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MIT ILIJA TROJANOW IN SEINEM WELTENSAMMLER-REICH ... ... mit Friederike Mayröcker im Arbeitszimmer, mit Adolf Muschg in seinem Japanischen Garten, mit Martin Pollack auf seinem burgenländischen Bauernhof oder mit Jaroslav Rudiš in einer Prager Straßenbahn: bekannte Autorinnen und Autoren der Gegenwart öffnen Brita Steinwendtner ihre Pforten und Gedanken, und gewähren persönliche Einblicke in ihr Leben und Schreiben. Welcher Zauber kann es sein, die Vielfalt von Literatur mit den Landschaften zu verbinden, wo sie entsteht. VON LEMBERG NACH BERLIN Ein Jahr lang reist Brita Steinwendtner quer durch Österreich und Europa - vom slowenischen Karst bis nach Hamburg, von der Ukraine bis an den Zürichsee. Auf ihrer Reise besucht sie Schriftstellerinnen und Schriftsteller an Orten, an denen sie leben und schreiben. Sie öffnen uns eine Türe in ihr Leben, zu ihren Sehnsuchtsorten, Rückzugsorten - Orte voller persönlicher Bedeutung und Geschichte, Orte des Nachdenkens, der Kreativität, der Poesie. Sie erlauben uns private und authentische Blicke auf Metropolen und Landschaften, auf verborgene Stadtteile und Dörfer. EINE REISE IN DIE WELT DER POESIE In achtzehn feinfühlig gezeichneten Porträts setzt Brita Steinwendtner Landschafts- und Lebensgeschichten der Dichterinnen und Dichter auf erhellende Weise mit deren Werken in Verbindung. Eine Reise Der Welt entlang im Realen und im Reich der Phantasie - eine großartige literarische Spurensuche, die Vertrautes und Fremdes in ein neues Licht rückt. Fotografien von Wolf Steinwendtner zeigen Mensch und Landschaft noch einmal auf andere Weise. Eine literarische Entdeckungsreise der besonderen Art!
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Seitenzahl: 466
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Brita Steinwendtner
Vom Zauber der Dichterlandschaften
Mit Fotografienvon Wolf Steinwendtner
HAYMONverlag
© 2016
HAYMON verlag
Innsbruck-Wien
www.haymonverlag.at
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
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ISBN 978-3-7099-3732-7
Umschlag- und Buchgestaltung, Satz: hœretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol
Umschlagabbildung: Wolf Steinwendtner
Fotografien Innenteil: Wolf Steinwendtner
Diesen Roman erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.
Der Welt entlang …
Friederike Mayröcker
In die wilden Waffenschmieden deines Herzens
Das Zentagasse-Universum von Wien
Juri Andruchowytsch
Im Grenzland der Hoffnung
Galizien. Iwano Frankiwsk/Stanislau. L’wiw/Lemberg
Marica Bodrožić
Lassen wir Fahnen Fahnen sein. Seien wir Menschen
Die Sonne der Adria über Berlin
Karl-Markus Gauß
Der Ort, von dem aus ich mir die Welt erschließe
Salzburg
Ludwig Hartinger – Aleš Šteger
Denn mehr als uns fehlt, ist uns gegeben
Slowenien: Karst – Ljubljana – Ptuj
Monika Helfer – Michael Köhlmeier
Die Seele ist eine titanische Bildergalerie
Hohenems – Bregenzerwald
Bodo Hell
Ich möchte am liebsten leben
Grafenbergalm am Dachstein
Hubert von Goisern
nebenanand füreinand miteinand
Salzkammergut
Alfred Komarek
In den Kellergassen des Lebens
Weinviertel
Brigitte Kronauer
Von der Freiheit und Frechheit der Poesie
Die Niederelbe bei Hamburg
Robert Menasse
Uns in unserer Zeitgenossenschaft beschreiben
Brüssel
Adolf Muschg
Eines Tages zog einer aus, um einer zu werden
Japan am Zürichsee
Martin Pollack
Keine Tragödie darf verschwiegen werden
Das südliche Burgenland
Ilma Rakusa
Unterwegs oder nicht, Obdach gewährst du dir selbst
Zwischen Engadin und Italien – Im Bergell
Jaroslav Rudiš
Jeder hat eine Lebenslinie
Prag – Jičín – Liberec
Ilija Trojanow
Keine Heimat, die nicht Fremde, keine Fremde, die nicht Heimat werden kann
Von Sofia durch die Welt nach Wien
Anmerkungen
Dank
Für alle achtzehndieses Buches.
… führen die Reisen dieses Buches in den schönen Mäandern der Wirklichkeit und der Fantasie. Es sind Reisen an besondere Orte und in verträumte, wilde oder ganz alltägliche Landschaften, und zugleich Reisen in die grenzenlosen Areale der Imagination, aus denen sich Dichtung nährt. Es sind Besuche bei Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die an unterschiedlichen Orten in Europa leben, schreiben und ihre Welt entwerfen, die in vielen Ländern, mitunter sogar Kontinenten unterwegs sind, sich nach dieser oder jener Landschaft sehnen und dies alles in verwandelter Form in ihren Werken durchschimmern lassen.
Diese Landschafts- und Lebensgeschichten und Fotografien sind in fast zwei Jahren des Suchens, Staunens und des Miteinanderseins entstanden. Eine Zeit des Wiedersehens und der langen Gespräche, der Festigung alter Freundschaften und des Beginns neuer, die sich erst durch die Begegnungen für dieses Buch entwickelten. Monate des Lesens und Wiederlesens, der Glücksmomente, Überraschungen und Fragen. Portraits, die von Zuneigung und Wertschätzung getragen sind, keine wissenschaftlichen Abhandlungen.
Alle, die gerne reisen, werden in den Erzählungen dieses Bandes vertraute und berühmte Orte wiederfinden oder verborgene entdecken. Immer jedoch liegt der besondere Zauber in der persönlichen Sicht der Autorinnen und Autoren: Sie lenken den Blick auf Einzelheiten, die dem touristischen Blick entgehen und dadurch ihren Lebens- und Schreibraum in eine inspirierende Szenerie verwandeln.
Die Gegenwart ist von Flucht, Grenzen, Umbrüchen und Aufbrüchen gezeichnet. Was bleibt, ist die Geborgenheit an jenem Ort, an dem man etwas wie ein Zuhause gefunden hat oder gefunden zu haben glaubt, und von dem aus es sich selbst in einem kleinen Schreibzimmer Der Welt entlang grenzenlos reisen, dichten und träumen lässt.
Ianua patet, cor magis –
Weit offen die Tür, noch weiter das Herz
die wilden schwertlilien blühten über der schwelle, und die birnen, die am birnbaum vor unserem haus hingen, lagen in grünen scherben vor meinen füszen. [...] ich tappe durch dieses grosze dunkle haus das meine vorfahren besessen hatten. der wind bauscht die weiszen flockigen gardinen nach innen; ich trete auf zehenspitzen in die ineinander übergehenden zimmer – vielleicht sind es fünf. neben dem haus unser groszer garten, voller lilien. An der brücke die graue statue des heiligen nepomuk. uferlang die weiden, graugrün mit runden häuptern. hinter der brücke verliert sich die erinnerung ins ungewisse einer dorfschule, einer dorfkirche; dann nur vereinzelte punkte, wilde apfelbäume beiderseits der fahrstrasze, schwarze fauchende walze bahnhof.1
Das ist Deinzendorf. Ein Dorf im nördlichen Weinviertel, nahe der tschechischen Grenze. Das war das Land der Kindheit, eines Paradieses, das es nicht mehr gibt. Im großelterlichen Lehmvierkanter war alles „stubengrosz und schön“. Im Garten das Lusthaus aus Birkenholz, „die Schwalben, die Strahlen, die Schmetterlinge, Goldlack und Stiefmütterchen, die Laterne des Monds“. Mit bloßen Füßen lief das Kind umher, flimmernde Hitze, Glast. Kämmte in den dunkelnden Hohlwegen mit den Händen „die duftende schwere tief niederhängende Pracht der Robinienbäume“, verstreute die Blätter hinter sich auf dem Weg, um wieder nach Hause zu finden. Die Schaukel im Schuppen, der Sommerwind, der silberne Staub über der Dorfstraße. Die Trittstufen zum Ziehbrunnen waren sonnenwarm, wo das Mädchen „lange Sommernachmittage in wehmütig schwereloser Selbstvergessenheit zubrachte“, die Mundharmonika an die Lippen gepresst. Regungslos lagen die Salamander auf den Steinplatten. An der Hand der Mutter – sie waren „ein Herz und eine Seele“ – ging das Kind auf kleine Wanderungen, sie holten mit dem Schubkarren Steine aus dem nahen Steinbruch, um die Gartenbeete einzufrieden. Lilien, Malven, Erdbeeren und Kletterrosen, Glockenblumen, Salbei und Mohn. Hinter dem Haus der Bach, das Wehr, die Brücke, die Wälder, die Teiche, der Saum der Felder, „Korn, Gerste, Hafer, Raps, der betäubende Duft der Akazien, feuchte, niedrige Behausungen, Gewinkel, Hütten, Verschläge, wie der Menschenschlag dort: Das Antlitz haben sie zerstreut, zerstört ...“2
Ähnliche Szenerien könnte Joseph von Eichendorff entworfen haben oder ein Jahrhundert später Theodor Kramer, der leidenschaftlich-melancholische Dichter der Weinviertler Landschaft. Jedoch: Diese sommerheißen Bilder hat Friederike Mayröcker geschrieben. In ihrem beispiellosen Werk schlägt sie noch andere, berückend radikale Seiten der Sprache auf, magisch und experimentell, surrealistische Montagetechniken nützend, Dekonstruktion und Traum verbindend, Inbild der Moderne. Zwischen Avantgarde und Tradition, im „Strahlungskranz von Assoziationsmöglichkeiten“. So fügen sich auch Kind und Haus in ihrer Körperlichkeit in die ungestüme Wahrnehmungskraft ein, die sie in allem, was sie schreibt, auszeichnet.
ich betaste die stühle, die schränke, die tische, die türen, die wände, die bilder, den fuszboden, ich öffne die türen und schliesze sie hinter mir, ich folge mir selbst. es ist die permutation des gehens des öffnens des schlieszens des aus dem fenster blickens des berührens von hausrat; es ist die permutation des lebens.3
Über die Jahrzehnte ihres Schreibens kehrt Friederike Mayröcker immer wieder zu ihren Deinzendorfer Feriensommern zurück und lässt sie in fast allen ihren Werken bis zum Band fleurs von 2016 wieder aufleben. Bereits 1992 schrieb sie diesen Sommern mit Blumenwerk. Ländliches Journal/Deinzendorf ein ganzes Buch mit eigenen Zeichnungen, das zusammen mit dem Band Gang durchs Dorf. Fingerzeig als bibliophile Ausgabe erschien. Letzterer ist ein Lokalaugenschein, den Bodo Hell mit seiner Kamera festhielt, Mayröckers weisende Hand im Bild: Deinzendorf ist ein tristes, begradigtes Schlafdorf geworden. Anstelle des Blütengartens verläuft eine breite Straße, das Haus der Erinnerung zeigt eine glatte Fassade, kein Vorgarten mehr mit den beiden großen Birnbäumen, kein glyzinienbehangenes Gartenhaus, kein Ziehbrunnen, längst zerstoben der alte Zauber. Auch kein Krämerladen, der nach Zimtrinde, Schuhwachs und einem Autoreifen roch, kein geschlachtetes Lamm, kein rätselhafter „Bau Knecht“, der am Morgen gegen vier zu Besuch kam und alles plötzlich infrage gestellt war. Es war schon früher nur eine brüchige Idylle: Am Lattenzaun wird die Erzählerin schließlich zugehämmert und zerstört. 1934, in der Zeit der Wirtschaftskrise, musste der Lehmhof versteigert werden und wurde um 100 Schilling verschleudert.
Davon erzählt Friederike Mayröcker, als wir uns wiedersehen. Ich stelle ihr W. vor, und wir lernen Edith Schreiber kennen, die Freundin an ihrer Seite, die versucht, ihr das beschwerlicher werdende Leben erträglich zu machen. Wir sind im Café Sperl, Wien, Gumpendorfer Straße. Sind in Mayröckers Wortlabyrinthen.
das Getroffensein
das Verwundetsein
das Betrachten
das Zuhören [...]
das Umschlingen
das Verschlingen
das Umschlungensein
das Verschlungensein
das Ablassen
das Sinkenlassen
das Versinkenlassen
das Versunkensein4
Diesen Treffpunkt hat Friederike vorgeschlagen. Das Café Sperl ist in den letzten Jahren ihr Lieblingscafé geworden, es ist ein altes, heimeliges Café, sagt sie, ich bestelle immer die Loge drei. Früher hatte sie mehrere Lieblingscafés, den Tirolerhof oder das Café Rosenkavalier, wo sie mit Ernst Jandl, dem „Lebens- und Liebesfreund“ oft eingekehrt ist und wo sie die Sehnsucht hintreibt, als er gestorben war.
[...] und dann gehe ich wieder zum Südbahnhof, und das Glimmen seiner Augen und ich sage zu ihm, der häszlichste Bahnhof der Stadt, und ich fuhr in den Halbstock hinauf und setzte mich im Café Rosenkavalier an jenen Tisch, an dem wir, EJ und ich, immer gesessen waren, damals, meist Sonntag mittag um dort zu essen, und immer fühlten wir uns so, als wären wir eben von einer Reise zurückgekommen umso mehr, als ich immer meinen kl. schwarzen Rucksack trug, dasz es aussah als sei es mein Reisegepäck, und ich wurde von eben dem Kellner bedient der auch EJ und mich damals bedient hatte, und ich schaute auf den leeren Sessel mir gegenüber, und es schnürte mir den Hals und ich sehe ihn auf dem leeren Sessel mir gegenüber wie früher, und dann fahren wir die Rolltreppe hinunter in die Bahnhofshalle und EJ kauft seine Lieblings Zigarillos und für mich eine Creme Schokolade, und dann stiegen wir in die Straszenbahn und fuhren nachhause, und zu den Wochenenden vagabundiere ich nun in meiner Stadt herum mit dem Gefühl, dasz die Zeit ganz langsam vergeht, eigentlich stehenbleibt, aber das ist alles so lange her, und ich sauge am Äther der Poeten nämlich beim griffigen Erzählen, nicht wahr.5
Ich beobachte gerne Menschen, sagt Friederike, ich bin ein visueller Typ. Wenn ich nicht mehr hinauskönnte, könnte ich auch nicht mehr schreiben. Ich brauche die Natur, ich bin früher kilometerweit gewandert, und ich brauche die Welt der Menschen. Es ist laut im Café Sperl, Friederike spricht leise, nicht jedes Wort ist zu verstehen. Die Augen jung, die Haltung vornübergebeugt, das schwarze Haar im Gesicht, ist sie wie versteckt, verschlungen in sich selbst, unangreifbar für andere, so verletzlich, so fragil, dass man Angst hat, zu fragen, zu reden, überhaupt da zu sein neben ihr. Denn alles außer ihr scheint banal und Staffage für diesen einen einzigen Menschen, der hier Schwarz in Schwarz wie hergezaubert wirkt, in dieses Café, das tausend Geschichten erzählt, die sich im Plüsch der Jahrzehnte eingenistet haben, im Rot und im Purpur, die Lichter gedämpft, die Marmortischchen kalt und zeitlos, die Gespräche ein Pollenflug auf tauben Boden, die älteren Herrschaften noch in der Courtoisie einer früheren Zeit, die jüngeren laut und lachend, als ob sie in der Küche ihres Studentenheims stünden, andere konzentriert über ihren Laptop gebeugt, das Kommen und Gehen eines Sonntagnachmittags, auf der Gumpendorfer Straße rauscht stoßweise im Rhythmus der Ampeln der Verkehr vorüber, leise klingt irgendwo ein Glas, eine Tasse, der Ober bringt Melange und Cappuccino und heiße Schokolade mit Rum, bringt einen weißen Sommerspritzer oder einen Apérol, ein Croissant, eine Gulaschsuppe, die Zeitungen rascheln, die Kriege sind weit weg, die Flüchtlinge nahe, eine Dichterin in Schwarz beugt sich über sich selbst, wärmt sich mit weicher schwarzer Jacke, schlingt die Arme um ihren Körper, die Welt ist draußen, die Stimme innen, die Worte, die Bilder, die Erinnerungen und das schmerzhafte Vergehen der Zeit.
Kann sein daß, wir werden nicht mehr geliebkost. Kann sein daß, jemand kommt um mich auszuforschen. Ein Zahn nach dem anderen, büschelweise die Haare, das Herz. Resignieren, aufbäumen. Kann sein daß, die Tränen strömen beim zufälligen Wiederhören der Arpeggione-Sonate, herzzerreißendes Kopfkissen. [...] Kann sein daß, man wird ungeduldiger, kann sein daß, man wird einsichtsvoller, immer noch ungeduldiger, immer noch einsichtsvoller. Kann sein daß, man nimmt alles vorweg, die Schmach und das Siechtum, die Verlorenheit und die Verlassenheit, das Sterben und den Augenblick des Todes, den Terror der Todessekunde.6
Den kurzen Text „kann sein daß“ schrieb Mayröcker bereits 1988. Der Lyrikband Das besessene Alter erschien 1992, das titelgebende Gedicht ist ein Jahr früher entstanden, da war sie siebenundsechzig. Jetzt ist sie über neunzig und schreibt, schreibt fast Tag und Nacht und lebt nur, wenn sie schreiben kann. ABER ÜBERHAUPT SCHREIBEN!
Gewohnt hat Friederike Mayröcker ihr ganzes Leben in einer Handvoll Straßen im 5. Wiener Gemeindebezirk. Hier ist sie geboren, es war eine Hausgeburt in der riesigen großelterlichen Wohnung aus der Gründerzeit in der Wiedner Hauptstraße, es war der 20. Dezember 1924 und die Hebamme rief, als sie das Neugeborene in die Höhe hielt: Schauen Sie, ein ENGELGOTTESKIND! 1924: das Jahr, in dem Kafka starb und das Erste Manifest des Surrealismus veröffentlicht wurde. Mit eineinhalb Jahren bekam Friederike Gehirnhautentzündung, war wochenlang im Spital – später schreibt sie vom Schutzengel ihrer Kindheit–, wurde gesund, durfte bis zum zehnten Lebensjahr jedoch wegen angeblicher Ansteckungsgefahr in keine öffentliche Schule gehen. So kam sie – sie wohnten bereits in der Anzengrubergasse – zu den Englischen Fräulein in der Nikolsdorfer Gasse. Es war eine feine Schule, sagt Friederike, bereits modern in der Koedukation, wir hatten keine geistliche Schwester, sondern eine weltliche Lehrerin, nur neun oder zwölf Kinder. Ich war ein scheues Kind, habe nur geschaut und gehorcht. Wir hatten blaue Faltenröcke und weiße Blusen, eine Schürze aus hartem Cloth.
Ein umsorgtes Einzelkind, ein glückliches Elternhaus: „Mein Vater: Lehrer und leidenschaftlicher Motorist, intelligent, unternehmend, gesellig, ideenreich, die Motorräder kamen und gingen ... Meine Mutter: Modistin, inspiriert, melancholisch, aufopfernd, liebevoll, den Künsten ergeben.“ Auf dem Schulweg trägt sie dem Kind die Tasche, auf dem Eislaufplatz beobachtet sie frierend die Anfangskünste des Mädchens, auf der alten Nähmaschine schneidert sie ihm ein blaues Etaminkleidchen und streut ihm Salz auf das Haupt, um den bösen Blick zu bannen. Am Morgen aber, inmitten von Hutstöcken, „wird sie von einem Gefühl ungeduldigen Entzückens beim Anblick der vielfarbigen Hutstumpen, Blumengestecke, Tuffs, Schleier, Rüschen und Seidenbänder durchdrungen. Und sie beginnt wie berauscht in diesem herrlichen Durcheinander von Farben und Materialien zu wühlen“, in Tüll und Taft, Gaze, Filz, Stroh und Samt, „in dem Bewußtsein, daß alles möglich ist.“7 Und ich denke an meine Großmutter, die ebenfalls Modistin war, die ihren Hut für die Hochzeitsreise selbst entworfen und gefertigt hatte, groß wie ein kleines Wagenrad, sodass sie schräg in den Zug einsteigen musste, der sie nach Meran hätte bringen sollen, aber schon in Salzburg war die Reise zu Ende: Der Krieg war ausgebrochen, Generalmobilmachung am 31. Juli 1914, mein Großvater kam 1916 zurück mit zerschossener Hüfte. In unserer Küche hängt eine Fotografie von ihr im weißen, langen taillierten Kleid, sie liebkost ein weißes Häschen und steht am Ufer eines Baches, wenige Tage, nachdem ihr der frisch vermählte Geliebte genommen wurde für die erste scheue, wilde Zeit der Liebe; ich denke an sie mit schlohweißem Haar und fühle mich schuldig, da ich zu wenig gefragt habe nach den Farben der Hüte und den Dunkelheiten eines Lebens und denke zugleich an Mayröckers Selbstvorwürfe, dass sie jenen, die sie liebte, zu wenig Zuneigung geschenkt und das Schreiben über alles gestellt hätte.
Noch immer im Café Sperl. Friederike erzählt weiter von Wien: Die Wohnung in der Anzengrubergasse war klein, Substandard, aber der kostbare Bösendorfer Flügel aus dem Jahr 1890 war mit übersiedelt worden, er stand da, ungeliebt und bald unbespielt, in der Einbuchtung seines Korpus schrieb sie ihr erstes Gedicht. In dieser Wohnung blieb sie bis zu ihrer „Akeleienzeit“, da war sie fast dreißig. Danach kam die Zentagasse. Sie hatte gerade Ernst Jandl, den genialen Dichter, kennengerlernt, zu jener Zeit begann eine der schönsten Liebesgeschichten der Weltliteratur, die alles überdauert, das Glück, den Schmerz, die Jahre und den Tod. Seit über sechzig Jahren lebt Mayröcker hier in der Zentagasse im 5. Wiener Gemeindebezirk.
wienumschlungen
ich hänge an dieser Stadt, wie ich hänge an dieser Stadt, warum hänge ich an dieser Stadt, ist es, weil ich da geboren bin, immer da gelebt habe, weil ich da alle Lichter angezündet habe, weil ich unergründlichen Ratschlüssen gefolgt bin oder folgen habe müssen, ich hänge an dieser Stadt aber ich liebe sie nicht, ich bin sie gewohnt, sie ist mir vertraut, ich bin in ihr vertraut, ich vertraue mich ihr an, ich ruhe in ihr, wenn ich da bin, ich bin außer mir und verliere mich selbst wenn ich nicht da bin, ich ruhe in ihr, ich vertraue ihr und ich vertraue darauf, daß sie mich hält wie sie mich schon immer gehalten hat, also will ich auch ruhen da, später wenn ich nicht mehr leben kann, darf. [...] Manchmal taucht etwas auf, etwas Lichtes, ich weiß nicht, das sind die glitzernden Momente, bei Sonnenuntergang, in der Dämmerung, ein milder Schatten über den Dächern, eine gleißende Kirchturmspitze, das auf einen sehr fernen Punkt zulaufende Ende einer alten schönen langen Straße, ich blicke zur Spitze der Stefanskirche und wieder hinunter zu ihren Grundfesten, immer hinauf und hinunter, ich werde schwindlig dabei, ich möchte am Leben bleiben.8
Wien. „[...] hier allein kann ich sein, auch mit der Angst“. Der Historie dieser geschichtsträchtigen Stadt hat sich Mayröcker verweigert, vermutlich, weil sie historische und persönliche Zusammenhänge bestreitet, sie alles zu eng Biografische ablehnt. Immer hat sie andere Verknüpfungen gesucht: Fiktion, Redebilder, hypnotische Wortträume. „Und obwohl ich in dieser Stadt geprägt worden bin, gibt es darüber noch die Ortlosigkeit, den utopischen Wohnsitz : die Deutschsprachigkeit : meine deutschsprachige Poesie.“ Bis 1969 war Mayröcker Englischlehrerin an Wiener Hauptschulen, aber in keiner anderen Sprache als in der deutschen, sagt sie, „könnte ich mich entfalten, könnte schreibend mich verwirklichen“.
Wien ist eine Schreibstadt. Hier kann man verrückt werden. Hier kann man verrückt sein. Wien ist für viele Dichter zur Schreibstadt geworden, viele verrückte Dichter kommen aus Wien. Verrücktheit, verrückte Sicht ist eine der Voraussetzungen für Schreiben.9
Wollte man dennoch kurz die Realität in den Blick nehmen: Alle Lebensstationen Mayröckers kann man in wenigen Minuten erreichen: die Wiedner Hauptstraße, die Anzengruber-, die Nikolsdorfer und die Zentagasse. Letztere ist benannt nach der Schlacht bei Zenta, in der Prinz Eugen 1697 die Osmanen schlug und damit den Großen Türkenkrieg beendete. Bis ins dritte Viertel des 19. Jahrhunderts bedeckten noch Wiesen und Felder die einst hügelige Landschaft, die heutigen Straßen waren zum Teil Feld- und Karrenwege von Hof zu Hof, einige Straßennamen erinnern noch an den ländlichen Ursprung, wie etwa die Siebenbrunnengasse. Die anschließende explodierende Verbauung geschah nach dem damaligen städtebaulichen Parzellierungssystem, der ganze Bezirk Margareten trägt zum Teil heute noch dessen Gesicht mit Straßenkarrees und mehrstöckigen Gründerzeit-Wohnanlagen, biedermeierliche Relikte und baumbestandene kleine Plätze sind hingegen selten. Nahe an der Zentagasse liegt der Bacherplatz, benannt 1871 nach dem bürgerlichen Zier- und Lustgärtner Leopold Bacher, der zugleich Armenrat und später Armenbezirksdirektor war, was die Diskrepanzen im Sozialsystem deutlich macht. Sie sind heute nicht geringer als im Vielvölkerstaat der Monarchie, sagt Friederike. Viele türkische Läden und Wettbüros haben sich angesiedelt. Die nach Südosten ansteigende Zentagasse ist nach den vereinzelten Bombenschäden des Zweiten Weltkrieges – „ich komme aus den Ruinen“, schreibt Mayröcker – offenbar schnell und billig wiederaufgebaut worden, heute ist sie eine gesichtslose Durchgangsstraße von der Margaretenstraße zum Matzleinsdorferplatz. Ein Supermarkt mit Tiefgarage, ein Kostnix-Laden, gegründet von der Gruppe W.E.G., was „Wertkritische emanzipatorische Gegenbewegung“ bedeutet, in dem man kostenlos einkaufen, jedoch gerne überflüssige Dinge von zu Hause mitbringen kann. An erster Stelle dieser Güter stehen – Bücher! Schräg gegenüber von Mayröckers Wohnung liegt auf aufgeschüttetem Grund ein kleiner Kinderspielplatz mit Bäumen, Schaukel und kleinem Brunnen. In der Mitte steht eine große Akazie. Vielleicht weht der Juniwind ihren betörenden Duft und die weißgelblichen Blütenblätter bis hinauf in das Schreibzimmer einer Dichterin, um sie für einige Augenblicke das Glück ihrer Deinzendorfer Kindheitssommer wiederfinden zu lassen.
Zentagasse. Ein hellgraues Allerweltshaus mit gerader Nummer und vielen Parteien. Friederike lebt hier in zwei Wohnungen: nach dem Tod von Ernst Jandl im Jahr 2000 in dessen Dachwohnung im sechsten Stock, zuvor in ihrer ursprünglichen im vierten. Sie ist ein Mythos. Oft beschrieben und gefilmt, vielfach fotografiert. Hunderte, Tausende, Abertausende Bücher, Schriften, Dokumente, Zettel und Zettelchen, Notizen, Briefe, Aktenordner, Adressen, Packmaterial, verwegene und verwelkte Erinnerungsstücke. Kaum ein Fenster oder ein Möbelstück ist zu sehen, der Bösendorfer Konzertflügel ist zugedeckt und eingehaust mit Papier. Irgendwo ein freies Plätzchen für einen Sessel und ein winziger Freiraum auf einem zu ahnenden Tisch für die Hermes-Baby-Schreibmaschine, die kein „ß“ in ihrer Tastatur hat. Vielleicht war früher einmal ein Blick aus dem Fenster möglich, damals, als Ernst Jandl zu Besuch kam.
[...] als er zum ersten Mal mein Zimmer betrat, fragte er nicht, wie es die meisten Besucher zu tun pflegen, OB ICH HIER NOCH IRGEND ETWAS FINDEN KÖNNE, sondern er sagte nur DU KANNST HIER NICHT MEHR HERAUS, und vielleicht meinte er damit, ich sei in eine Falle geraten, womit er nicht unrecht hatte, allerdings gelingt es mir manches Mal, das eine der beiden Fenster zu öffnen, erklärte ich : dann kann ich hinaustreten, vom Laubengang über die Wipfel der Alleebäume blicken und gegen Westen auf die Umrisse der Berge die unsere Stadt umfangen; auch nachts, wenn ich in meiner ständigen Unruhe nicht mehr schlafen kann, empfinde ich ein großes Glücksgefühl, wenn mir im glänzenden Fensterausschnitt die Sterne erscheinen [...]10
Ein Blick aus dem Fenster ist genug. Alles andere ist Schreiben. Ist die Erschaffung der Welt aus dem Wort. Ist Magie und Zauberei, eine Wildheit und eine Sanftmut wie bei keinem, bei keiner. Rigoros und radikal. Besessen, sinnlich und so neu, als ob die Sprache eben erfunden worden wäre. Wörter in ihrer „Windigkeit“ fangen. Poesie aus bitteren Meditationen, nicht Wirklichkeit, sondern Wahrnehmung der Wirklichkeit. Ein dem Leben-Lauschen und es Infrage-Stellen, um daraus zwölftonige Kompositionen und die unerhörtesten Sprach- und Bildinnovationen zu entwerfen, die verstören, ratlos und glücklich machen. Eine „gewaltsame Zärtlichkeit, ein Lockruf, eine Bezauberung, eine Ausstoßung, sage ich, eine Kopulation von Wörtern : ein Liebesspiel mit der Sprache“. Ein Schreiben gegen den Tod und die Angst sowie als Feier des Augenblicks, der in einer Zeile, einer Strophe bleibt für immer.
Als sie im vierten Stock noch aus dem Fenster blicken konnte, schrieb man das Jahr 1984. Inzwischen sind mehr als drei Jahrzehnte vergangen. Jetzt ist die frühere Wohnung heruntergekommen, sagt Friederike, als W. und ich einige Wochen nach dem Treffen im Café Sperl zu Besuch in der Zentagasse sind, jetzt kann ich nicht mehr hinein. Jetzt wohnt sie schon seit Jahren im sechsten Stock. Ein Verwirrspiel im selben Haus.
Ich kenne diese Dachwohnung, seit ich 2000 einen Film über Ernst Jandl drehte. Bodo Hell stand mir zur Seite, der Freund aus Studientagen, der seit Jahrzehnten auch ein Freund des Dichterpaares ist. Jandl war hierher übersiedelt, als er nicht mehr die Stiegen zu seiner Wohnung in der Wohllebengasse hinaufsteigen konnte, denn hier in der Zentagasse gab es einen Lift. Und es gab Friederike. „Das Schweben das Gleiten der vielen Flugzeuge im Oberlichtfenster : er blickte immer wieder dorthin und zählte die Flugzeuge, immer wie sie kreuzten den Himmel des Oberlichtfensters.“ Ernst Jandl saß da als besiegter, unbesiegbarer Feldherr, eingewachsen in seine Bücher, verwurzelt und verknorrt in Bücher und Bäume von Worten, die ihm aus der Hand wuchsen, aus dem Mund in ungebrochener Stärke. Weiße und hellblaue Hemden hingen an Kleiderstangen, die quer in die schrägen Fenstergauben gespannt waren, da blieb wenig Raum für den Himmel und das Zählen von Flugzeugen. Da war nur dieses unbändige Erzählen, das Aufschlagen des vielgliedrigen Fächers aus Kindheit, Geschichte und Sprache. Wir konstruierten damals für den Film ein Periskop aus Pappe, mit dem er uns zeigte, wie er als Kind über die Köpfe der Erwachsenen und die brünstigen Schreie der „Heil!“-Rufer hinweg Adolf Hitler am 15. März 1938 auf dem Heldenplatz erspäht hatte, vor über zweihunderttausend Menschen. In einem seiner berühmtesten Gedichte, „wien : heldenplatz“, hat er das Ereignis in die kalkulierte Aggression seiner sprachzertrümmernden Poesie gefasst: „der glanze heldenplatz zirka / versaggerte in maschenhaftem männchenmeere [...]“
Und Friederike kam damals aus ihrer Wohnung im vierten Stock herauf, schaute ein wenig bei den Dreharbeiten zu und ging wieder, leise, „auf Zehenspitzen“, wie immer. Und irgendwann am Nachmittag standen wir in der kleinen Küche, und Friederike rührte in einem Kochtopf, oder war es Bodo oder ich, wir waren hungrig, wir hatten vier Ziegel Cremespinat gekauft, es war Gründonnerstag. Und später stiegen Bodo, das Team und ich über die Klappleiter auf das Dach, um den horizontweiten Blick zu filmen, der den Bewohnern der Bücherhöhlen oder -höllen verwehrt war, den Blick über Kahlenberg und Leopoldsberg, Belvedere und Karlskirche, Stephansdom und den Strom der Zeit, die Donau, die sich in der pannonischen Ebene verliert, herabfallender Himmel. Und dann las uns Ernst Jandl aus seinen letzten Gedichten vor, und er saß vor dem schwarzen Samt, den wir mitgebracht hatten, las und schrie über diese „verdammungswürdige, die entwürdigende Vergänglichkeit und Endlichkeit unseres Lebens“ hinweg, las und donnerte und wurde leiser in der Melancholie eines Abschieds, der im Raum stand als heimliche Kalligrafie. Dann saßen Friederike und er sehr ruhig nebeneinander, sie berührten sich nicht, blickten vor sich hin, schwiegen, aber ein ganzes Leben war darin, HAND- und HERZGEFÄHRTEN, HERZ- und LIEBESGEFÄHRTEN, wie Friederike Mayröcker nur wenige Wochen später schrieb in ihrem „Requiem für Ernst Jandl“, der am 6. Juni 2000 gestorben war.
Bist ganz sausen, und Bouquet um Bouquet o Herr Jesus was würden wir jetzt zueinander sagen, so viele Tage nach seinem Abschied, wie unsere Gespräche, würden wir schweigen, was würde er sprechen, was mir anvertrauen, sein Wort sein Seufzen oder mächtig mit mehreren Stimmen, er würde vermutlich mit mehreren Stimmen mit vielen Stimmen mit mannigfaltigen Chören sprechen zu mir, da gibt es kein Entrinnen vor den Stunden des Tages, Samuel Beckett, o Herr Jesus, ich muß in die Wasserstube: FÖN IN DIE BADEWANNE GESCHMISSEN! UND AUS!11
Seit fünfzehn Jahren hatte ich diese Jandl-Mayröcker’sche Mansardenwohnung nicht mehr gesehen. Es erstaunte mich und doch auch wieder nicht: Sie sah aus wie die Wohnung im vierten Stock. Zugewachsen. Schreibhöhle und Irrgarten. Gefängnis oder Geheimnis? Edith hatte Friederike ein geschmücktes Weihnachtsbäumchen gebracht, schief stand es zwischen den Gebirgen aus Büchern, Zettellabyrinthen und kleinen bunten Wäschekörben, überquellend mit Papierenem auch sie. Ist die Welt hier ausgeschlossen oder vielmehr hereingeholt in tausenderlei gedruckte Tanderei? In den Atem lebensnotwendiger Schrift und Schriften, die sich vermehren wie das Myzel einer tropischen Pflanze? Für Friederike ist diese „Verzettelung“ ein Lebensmuster, sie kann es ironisieren und hat selbst Angst vor den „Hurrikanen aus Staub“. Aber sie kann nicht anders. Im Band cahier steht einer ihrer kühnen Sätze, zwar auf anderes bezogen, aber gültig für vieles: „[...] statt einem Fingerklopfen habe ich mein Leben vertan.“
Nein, nichts ist vertan. Alles ist gelungen. Das poetische Werk, das aus dieser Lese-Reflexions-Sammel-und-Schreib-Passion entsteht, ist Weltliteratur. Chiffre einer Poetik, die Welten baut und niederreißt und die unausweichlich ist: „[...] denn da ist ein Geist der in mir herumpoltert, wahnwitziger Geist, der sich immerzu und wiederum und abermals widersetzt jener gegenläufigen LOCKENDEN Vorstellung eines systematischen / rationalen Schreibprozesses [...]“12 Friederike bahnt sich den schmalen Weg durch ihr chaotisches Königreich, zwei Fußbreit sind noch frei für zwei Sessel für sie und mich und drüben einer für W. beim Weihnachtsbäumchen. Jede Minute in diesem Zimmer ist ein Geschenk. Das ist keine Wohnung, sagt sie, das ist eine Werkstatt. Sie hat Biskotten vorbereitet, gebeugt und verloren wirkt sie im Büchermeer, eine schwarze Gestalt, zuneigend und voll Zärtlichkeit, „unverächtlich“ allen Menschen, aller Kreatur und auch den Dingen gegenüber, weich und angstvoll und verwegen dem Vergänglichen des Lebens ihren Widerstand entgegensetzend. Eine Hermes Baby, auf der sie seit Beginn an schreibt – ich habe noch drei als Ersatz, sagt sie lachend, denn neue gibt es schon längst nicht mehr – steht im Kämmerchen nebenan. „Was die Intuition an Wahnwitz und Ungestüm wagt, wird vom Verstand gleichzeitig oder im Nachhinein bedachtvoll, präzise und streng in wahrheitstreue Form gebracht, fixiert und versiegelt. So wird Ekstase zu einer Disziplin.“
Tief unten in der Zentagasse rauscht leise der Verkehr, Sterne sind keine zu sehen. Wenn die Nacht kommt, sind die Worte gegangen, sagt Friederike, dann kommt nur herzzerreißende Einsamkeit. Es gab andere Abende und Nächte, blaue Erleuchtungen. Damals, als sie noch fast täglich in die Wohllebengasse ging und sie sich gegenseitig vorlasen, was sie am Tag geschrieben hatten, Ernst Jandl Gedichte, sie Prosa und Gedichte, damals, als sie den „myriadischen Blick“ hatten und Mitternacht umschlungen war. Früher begann sie gegen vier Uhr morgens mit der Schreibarbeit, jetzt wird es manchmal sieben. Noch im Bett notiert sie mit der Hand, was sie im Schlaf oder Halbschlaf träumte, fand und erfand.
Nach zwei Stunden muss ich aufhören mit dem Schreiben, sagt Friederike, früher waren es vier oder fünf. Dann ist der Rausch vorbei. Die Sprache ist meine Droge. Ich kann nur am Morgen arbeiten, früh ist alles noch rein, unberührt, abends schon beschmutzt. Was unbrauchbar ist, werfe ich weg, man muss der strengste Kritiker seiner selbst sein. Schreiben ist zuerst Wollust, dann harte Arbeit. Ich brauche die Erinnerung an die Realität, aber sie muss verwandelt werden, ich will keine Nacherzählung, das wäre armselig. – Und leiser fügt sie hinzu: Ja, ich glaube an den heiligen Geist. Er hilft, ich fühle mich von ihm beschützt. Wie damals als Kind, wenn meine Mutter mir beim Weggehen drei kleine Kreuze, Kreuzes-Knospen, auf Stirn, Mund und Brust gezeichnet hat.
Im Reich der blauen Worte hat alles Platz, der Heilige Geist und surreal-dadaistische Montage, Heilsgestöber und Zinnenzinnober, Erlösungsträne und „profane jahreszeit im knie“. „Zeilen wenn sie so eng umschlungen : wenn sie so hingerissen wenn sie so angeflammt“. Mayröcker ist ihr eigenes Orakel. Ihr eigenes Medium. „Das Atemwäldchen tropfte und taute grünes Blut.“ Meist hört sie Musik, wenn sie schreibt, Bach und Brahms, Schubert und Schumann, Liszt, Keith Jarrett und Satie, früher Rockmusik und die Beatles, Ernst Jandl war für Free Jazz. Sie liebt und studiert Maler und Zeichner, gotische Tafelbilder und Landschaften der Renaissance, Goya, Picasso, Francis Bacon und Andy Warhol. Reproduktionen und Plakate hängen unter dem Zettelgestrüpp an den Wänden. Im Wien der 1960er-Jahre hatten Jandl-Mayröcker mit der von Gerhard Rühm so benannten „Wiener Gruppe“ um H.C. Artmann Kontakt, Friederike am intensivsten mit Andreas Okopenko und Gerald Bisinger. Als ihre literarischen Genien nennt sie Beckett und Brecht, Roland Barthes und Breton, Max Ernst und Jean Paul, Hölderlin, Arno Schmidt, Henri Michaux, Claude Simon und Duras. „Und ich spüre, wie sie mir winken, ihre Geheimnisse zuflüstern, mir, diesem Schwächling, diesem Schweiger, diesem Wetterdichter mit Wandertasche und Distelkopf, diesem Vogelbekümmerer, diesem Fremdling der Welt, mir, dieser fragwürdigen Marginalexistenz.“
„Fremdling der Welt“ ist sie vor sich selbst geblieben, vor der Öffentlichkeit ist Friederike Mayröcker zur Ikone geworden. Ihre Gesammelten Gedichte umfassten schon zu ihrem 80. Geburtstag über 800 Seiten, jedes einzelne eine Kostbarkeit. Ihre Prosawerke sind ein Wortsturm, ein Hurrikan anderer Art. Die Büchner-Preisträgerin von 2001 hat ihren 90. Geburtstag längst hinter sich, aber fast jährlich erscheint ein neues Werk, anarchisch, wundersam und wörterstaunend. An den Debatten und Querelen des Betriebs hat sie nie teilgenommen. Steht außerhalb aller Zuordnungen. Mayröcker ist Mayröcker. Sie hat Scharen von Verehrern. Nicht sie selbst hat sie um sich geschart, sie liegen ihr zu Füßen. Einer von ihnen ist Michael Lentz, der 2009 zum Erscheinen des schmalen Bandes Scardanelli, in dem Mayröcker auf das Synonym des späten Hölderlin anspielt, schrieb: „Allein eine Seite Mayröcker, und man findet dort Wörter, Visionen, Aufgabelungen, Aufrisse wie sonst in ganzen Büchern nicht.“
mit Scardanelli
im Grunde deines Mundes, damals
wann weisz die Schwalbe dasz es Frühling
wird nachts nadelst du als Regen an mein Fenster ich
liege wach ich denke an die Nachmittage umschlungenen
Mitternächte, vor vielen Jahren diese Rosenkugeln die
Schaafe auf der dunklen Himmels Weide14
Ernst Jandl, die Erinnerung. Immer ist er gemeint, mit-gemeint. „[...] mit dir überall hin / ich fürchte mich nicht / mit dir überall hin überall hin.“ Fast alle Bücher der letzten sechzehn Jahre sind Gespräche mit dem „Herzgefährten“, vom Requiem über Und ich schüttelte einen Liebling bis zur Trilogie nach dem Vorbild und der Umwandlung der Cahiers von Paul Valéry: études, cahier und fleurs. Mit Ernst Jandl hat sie in der Brüchigkeit jeder großen Liebe in Wien gelebt, mit ihm ging sie eineinhalb Jahre nach Berlin und auf Lesereise durch den Osten der USA, und mit ihm verbrachte sie alle Sommerurlaube, in Rohrmoos am Fuß des Dachsteins, in Puchberg am Schneeberg, in Meran und in Bad Ischl, wo sie die Kaffeehäuser liebten, die kleinen Spaziergänge an der Esplanade und den Blick vom Hotelfenster auf die Traun, auf deren Uferbänken sie gesessen waren, die Arme aufgestützt, die Köpfe in ihren Händen und dem Wasser zuschauten, „ich meine mäandernd und händehaltend. Bin reiszend dasz ich so reiszend bin wie dieser Flusz.“
Während der abnehmende Mond über die Hügel glitt, damals in Bad Ischl. Du kennst mich besser als ich mich selbst kenne, die Verbrüsselungen z.B. die in Scharlach gekleideten Völker, dasz ich die Wörter neu erfinden könne. [...]15
Kein Ende dieses Erfindens. Staunend, von Glück erfüllt, sehen es jene, die Friederike Mayröcker lesen. Kein Ende dieser täglich neu gewagten Radikalität, eines Schreibens auf Leben und Tod. „[...] und hätte ich dieses mein Schreiben nicht, diese meine pausenlose lebenserhaltende Schreibarbeit [...].“ Als wir uns zum Abschied in der Dachwohnung der Zentagasse durch die Bücherhöhlenpfade einen Weg in den Vorraum suchten, legte Friederike Musik auf. Es war Liszt. Sie stützte sich von Schriftenberg zu Wäschekörbchen, langsam, fragil, mutig Schritt für Schritt gegen die Vergänglichkeit. Ich würde gerne bleiben. Ihr leben helfen. Werde in den Büchern bleiben, geschrieben mit dem Feuermal, der Feuerzunge, dem verzehrenden Wort. „Du liebes Lamm, du verlassene Welt, bis zum Wahnsinn liebe ich dich …“
Franz Liszt aus dem GRAMMO
weiszt du, 1 Rausch ............ an-
himmeln den Himmel die Sterne
den Mond ++++++16
„Stets setzte er alles aufs Spiel – seine Habe, sein Talent, sein Leben.“ Ist es er selbst, von dem der Autor hier spricht, oder ist es die Hauptfigur seines Romans Perversion? Verbirgt sich hier einer im anderen, um nicht erkannt zu werden? Denn „[...] vierzig Namen trug er, aber keiner war echt, denn seinen echten kannte niemand, nicht einmal er selbst.1 Das dichterische Spiel mit den Identitäten ist die eine Seite. Die andere ist die Wirklichkeit: ein Land, das von Krieg bedroht ist, in dem Tausende starben. Es ist noch nicht lange her. Und Juri Andruchowytsch hat alles aufs Spiel gesetzt, seine Habe, sein Talent und sein Leben. Von seinen ersten Schriften an bis zum Euromaidan in Kiew, wo er mitkämpfte, ausharrte und hoffte. Die Wirklichkeit ist die Ukraine. Ist Galizien, Mythenland. Hier liegt Iwano Frankiwsk, wo er geboren wurde und wo er jetzt wieder lebt. Hier liegt L’wiw, wo er den Rausch der Freiheit lebte. Auf älteren Atlanten heißen diese Städte Stanislau und Lemberg.
Was ist Galizien? Ein Land unserer Träume oder Albträume, oder vielmehr ein Land mit klaren Konturen? Ist es das Land der Erzählungen über einsame Dörfer in den Karpaten und über jüdische Schtetl, in denen Männer mit langen Bärten und in schwarzem Kaftan zur Synagoge streben? Land zweier leuchtender Städte: historisch vorübergehend Krakau, immer jedoch Lemberg, durch das die wichtigsten Handelsstraßen führten, von Konstantinopel an die Nord- und Ostsee, von Venedig nach Moskau und von Wien nach St. Petersburg, reich, lebendig, Stadt vieler Kulturen, Religionen, Zerstörungen und Wiedergeburten? Denken wir an wolhynische Fürstentümer, polnische Könige oder an Habsburgs Glanz, als 1772 das Gebiet unter der Bezeichnung „Königreich Galizien und Lodomerien“ der großen Monarchie einverleibt und Lemberg „Klein-Wien“ genannt wurde, als in den Kaffeehäusern bis zu einhundert Zeitungen auflagen, wo es ein glanzvolles Opernhaus und ein ebensolches Theater gab? Denken wir an Joseph Roth, der aus der pulsierenden Stadt Brody kam und an Bruno Schulz aus Drohobytsch, das durch seine Erdölfunde um 1900 gerade dabei war, das Pennsylvania Galiziens zu werden? Oder haben wir die Bilder und Zahlen des Grauens vor Augen, der beispiellosen Gewalt und der Massendeportationen, in denen durch die Nationalsozialisten und das Sowjetregime Millionen Galizier verschleppt und ermordet wurden?
Galizien – ein Wort und ein Gebiet, das verhasst und geliebt wurde und das unvermindert Faszination ausstrahlt. Jetzt, wo es nicht mehr existiert, wie es war, vielleicht mehr denn je. Die Grenzen dieses Galiziens hat die Geschichte verschoben: Das einstige Ostgalizien ist heute die Westukraine, und das einstige Westgalizien ist heute ostpolnisches Gebiet. „Ich lebe in einer ewig beargwöhnten und benachteiligten Weltgegend“, schreibt Juri Andruchowytsch, „Galizien ist durch und durch künstlich, mit den Fäden pseudohistorischer Kombinationen und quasipolitischer Intrigen zusammengesponnen.“ Und er führt die endlosen Gespräche an über Jewropa, Juropa und Europa und über europäische Bedeutung und Bestimmung, über den Weg nach Europa, darüber, dass auch wir zu Europa gehören, und er nennt manche Argumente dagegen, die von außen her in sein Land getragen werden.
Ich habe jedoch eine andere Perspektive. Genauer gesagt habe ich sie nicht, denn ich befinde mich hier mittendrin, es ist mein Territorium, meine verdächtigte und geringgeschätzte Welt, die Wehrmauern rings herum sind längst eingestürzt, die Gräben mit historischem Gerümpel und Kulturschutt [...] aufgefüllt; meine Verteidigungslinie – das bin ich selbst, und ich habe keinen anderen Ausweg, als diesen Streifen, diesen Flecken, diese Flicken zu verteidigen, die nach allen Seiten zerfransen [...] Sie zerfransen, ich aber will sie wieder zusammennähen und sei es mit den groben Fäden meiner eigenen Visionen und Ideen.2
Dieses DAZWISCHENSTEHEN wird Juri, W. und mich als beständiges Motiv begleiten bei allen Gesprächen und auf unseren Stadtwanderungen durch Stanislau und Lemberg sowie in einem dieser endlos langen Züge mit den hohen, ausgebleicht-blauen Waggons aus der Sowjetzeit, die zwischen diesen beiden Städten verkehren und weiter nordöstlich nach Kiew oder südlich bis Czernowitz fahren, von wo es nicht mehr weit wäre bis zum Ort Rachiw, den die Kartografen der k. u. k. Monarchie als das geografische Zentrum Europas ermittelten. Aber noch sind W. und ich allein auf der Fahrt von Lemberg nach Stanislau, das seit 1962 den Namen Iwano Frankiwsk trägt, von den Einheimischen meist in der Verkleinerungsform Frano oder Franyk genannt.
Olja Sydor, eine Freundin von Juri und eine hervorragende Stadtführerin, die man übrigens auch buchen kann, hatte uns am Flugplatz von Lemberg abgeholt und zum Bahnhof gebracht. Dieser Bahnhof! 1904 mit kaiserlichen Ehren eingeweiht, stattlich und zuverlässig, Symbol der Macht eines Großreichs, zugleich Zeugnis technischer Pionierleistungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die ein riesiges Gebiet mit Eisenbahnlinien erschlossen und die galizischen Städtchen an die Welt anbanden. Als wir unseren Koffer durch die breiten Gänge des Lemberger Bahnhofs ziehen, ist es nicht kalt und zugig wie auf Bahnhöfen sonst, es ist heimelig, heruntergekommen und in den Höhen elegant, riecht nach Salzgurken, Knödeln und Schnaps, nach Bier und Buffet und verschwitzten, grau gekleideten Menschen – aber im Kopf spulen sich die Bilder und Szenen ab, die so gerne gemalt, fotografiert und von Dichtern beschrieben wurden: junge Offiziere in bunten Waffenröcken, Damen in langen, hellen Kleidern, Kaufleute aus Armenien und Amsterdam und Ölmagnaten aus Südgalizien, draußen das Gedränge der Träger, Händler und Bettler aus den finsteren Gassen der mittelalterlichen Vorstädte. Vor zwanzig Jahren erst tafelte an den großen, runden Tischen die sowjetische Nomenklatura, heute ist der Raum fast leer, niemand spielt auf dem Klavier, und wir essen Soljanka, die für diese Gegend typische, kräftige Suppe. Olja erzählt uns von der Wahl des Vortags, an dem der Lemberger Bürgermeister wiedergewählt wurde: Das erste Mal war er außerparteilich, das zweite Mal kandidierte er für die Christlich-Sozialen, und das dritte Mal gründete er eine eigene Partei, Samopomitsch, was so viel wie „Selbsthilfe“ oder „Komm und mach!“ bedeutet.
W. und ich stehen an einem Gangfenster des Zuges, der uns zu Juri nach Iwano Frankiwsk bringen wird, draußen versinken die Hügel in der Dunkelheit, irgendwo passieren wir den Fluss Dnjestr. Die Karten und Plätze hatte Juri über Internet vorbestellt, die zweieinhalb Stunden dauernde Fahrt kostet pro Person 102 Hrywnjar, rund vier Euro. Als Kind hatte Juri die Geräusche der Züge geliebt, die Pfiffe Tag und Nacht. Sie hatten in der Nähe des Bahnhofs gewohnt, der Bub stand auf der Veranda und hörte das Gemurmel der Menschen, die auf Reisen gingen, er hatte sich mit vielen Ausreden oft im Bahnhofsgebäude herumgetrieben, um die Lokomotiven und die Zigeuner zu beobachten, und sommers lief er mit andern Kindern im Dunst warmer, rußiger Eisenbahnschwellen vorbei an den Werkshallen der Lokomotivenreparatur-Fabrik LRF an das Ufer der Bystryzja Nadwirnjanska, um zu baden. Dort, wo unser Waggon zu stehen kommt, ist kein Perron, ich springe die letzte hohe Stufe hinunter, Juri fängt mich auf. Schöner könnte man Iwano Frankiwsks Boden nicht betreten. W. und ich wohnen im Hotel Templum, das gegenüber der Synagoge liegt, warm ist es im Zimmer, wir freuen uns auf später.
Im nahen Restaurant Legenda im fünften Stock eines Neubaus blicken wir über die Dächer und Plätze der Stadt. Nebel ist eingefallen, es ist November. Ich kenne viele Legenden über Franyk, sagt Juri, aber ich vergesse sie gleich wieder, ich mache mir meine eigenen. Der Turm des Rathauses steht grell erleuchtet da, sinnentleert, da die Büros woanders liegen. Das alte Rathaus wurde im Ersten Weltkrieg zerstört, der mit seinen wechselnden Frontverläufen ganz Galizien zum Schlachtfeld machte.
Galizien war immer Auswandererland. Auch in Juris Familie gab es einen Vorfahr, der nach Amerika ging, um sein Glück zu suchen. Er wurde jedoch in Chicago von einer Tram überfahren, und wie im Märchen brach sein jüngster Sohn auf, um den fernen Vater zu finden. Er zog durch diesen aus Flicken zusammengenähten Teil der Welt, der später Mittel- und Osteuropa genannt wurde und kam bis an das Ufer eines großen Flusses, der ihm wie der Ozean erschien. Und Juri zieht das Suhrkamp-Taschenbuch Mein Europa aus seinem Sakko und liest uns das Ende der Geschichte vor:
... Drüben beginnt die Neue Welt. Jenseits der Donau liegt Amerika, d. h. die Zukunft, jenseits der Donau liegt alles, was im Laufe der Jahre in Erfüllung gehen wird (oder auch nicht). In Wirklichkeit ist die Donau der Ozean, der uns anzieht. Seine Nähe, seine Präsenz bedeutet sehr viel: Zeit, Ewigkeit, Geschichte, Mythologie, unser Sein. Flucht – aber auch Rückkehr. Zukunft, aber auch – Vergangenheit.3
Es gibt immer ein „Amerika“, immer irgendeinen Traum, sagt Juri, steckt das Büchlein wieder ein und lacht, und ich sehe die Freude in seinen Augen am Erfinden von Geschichten, wie es in den Biografien der ukrainischen Nationaldichter Tradition ist. Etwa in jener des charismatischen Taras Schewtschenko, Autor des Buches Kobzar, das zur Weltliteratur zählt, und der als Kind aufbrach, um den Horizont zu suchen. Er war der Sohn eines leibeigenen Kosaken aus der Ostukraine, wurde früh Waise, später in St. Petersburg von einer Gruppe Intellektueller freigekauft, 1847 wegen Vaterlandverrates zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, nach zehn Jahren amnestiert, kam gebrochen zurück und starb 1861, beweint von einem ganzen Volk. Unter Stalin wurden seine Schriften verboten, während der Perestrojka wurde er zum Helden der Ukrainer. Juri hat seinem Sohn den Namen Taras gegeben und Taras – allerdings nach einem griechischen Heiligen – heißt auch der kleine Sohn des slowenischen Autors Aleš Steger, der mit Juri befreundet ist und den wir im Sommer besuchen werden.
Wir trinken roten Wein aus Transkarpatien. Die Berieselungsmusik aus der Bar trägt eine raue Stimme herüber, … I am sailing ... Und sofort sagt Juri: Rod Steward! Er kennt alle Lieder, alle Interpreten und Bands, es war die Rockmusik der 1970er- und 1980er-Jahre, die seiner Generation unbändiges Symbol für Freiheit, Welt und Westen war. Während der Sowjetzeit wurde Franyk – ebenso wie Lemberg – massiv mit Industrieproletariat aus den Weiten des kommunistischen Reiches besiedelt und ist doch einst das Städtchen Stanislau gewesen mit Kaffeehäusern, in denen Walzermusik erklang, mit Promenaden, über die Ulanen und Dragoner aus der nahen k. u. k. Garnison ritten, dessen Bevölkerung polnisch, deutsch, ukrainisch und jiddisch sprach und wo „alles frecher, freier und leichter“ war als sonst wo, wie der Schauspieler Alexander Granach in seinen Erinnerungen Da geht ein Mensch schreibt. Der Osteuropaexperte Martin Pollack hat dies und viele andere Details in seinem Kultbuch Galizien gesammelt und auf wundersame Weise zusammengefügt.
Auch Juris Erinnerungen reichen noch in dieses Damals zurück durch die Erzählungen seiner Großmutter Irena, die er liebte, die gerne erzählte und bei der er seine Kindheit verbrachte. Als Zwölfjährige hatte sie noch Erzherzog Franz Ferdinand im offenen Wagen gesehen, gefolgt von einer Kavallerie-Eskorte, seine Gemahlin neben ihm und die Kinder auf dem Rücksitz des Lorraine-Dietrich, unterwegs zum Bahnhof, wo sie mit dem Nachtexpress nach Czernowitz weiterreisen sollten. Die Großmutter war 1902 geboren, und das bedeutete Ausweglosigkeit, das 20. Jahrhundert lässt dich nicht aus den Klauen, sagt Juri. Meine Oma, das ist ein fantastischer Spagat über den Fluss der Zeit, sie hat das Kaiserreich und den Astronauten Gagarin erlebt, zwei Kriege mitgemacht und musste sechs Mal ihre Identität wechseln. Ihr Haus wurde von den Sowjets „nationalisiert“, was bedeutete, dass drei weitere Familien eingewiesen und die Großmutter, Juris Eltern und er selbst auf zwei Zimmer zusammengedrängt wurden. Sie war eine Schönheit und liebte das Fotoatelier eines Juden aus Lodz, bei dem sie Bilder in unterschiedlicher Aufmachung machen ließ – für den Enkel wie ein Stummfilm aus Chicago, New York und Paris. Sie tanzte Boston und Shimmy, und Juri fragt: Wie geht das eigentlich? und bestellt einen transkarpatischen Brandy. Bud’mo! Lassen wir uns sein!
Mein Vater, erinnert sich Juri, war mir alles, Anfang und Ende und der Abgesandte der großen Welt, Erzähler von Horrorgeschichten und Lehrmeister der Großzügigkeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er als Fünfzehnjähriger auf der Flucht vor den Russen mit seiner Mutter bis Wien gekommen, und später trug er dem Sohn auf: Wenn du einmal nach Wien kommst – fahr mit dem Riesenrad! Mutter und Sohn wurden jedoch als Einzige aus dem langen Flüchtlingstreck wieder zurückgeschickt: Sie waren aus einem Land, das DAZWISCHEN und undefinierbar war: aus Galizien. Der Vater wurde Förster, brachte Juri die Namen der Pflanzen, die Neigung zum Alkohol und die Liebe zu Büchern bei. Buffalo Bill und Boccaccios Dekameron, Cervantes, Balzac und was ihnen sonst noch in die Hände kam, zu Hause oder bei den Verwandten in Prag, zu denen Juri das erste Mal kam, als er sieben war: 1967. Für ihn das erste Ausland, ein Abenteuer, Überfluss und Kofola, der tschechische Coke-Ersatz, die Unruhe einer neuen Zeit und das erste Verfallensein: Der „Westen“ hat mich „gekauft“. Ein Jahr später erlebte er, wie russische Panzer über den Wenzelsplatz rollten.
Es ist Mitternacht geworden, und die Plätze von Iwano Frankiwsk liegen leer im Nebel. Die Szenen, von denen Juri sprach, blättern wir in unserem Hotelzimmer im Roman Geheimnis, dieser raffinierten Selbstbefragung in Form eines journalistischen Sieben-Tage-Gesprächs, nach, ein Roman, der im Titel bereits Programm ist: Man kann ein Leben erzählen, es bleibt dennoch immer – ein Geheimnis. Ich stelle das Brummen des Eisschranks ab, verstecke die Wanduhr, die laut und unerbittlich die Sekunden tickt, im Kasten, und im Halbschlaf noch laufen wie ein Spruchband die Zeilen aus dem „Mittelöstlichen Memento“ durch meinen Kopf:
Die Zukunft von der Vergangenheit befreien?
Die Vergangenheit von der Zukunft befreien? [...]
Uns von uns befreien?
Mich von mir selbst befreien?4
Stanislau – Iwano Frankiwsk – Franyk: Die drei Namen derselben Stadt haben keinen verführerischen Klang. So hatte ich mir einen eher hässlichen Ort vorgestellt, man ist immer voll von Vorurteilen und falschen Assoziationen. Aber jeder Andruchowytsch-Leser weiß, was ihn erwartet:
Allen Sammlern des „Stanislauer Phänomens“ hab ich dasselbe gezeigt: die alte Festungsmauer, heute hauptsächlich mit englischsprachigen Graffiti vollgeschmiert, die niemals trocknende Wäsche auf den Balkonen, das Rathaus, den rekonstruierten Marktplatz, Jesuiten Kolleg, Kathedrale und Synagoge, die Jugendstilvillen in der Lindenallee, die Hydranten und Kanalgitter, die alten Hausnummern und Gedenktafeln, Weinranken an Holzwänden, Holzveranden noch aus österreichischer Zeit, [...]5
... und Juri baut weiter am Mosaik von Realität und Groteske, spricht von einem hier „vergewaltigten Europa“ und von der neuen kreativen Szene. Für uns entpuppt sich Stanislau im Zentrum als ansprechender, ja sogar überraschend melodiöser Ort, der von einem offenen Platz zum anderen schwingt, gesäumt von bunt bemalten Gebäuden aus der Monarchie, die die Hässlichkeiten der kommunistischen Ära an den Rand drängen. Der Name der Stadt, sagt Juri am nächsten Morgen, bezieht sich auf einen Schriftsteller: Als in sowjetischer Zeit der Sohn eines Königs, Stanislaus, verpönt war, holte man die vieldeutige Figur Iwan Frankos hervor. Er kam aus einem Dorf der Lemberger Karpaten, sein Vater war Schmied, er selbst wurde als Übersetzer von Goethe und Shakespeare, als Aufklärer, Verleger, Journalist, Romancier und Autor des programmatischen Moses zum Nationalhelden, indem er seinem Volk in der ukrainischen Sprache, die durch Jahrhunderte unterdrückt worden war und als einfache Bauernsprache oder als Dialekt des Russischen galt, eine identitätsstiftende Grundlage gab.
Juri führt uns in die kleine Kunstgalerie Zmok, in der vor allem idyllische Karpaten-Bilder ausgestellt sind. Weiße Holzkirchlein stehen auf den Lichtungen, Bauern in ihrer malerischen Tracht spielen Musik, und Herden von kleinen, schnellen huzulischen Pferden galoppieren über die Almen. Ein anderes, verstörendes Bild von dieser Sehnsuchtslandschaft zeichnet Juri Andruchowytsch in seinem Roman Zwölf Ringe, der 2006 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet wurde. Ein irrwitziger Zeitroman aus der Ukraine der 1990er-Jahre, grundiert mit der surrealistischen Dichtung Bohdan-Ihor Antonytschs, der, wie Juri selbst, seine Heimat in Mitteleuropa, Lemberg, Galizien und zwischen den Sternen sah. Schauplatz des Romans ist ein verkommenes Observatorium auf der Hochalm Dsyndsul, Hauptfiguren sind ein österreichischer Fotograf mit galizischen Wurzeln – bezeichnend sein Name: Karl-Joseph Zumbrunnen – und eine kleine Schar extremer Existenzen, in deren Lebensläufen Andruchowytsch das ideologische Gemisch aus Habsburgnostalgie, Sowjetisierung und korrupter Kommerzialisierung zeigt. Brillant spielt er auf der Klaviatur von Tradition, Groteske, Absurdität, Sehnsucht und Einander-fremd-Bleiben. Ein Roman über die Lage der Westukraine und Inbild von Juris Credo: „In Wirklichkeit war er ein Wölkchen, eine Träne im Ozean, nur eine Träne, ein Pünktchen, ein Elementarteilchen des Mondlichts. – In Wirklichkeit war er alles.“6
Viele Menschen sind unterwegs. Unter ihnen viele Alte, sie tragen abgenutzte Mäntel und einen Nylonsack in der Hand, vielleicht auch das Gewicht ihres Lebens. Einige sprechen uns an, „Ah, Deutsch?“ und gehen weiter, und wir wissen nicht, welche Erinnerungen sie haben. In der spätbarocken Kathedrale, die einst Jesuitenkirche war und längst der griechisch-katholisch unierten Kirche dient, gehen Gläubige ein und aus, legen dünne Pölster auf den Stein, beten. Golden leuchtet die Ikonostase, als demütige Randfigur ist der heilige Juri zu sehen, der „Kleine Georg“. Ich sehe einen anderen Georg vor mir: den Dichter Georg Trakl, geboren in Salzburg, gestorben mit 27 Jahren 1914 durch Selbstmord in einer Zelle des Garnisonsspitals von Krakau nach der Schlacht von Grodek, das unweit von Lemberg liegt. Nur wenige Schritte weiter macht uns Juri an der Außenwand der ehemaligen Pfarrkirche der Katholiken auf eine Tafel aufmerksam und sagt: Warum ist nie ein Ende aller Schlachten? Denn die Inschrift erinnert an Stanislaus, den früheren Namensgeber der Stadt, der als junger Ulanenoffizier unter dem litauisch-polnischen König Sobieski in der Schlacht um Wien gegen die Türken 1683 gefallen war. Unmittelbar neben der Kirche hängt ein großer Anschlag mit zahlreichen Fotografien: Es sind die Toten des Maidan von Kiew, 2013/14. Unter ihnen der neunzehnjährige Roman Huryk aus Stanislau/Iwano Frankiwsk.
Juri bekommt viel Besuch aus dem Westen, ist selbst oft dort, gilt als die intellektuelle Instanz der Ukraine, mit seinen perfekten Deutschkenntnissen gibt er allen Auskunft, mutig, präzise, charmant. Ich habe viele Freunde in Deutschland, Österreich und in der Schweiz, sagt er, ich brauche das, ich muss bei euch für uns werben und vor allem immer wieder für das eine: dass wir eins sind oder sein sollten. In Frieden.
Als wir spätnachmittags zum Hotel zurückkommen, hat sich eine große Menschenmenge vor der Synagoge versammelt. Gelbblaue Fahnen mit Trauerflor wehen, Kerzen brennen, junge Menschen legen Blumen auf den nieselnassen Boden. Es ist eine Gedenkveranstaltung an den November 1943, als während einer Aufführung im Theater gegenüber eine SS-Razzia stattfand, 27 Männer, zum Teil Juden – die anderen waren bereits ins Ghetto deportiert –, verhaftet wurden, in den nächsten zwei Tagen ein Schauprozess stattfand, der mit der Todesstrafe für die Angeklagten endete. Als die ukrainische Hymne gesungen wird – „Noch sind der Ukraine Ruhm und Freiheit nicht gestorben ...“ –, nimmt mich eine alte Frau bei der Hand, den freien Arm hat sie auf ihr Herz gepresst, und fordert mich zum Mitsingen auf. Ich stehe unter den tropfenden Bäumen, bin nah bei diesen Menschen und denke an meinen Vater, der Soldat der Deutschen Wehrmacht und zumindest am Anfang begeisterter Nationalsozialist war, der durch dieses Land zog und schrieb, dass er alles tue, um die Zivilbevölkerung zu schützen, und der mit 27 Jahren an der Wolga fiel, im November des Jahres 1942.
Heute aber befinden wir uns in einem ausgewachsenen Konflikt, dessen Ende nicht abzusehen ist, in einem hybriden Krieg mit Tausenden von Gefallenen, Verwundeten und Vermissten –
sagte Juri Andruchowytsch in seiner bitteren Rede zur Eröffnung der Internationalen Buchwoche in Wien im November 2014. Sie trug den Titel „Der Preis der Werte oder unsere Dissonanzen“. Er sprach – wie im Sammelband Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht aus demselben Jahr – von Enttäuschung und Desillusionierung, vom Alleingelassen-Werden gegenüber der Aggression von Putins Russland und stellte die Frage, ob Europa taub geworden sei für die Anliegen jener Menschen, die für den Wertekanon des Westens kämpfen und sterben.
Wir können diese Menschen nicht zurückholen. Andere sind für immer ohne Augen, Hände oder Beine geblieben oder haben auf andere Weise ihre Gesundheit eingebüßt, ihre Kräfte, ihre Jugend. [...] nie mehr werden sie so aufrecht und jung sein, wie in dem Moment, als sie auf die Barrikaden gingen – unter der europäischen Flagge.7
Zurück in der Zeit ... Der junge Juri Andruchowytsch hatte nur einen Traum: weg aus Iwano Frankiwsk, hin nach L’wiw/Lemberg, in die Metropole, die Freiheit, das eigene Leben. Nach Abschluss des Gymnasiums stieg er am Bahnhof von Franyk in den Zug – die Welt war nicht, wie Gerüchte besagten, am 7. 7. 1977 untergegangen, es war schon einige Tage später, die Welt war noch da, er stieg in Lemberg aus dem Zug und formte diese Welt forthin nach seiner Sehnsucht. Hunderte Male ist er diese Strecke inzwischen hin- und hergefahren. Jetzt, an einem kalten Novemberabend 2015, fahren W. und ich mit ihm im Waggon Nr. 16 Richtung Norden, begierig darauf, dass der Herr der Zwölf Ringe uns sein Lemberg zeigt. Juri bestellt schwarzen Tee bei der Zugbegleiterin, sie kann sogar ein paar Worte Deutsch, und Juri erzählt, dass er bereits in der ersten Schulklasse Deutsch gelernt hätte, ein Jahr lang hätten sie nur den Klang und die Aussprache geübt, vor allem der Umlaute, wobei die Lehrerin sie immer wieder die „Üs“ und „Ös“ mit spitzen Lippen hatte repetieren lassen: Goethe, Goethe, Goethe. Ein Jahr später hätten sie bereits das „Heideröslein“ auswendig gelernt. Der Tee wird in großen Gläsern serviert, viel Zucker muss hinein, die ersten Lichter von Lemberg tauchen auf, der Bahnhof, nach kurzer Taxifahrt sind wir im Hotel George. In diesem legendären Hotel, in Romanen beschrieben und nur französisch auszusprechen, um die Eleganz gleich anzudeuten. Andeuten ist vielleicht das richtige Wort, viel Glanz ist in einem Jahrhundert der Katastrophen verschwunden, aber etwas verschämt lebt der Zauber einer verlorenen Epoche weiter. Uns wird das Zimmer Nr. 1 zugeteilt, es sei das Zimmer des berühmten Tenors und Schauspielers Jan Kiepura, wird uns gesagt, an den Wänden hängen Fotos und Schallplatten, an der Stirnwand steht ein Pianino, ausladende Betten, großes Bad, hohe Fenster, durch die der Blick auf Türme und Kuppeln der Altstadt geht.
„Es ist eine große Vermessenheit, Städte beschreiben zu wollen“, sagt der große Dichter Galiziens Joseph Roth im Hinblick auf Lemberg, „Städte haben viele Gesichter, viele Launen, tausend Richtungen, bunte Ziele, düstere Geheimnisse, heitere Geheimnisse.“8