An den Gestaden des Wortes - Brita Steinwendtner - E-Book

An den Gestaden des Wortes E-Book

Brita Steinwendtner

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Beschreibung

Worin liegt das Geheimnis, das Landschaften innewohnt? Es gibt Orte, an denen man lebt, andere, wonach man sich sehnt, und wieder andere, wohin der Lauf der großen Geschichte einen Menschen treibt. All dies gestalten Dichterinnen und Dichter in ihren Werken, verbinden Wirklichkeit, Imagination und Inspiration. Elf Porträts - wunderbar bildreich und poetisch erzählt - führen in diesem Buch durch Europa, in ein Dorf an der Côte d'Azur, an die Ostsee, nach Dänemark, ins Gebirge, in ein Salzburger Moor oder zu einem einsamen Grab auf Sizilien – es sind die eher unberühmten Orte und Landschaften, an denen Brita Steinwendtner ihre Erzählungen über Dichterinnen und Dichter entwirft und darin ein ganzes Leben, ein faszinierendes Werk und die Macht der Zeitgeschichte aufleuchten lässt. Zwei Jahre lang ist sie gereist, hat recherchiert und ist viele Wege gegangen. Entstanden ist ein wundersames Geflecht aus Landschaften und Lebensgeschichten, eine Topografie von Geschick und Geschichte, ein Zusammenspiel aus inneren und äußeren Paysagen. Nun lädt sie die Lesenden ein, die Reisen selbst zu tun, im Kopf oder tatsächlich, und reich beschenkt wieder heimzukehren.

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Seitenzahl: 444

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Brita Steinwendtner

AN DEN GESTADEN DES WORTES

Brita Steinwendtner

AN DEN GESTADEN DES WORTES

OTTO MÜLLER VERLAG

Die Drucklegung dieses Buches wurde gefördert durch die Kulturabteilungen von Stadt und Land Salzburg.

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1298-6

eISBN 978-3-7013-6298-1

© 2022 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN

Alle Rechte vorbehalten

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.At

Druck und Bindung: Finidr s.r.o., Český Těšín

Covergestaltung: Leopold Fellinger

Nach Innen geht der geheimnißvolle Weg.

In uns, oder nirgends ist … Vergangenheit und Zukunft.

Novalis

für W.

und alle Zwölf dieses Buches

Inhaltsverzeichnis

Und senkte mich in meine Träume

ADALBERT STIFTER

Totes Gebirge und Dachstein

Die Wege von der Sonne in die Nacht

MECHTILDE LICHNOWSKY, WALTER BENJAMIN

Côte d’Azur und Côte Vermeille

Geboren werden für nichts

FRIEDRICH HÖLDERLIN

Verlass Deutschland, geh nach Bordeaux

Die Seele ist ein Fremdes auf Erden

GEORG TRAKL

Die drei Teiche in Hellbrunn

Das Meer, die Gruppe 47 und eine junge Dichterin

ILSE AICHINGER

Niendorf an der Ostsee

Seit es Sprache gibt, sind Geschichten erzählt worden

TANIA BLIXEN

Rungstedlund, Dänemark

Hinter jeder Fensterscheibe wartet Schicksal

FRIDERIKE UND STEFAN ZWEIG

Salzburg, Kapuzinerberg

Das Kennwort heiße: Leben!

CARL ZUCKMAYER

Unter den Gletschern von Saas-Fee

Wer die Schönheit angeschaut mit Augen

AUGUST VON PLATEN

Syrakus

Ich glaube an die Märchenhaftigkeit der Dichter

H.C. ARTMANN

Der Schwarzgraben und der Kosmos

ADALBERT STIFTER

Und senkte mich in meine Träume

ADALBERT STIFTER

Totes Gebirge und Dachstein

Aber der erste Schlaf ist doch kein ruhiger gewesen. Ich hatte viele Sachen bei mir, Tote, Sterbende, Pestkranke, Drillingsföhren, das Waldmädchen, den Machtbauer, des Nachbarn Vogelbeerbaum, und der alte Andreas strich mir schon wieder die Füße an. Aber der Verlauf des Schlafes muß gut gewesen sein; denn als man mich erweckte, schien die Sonne durch die Fenster herein, es war ein lieblicher Sonntag, alles war festlich, wir bekamen nach dem Gebete das Festtagsfrühstück, bekamen die Festtagskleider, und als ich auf die Gasse ging, war alles rein, frisch und klar […]1

Der erwachsen gewordene Leinenweberbub aus dem Böhmerwald erinnert sich an ein Erlebnis aus der Kinderzeit, als ihm der alte Andreas die Füßchen mit Pech eingeschmiert und er dafür Strafe zu erwarten hatte, da er damit ins Haus gelaufen war. Um ihn davor zu bewahren, nimmt ihn der Großvater auf eine Wanderung mit und erzählt von jener weit zurückliegenden Zeit, als man das Pech zur Bekämpfung der Pest brannte und brauchte und dass Andreas ein Nachfahre dieser Pechbrenner aus dem Wald sei.

In der berühmten Erzählung Granit, die ursprünglich Die Pechbrenner hieß, ist diese Stelle zu finden. Aus einer Begebenheit seiner Kindheit in Oberplan an der oberen Moldau hat Adalbert Stifter als Erwachsener eine seiner schönsten Erzählungen gemacht. Und über dreißig weitere geschrieben, deren frühe ihn zum Modeautor der 1840er Jahre machten.

Mit diesen Erzählungen geht es mir wie dem Kind in seinen wirren Träumen. Ich habe sie als „viele Sachen bei mir“, sie wirbeln mir durch den Kopf, ihre Titel, die so oft geändert wurden, ihre ersten und zweiten und dritten Fassungen, ihre Einzelveröffentlichungen und ihre bald darauf erfolgte Aufnahme in Bucheditionen. Ihre Figuren steigen aus den Stapeln von Büchern, die um meinen Schreibtisch herum aufgebaut sind, denn wie kaum ein anderer Dichter nimmt Stifter die Menschen, die er beschreibt, an sein Herz, liebevoll und zärtlich: die vielen Kinder, arm und verloren, reich und behütet, das Zigeunermädchen und ein blindes Mädchen, ein Kind mit Wasserkopf, ein Geschwisterpaar, das sich verirrt, die beiden violinspielenden Wunderkinder, die nicht glücklich werden und viele mehr. Im Leben waren ihm eigene Kinder versagt, in der Literatur lässt er sie durch seine Geschichten laufen wie die Gedanken einer großen Sehnsucht. Die erwachsenen Leute stehen vor mir, dieses Panoptikum menschlicher Größe und menschlichen Elends: die Alten, tröstend oder störrisch, die Jungen, die suchen, fehlen und gewinnen, die Erfolgreichen und die Versager, die Schmiede ihres Schicksals, die Hässliche und der Schönling, die Liebenden, die sich finden, die Verzweifelten, die nicht zueinanderkommen. Zerrüttete Ehen, Zwist und Betrug. Hoffnung. Glück. Die vielen, die Fremde bleiben auf dieser Welt. Und jene, die um Maß und Verantwortung kämpfen gegen die „tigerartige Anlage“ in uns allen.

[…] wir Alle haben eine tigerartige Anlage, so wie wir eine himmlische haben, und wenn die tigerartige nicht geweckt wird, so meinen wir, sie sei gar nicht da … Wir Alle könnennicht wissen, wie wir in den gegebenen Fällen handeln würden, weil wir nicht wissen, welche unbekannten Thiere durch die schreckliche Gewalt der Thatsachen in uns emporgerufen werden können.2

Gewaltsamkeit war Stifter vertraut, er war ein exzellenter Beobachter. Er war kurz nach der Französischen Revolution 1805 geboren und inmitten der Napoleonischen Kriege aufgewachsen, sah die Pressionen in der gesellschaftlichen Hierarchie zwischen Adel und „niederem“ Volk und wusste um die Gewaltbereitschaft in seinen Mitmenschen und in sich selbst. Mit aller Kraft idealisierte er daher das Leitbild von Pflichterfüllung und Vernunftwürde. Als Aufklärer wollte er die Menschen besser machen, schmerzvoll scheiterte er an der Wirklichkeit. Er entwarf daher idyllische Utopien, machte die Natur zum metaphysischen Horizont. „Ich habe viele Tage gesehen, und so ist der Mensch: er sucht den Schimmer und will das Irrlicht greifen – –“

Im kleinen Austraghaus des Sturmgutes von Hinterstoder am Fuß des Toten Gebirges habe ich Adalbert Stifters Werke um mich herum liegen und stehen. Lese und lese ihn wieder. Verliere mich in seiner „schrecklich schönen Welt“, wie der große Stifter-Kenner Johann Lachinger sie nannte. – In diesem steingefügten kleinen Haus bin ich aufgewachsen, hier hat meine Mutter für meinen Bruder und mich und die Kinder der weit entfernten Bauernhöfe Kasperltheater gespielt und der Kasperl hat dem Krokodil auf den Kopf geklopft, wenn die Gretl gefährdet war. Diese Landschaft rundum ist mir vertraut wie die Linien meiner Hand. Fast alle meine Bücher habe ich hier geschrieben. Schreiben ist, zumindest für mich, ein einsames Tun. Ich muss dazu allein sein und habe ein schlechtes Gewissen. W. bleibt in Salzburg, wir telefonieren am Morgen und am Abend. Vormittags schreibe ich in jenem Zimmerchen, in das die Morgensonne hereinscheint, vor mir nur die Weiden mit den grasenden Mutterkühen und ihren Kälbern und einem alten Nagerwirz-Birnbaum. Im Winter ist die Weide eine meist überfüllte und künstlich beschneite Skipiste. Nachmittags bin ich in der westseitigen Mansarde, um die Sonne zwischen Spitzmauer, Brotfall und Großem Priel untergehen zu sehen, wenn ich vom Schreiben aufschaue. Im Gegenlicht rücken die Berge weiter weg, bei Föhn kommen sie mir ganz nah. Sie stehen still in blauem Dunst oder schwarz gezackt vor dem erdunkelnden Himmel. Geröllfelder, Felsabstürze und das kleine Schneefeld, der letzte Rest eines ursprünglichen Gletschers, sind dann genau gezeichnet wie von eines Forschers Hand. Vielleicht ziehen ein paar Glockenklänge vom tief unten liegenden Dorf herauf, über die abgemähten Wiesen und die Silo-Kugeln am Straßenrand. Der Bauernhof ist längst zum Tourismusbetrieb ausgebaut, Kinder sausen in Go-Carts um das Stadleck. Die Lamas werden bereit gemacht für die Abendwanderung zum Lagerfeuer der angepriesenen Romantik eines „Urlaubs am Bauernhof“. Der älteste der drei Bauernsöhne ist jetzt der Besitzer des Anwesens. Seinen Vater erschlug der eigene Traktor beim Holzziehen.

„Das Leben ist ein schillernd Ding, in dessen Abgrund man sich stürzt –

und noch im Abgrund ist es schön […],3

heißt es in der Erzählung Der Hagestolz. Welch eine selbstverleugnende Anstrengung, aus dem Abgrund noch das Schöne hervorzuholen. In der Dichtung ist es Adalbert Stifter gelungen.

Im Leben nicht. Als es unerträglich wurde, schnitt er sich mit dem Rasiermesser durch den Hals. Bewusstlos lebte er noch zwei Tage, am 28. Jänner 1868 starb er. Es wäre nicht die Ursache seines Todes gewesen, meinte der Arzt. Er hatte eine schwere Lebererkrankung, Zirrhose, Krebs. Er hatte gerne getrunken, gevöllert im Essen, war verhungert an Verständnislosigkeit.

So war das Ende.

Aber als er jung war, lag noch alles offen vor ihm.

Er ist ein Hochbegabter, der, wie so viele, aus den Ländern der Habsburgermonarchie in die Hauptstadt Wien geht, in die Kaiserstadt aller Möglichkeiten und Verführungen. Lange vierzehn Jahre, von 1826 bis 1840, sucht er im weiten Land der vielen Wege herum, Kritiker meinen, er habe sie versandelt, ohne etwas Rechtes zu tun und zu finden. „[…] ich hatte damals recht auf der ganzen Welt nichts Festes, um mich daran zu halten, als etwa meinen Wanderstab.“ Er studiert dies und das, sein Hauptfach wäre Jura gewesen, aber die Mathematik interessiert ihn mehr, Physik, Chemie, Mineralogie, Botanik, Astronomie. Keines dieser Studien schließt er ab. Nach dem Vorbild von Jean Paul, dessen Schriften er verehrt, lebt er als Bohemien, wird gepfändet und wechselt häufig seine Wohnungen. Er fühlt sich zum Malen hingezogen, versteht sich als Landschaftsmaler in der Tradition des Biedermeier, beteiligt sich an Ausstellungen, verkauft das eine oder andere Bild. Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, wird er Hauslehrer in Adelskreisen, ist geschätzt und beliebt, hat ein konziliantes Wesen. Staatskanzler Fürst Metternich wird ihn später sogar als Mathematiklehrer für seinen Sohn Rudolf engagieren. Aber er zweifelt, hadert mit sich selbst, wird depressiv, kann sich nicht entscheiden, auch in seinen Liebesverhältnissen nicht. Acht Jahre lang hat die Tochter eines reichen Leinenhändlers aus seiner böhmischen Heimat Friedberg, Fanny Greipl, auf ihn gewartet. Aber er ist nichts und hat nichts und wird nichts und schließlich geben ihre Eltern sie einem niederen Beamten zur Frau, bald darauf stirbt sie im Kindbett. Er hat längst eine Liaison mit der Wiener Modistin und Putzmacherin Amalie Mohaupt angefangen, betrügt die eine mit der anderen, die ideelle mit der körperlichen Liebe. Und stürzt sich 1837 zum Entsetzen seiner Freunde in die Ehe mit Amalie, die hübsch, aber ohne geistige Interessen und seinen Anliegen gegenüber verständnislos ist und bleiben wird. Flieht zwischendurch die Metropole, „[…] spanne mich aus der Industriewelt aus“, fährt ins Gebirge in der Nähe von Wien, lieber noch in die Landschaften um das Tote Gebirge und den Dachstein im südlichen Oberösterreich. Liest, hört zu, entwirft, sammelt, lässt werden.

Welcher Nährboden sind diese Jahre gewesen.

Was ist in ihnen alles gewachsen und aufgebrochen.

Auch verschlossen worden, gehütet als Geheimnis. Und lässt den Fundus von Erfahrungen, Beobachtungen und Divergenzen in seine Schriften einfließen, in die vielstimmig komponierten Sprachmelodien in Dur und Moll. Ab 1840 – Stifter ist bereits fünfunddreißig Jahre alt – erscheinen im Zeitraum von nur vier Jahren die Erzählungen Der Condor, die Sammlung Feldblumen, Der Hochwald, die 1. und 2. Fassung der Mappe meines Urgroßvaters, Die Narrenburg, Abdias, Brigitta, Der Hagestolz und andere. 1850 werden sie gesammelt in sechs Bänden mit dem bescheidenen Titel Studien publiziert. 1845 erscheint Der Heilige Abend, später umbenannt in Bergkristall, die Keimzelle der späteren Bunten Steine von 1853, nur vier Jahre danach der große Roman Der Nachsommer. Da gilt er in der Kaiserstadt Wien längst als Erfolgsautor.

Bald nach 1857 beginnt jedoch sein Stern zu sinken.

1848 hat sich Adalbert Stifter mit seiner Frau Amalie nach Linz zurückgezogen. Ursprünglich den liberalen Strömungen zuneigend – er wird sogar von seinem Wiener Wohnbezirk als Wahlmann für die Frankfurter Nationalversammlung aufgestellt – ist er enttäuscht und ängstlich vor dem gewaltsamen Ausbruch der Revolution von 1848 in den gesicherten Umkreis einer kleineren Stadt und einer Landschaft geflohen, die er gut kennt. 1850 wird er zum k.k. Schulrat und zum Inspektor für die Volksschulen in Oberösterreich ernannt und kommt weit herum im Land. In Wien hatte er Freunde gehabt, war im Laufe der Jahre zum gern gesehenen Gast in großen Gesellschaften und literarischen Kreisen geworden, hatte Umgang mit Anastasius Grün, Nikolaus Lenau, Franz Grillparzer und Joseph von Eichendorff. Andreas Freiherr von Baumgartner, der angesehene Physiker und Staatsmann in vielen Ministerien, war einer seiner Gönner. Im Hause Metternichs hatte er den aufstrebenden Natur-, Gebirgs- und Gletscherforscher Friedrich Simony kennengelernt, ein entscheidendes Zusammentreffen, von dem noch zu reden sein wird. In Linz vereinsamt er, ist Beamter, hat große pädagogische Ziele, stößt auf Widerstand seiner Vorgesetzten, ist auf eine freud- und kinderlose Ehe reduziert. Über diese Ehe gäbe es viel zu sagen, wenn es uns zustünde. Stifter selbst fühlte sich ohne seine Mali verloren, die fast devoten Liebesbriefe werden von den einen zu den schönsten des 19. Jahrhunderts gezählt, die anderen sehen sie als Sublimierung und beschwichtigende Kraftanstrengung, um ein unerfülltes Leben zu kaschieren. Kritische Beobachter hielten fest, dass Amalie Stifter zwar gewissenhaft den Haushalt führte, aber eitel und beschränkt war und ihren Mann durch angebliche Fressorgien an sich zu binden suchte. Der Dichter, opulentem Essen und Trinken nicht abgeneigt, wurde unbeweglich und im Laufe der Zeit ging er nur noch in seinen Dichtungen auf die Berge. Er ist ständig in Geldnot, was bei seiner amtlichen Position und dem literarischen Erfolg überrascht, und ist gezwungen, Stück um Stück die Rechte an seinen Büchern an seinen Verleger Gustav Heckenast im ungarischen Pest zu verkaufen.

*

So viele Fragen zu diesem rätselhaften Mann.

Stifter lesen. Diesen Dichter der abgründigen Seelen und der betörend schönen Sprachbilder von Wald und Fluss, Gebirge und Gletschereis, von Wiesengrün und Blumenduft, Äther und Erde, Sonne Mond und Sternen. Vor meinen Fenstern des kleinen Austraghauses sind Tiere und Menschen, ich schaue ihnen zu. Die Sonne steigt, die Sonne sinkt im Tal des Toten Gebirges. Das Licht wechselt in der östlichen und in der westlichen Mansarde. Wenn die Kühe Durst haben, brüllen sie. Als Kind habe ich sie oft von einer weiter entfernten, sumpfigen Weide zurückgeholt, die Bäuerin und meine Mutter haben mir das zugetraut. Jetzt müssen die Bauern Warnschilder mit Achtung Weidevieh aufstellen, um nicht angeklagt zu werden, wenn Städter aus Unverständnis eine Herde reizen und daraufhin in den seltensten Fällen eine Mutterkuh angreift, um ihr Kalb vor bellenden Hunden oder menschlicher Zudringlichkeit zu schützen.

Stifter lesen.

„[…] freilich bin ich seit Kindheitstagen viel, ich möchte fast sagen, ausschließlich mit der Natur umgegangen und habe mein Herz an ihre Sprache gewöhnt und liebe diese Sprache, vielleicht einseitiger, als es gut ist“, schreibt er in seinem aufsehenerregenden Essay über die Sonnenfinsternis vom Juli 1842. Die Natur: die große Lehrmeisterin in der Nachfolge von Rousseau, Herder, Goethe und der Romantik. Aus ihr leitet Stifter in der Vorrede zu den Bunten Steinen sein berühmtes „sanftes Gesetz“ ab, auf das er allzu oft reduziert wird und das er auf das Sittengesetz der Menschen überträgt. Das Große geschieht ihm nicht durch Heldentaten, sondern so schlicht wie „das Rieseln des Wassers, das Fließen der Luft, das Wachsen des Getreides“ und im Individuum durch „Gerechtigkeit, Einfachheit, Bezwingung seiner selbst“. Welch ungeheure Anstrengung, um das Tigerartige in uns zu zähmen. Philosophieren mit dem Rasiermesser nennt es der deutsche Autor Arnold Stadler.

Noch sehe ich kein Rasiermesser. Noch bleibe ich beim jüngeren Adalbert Stifter. „Es geht mir ganz gut,“ schreibt er im September 1844 an seinen Bruder, „aber Wien habe ich satt, und alle meine Wünsche stehen in mein geliebtes Oberösterreich“.

Dorthin will ich ihn begleiten.

Nicht in den Böhmerwald.

Sondern in den südlichen Teil Oberösterreichs.

In dieses „Land ob der Enns“, das er liebte wie eine Heimat.

Es ist auch mein Land.

In Wels geboren, auf dem Bergbauernhof des Sturmgutes aufgewachsen, in Steyr zur Schule gegangen, kenne ich vieles, was er beschreibt. Den Wind im reifenden Korn, die Dörfer mit dem Mittagsläuten und den Kirchfesten, die Wirtshäuser und die Fuhrleute, die Unglücksfälle und die Erntezeiten, die verschwiegenen Täler, die Seen, die Schrunden der Gebirge, das Gleißen der Gletscher, das Offene und das Wilde dieses Landstrichs.

Dein staunender und verwirrter Blick ergeht sich über viele, viele grüne Bergesgipfel, in webendem Sonnendufte schwebend, und gerät dann hinter ihnen in einen blauen Schleierstreifen – es ist das gesegnete Land jenseits der Donau mit seinen Getreidehängen und Obstwäldern –, bis der Blick endlich auf jenen ungeheuren Halbmond trifft, der den Gesichtskreis einfasset: die Norischen Alpen. – Der Große Priel glänzt an heitern Tagen, wie eine lichte Flocke am Himmelsblaue hängend, der Traunstein zeichnet eine blasse Wolkenkontur in den Kristall des Firmaments – der Hauch der ganzen Alpenkette zieht wie ein luftiger Feengürtel um den Himmel, bis er hinausgeht in zarte, kaum sichtbare Lichtschleier, drinnen weiße Punkte zittern, wahrscheinlich die Schneeberge der ferneren Züge.4

So sieht Adalbert Stifter aus der Distanz das südliche Oberösterreich, hier beschrieben von der Ruine Wittinghausen im Böhmerwald aus – eine „Vollendungslinie“ nennt er diesen Blick. Im Lauf der Jahre kommt er diesem Sehnsuchtsland näher und lernt es kennen bis in seine abgelegensten Winkel.

Wenn von unserem wunderschönen Lande ob der Enns die Rede ist, und man die Herrlichkeiten preist, in welche es gleichsam wie ein Juwel gefaßt ist, so hat man gewöhnlich jene Gebirgslandschaften vor Augen, in denen der Fels luftblau empor strebt, die grünen Wässer rauschen und der dunkle Blick der Seen liegt: wer sie einmal gekannt und geliebt hat, der denkt mit Freuden an sie zurück, und ihr heiteres Bild mit dem duftigen Dämmern und dem funkelnden Glänzen steht in der Heiterkeit seiner Seele – aber es gibt auch andere, unbedeutendere, gleichsam schwermüthig schöneTheile, die abgelegen sind, […]: wer sie einmal gekannt und geliebt hat, der denkt mit süßer Trauer an sie zurück, wie an ein bescheidenes liebes Weib, das ihm gestorben ist, das nie gefordert, nie geheischt, und ihm alles gegeben hat.5

Eine typische Szene – aber es wäre nicht Stifter, würde er sie nicht brechen, widerlegen und ihren dunklen Hintergrund zeigen. Denn der Waldgänger, die Hauptfigur dieser gleichnamigen Erzählung, ist ein alter Mann, einsam, obdachlos, er kommt und verschwindet wieder im Dunkel zwischen den Bäumen, und am Ende heißt es, dass das Einzige, was von ihm übrig blieb, seine zerrissenen Schuhe waren. Zerrissene Schuhe. Zerrissenes Leben. Weggeworfen.

Kennengelernt hat Adalbert Stifter dieses „Land ob der Enns“, wie es in der alten Bezeichnung heißt und heute das Gebiet des Traunviertels umreißt, von Kremsmünster aus. Mit dreizehn Jahren war er über Vermittlung seines Großvaters mütterlicherseits in das Benediktinerstift aufgenommen worden. Er war älter als seine Mitschüler, aber er hatte fast zwei Jahre lang in der elterlichen Landwirtschaft mithelfen müssen, nachdem sein Vater auf einer seiner Fahrten als Flachshändler vom eigenen umstürzenden Wagen erschlagen worden war. Zwischen Wels und Lambach liegt der Unglücksort, unweit von Kremsmünster.

Für den Buben selbst werden die Jahre im Gymnasium des Benediktinerstiftes und in dessen liberaler Atmosphäre eine überaus glückliche Zeit. Er lernt gut und gerne, lernt im Nu die fehlenden Kenntnisse in Latein und Griechisch nach, fällt durch seine Neugier und seinen Wissensdurst auf und wird vor allem in den Naturwissenschaften und in seinem besonderen Talent zum Zeichnen und Malen sorgsam und konsequent gefördert. Einer seiner Lehrer, Pater Placidus Hall, wird sein väterlicher Instruktor und Freund, den Stifter später immer wieder hervorheben wird. Kremsmünster, 777 durch den Baiernherzog Tassilo III. gegründet, war damals schon berühmt für seine Kunstschätze und hatte in einem eigenen Turm eine beträchtliche Universalsammlung an Gesteinen, Mineralien, Pflanzen und Tieren, vor allem Vögeln, die nach Fachgebieten jeweils in einem Stockwerk des Turms untergebracht waren und auch heute noch sind – mit einer Führung kann man auf Stifters Spuren vom Gartengeschoß aus immer höher steigen bis hinauf zu den Okularen, um die Bahn der Gestirne zu verfolgen. Der Turm wurde 1748 als „Mathematischer Turm“ erbaut, galt als Sensation, war eines der ersten Hochhäuser Europas und zählt zu den bedeutendsten historischen Observatorien der Welt. Es diente als Sternwarte, zu meteorologischen und geodynamischen Forschungen, ebenso zur Landeskunde und zu Untersuchungen des Magnetfeldes der Erde: ein reiches Feld für den wissbegierigen Gymnasiasten Stifter und ein Reservoir für alle seine späteren Ausprägungen in der Malerei, den mathematisch-naturwissenschaftlichen Studien, den wissenschaftlichen Themen seiner Literatur und nicht zuletzt für die Beobachtung der Sonnenfinsternis vom 8. Juli 1842 in Wien, der er einen seiner Zeit vorauseilenden und bis heute fesselnden Essay schrieb. Es ist einer jener frühen Texte Stifters, der die Verbindung von Wissenschaftlichkeit und Poesie, von realistischer Naturästhetik und kosmologischen Denkmodellen harmonisch vereint, vom Tod des Lichts bis zur Ohnmacht des Riesenkörpers Erde. Zu Ende seiner Überlegungen stellt Stifter zwei Fragen, deren zweite einen revolutionären Gedanken ausspricht:

Könnte man nicht auch durch Gleichzeitigkeit und Aufeinanderfolge von Lichtern und Farben eben so gut eine Musik für das Auge wie durch Töne für das Ohr ersinnen? […] Sollte nicht durch ein Ganzes von Lichtaccorden und Melodien eben so ein Gewaltiges, Erschütterndes angeregt werden können, wie durch Töne? Wenigstens könnte ich keine Symphonie, Oratorium oder dergleichen nennen, das eine so hehre Musik war, als jene, die während der zwey Minuten mit Licht und Farbe an dem Himmel war, und hat sie auch nicht den Eindruck ganz allein gemacht, so war sie doch ein Theil davon.6

Ein Leben lang wird Adalbert Stifter von der „Magie des Schönen“, in welcher Form auch immer, angezogen bleiben und versuchen, sie in seiner Dichtung zu verdeutlichen. Es ist jene Magie, die ihm unerklärbar ist und trotz aller Rechnungen und Fortschrittsleistungen des Verstandes als Wunder in sein Herz dringt und die dessen Reichtum ausmacht – „[…] und einen anderen gibt es nicht.“

*

Kremsmünster: Studienort. Wanderort.

Stundenlang erkundet Stifter mit Freunden die nähere und weitere Umgebung. Er beobachtet die Menschen, die auf den Feldern arbeiten, die Bauern, Hirten und Knechte, die Waldhüter, Schmiede- und Riemmeister, die Schuster und Zimmerleute, durchstreift die Obstgärten, Dörfer und Weiler in der fruchtbaren Hügellandschaft des eiszeitlichen Voralpenlandes. Er sieht die Keuschen des armen Landvolks und die stattlichen Vierkanthöfe der reichen Bauern – den unweit von Kremsmünster gelegenen Aspermeierhof wird er im Roman Der Nachsommer zu einem bevorzugten Schauplatz wählen. Im Sommer 1829, als er schon Student in Wien ist, zeigt er Fanny Greipl, seiner großen Liebe, diese seine „Seelenlandschaft“. Gemeinsam mit Fannys Bruder verbringen sie einige Wochen im Kurstädtchen Bad Hall, nur wenige Kilometer von der Benediktinerabtei entfernt. Auch wenn die Liaison in den Folgejahren durch Stifters Unentschlossenheit getrübt wird und schließlich in die Brüche geht, wird er Fannys Bild in seinen Erzählungen und im Nachsommer in vielerlei Verfremdungen wieder aufleben lassen: die unerreichte, unerfüllte, immerwährende Liebe.

Gehen, Wandern.

Zwanzig, fünfundzwanzig Kilometer pro Tag können es sein. „Im Gehen sinne und denke ich dann. Der Himmel die Wolken darin das Getreide die Bäume die Gesträuche das Gras die Blumen.“ Wandern war zwar ein allgemeines Erbe der Romantik, von Eichendorff bis August von Platen, der bis Syrakus ging – Stifter suchte jedoch nicht fremde Länder und Reize, sondern blieb im begrenzten Raum seiner südböhmischen Heimat sowie des südlichen Oberösterreich: „In Kremsmünster lernte ich die Alpen kennen, die ein paar Meilen davon im Süden sind.“ Der erste Gebirgsstock am Horizont ist der Traunstein, der unmittelbar am Ufer des Traunsees seine Felsen fast senkrecht aufragen lässt und der dem Wanderer „fast Furcht vor dieser Größe“ einflößt. Mit welch ausgreifender Fantasie Stifter topografische Einzelheiten in Literatur umzuwandeln versteht, lässt sich lebhaft an der Erzählung Hagestolz nachvollziehen, die am gegenüberliegenden Ufer auf der damals noch einsamen Halbinsel von Traunkirchen spielt und die zum Wohnort des menschenverachtenden Oheims sowie des durch dieses Beispiel von seinen Depressionen geheilten jungen Viktor wird. Die lieblichere Variante derselben Landschaft gibt Stifter in den Feldblumen, in denen er sich nach humanistischem Vorbild ein „Tuskulum am Traunsee“ erträumt, in der sich zwei, drei junge Ehepaare eine kultivierte, geistig-künstlerische „Schönheitswelt“ aufbauen könnten.

Vom „Traunsee, der so reizend aus schönem Hügellande ins Hochgebirge zieht“, zog es den Dichter selbst dorthin. Wenn er „Hochgebirge“ sagt, meint er vor allem das Tote Gebirge und das Dachsteinmassiv. Wer das berühmte Portrait Stifters aus dem Jahr 1863 betrachtet, sieht einen soignierten Herrn Ende fünfzig, Positur eines Menschen, der etwas darstellt, ernster Blick, gepflegter Backenbart, melancholischer Gesichtsausdruck, ziemlich korpulenter Körper. Schwer vorstellbar, dass dieser Mann in jüngeren Jahren nicht nur ein ausdauernder und leidenschaftlicher Wanderer, sondern auch ein gelegentlicher Bergsteiger war. Begierig, Gesteine, Flora, Fauna und Wetterbedingungen in den Fels- und Eisregionen zu erkunden. Viele seiner Figuren in den Erzählungen und im Nachsommer sind Naturwissenschaftler, Landvermesser, Geologen, Gletscherforscher. Kein anderer Dichter konnte sich so detailversessen in die bestrickende Kunst der Naturbeschreibung verlieren, denn sie, die Natur, ließ in ihm schon als Kind eine „dunkle, glutensprühige Phantasie“ wachsen, die ihm blieb über alle Jahre hin.

Die Natur hielt Abendfeier, das Sonnenlicht schritt nur noch auf den höchsten Spitzen, die Luft ward immer wellenloser und stiller – ich ging südwärts gegen die Felsen – da war es, als ob das Echo, das tausendfältig in diesen Bergen schläft, traumredete, und etwas, wie Glockentöne lallte […] – es giebt eine Stille, kennst Du sie? in der man meint, man müsse die einzelnen Minuten hören, wie sie in den Ocean der Ewigkeit hinuntertropfen.7

Diese Schilderung vom abendlichen Ufer des Almsees, der unter den nördlichen Abstürzen des Toten Gebirges liegt, findet sich im Erstdruck der Erzählung Liebfrauenschuh aus dem Band Feldblumen. Mit August 1834 ist dieser „Brief“ datiert, da war Stifter 29 Jahre alt. Er war mit Freunden aufgebrochen, eine heitere Runde von Studenten, drei neue Reisegefährten gesellten sich dazu. Alle hatten sie viel Zeit, sangen und tranken, einer malte, der Ich-Erzähler schrieb Briefe an seinen Freund in Wien, es schlug ihnen keine Stunde. Von Steyr aus ging die Reise zunächst bis Kirchdorf, im Mondschein wollten sie bis Scharnstein weiterwandern, aber immer wieder gab es Verzögerungen und Ablenkungen, es gab gute Wirtshäuser, Kegelbahnen und hübsche Mädchen.

Der Weg, den sie zunächst in einer Kutsche fuhren und sich dann erwanderten, ist Teil der jahrhundertalten Reise- und Handelswege dieser Region durch das Steyr-, Kremsund Almtal, den Flüssen entlang, die reich an eisenverarbeitenden Handwerksbetrieben waren.

Das Steyrtal ist mir vertraut seit meiner Kindheit.

Hier kenne ich jede Biegung der Straße, die Blumen auf den Sonnenleiten und die smaragdgrüne Farbe des Flusses in den Kehren. Mit meiner Mutter und meinem Bruder sind wir sonntags in dem Tal gewandert und mit der Schmalspurbahn an die hundert Mal bis Klaus und dann weiter mit dem Bus bis Hinterstoder in unser Austraghaus des Sturmbauern gefahren, in allen Ferien, zu allen Feiertagen. Mein Großvater war Tierarzt in Steyr und oft hat er mich mitgenommen zu den Bauernhöfen im Steyr- und Ennstal. Habe beim Kastrieren der Saubären zugesehen und bei komplizierten Kälbergeburten, habe beim Mostbirnensammeln geholfen und beim Schwemmen der Wäsche in den eiskalten Brunnengrandern. Ich kenne die Sägewerke an den Flussufern, die aufgelassenen Getreidemühlen an den herabstürzenden Bächen und die Laftenhütten in den Fichtenwäldern, in denen mein Bruder und ich gespielt haben, wenn sie leer und am Verfallen waren. Bin auf Waldsteigen gegangen, habe wilde Brombeeren gesammelt und dem leisen Singen in den Föhrenzweigen gelauscht. Wenn ich Stifter lese, ist es mir wie etwas Eigenes.

Steyr, die mittelalterliche Bürgerstadt am Zusammenfluss von Enns und Steyr, ist für Stifter viele Jahre nach seinem Aufbruch an den Almsee von Bedeutung geworden – als Landeskonservator für die Kunstschätze Oberösterreichs, als der er 1853 ernannt wurde, hat er wesentlich dazu beigetragen, die gotische Stadtpfarrkirche renovieren und erhalten zu lassen. In dieser Kirche hat während Stifters Linzer Jahren Anton Bruckner Orgel gespielt und zu seiner Musik sind W. und ich hier eingezogen, als wir getraut wurden, vor über fünfzig Jahren, an einem kalten Märztag mit Schneeregen und Sturm. In ihrer übermütigen Aufbruchsstimmung werden die jungen Leute der Reisegruppe des Sommers von 1834 keinen Blick für die Schönheiten dieser alten Eisenstadt gehabt haben und ebenso wenig für die Wallfahrtskirche von Frauenstein, die unweit ihres Weges im oberen Steyrtal zu finden gewesen wäre. In ihr steht der Altar mit der berühmten Schutzmantelmadonna von 1510 – fast die gleiche Entstehungszeit wie der in der Schnitzkunst der Spätgotik weltbekannte Flügelaltar von Kefermarkt, den Stifter, ebenfalls in seiner Funktion als Konservator, vor dem Verfall rettete, was ihm heute noch gedankt wird. Umsonst hat die Frauensteiner Madonna ihren Schutzmantel über eine junge Frau ausgebreitet, die in diesem Kirchlein auf dem Hügel geheiratet hat: Marlen Haushofer. Ihr Leben wurde ebenso unglücklich wie jenes von Stifter. Wer je Haushofer gelesen hat, dem wird Die Wand in der Gewaltsamkeit des Bildes für immer vor Augen stehen.

Singend und auf der Stockflöte blasend kamen die zeitenthobenen Freunde, nachdem sie Scharnstein passiert hatten, dort an, wo sie eigentlich hinwollten: zu den „wunderlichen Felsen des Almseegebirges“ mit dem Großen Priel, „die lichten Häupter in finstrer Bläue badend“. Stifters Schilderung vom Aufenthalt am Ufer des Almsees gehört zu den schönsten seiner ungezählten Naturbeschreibungen. Bis weit in die Nacht hinein sei er, wie er an seinen Wiener Freund in einem weiteren Feldblumen-Brief schreibt, im Freien geblieben, um über dem Röllstein den Vollmond zu erwarten.

Ein lichter Schein stand unten an dem bezeichneten Berge – die Mondesaurora war es, ich glaubte, er selber werde jetzt aufsteigen, aber nur der Schein klomm längs der steilen Kante des Felsens, der desto dunkler gegen diesen Schimmer stand, bis der Mond endlich gerade auf dem Gipfel des Steines wie ein großes Freudenfeuer emporschlug zu dem Himmel, an dem schon alle Sterne harrten. Er trennte sich sodann und schwamm wie eine losgebundene blitzende weißglühende Silberkugel in den dunklen Aether empor – und alles war hier unten wieder hell und klar – die Berge standen wieder alle da, und troffen von dem weißen, niederrinnenden Lichte, das Wasser trennte sich und wimmelte von Silberblicken, ein Lichtregen ging in den ganzen Bergkessel nieder, und jedes feuchte Steinchen und jedes thauige Gräschen hatte seinen Funken.8

Viel Schlaf dürfte der Betrachter nicht gefunden haben, denn eine Tote-Gebirge-Überquerung vom Seehaus des Almsees bis nach Altaussee war für den nächsten Tag geplant – eine mehr als tageslange Wanderung, die sich über hochgelegene Almböden und ein kahles, ödes Kalkplateau zieht und für die der Alpenverein heute eine Übernachtung auf einer der Schutzhütten empfiehlt.

Um vier Uhr weckte uns der Führer, und siehe, noch einmal sah ich den heutigen Mond, der mir so lieb geworden war; auf einem gezackten Blocke des Westen lag er vor dem Tage erlöschend, während im Morgen die Röthe flammte, und auf dem See die langen Elfenstreifen von weißen Nebeln woben. […] Es ist eine mächtige todte Wildniß, durch die wir gingen, ein Steinmeer, und am ganzen Himmel kein Wölkchen; kein Hauch regte sich und der Mittag sank blendend und stumm und strahlenreich in die brennenden Steine.9

Um acht Uhr abends kamen sie in Aussee an. Waren sie alle so gut bei Fuß? Oder ist die knappe Schilderung ein Zeichen für dichterische Freiheit? Oder war es die heitere Stimmung, die die jungen Leute vorantrieb? Es wurde gesungen und gescherzt, der Malerfreund (oder er selbst?) malte und zeichnete zwischendurch und sicherlich wurde auch, gekühlt mit einem in Äther getauchten Stoff, reichlich Wein getrunken, was Stifter wiederholt als üblichen Proviant bezeichnet. Er war überzeugt davon, dass „ein Trunk Wein mit Wasser ungleich mehr labt und Kraft gibt als das lauterste, erlesenste Wasser der Welt“.

*

Wenn ich Stifter lese, schaue ich anders. Tiefer. In seinen Worten tragen die Felder den Segen für die Menschen, fängt der blaue Dunst über den fernen Bergen zu sprechen an und mit den Glimmerblättchen des Katzensilbers kann man sein Glück erproben. Ich gehe gern mit ihm auf Wanderschaft. „Großes ist mir klein, Kleines ist mir groß.“ Dieser Satz aus dem Nachsommer ist ein guter Wegbegleiter. Es ist, als ob man aus dem Splitterwerk seines Lebens etwas Ganzes machen könnte. „[…] die Welt erglänzte wie von einer innern Schönheit, die man auf einmal fassen soll, nicht zerstückt, ich bewunderte sie, ich liebte sie, ich suchte sie an mich zu ziehen, und sehnte mich nach etwas Unbekanntem und Großem, das da sein müsse.“

Die zerstückte Welt … Je zersplitterter sie ist oder empfunden wird – und die folgenden Jahrhunderte sollten Stifters Zeitbefund noch drastisch verdeutlichen –, desto größer wird die Sehnsucht nach Einheit und Harmonie. Als Meister der Schicksalserzählungen schreibt Stifter darüber zahlreiche Geschichten, eine besonders ergreifende ist Der arme Wohltäter. Um ungefähr ein Drittel verlängert, ist sie später unter dem Titel Kalkstein aus der Sammlung Bunte Steine berühmt geworden. Hauptfigur und Ich-Erzähler ist ein Landvermesser – sehr anders als jener von Franz Kafka –, der eine „fürchterliche Gegend“ kartografieren soll.

Nicht daß Wildnisse, Schlünde, Abgründe, Felsen und stürzende Wässer dort gewesen wären – das alles zieht mich eigentlich an –, sondern es waren nur sehr viele kleine Hügel da, jeder Hügel bestand aus nacktem, grauem Kalksteine, der aber nicht, wie es oft bei diesem Gesteine der Fall ist, zerrissen war oder steil abfiel, sondern in rundlichen, breiten Gestalten auseinanderging und an seinem Fuß eine lange, gestreckte Sandbank um sich herum hatte.10

Mit seinen Helfern hat der Geometer auf Leiterwägen Geräte und Instrumente in dieses unwegsame Stück Land gebracht. Stifter kannte viele der Messgeräte aus Kremsmünster, seinen naturwissenschaftlichen Studien und aus Friedrich Simonys präzisen Aufzeichnungen zur Vermessung der Gebirge.

Da ging es nun an ein Hämmern, Messen, Pflöckeschlagen, Kettenziehen, an ein Aufstellen der Meßtische, an ein Absehen durch die Gläser, an ein Bestimmen der Linien, Winkelmessen, Rechnen und dergleichen. Wir rückten durch die Steinhügel vor, und unsere Zeichen verbreiteten sich auf dem Kalkgebiete. Da es eine Auszeichnung war, diesen schwierigen Erdwinkel aufzunehmen, so war ich stolz darauf, es recht schön und ansehnlich zu tun, und arbeitete oft noch bis tief in die Nacht hinein in meiner Hütte. Ich zeichnete manche Blätter doppelt und verwarf die minder gelungenen. Der Stoff wurde sachgemäß eingereiht.11

Die vermessene Welt. – Es ist viel darüber gerätselt worden, wo diese Kalködnisse liegen könnten. Vermutungen gehen dahin, dass es eine Gegend rund um Gosau am Fuß des Dachsteins gewesen sein könnte, vielleicht auch im Toten Gebirge. Aber im Grunde ist es nicht entscheidend, es zu wissen. Es könnte auch eine in Büchern gesehene Landschaft sein – Stifter war ungemein belesen und kannte den Großteil der wichtigen Publikationen seiner Zeit, er hat zum Beispiel auch Aquarelle nach Abbildungen aus Bildbänden gemalt. Es könnte auch der Spielplatz für die Sprach- und Bildfantasie eines begnadeten Dichters sein.

Der unermeßliche Regen der Nacht hatte die Kalksteinhügel glattgewaschen, und sie standen weiß und glänzend unterdem Blau des Himmels und unter den Strahlen der Sonne da. Wie sie hintereinander zurückwichen, wiesen sie in zarten Abstufungen ihre gebrochenen Glanzfarben in Grau, Gelblich, Rötlich, Rosenfarbig, und dazwischen lagen die länglichen, nach rückwärts immer schöneren, luftblauen Schatten.12

Landschaft und Mensch: immer korrespondieren sie in Stifters Erzählungen. Im Armen Wohltäter, der an Grillparzers Armen Spielmann denken lässt, wird das Schicksal eines Mannes vor uns ausgebreitet, der nach missglückten Studien, einer gescheiterten Liebe und dem Verlust seines Vermögens sich als Pfarrer in den letzten Winkel versetzen lässt, in bitterster Armut sein Leben fristet und zu Gottergebenheit und tätiger Nächstenliebe für die Kinder der armen Kalkbrenner findet. „[…] wer leben soll, muß das Leben kennen, das Gute und das Böse davon […]“

Ist das Resignation?

Beschönigung und Verharmlosung?

Es ist Adalbert Stifter.

Es ist sein Trotzdem.

Darum nehme ich gerne für eine kurze Rast gerade diese Geschichte im dünnen Reclam-Bändchen mit, wenn ich in den Kalkkaren des Toten Gebirges unterwegs bin. Wenn man einsam geht, kann es geschehen, dass man leer wird. Eine schöne Leere des Denkens und Wollens und Strebens. Und dann kann man lieben. Alles, was ist. Erde. Himmel. Menschen. Und schon wieder taucht Stifter auf, der sich fragt, was denn der „unergründliche Werkmeister“ vorgehabt hätte mit dem „Goldkorn Mensch“ im weiten Weltenall. Und dass er nur das eine wisse, schreibt er in den Feldblumen, „[…] daß ich alle Menschen, die eine Welle dieses Meeres an mein Herz trägt, für dies kurze Dasein lieben und schonen will, so sehr es nur ein Mensch vermag“. Stifter, der empathische Altruist. Der Liebende aller Menschen, da er die Liebe in seinem privaten Leben nicht fand. Oder scheint es nur so? Denn wie behutsam will er uns sagen, wie wenig wir voneinander wissen, wie schnell wir übereinander zu urteilen bereit sind.

[…] aber, siehe Titus, glaube, was du willst – – was kann denn am Ende der arme Mensch von einem anderen Nebenmenschen abmalen, sich selbst vorstellen – lieben oder hassen – als das Bild, das er sich von ihm zu machen versteht, da das Ich des andern so wüstenweit von ihm getrennt ist, wie kaum Weltsysteme, die wir doch durch Gläser aus ihrem Himmel ziehen?13

Wie wüstenweit entfernt sind wir vom Verständnis unseres Nächsten? Wir heute, Stifter damals? Erzählen – vielleicht lässt sich im Erzählen die Kluft überbrücken? Als Erzähler hat sich Adalbert Stifter immer definiert. Auch seine großen Romane Der Nachsommer und Witiko, die im Erstdruck in jeweils drei Einzelbänden erschienen, versteht er als Erzählung. Und unterscheidet sich dadurch bewusst vom Romancier, wie es Walter Benjamin auf allgemeiner Ebene in seinem philosophischen Essay Der Erzähler ausführt – eine Tradition, die Christoph Ransmayr in der Gegenwart polyphon und grundsätzlich fortsetzt.

Mit den ersten Sätzen hat sich der Erzähler von der unendlichen Zahl aller Möglichkeiten einer Geschichte gelöst und sich für eine einzige, für seine Möglichkeit entschieden, und hat unter allen möglichen Schauplätzen, Zeiten und Personen, seinen Platz, seine Zeit, seine Gestaltgefunden. Jetzt, endlich, quält es ihn nicht mehr, daß der ungeheure Rest der Welt unausgesprochen, unerzählt an ihm vorübertreibt. Denn er hat seine Geschichte begonnen, seine einzige, unverwechselbare Geschichte und entdeckt in ihr nach und nach alles, was er von der Welt weiß, was er in ihr erlebt, erfahren und vielleicht erlitten hat.14

Das Ich des anderen zu verstehen: Welch mitreißende Versionen hat uns Stifter in seinen Erzählungen angeboten. In Brigitta, dieser atemraubenden, mit größter Scheu und Raffinesse erzählten Geschichte um die Liebe zwischen einem schönen begehrten Mann und einer hässlichen jungen Frau, kommt es nach langen Irrwegen zu einem guten Ende. Öfter jedoch misslingen die Versuche, ist es zu spät und vergeblich. Etwa in der Narrenburg, in Prokopus, die beide in der Ruine Scharnstein spielen, die Stifter gut kannte. Nur ein einziger Blick kann die lange, verborgene Entwicklung zweier Menschen, die sich lieben, offenbaren: „Das versprochene Glück ist nicht gekommen.“ Ein Satz, ein Leben. Ein Meisterstück.

Ein Meisterstück bleibt bis heute auch die Erzählung Der Pförtner im Herrenhause, die Stifter später Turmalin nannte und in die Sammlung der Bunten Steine aufnahm: Ein begehrter Schauspieler verführt eine junge Frau, Mutter eines kleinen Mädchens, der Ehemann würde verzeihen, die Frau verschwindet jedoch, taucht nie mehr auf. Zwei Jahrzehnte später setzt die Handlung wieder ein: In der Kellerwohnung eines Herrenhauses leben ein älterer, dürrer Mann und seine Tochter, die einen Wasserkopf hat, nie ans Tageslicht kommt, auf einer Leiter steht und durch das verschmutzte Maschengitter die Schritte der Vorübergehenden verfolgt, die Stiefel der Männer, die Spitzenunterröcke feiner Damen, die vier Beine eines Hundes. Wenn der Vater unterwegs ist, um mit seinem Flötenspiel ihren mageren Unterhalt zu verdienen, hält er das Mädchen, das schon an die zwanzig Jahre alt sein dürfte, an, zu schreiben: „Beschreibe den Augenblick, wenn ich todt auf der Bahre liegen werde und wenn sie mich begraben“, und wenn das Mädchen fragt, was es sonst noch schreiben solle, meint der Mann: „So beschreibe, wie deine Mutter von ihrem Herzen gepeinigt, in der Welt herumirrt, wie sie sich nicht zurückgetraut, und wie sie ihrem Leben ein Ende macht.“ Stifter, der Mit-Leidende am Los der Verlorenen. Unerreicht seine Kunst, erschütterndes Geschehen knapp und kunstvoll ineinander zu verschlingen und es in das Sozialpanorama seiner Zeit einzubetten. In meinem Mansardenzimmer denke ich dem Mann und dem Mädchen „mit dem großen Haupte“ nach. Nehme sie mit in die Tage, die kommen.

Auch in der Erzählung Katzensilber aus den Bunten Steinen misslingen alle Versuche um ein tiefes Verständnis und werden dadurch zum Beginn nachfolgender Tragik. Es ist die schmerzvoll verschlüsselte Geschichte des wilden „braunen Mädchens“, um das sich eine gutsituierte Familie liebevoll um Integrierung bemüht und das schließlich doch im Nichts verschwindet: „Sie sahen das Mädchen über die Sandlehne empor gehen, und sahen es seitdem nie wieder.“ Die quälende Frage bleibt, was das Mädchen aus seinem alten, dunklen und fremden Leben in das neue, hellere mitgenommen hat und „wie hat es seinen Schmerz, den es sich in der neuen Welt geholt hatte, in seine alte zurückgetragen […]“

Fragen, die bleiben.

Für Stifter zugleich tragische Prophetie.

Die Erzählung hat einen autobiografischen Hintergrund. Um die Weihnachtszeit 1851 war die Ziehtochter Juliane Mohaupt, eine Nichte Amalies, spurlos verschwunden. Zwei Wochen lang wurde die noch nicht ganz Elfjährige gesucht und schließlich gefunden. Als sie achtzehn war – sechs Jahre nach Abfassung von Katzensilber – lief sie nach mehreren anderen Versuchen neuerlich weg. Erst nach einem Monat, im April 1859, wurde ihre Leiche bei Mauthausen aus der Donau geborgen. Ein Schock, ein Schmerz, den Stifter nie verwand. Stifters Bitte an Juliane war schon nach dem ersten Weglaufen vergeblich gewesen. In das Exemplar der Bunten Steine, das er ihr 1853 geschenkt hatte, hatte er als Widmung geschrieben: „Wenn du einst von dem Guten weichen wolltest, so lasse dich durch diese Blätter bitten, es nicht zu tun.“ Auch die letzten Worte der Erzählung blieben unerfüllt: „[…] wenn dem Mädchen nur recht recht viel Gutes in der Welt beschieden wäre.“

Es gab eine zweite Ziehtochter, Josefine.

1858 wurde sie krank und wollte nach Hause.

Zwei Wochen vor Juliane starb sie an Tuberkulose.

Stifters Frau Amalie holte eine dritte nach Linz.

Sie nahm sie als Dienstmädchen.

Stifter unbeteiligt zu lesen, ist mir nur als Schülerin gelungen, als er Lehr- und Lernstoff war. Manches schien mir damals langweilig, manches unverständlich und meist ging es mich nichts an. Längst kann ich ihn nicht mehr lesen, ohne erschüttert zu sein. Oder zu staunen. Verzaubert zu sein. Meist alles zusammen.

Spricht er von Entfremdung, wie die Moderne sie versteht?

Er tat es, ohne sie so zu benennen.

*

An schönen Sommertagen kann ich von meiner Mansarde aus mit dem Fernglas die Menschen sehen, die sich am höchsten Punkt des Großen Priel um das neue Gipfelkreuz scharen. Manche werden vom Klettersteig des Nordostgrates gekommen sein, der als einer der schwierigsten und längsten der Alpen gilt. Abends blitzt das Stahlkreuz noch einmal kurz auf, bevor es in der Dämmerung versinkt. Schatten breiten sich über das Tal, die Wälder erdunkeln. Oft sind wir auf diesem Gipfel gestanden, W. und ich, das eine oder andere Mal auch mit einem unserer Kinder. Alles Land liegt einem zu Füßen, vom Böhmerwald bis zum fernen Kranz der Hohen Tauern, die Hügel und Ebenen des Alpenvorlandes, die sich zur Donau hinziehen, und direkt unter uns erstreckten sich die karstigen Kalkwüsten des Toten Gebirges, zu denen Adalbert Stifter einst mit seinen Freunden vom Almsee aus aufgebrochen ist. Ein Berg, ein einziges Massiv, fesselt im weiten Rund den Blick, ein majestätischer Felsblock mit aufstehenden Hörnern, einer Krone gleich, eingerahmt vom blendenden Weiß der sanft zu Tal ziehenden Gletscher – viele meinen, es sei der schönste Berg landauf, landab: der Dachstein.

Der Dachstein ist für Adalbert Stifter das Inbild eines Berges. Viele Male hat er ihn aus der Ferne als leuchtendes Zeichen beschrieben, über Jahrzehnte hin blieb er ihm eine wiederkehrende Verlockung, die schließlich zu unvergänglicher Literatur wurde: Zunächst in der Erzählung Der Heilige Abend, die später in Bergkristall umbenannt und in die Bunten Steine eingefügt wurde und in der der Dachstein zum Schicksalsberg zweier Kinder und zum Anlass der Versöhnung zweier verfeindeter Dörfer wird. Während ihres verzweifelten Herumirrens durch den überraschend hereingebrochenen Schneesturm, finden Sanna und Konrad im Eis des Gletschermundes etwas, was sie noch nie gesehen hatten:

In der ganzen Höhlung aber war es blau, so blau, wie gar nichts in der Welt ist, viel tiefer und viel schöner blau als das Firmament, gleichsam wie himmelblau gefärbtes Glas, durch welches lichter Schein hineinsinkt. Es waren dickere und dünnere Bogen, es hingen Zacken, Spitzen und Troddeln herab, der Gang wäre noch tiefer zurückgegangen, sie wußten nicht, wie tief, aber sie gingen nicht mehr weiter.15

Das zweite Beispiel von Stifters Dachsteinfaszination ist der an die achthundert Seiten starke Roman Der Nachsommer, der bis heute als Stifters bedeutendstes Werk gilt. In ihm wird das vergletscherte Kalkmassiv zum Forschungsgebiet seiner jungen Hauptfigur Heinrich von Drendorf.

Für beide Werke war Friedrich Simony prägend. In vielfachen Brechungen hat ihn Adalbert Stifter in sein Werk eingebaut und ihm auf diese Weise ein zweites Gesicht gegeben. Simony war auf vielen Gebieten Pionier: als Gebirgs-, Gletscher-, Seen- und Höhlenforscher, als Maler, Zeichner, Fotograf und Schriftsteller. Er war ein exzellenter und mutiger Bergsteiger, ehrgeizig, polyglott und zielbewusst. Geboren 1813 in Hrochow-Teinitz in Nordböhmen – ungefähr in der Mitte zwischen den Gütern des Fürstenehepaares Karl Max und Mechtilde von Lichnowsky und jener der Karl-Kraus-Freundin Sidonie Nadhérny von Borutin – war er um acht Jahre jünger als Stifter und kam aus noch bescheideneren Verhältnissen: Sein Vater war unbekannt, seine Mutter starb früh, auch er ging als wissenshungriger Halbwüchsiger nach Wien. Durch die Gunst von Erzherzog Ludwig erhält er eine Sondergenehmigung, um die fehlenden Gymnasialjahre nachzuholen und an der Universität naturwissenschaftliche Studien zu betreiben. 1840 ist er zum ersten Mal im Dachsteinmassiv unterwegs, zwei Jahre später auf dem Gipfel und im Dezember 1842 macht er die aufsehenerregende erste Winterbegehung. Er publiziert unter anderem in der Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode die Erfolge seiner Expeditionen, fügt weitere hinzu und wird 1851, mit achtunddreißig Jahren, erster Ordinarius für Erdkunde an der Wiener Universität. Wie Stifter verstand er sich als Aufklärer, beseelt vom Wunsch, durch die Synthese von Wissenschaft und Poesie nach dem Vorbild Alexander von Humboldts eine breite Wirkung auf die Weiterbildung des Volkes erzielen zu können.

Kennengelernt haben sich Adalbert Stifter und Friedrich Simony 1844 im Hause des Staatskanzlers Metternich, der in seinen glanzvollen Soireen die geistige Elite Wiens versammelte. Stifter war damals der Hauslehrer für Metternichs Sohn in Mathematik und hatte leichten Zugang zu diesen Gesellschaften. Die Veröffentlichungen Simonys hatte Stifter mit größter Aufmerksamkeit gelesen. Er sah sich selbst als „Art Naturforscher“, war ein passionierter Sammler, zeichnete Pflanzen und Gesteine, um ihre „Wesenheit“ zu ergründen und versuchte in seinen Aquarellen die Besonderheiten von Landschaft, Wind und Wetter einzufangen.

Hallstatt 1845. Hier kommt es zu einer neuerlichen, folgenschweren Begegnung. Eine fast apokalyptische Vorstellung: sie treffen sich, vielleicht zunächst zufällig, auf dem dunkel-düsteren Friedhof der katholischen Kirche am steilen Berghang. Die Totenköpfe des Karners mögen ihnen bewusst gewesen sein als wissenschaftliches Zeugnis der Vergänglichkeit alles Lebens. Frau Amalie Stifter ist unpässlich, sie trennen sich bald. Die beiden Männer verabreden sich für den nächsten Tag zu einer Wanderung ins Echerntal. Während des Gehens erzählt Simony lebhaft von seinen Expeditionen, vom Zauber der Gletscher, vom Fortschritt der Messgeräte, von den Herausforderungen des Unbekannten in großer Höhe. Die intensiven Gespräche sowie die unmittelbare Nähe und Anschauung des Gebirges beflügeln die Vorstellungskraft des Dichters Adalbert Stifter. Simonys mündliche und schriftliche Erkenntnisse finden kurz darauf in literarischer Verfremdung Eingang in Stifters Werk, zum Teil als fast wörtliche Zitate. Andererseits kopiert Simony deutlich Stifters Sprache. 1851 treffen sich die beiden zum letzten Mal in Wels, aber der engere Kontakt ist längst abgebrochen, auch der Briefverkehr ist eingeschlafen. Sie haben sich nicht wiedergesehen. Simony macht große Karriere in der Metropole Wien, Stifter hat sich in die Linzer Provinz zurückgezogen und verliert sukzessive an Ansehen. Trotz der Ernennung zum Schulrat hat er permanente Geldsorgen und Schulden, verkauft seine Verlagsrechte, gibt mit Freund Johannes Aprent und mit enthusiastischem Bildungswillen für das einfache Volk das Lesebuch zur Förderung humaner Bildung heraus, das 1855 vom Ministerium jedoch abgelehnt wird. Er erhält noch den Franz-Josephs-Orden, aber sein Nervenleiden und seine Depressionen nehmen zu. Er hat Angstzustände. Sein Leberleiden macht sich schmerzhaft bemerkbar, er geht wiederholt auf Kur. 1865 lässt er sich frühpensionieren. Auf Betreiben von Freunden wird ihm der Titel Hofrat verliehen.

Das Verhältnis Stifter-Simony galt bisher als Freundschaft – jüngste Forschungen haben jedoch die zunehmende Distanzierung in den Mittelpunkt gestellt.16 Sie dürfte nicht unwesentlich von einer Art Eifersucht begleitet worden sein: Denn auch Friedrich Simony hielt sich zum einen für einen Poeten, zum anderen dürfte ihn die deutlich erkennbare Verwendung seiner Person und seiner wissenschaftlichen Erkenntnisse in den Werken Stifters irritiert, zumindest befremdet haben.

Endlich, nach wochenlangen Stürmen, rissen die düsteren Wolkenschleier, das Flockengewimmel im nebeldurchtobten Reich der Lüfte hatte aufgehört und die Sonne schaute jetzt von neuem auf das unermeßliche Leichentuch der entschlummerten Erde in ihrem winterlichen Glanze hernieder. Die Federwolken, welche sich noch hie und da hoch über der Berge Silberkronen spannten, verschwanden allmählich im weiten Ätherraum und des Himmels reinstes Blau überwölbte wieder den Seekessel von Hallstatt.17

Ist das Simony? Ist es Stifter? Es ist Simonys Beschreibung seiner ersten Winterbegehung des Hallstätter Gletschers, früher Karleisfeld genannt, von der ihm alle, auch die Einheimischen, als viel zu gefährlich abgeraten hatten. Diese Winterexpedition unternimmt, ebenfalls unter Warnung der Ortsansässigen, auch Heinrich von Drendorf im Nachsommer und erweitert sein Forschungsgebiet nach Simonys Vorbild auf Bodenbeschaffenheit, Gesteinsformationen, Moränen und Gletscherbrüche sowie auf Messungen von Temperatur, Luftdruck und Feuchtigkeitsgehalt, sogar auf die ersten Tiefenmessungen des Hallstättersees.

Aber ich will nicht kleinkrämerisch sein.

Nicht erkunden, wer was von wem und wie …

Ich möchte Stifter lesen.

Diesen unergründlichen Nachsommer-Roman mit seinen stillen Sensationen und den unterschwelligen Abstürzen, dieses Buch einer berührenden Männerfreundschaft zwischen Drendorf und dem väterlichen Freund und Lehrmeister Freiherrn von Risach sowie der Verschränkung zweier unvergesslicher Lebens- und Liebesgeschichten. Ich will zurück in dieses „Land ob der Enns“, in die „Allmählichkeit“ einer friedvollen Landschaft und fleißiger Menschen, die hier werken, Erfolg haben oder scheitern und in ihren Bemühungen den Antagonismus Natur – Kultur in eine Ganzheit zu verwandeln trachten. Ein Land, „wo sanfte Hügel mit mäßigen Flächen wechseln, Meierhöfe zerstreut sind, der Obstbau gleichsam in Wäldern durch das Land zieht, zwischen dem dunkeln Laube die Kirchtürme schimmern […] und das blaue gezackte Band der Hochgebirge zu erblicken ist.“ Möchte mich aufs Neue verlieren in dieser stupenden Langsamkeit des Erzählens, in der man viele, viele Seiten auf ein Gewitter warten muss, das dann doch nicht kommt, und in der ein Liebespaar erst gegen Ende des dicken Romans das Geheimnis seines Lebens preisgibt. Und ich möchte von der Glückseligkeit lesen, die einen erfassen kann, wenn man auf einem Gipfel steht.

[…] ich stand auf der zuweilen ganz kleinen Fläche des letzten Steines, oberhalb dessen keiner mehr war, und sah auf das Gewimmel der Berge um mich und unter mir, die entweder noch höher mit den weißen Hörnern in den Himmel ragten, und mich besiegten, oder die meinen Stand in anderen Luftebenen fortsetzten, oder die einschrumpften und hinab sanken, und kleine Zeichnungen zeigten, ich sah die Täler wie rauchige Falten durch die Gebilde ziehen und manchen See wie ein kleines Täfelchen unten stehen, ich sah die Länder wie eine schwache Mappe vor mir liegen […] Alles schwieg unter mir, als wäre die Welt ausgestorben, als wäre das, daß sich alles von Leben rege und rühre, ein Traum gewesen.18

Der Nachsommer erschien 1857. Da wurde das Dachsteinmassiv gerade erst erkundet und Hallstatt, die keltische Salz-Metropole, war ein kleiner Ort mit jahrtausendealter Tradition in Bergbau und Flussschiffahrt, mit weitverzweigten Handelswegen auch zu Land und mit internationalen Beziehungen. Wäre Stifter heute in Hallstatt unterwegs, würde er Hals über Kopf flüchten. Heute ist Hallstatt der Mini Mundus des oberösterreichischen Salzkammerguts, längst nicht mehr es selbst, ist wie zu seiner eigenen Kulisse nachgebaut, ab-geschaut und ab-gegriffen von Augen und Händen Hunderttausender Touristen, alles Eigene in Handyfotos abgewandert, es braucht keinen Nach-Bau mehr in China oder sonst wo, hier ist schon die begehbare Hülse selbst. Arglos und gierig wird in die Häuser gegangen und gestöbert: Wo sind die kleinen, dunklen Küchen, ist das Ding, das Kachelofen genannt wird, noch warm und kann die Rückwand eines Hauses tatsächlich nur der blanke Fels sein …?

Und als Hubert von Goisern – was kein Adelstitel, wie eine deutsche Besucherin seiner Konzerte vermutete, sondern der Name des Nachbarortes ist – den Vorschlag machte, am Ortseingang von Hallstatt eine Informationstafel in englischer und chinesischer Sprache aufzustellen mit dem höflichen Hinweis, dass in diesen Häusern Menschen mit ihren Familien und Berufen leben und keine Museumswärter oder Attrappen für die Neugier weltweiten Fremdenverkehrs, dass die Besucher gebeten würden, die Privatsphäre dieser Menschen zu respektieren, antwortete ein führendes Gemeinderatsmitglied: „Na, des moch ma net, dann kommt ja neamt mehr her!“

Wie ein früher Kommentar zum Beginn solcher zerstörerischen Auswüchse lesen sich Stifters Überlegungen:

Wie überhaupt der Mensch einen Trieb hat, die Natur zu besiegen, und sich zu ihrem Herrn zu machen, was schon die Kinder durch kleines Bauen und Zusammenfügen noch mehr aber durch Zerstören zeigen, und was die Erwachsenen dadurch dartun, daß sie die Erde nicht nur zur nahrungssprossenden machen, wie der Dichter des Achilleus so oft sagt, sondern sie auch vielfach zu ihrem Vergnügen umgestalten, so sucht auch der Bergbewohner seine Berge, die er lieb hat, zu zähmen, er sucht sie zu besteigen zu überwinden, und sucht selbst dort hinan zu klettern, wohin ihn ein weiterer wichtigerer Zweck gar nicht treibt.19

An heißen Sommertagen sind W. und ich früher gerne an den Hallstättersee gefahren und mit den Paddelbooten über das tiefgrüne Wasser gezogen, Stille um uns, glitzerndes Licht. Die Waldhänge, die sich zum Krippenstein, einem Vorberg des Dachsteins, hinaufziehen, waren schwarzgrün und steil. Arnold Lobisser, der Bräuwirt von Hallstatt und weithin gesuchter Instrumentenbauer, geht in den Wintermonaten in diese Wälder, um das richtige Holz zu schlagen für den Bau seiner Violinen, Celli und Bassgeigen. In den kleinen Steinbuchten des gegenüberliegenden Seeufers haben wir immer Rast gemacht – Stifter hätte einen in Äther gekühlten Wein bei sich gehabt –, haben die Wildenten und die tieffliegenden Schwalben beobachtet und durch die Tunnellücken der Umfahrungsstraße von Hallstatt die Reisebusse gesehen, die gestanden und gestanden sind in endloser Reihe und nicht weiterkonnten, da alle Parkplätze am Ende des Ortes längst besetzt waren. Seit einigen Sommern fahren wir nicht mehr hin. Oft ist die Zufahrtsstraße schon am späten Vormittag für jeden Verkehr gesperrt.

*

Der Große und der Kleine Priel sind in Wolken verborgen. Es regnet. Im Gebirge wird es schnell kalt. Die Mauern des Austraghauses sind aus großen Kalksteinen gefügt. Im Erdgeschoß sind sie beinahe einen Meter dick und speichern gut die Wärme eines vergangenen Sommertages. Aber die Fenster der beiden Mansardenzimmer sind undicht, der Ausbau unter dem Dach ist schlecht isoliert und die Feuchtigkeit kriecht durch die Ritzen des Holzes. Die Kühe stehen reglos und eng aneinandergedrängt mit ihren Kälbern unter dem großen Birnbaum, der keine Früchte mehr trägt. In einem der nächsten Gewitterstürme wird er bersten. Ich habe mir eingeheizt und lese Stifter.

In der kurzen, relativ unbekannt gebliebenen Meistererzählung Zuversicht