhn Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen – eines der meistzitierten Bücher und der wissenschaftstheoretische Bestseller des 20. Jahrhunderts. Im Vorwort erwähnt Kuhn, dass er zufällig auf einen unbekannten Essay von Fleck aus dem Jahr 1935 gestoßen sei, der »viele meiner Gedanken vorwegnimmt«.18 An keiner Stelle weist Kuhn allerdings darauf hin, wie viel er von Fleck übernommen hat. Erst die englische Übersetzung (1979) und eine Neuauflage des Originaltextes (1980) ermöglichten es, den Reichtum des Fleck’schen Essays kennenzulernen. Er hilft uns, die Verankerung des neoklassischen Weltbildes in den Köpfen der Eliten und deren Lernwiderstand besser zu verstehen.
Ausgangspunkt von Flecks Überlegungen ist die lapidare Feststellung, »dass unsere Kenntnisse viel mehr aus dem Erlernten als aus dem Erkannten bestehen«; in seinem Aufsatz »Zur Krise der ›Wirklichkeit‹« (1929) heißt es weiter: »Leider haben wir die Angewohnheit, alte, gewohnte Gedankengänge als besonders evident zu betrachten (…). Sie bilden das eiserne Fundament, auf dem ruhig weitergebaut wird. Dazu kommt (…), dass jede neue Erkenntnistätigkeit vom früheren Erkenntnisbestande abhängig ist (…).«19
Fleck wendet sich gegen die »heldenhafte Beschreibung« wissenschaftlicher Erkenntnisse: »Aus ihr geht nämlich die irrtümliche (…) Ansicht hervor, dass die sogenannte ›Wahrheit‹ fertig, von uns unabhängig, uralt und mehr oder weniger bedeckt oder verhüllt existiere. Man brauche nur die wagemutige Hand eines ›Entdeckers‹, der – von einer genialen Intuition geleitet – die Vorhänge herunterreißt und die Wahrheit für alle sichtbar werden lässt.«20 Dem stellt Fleck die Entstehung des Wissens »auf dem Weg einer sachlichen, fast unpersönlichen wissenschaftlichen Analyse« gegenüber: »Die Hauptrolle spielt dann nicht mehr das Individuum und sein beschränkter menschlicher Verstand, sondern eine Denkgemeinschaft von Menschen, deren spezifische intellektuelle Stimmung zusammen mit den historischen und technischen Möglichkeiten der Zeit einen spezifischen Denkstil erschafft. Die ›Wahrheit‹ ist dann der jeweilige Ausdruck dieses Stils (…).«21
Jener Essay, den Kuhn erwähnt, trägt den listigen Titel Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache.22 Darin fasst Fleck seine Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie zusammen. Er verdeutlicht seine Hauptthesen am Beispiel einer unbestreitbaren Tatsache, der Beziehung zwischen Syphilis und der »Wassermann-Reaktion« (die einen eindeutigen Nachweis der Krankheit ermöglicht). Akribisch rekonstruiert Fleck die Geschichte der Wahrnehmung der Syphilis seit dem 15. Jahrhundert: Mit dem Wandel der religiösen, astrologischen, moralischen und (gesundheits-)politischen Vorstellungen wandelten sich auch Erklärung, Diagnose und Therapie der »Lustseuche«.
Unter dem gemeinsamen »Denkstil« von Wissenschaftlern versteht Fleck »ein gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen«.23 Ein objektives, von Vor-Stellungen bzw. Vor-Urteilen des Betrachters unabhängiges Beobachten existiert nicht. Jedes geschulte Wahrnehmen ist ein Gestaltsehen: »Das unmittelbare Gestaltsehen verlangt ein Erfahrensein in dem bestimmten Denkgebiete: erst nach vielen Erlebnissen, eventuell nach einer Vorbildung erwirbt man die Fähigkeit, Sinn, Gestalt, geschlossene Einheit unmittelbar wahrzunehmen. Freilich verliert man zugleich die Fähigkeit, der Gestalt Widersprechendes zu sehen.«24
Im neoklassischen Denkstil stellt das Marktdiagramm die fundamentale Gestalt dar. Denn sie entspricht der Theorie, wonach ökonomische Prozesse in zwei Variablen (Preise und Mengen) und zwei Funktionen (Angebot und Nachfrage) erfasst werden können. Übersteigt die angebotene Arbeitsmenge die von Unternehmern nachgefragte Arbeitsmenge, so ist der Preis (= Lohn) zu hoch (Abbildung 2.1, Diagramm d). Dies ist eine im Rahmen des neoklassischen Denksystems wahre Aussage, also eine wissenschaftliche Tatsache.
In systemischer Sicht stellt Arbeitslosigkeit ein Defizit an Arbeitsplätzen dar. Die entsprechende »Gestalt« wird durch das Spiel »Reise nach Jerusalem« verdeutlicht: Es gibt 100 Arbeitsplätze, 110 suchen einen Job, 10 Personen gehen leer aus – es sind die weniger Qualifizierten, die weniger Flexiblen, oft die Älteren. Diese Sicht betrachtet die Zahl der Arbeitsplätze keinesfalls als fix, doch reichen Lohnsenkungen und Weiterbildungsmaßnahmen allein nicht aus, um Unternehmen zur Schaffung zusätzlicher Jobs zu veranlassen.
Denkstil ist für Fleck ein »bestimmter Denkzwang und noch mehr: die Gesamtheit geistiger Bereitschaften (…) für solches und nicht anderes Sehen und Handeln. Die Abhängigkeit der wissenschaftlichen Tatsache vom Denkstil ist evident«.25 So muss ein Ökonom, der im System der rationalen Erwartungen operiert, Lohnniveau, Arbeitslosengeld und Arbeitnehmerschutz als Hauptursachen der Arbeitslosigkeit und übermäßige Staatsausgaben als Hauptursache der Staatsverschuldung ansehen; innerhalb eines Denksystems besteht Denkzwang.
»Solche stilgemäße Auflösung (…) heißt Wahrheit. Sie ist nicht ›relativ‹ oder gar ›subjektiv‹ im populären Sinn des Wortes. Sie ist immer oder fast immer, innerhalb eines Denkstils, vollständig determiniert. Man kann nie sagen, derselbe Gedanke sei für A wahr und für B falsch. Gehören A und B demselben Denkkollektiv an, dann ist der Gedanke für beide entweder wahr oder falsch. Gehören sie aber verschiedenen Denkkollektiven an, so ist es eben nicht derselbe Gedanke, da er für einen von ihnen unklar sein muss oder von ihm anders verstanden wird.«26
Die Grundproblematik des wechselseitigen Nicht-Verstehens kommentiert Fleck nüchtern: »Die Prinzipien eines fremden Kollektivs empfindet man (…) als willkürlich (…). Der fremde Gedankenstil mutet als Mystik an, (…) die Erklärungen als nicht beweisend oder danebengreifend, die Probleme oft als unwichtige oder sinnlose Spielerei.«27 So können sich Ökonomen des neoklassischen und des (original-)keynesianischen Denkkollektivs nicht verstehen. »Man findet«, bemerkte Nobelpreisträger28 Robert E. Lucas 1980, »keinen guten Ökonom unter vierzig, der sich oder sein Werk als keynesianisch bezeichnet. (…) In Seminaren wird keynesianische Theorie nicht mehr ernst genommen; die Zuhörer fangen an zu tuscheln und zu kichern.«29
Jedes Denkkollektiv – der »gemeinschaftliche Träger des Denkstils« – leistet gegen die Weiterentwicklung oder gar radikale Änderung des Denkstiles Widerstand. Fleck bezeichnet dies als »die Beharrungstendenz der Meinungssysteme und die Harmonie der Täuschungen«: »Ist ein ausgebautes, geschlossenes Meinungssystem, das aus vielen Einzelheiten und Beziehungen besteht, einmal geformt, so beharrt es beständig gegenüber allem Widersprechenden (…). Nicht um bloße Trägheit handelt es sich oder Vorsicht vor Neuerungen, sondern um eine aktive Vorgangsweise, die in einige Grade zerfällt:
1.Ein Widerspruch gegen das System erscheint undenkbar.
2.Was in das System nicht hineinpasst, bleibt ungesehen, oder
3.es wird verschwiegen, auch wenn es bekannt ist, oder
4.es wird mit großer Kraftanstrengung dem Systeme nicht widersprechend erklärt.
5.Man sieht, beschreibt und bildet sogar Sachverhalte ab, die den herrschenden Anschauungen entsprechen, d. h. die sozusagen ihre Realisierung sind – trotz aller Rechte widersprechender Anschauungen.«30
Es kann wohl kaum eine präzisere Kurzcharakteristik des neoklassischen Denksystems geben als »Harmonie der Täuschungen«. Flecks Einsichten sind für ein Verständnis des gegenwärtigen Lernwiderstandes der ökonomischen Eliten von höchster Relevanz.
Zu These 1: »Wenn eine Auffassung genug stark ein Denkkollektiv durchtränkt, wenn sie bis ins alltägliche Leben und bis in sprachliche Wendungen dringt, (…) dann erscheint ein Widerspruch undenkbar, unvorstellbar.«31 So werden in der Alltagssprache »die Märkte« als Subjekte dargestellt (»die Märkte fürchten einen Wahlsieg von LePen« oder »die Märkte disziplinieren Griechenland« etc.). Und ein »prinzipieller« Widerspruch gegen Sparpolitik, Lohnzurückhaltung und sonstige »Strukturreformen« ist undenkbar für die Eliten.
Zu These 2: »Jede umfassende Theorie passiert eine Epoche der Klassizität, wo nur exakt hineinpassende Tatsachen gesehen werden, und eine der Komplikationen, wo sich erst die Ausnahmen melden (…). Häufig überwuchern schließlich die Ausnahmen die Zahl der regelmäßigen Fälle.«32 In den vergangenen Jahrzehnten haben sich immer mehr Entwicklungen ergeben, die in das neoklassische Denksystem nicht »hineinpassen« und daher »ungesehen« bleiben – von den Bullen- und Bärenmärkten bis zur austeritätspolitischen Demolierung der griechischen Wirtschaft (siehe Kapitel 11 und 12).
Zu These 3 (»Was in das System nicht hineinpasst (…), wird verschwiegen, auch wenn es bekannt ist«): Fleck erwähnt als »solche Ausnahme (…) die Bewegungen Merkurs, bezogen auf die Newton’schen Gesetze. Obwohl Fachleute sie kannten, verschwieg man sie der breiteren Öffentlichkeit, da sie gegen herrschende Anschauung sprachen. Erst jetzt zitiert man sie, als sie für die Relativitätstheorie nützlich wurden.«33
Ein gutes Beispiel für das Ausblenden des »Unpassenden« ist die Prosperitätsphase der Nachkriegszeit. Damals wurde der Sozialstaat ausgebaut, die Staatsverschuldung sank, die Reallöhne wuchsen überdurchschnittlich, das Problem der Arbeitslosigkeit gab es nicht (Abbildung 5.1). Mainstream-Ökonomen tun diese Periode daher als »Sonderfall« ab – teils wegen des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg (das Vorkriegs-BIP wurde allerdings schon Anfang der 1950er-Jahre übertroffen), teils weil die Finanzmärkte »unterdrückt« wurden (»financial repression« – dann wäre Demokratie »Repression von Diktatur«).
Zu These 4 (»Was in das System nicht hineinpasst (…) wird mit großer Kraftanstrengung dem Systeme nicht widersprechend erklärt«): So hat Nobelpreisträger Milton Friedman (1912–2006) gemeinsam mit Anna Schwartz (1915–2012) zu beweisen versucht, dass die Depression der 1930er-Jahre nicht durch den Aktiencrash 1929, die nachfolgende Sparpolitik und Lohnsenkungen verursacht wurde, sondern vom Staat durch eine zu restriktive Geldpolitik.34 Obwohl die Daten über die Entwicklung von Geldmengen und Zinssätzen diese These nicht stützen,35 hat sie sich durchgesetzt. Denn die Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache gelingt, wenn sie »auf der Linie des geistigen Interesses ihres Denkkollektivs« liegt.36 Auch für die Finanzkrise 2008 haben neoliberale Ökonomen wie John B. Taylor (2009) sogleich die – diesmal zu expansive – Geldpolitik der Notenbank verantwortlich gemacht. Dazu habe auch die großzügige Wohnbauförderung des Staates beigetragen.37
Zu These 5: »Den aktivsten Grad der Beharrungstendenz der Meinungssysteme bildet die schöpferische Dichtung, die sozusagen magische Versachlichung der Ideen, das Erklären, dass eigene wissenschaftliche Träume erfüllt seien.«38 Damit meint Fleck, dass Forscher so sehr von der Richtigkeit ihrer Theorie bzw. Vorstellung überzeugt sind, dass sie dazu passende Fakten bzw. Beobachtungen (unbewusst) erfinden. Die ökonomische Theoriegeschichte der vergangenen Jahrzehnte ist reich an Beispielen für »schöpferische Dichtung«. Ich beschränke mich auf zwei Beispiele.
Die herrschende idealistische Theorie nimmt an, dass sich alle Märkte stets im Gleichgewicht befinden. Dann dürfte es keine Konjunkturschwankungen geben. Es gibt sie aber, und um diese Tatsache (weg) zu erklären, erfanden die Nobelpreisträger Edward C. Prescott und Finn E. Kydland die Theorie des »real business cycle« (RBC): Konjunkturzyklen seien ausschließlich das Resultat von »Technologieschocks«, also neuen Erfindungen, welche die Märkte aus dem Gleichgewicht bringen.
Wie nahezu alle Modelle des neoklassischen, um »rationale Erwartungen« erweiterten Denksystems beruht auch die RBC-Theorie auf folgenden Annahmen: Es gibt nur »repräsentative«, perfekt informierte, ewig lebende und rein rational handelnde Akteure, welche ihren Nutzen über alle Zukunft maximieren. Die Nutzenfunktion des »repräsentativen« Haushaltes und die Produktionsfunktion des »repräsentativen« Unternehmens bestimmen den Output, die Verteilung zwischen Arbeitszeit und Freizeit, die Anteile von Konsum- und Investitionsgütern sowie die Verteilung des Outputs auf Gewinne und Löhne.
Auf dem »Fundament« dieser Annahmen werden die »dynamic stochastic general equilibrium models« (DSGE-Modelle) geschätzt, die (auch) von den EU-Institutionen wie EZB oder der EU-Kommission für Prognosen sowie für die Bewertung politischer Maßnahmen wie etwa einer Finanztransaktionssteuer verwendet werden.39
Mein zweites Beispiel knüpft an das erste an. Für Gleichgewichtsökonomen war der New Deal von Roosevelt und sein Erfolg – das BIP stieg zwischen 1933 und 1937 um 43,1 Prozent – immer schon ein Ärgernis, das als »Sonderfall« beiseitegeschoben wurde. Doch die Ausbreitung des neoklassischen Denkkollektivs ermutigte zwei US-Ökonomen zu einem Frontalangriff auf den New Deal: er habe schweren Schaden verursacht, denn wären die Löhne nicht so kräftig gestiegen, wäre das BIP der USA (noch) viel stärker gewachsen.40
Diese »magische Versachlichung der Ideen« (Fleck) gelang mithilfe eines »stilgemäß« geschätzten RBC-Modells. Daraus schloss Prescott, die Depression der 1930er-Jahre sei durch die Politik verursacht worden: Den Anstieg der Arbeitslosigkeit nimmt er als Rückgang der durchschnittlichen Arbeitszeit wahr, und da weniger gearbeitet wurde, wurde auch weniger produziert.41 Berücksichtigt man, dass der New Deal (»policy changes«) erst 1933 begann, die Depression aber schon 1929, so wird der Charakter dieser Analyse als »schöpferische Dichtung« klar.
Gestärkt wird die »Beharrungstendenz von Meinungssystemen« Fleck zufolge durch die »formelle und inhaltliche Abgeschlossenheit« des Denkkollektivs: »Gesetzliche und sittengemäße Einrichtungen, manchmal besondere Sprache (…) schließen formal (…) die Denkgemeinde ab. (…) Wichtiger ist jedoch die inhaltliche Abgeschlossenheit jedes Denkkollektivs als besonderer Denkwelt: (…) für jedes Wissensgebiet besteht eine Lehrlingszeit, während welcher rein autoritäre Gedankensuggestion stattfindet (…). Jede didaktische Einführung ist also wörtlich eine Hinein-Führung.«42
Damit verweist Fleck auf die Bedeutung der Einführungs-Lehrbücher für die »Einweihung in einen Denkstil«. So hat das Lehrbuch Economics von Paul A. Samuelson wesentlich zur Dominanz der »neoklassischen Synthese« in den 1950er- und 1960er-Jahren beigetragen.43 In jüngster Zeit gilt Ähnliches für das »neu-keynesianische« Lehrbuch von Gregory N. Mankiw und Mark P. Taylor.44
»Zu jedem Denkstil parallel verläuft dessen praktische Auswirkung: die Anwendung.«45 Die Wirtschaftspolitik passt sich dem dominanten Denksystem an, Letzteres dient umgekehrt als Legitimation der Politik. »Denkzwang, Denkgewohnheit oder wenigstens ausgesprochener Widerwille gegen denkstilfremdes Denken bewachen die Harmonie zwischen der Anwendung und dem Denkstil.«46 In der EU bewachen zusätzlich »ewige« Vereinbarungen wie der Fiskalpakt die Harmonie zwischen neoliberaler Theorie und Politik (siehe Kapitel 11).
Innerhalb eines Denkkollektivs gibt es Zirkel und Hierarchien: »Um jedes Denkgebilde (…) bildet sich ein kleiner esoterischer und ein größerer exoterischer Kreis der Denkkollektivteilnehmer (…) ein Individuum gehört mehreren exoterischen Kreisen und wenigen, eventuell keinem esoterischen an. Es gibt eine stufenweise Hierarchie des Eingeweihtseins (…).«47
Einerseits stärken die Qualifikationsstufen vom Doktorat zum Nobelpreis die Beharrungstendenz eines Denkstils, andererseits ermöglicht die gleichzeitige Teilnahme an mehreren Denkkollektiven und damit der »interkollektive Denkverkehr« wechselseitige Anregungen und damit »Mutationen« des Denkstils. Wie in der Evolution des Lebendigen sieht Fleck daher eine enorme Bandbreite möglicher »Denkstilergänzungen, Denkstiländerungen oder Denkstilumwandlungen« auf evolutionärem Weg.48 Neue Entwicklungen in den Wirtschaftswissenschaften wie der »behavioral economics« oder der »Neuroeconomics« etwa wurden dadurch ermöglicht, dass Ökonomen das geschlossene System der Gleichgewichtstheorie verließen und sich von Sichtweisen anderer Wissenschaften anregen ließen (siehe dazu Kapitel 9 und 18).
Die »Idealisten« verharren hingegen in ihrem geschlossenen Denksystem.49 Dieser intellektuelle Autismus schützt und bewahrt die »Harmonie der Täuschungen« um den Preis zunehmenden Realitätsverlustes. So verkündete Lucas im Januar 2003, fünf Jahre vor Ausbruch der großen Krise, die makroökonomische Theorie habe ihr zentrales Problem – Wie lassen sich wirtschaftliche Depressionen verhindern? – gelöst, und das für viele Jahrzehnte.50
Solche Positionen ergeben sich daraus, »dass der intrakollektive Denkverkehr (…) zur Bestärkung der Denkgebilde führt: Vertrauen zu den Eingeweihten, deren Abhängigkeit von der öffentlichen Meinung, gedankliche Solidarität Gleichgestellter, die im Dienste derselben Idee stehen, sind gleichgerichtete soziale Kräfte, die eine gemeinsame besondere Stimmung schaffen und den Denkgebilden Solidität (…) verleihen«.51
Zur Vereinheitlichung, Verbreitung und Verfestigung eines Denksystems tragen weiterhin die Zeitschriften, Handbücher sowie die »populäre Wissenschaft« bei. Die Zahl der Zeitschriftenpublikationen und deren »Ranking« bestimmen den Rang eines Ökonomen. Die Bewertung der eingereichten Artikel erfolgt durch Referees aus dem Kreis etablierter Wissenschaftler. Der Selektionsprozess erweckt den Anschein höchster Objektivität – tatsächlich reproduziert er den herrschenden Denkstil. Generell findet kaum ein Gedankenaustausch zwischen dem Mainstream und abweichenden Denkkollektiven wie den »Post-Keynesianern«, den »Institutionalisten« oder evolutionären Ökonomen statt (sie haben ihre eigenen Zeitschriften). Artikel, die nicht von der Annahme »rationaler Erwartungen« ausgehen, haben kaum Chancen auf Publikation in »hochrangigen« Journalen.
Das Handbuch repräsentiert das »geordnete System einer Wissenschaft«.52 Ökonomische Handbücher decken sehr verschiedene Problembereiche ab (Wachstum, Arbeitsmarkt, Finanzmärkte, Industrie etc.), das »gesicherte Wissen« ergibt sich primär aus der Anwendung der neoklassischen Theorie auf den jeweiligen Bereich.
Die »populäre Wissenschaft« wendet sich an eine breite Öffentlichkeit: »Charakteristisch (…) ist der Wegfall der Einzelheiten (…), wodurch eine künstliche Vereinfachung erzielt wird. Sodann die künstlerisch angenehme, lebendige, anschauliche Ausführung. Endlich die apodiktische Wertung, das einfache Gutheißen oder Ablehnen gewisser Standpunkte.«53 Genau das war Hauptaufgabe der seit den 1950er-Jahren expandierenden neoliberalen Think Tanks (siehe Kapitel 6).