Der Werwolf von Münster - Maria Rhein - E-Book

Der Werwolf von Münster E-Book

Maria Rhein

4,9

Beschreibung

1874: Das katholische, vom Kulturkampf zerrissene Münster wird Schauplatz bestialischer Morde. Die preußische Geheimpolizei wittert ihre Chance, den seit Langem verhassten Bischof Brinkmann loszuwerden, da die Verbrechen einen religiösen Hintergrund haben. Der in Münster geborene Geheimpolizist Heinrich Maler wird in seine Heimatstadt zurückgeschickt, um Beweise für eine Beteiligung Brinkmanns „zu finden“. Die Spuren führen zu einer spiritistischen Gesellschaft. Während die preußische Regierung sich einen erbitterten Kampf mit der Kirche liefert, gerät Maler schließlich selbst ins Visier des Serienmörders.

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Maria Rhein / Dieter Beckmann

Der Werwolf von Münster

Historischer Kriminalroman

Impressum

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www.gmeiner-verlag.de

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: René Stein

Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung des Bildes »Chess Players« von Johann Erdmann Hummel, http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Johann_Erdmann_Hummel_-_Chess_Players_-_WGA11805.jpg; © Veronika - Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4278-0

Prolog

Lupus lächelteundsein Blick folgte den weißgrauen Nebelschwaden, die langsam über die Felder und Wiesen krochen. Dies war seine Nacht. Der helle Mond tauchte den Nebel in ein weiches Licht. »Mond, du bist mein Verbündeter«, flüsterte er. Einen kurzen Moment hielt Lupus inne und genoss die nächtliche Stille, dann hastete er zwischen den Bäumen vorwärts, tief geduckt, immer auf der Suche nach den dunklen Schatten der Bäume. Lupus hechelte und Dampfschwaden stiegen vom erhitzten Fell seines Körpers auf. Hinter einem der mächtigen Baumstämme blieb er stehen. Er lauschte und konnte nichts Beunruhigendes hören. Sein Herz raste so sehr, dass er das Klopfen im Hals fühlte. Bald würde die Nacht vorüber sein und damit auch die unstete Gier auf die Jagd. Immer wieder zog ihn der Vollmond in die Dunkelheit hinaus.

Seine Arme und Beine begannen zu schmerzen. Überall, in jeder Ader seines Körpers, fühlte er den Sog, der ihn hinaus in die Nacht zwang. Nichts bedeutete ihm mehr als seine Bestimmung. Denn er war Lupus, der Wolf. Anstrengung und Wachsamkeit ließen seine Augen brennen und nervös blickte er auf sein Fell. Würde er heute Nacht ein Opfer finden? Der Gedanke an die Jagd verursachte ein warmes Glücksgefühl.

»Öffne dein Herz!«, hörte er die tiefe Stimme in seinem Kopf. Sie redete nicht oft mit ihm, aber heute schon zum zweiten Mal. Vor jeder seiner Verwandlung sprach sie zu Lupus, ermahnte ihn, auf Gottes Wege zu achten. Er gab sich alle Mühe, nach den Zeichen des Herrn zu suchen.

»Bald kommt die Zeit, in der du zum wahren Werkzeug Gottes werden wirst«, hörte er die Stimme. Lupus wartete, bis sie fortfuhr: »Bald wirst du durch dein Werk einen neuen Namen erhalten.« Wieder wartete er auf erklärende Worte der Stimme. Aber sie blieb stumm. Eine bleischwere Müdigkeit bahnte sich langsam ihren Weg in jede Faser seines Körpers. Er sackte förmlich in sich zusammen. Keinen Schritt konnte er mehr tun, ohne dass seine Muskeln schmerzten. In seinem Kopf dröhnte es, wie Kanonenschläge eines Artilleriefeuers. Immer wieder hämmerte es in seinem Schädel, manchmal tagelang, so wie jetzt, die Stimme ließ ihm keine Ruhe, zeigte kein Erbarmen. So würde auch er kein Erbarmen zeigen. Lupus, der unbarmherzige Jäger, das wahre Werkzeug Gottes.

Teil I

Kapitel I

Die Arbeiterkolonie Ottilienauein Gelsenkirchen war nicht gerade das, was Heinrich Maler sich ausmalte, wenn er über seine Zukunft nachdachte. Die Bergwerksgesellschaft, in deren Diensten er nun stand, verfügte über viele gute Kontakte nach Berlin. Sie bezahlten Unterkunft, Essen und ein paar Mark, die sie Lohn nannten. Seine Aufgaben bestanden darin, Sozialisten auszuhorchen. Nicht dass dies zu großartigen Gewissensbissen bei ihm führte, als Sohn eines Professors für Philosophie der Königlich Theologischen und Philosophischen Akademie entstammte er nicht gerade der Arbeiterklasse.

Doch Sozialisten interessierten ihn nicht besonders, auch wenn er einige ihrer Ideen durchaus nachvollziehen konnte. Seiner Meinung nach erreichte die Reichsregierung mit den andauernden Sanktionen gegen die Sozialisten genau das Gegenteil von dem, was sie eigentlich erreichen wollte. Die Arbeiter trieb man damit immer weiter in die Hände von gefährlichen Umstürzlern, die es zuhauf gab. Bei den letzten Reichstagswahlen im Januar holte die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands gerade mal knapp sieben Prozent. Nicht gerade viel. Heinrich fand die Aktionen der Regierung gegen die Sozialisten daher maßlos übertrieben. Zwar hielt er einige der neuen Ideen auch für gefährlich, dennoch wollten die meisten Arbeiter eigentlich nur eines: genug Lohn und Brot, damit sie ihre Familien ernähren konnten.

Der Sommertag war heiß und stickig und die Schwüle hing wie ein bleiernes Tuch über der Stadt. Heinrich trat der Schweiß ohne jede Anstrengung auf die Stirn. Er schlenderte durch die Arbeitersiedlung und ließ seinen Blick umherschweifen. Ausschließlich Frauen und Kinder waren auf der Straße, die Männer arbeiteten im Bergwerk. Ärmliche, kleine Arbeiterhäuschen reihten sich aneinander. Ottilienaue erinnerte ein wenig an eine Stadt aus dem Märchen. Nur dreckiger. Fehlten noch die sieben Zwerge, dachte Heinrich. Von irgendwo her drang Kindergeschrei an seine Ohren. Heinrichs Blick fiel auf eine ältere Frau, die zwei zerlumpte Kinder hinter sich herzog und mit ihnen schimpfte. Die Menschen hier besaßen gerade so viel, um nicht zu sterben. Das Leben der meisten Männer spielte sich hauptsächlich im Dunkeln ab, unter Tage, nahe dem schwarzen Gold, das alle so begehrten und Reichtum und Wohlstand versprach. Die Frauen bekamen meist ein Kind nach dem anderen, der Lohn ihrer Männer reichte noch nicht einmal für ein Kind, geschweige denn für neun oder zehn. Die Kohle machte nur die wenigen Zechenbesitzer reich. Die Kumpels, die ihr Leben und ihre Gesundheit bei der Arbeit im Bergbau aufs Spiel setzten, blieben arm. Das hatte er in den letzten Wochen als Arbeiter am eigenen Leib gespürt, wenn seine Augen brannten, weil der Schweiß den schwarzen Staub hineinspülte und ihm am Ende der Woche ein karger Hungerlohn ausgezahlt wurde.

Zum Leidwesen der Zechenbesitzer schienen es einige findige Arbeiter auch langsam zu verstehen. Unterstützung erhielten die Kumpel meist aus dem bürgerlichen Lager, wie von diesem Marx, Kind eines Anwalts, oder von dem Lehrer Wilhelm Liebknecht.

Heinrich hatte sich heute beim Steiger krankgemeldet. Das bedeutete für ihn: kein Lohn. Allerdings machte er sich darüber weniger Sorgen. Von den paar Pfennigen, die man ihm bezahlte, wenn er mit den anderen unter Tage arbeitete, konnte sowieso niemand überleben. Er schmunzelte voll Bitternis bei dem Gedanken an seine augenblickliche Situation. Hätte er etwas anders machen können? Es war zwar nicht klug gewesen, seinem Vorgesetzten Inspektor Ebert an den Kragen zu gehen und ihn gegen die Wand seines Büros zu drücken, aber der Kerl hatte ihn provoziert, ihn angebrüllt, er sei eine Schande für die preußische Geheimpolizei. Für Ebert war er immer schon nichts anderes gewesen als der Sohn eines katholischen Umstürzlers aus der Provinz. Wann immer Inspektor Ebert die Möglichkeit dazu bekam, versuchte er, Heinrich zu diskreditieren. Nein, ihm war einfach nur der Kragen geplatzt. Nur Polizeidirektor Wippmann hatte er es zu verdanken, dass er sich immer noch im Dienst befand. Der hatte ihn zu den Bergwerksbesitzern nach Gelsenkirchen versetzt und mit Vorwürfen wahrlich nicht gespart. Heinrich dachte an Berlin. Nur dort ließ es sich wirklich gut leben. Jetzt sollte er hier diese armen Teufel aushorchen, die die Werksleitung für Sozialisten hielt. »Sozialismus!«, spuckte Heinrich förmlich aus, schüttelte den Kopf und sprach zu sich selbst: »Hier ist jeder nur damit beschäftigt, sich zu Tode zu arbeiten, um seine Familie am Leben zu erhalten.« Heinrich traf nur wenig echte Sozialisten in Ottilienaue. Den feinen Unterschied machte die preußische Geheimpolizei, im Gegensatz zu ihm, schon lange nicht mehr. Seit drei Monaten wühlte er nun schon hier im Dreck, ohne eine großartige Verschwörung aufgedeckt zu haben. Heinrich zog seine Kappe etwas tiefer in die Stirn, schlenderte um die nächste Häuserecke und erreichte schließlich seinen Hauseingang. Hier teilte er sich das Zimmer mit zwei polnischen Bergarbeitern, die sich erst seit Kurzem in Gelsenkirchen aufhielten.

»Guten Tag, Heinrich!«

Er zuckte zusammen und drehte sich abrupt um. Seine Zimmergenossen befanden sich doch unter Tage. Dann fiel sein Blick auf den Mann, der auf dem Schemel in der Ecke der Behausung saß. Handschuhe und Zylinder lagen vor ihm auf dem Tisch. »Otto! Wie um alles in der Welt kommst du hierher?«

Sein Besucher lächelte, stand auf und umarmte ihn. Dann fasste er Heinrich bei den Schultern und schüttelte den Kopf. »Du siehst nicht gut aus!«

Heinrich winkte ab. »Ach, das täuscht. Setz dich und erzähl.« Otto Weber, sein bester Freund und Kollege aus Berliner Tagen, nahm ihm gegenüber Platz.

»Der Polizeidirektor schickt mich.«

»Wippmann?« Heinrich dachte an den Leiter der Behörde. Seitdem Karl-Ludwig Wippmann die preußische Geheimpolizei leitete, hatte sich einiges verändert. Wippmann mochte Heinrich und hielt seine mächtige Hand schützend über ihn. Zwar hatte der Polizeidirektor ihn hierher strafversetzt, doch Heinrich wusste ja, Wippmann hatte gar nichts anderes tun können. Heinrich galt innerhalb der preußischen Geheimpolizei nicht gerade als einfach. Sein unkonventionelles Vorgehen und die Nichteinhaltung der Dienstordnungen trafen bei seinen Vorgesetzten auf wenig Zustimmung. Ohne Wippmanns Hilfe hätte ihn nach der Rangelei mit seinem Vorgesetzten Ebert wahrscheinlich eine Gefängnisstrafe erwartet. »Was führt dich her, Otto?«

»Wippmann braucht deine Hilfe in einer etwas delikaten Angelegenheit.«

»Ihr habt doch genug Leute in Berlin, ich dachte, dass er mich hier noch etwas schmoren lassen will«, bemerkte Heinrich ironisch.

Otto blickte sich demonstrativ in der kleinen Behausung um und lächelte. »Wenn ich mich hier so umsehe, gehe ich davon aus, dass du langsam genug davon hast, den Arbeiter zu spielen.«

Heinrich zuckte mit den Schultern, musste sich jedoch eingestehen, dass Otto recht hatte. Er hatte tatsächlich die Schnauze gestrichen voll von der Behausung hier und erst recht von den bornierten Zechenbesitzern und ihren Ängsten vor irgendwelchen Sozialisten.

»Also, spuck’s aus, Otto! Wohin will Wippmann mich schicken?«, fragte er neugierig.

Otto atmete tief durch. »Münster!«

»Was? Vergesst es!«, entgegnete Heinrich scharf.

»Heinrich, der Polizeidirektor weiß um die Schwierigkeit der Aufgabe. Aber deine Familie ist vielleicht in Dinge verwickelt, die du möglicherweise wieder gerade rücken solltest.«

Heinrich zog seine Augenbrauen hoch. »Wie meinst du das?«

»Bischof Brinkmann aus Münster wird zu gefährlich. Er widersetzt sich immer renitenter den Gesetzen des Reiches, und wie wir wissen, ist er ein Freund deines Vaters.«

Heinrich stand auf und hob seine Arme in die Höhe. »Wovor fürchtet sich die Reichsregierung denn noch alles? Erst Sozialisten! Nun Katholiken!«

»Heinrich! In Münster ist bereits ein Büro für dich eingerichtet. Ebenso eine Wohnung in allerbester Lage. Schon morgen wird dort der neue Polizeikommissar Heinrich Maler erwartet. Ich habe alles für dich arrangiert. Offiziell wirst du ganz normale polizeiliche Aufgaben übernehmen. Und außerhalb des Protokolls …!«

Heinrich vervollständigte Ottos Satz: »… Bischof Brinkmann, den Freund meines Vaters, bespitzeln und nach Berlin berichten. Wisst ihr, was ihr da von mir verlangt?«

Otto nickte. »Ja. Wippmann hat mir versprochen, dass du zurück nach Berlin kannst, bei vollem Gehalt, wenn du den Auftrag erledigst. Und wer weiß, vielleicht ist Bischof Brinkmann gar nicht an irgendwelchen regierungsfeindlichen Plänen beteiligt und alles verläuft im Sande. Die Sache in Berlin wird aus deiner Akte gestrichen. Du wärest voll rehabilitiert. Es ist eine Chance, ergreife sie!«, beschwor ihn Otto eindringlich.

Heinrich dachte nach. Er verspürte tatsächlich keine besonders große Lust mehr darauf, noch länger als unbedingt notwendig in dieser deprimierenden Umgebung sein Dasein zu fristen. Der Gedanke, nach Münster zu gehen und wieder auf einem verantwortungsvollen Posten für die preußische Geheimpolizei zu arbeiten, besaß durchaus etwas Verlockendes, auch wenn ihm der eigentliche Auftrag nicht behagte. Er kannte Bischof Brinkmann aus Kindertagen und konnte nicht glauben, dass er eine Gefahr für das Deutsche Kaiserreich darstellte. Vielleicht war es sogar besser, wenn er diese Aufgabe übernahm, bevor Berlin jemanden schickte, der dem Freund seines Vaters wirklich gefährlich werden konnte. »Also gut, Otto, sage Wippmann, dass ich dabei bin!«

Otto lächelte und zwinkerte ihm zu. »Eine schöne Wohnung, einige hübsche Dienstmädchen und reichlich Gehalt erwarten den neuen Polizeikommissar in Münster. Alles, was Berlin von dir will, sind Berichte über die Schritte, die der Bischof als Nächstes plant.«

Kapitel II

Anna konzentrierte sich darauf, die Augen aufzuhalten. Immer wieder senkten sich die Lider vor Müdigkeit. Ihre Beine waren so schwer, dass sie sich die schmale Allee in Richtung ihres Dorfes mehr entlang schleppte denn ging. Sie dachte an die langen Stunden im Haus des Bauern Holtmann und an die komplizierte Geburt zurück. Wäre Anna noch später gerufen worden, sie hätte das kleine Wesen im Bauch der Mutter nicht mehr drehen und gesund zur Welt bringen können.

Hiltrud Holtmann war Erstgebärende und es lagen viele schwere Stunden hinter der jungen Bäuerin. Sicher würde das Mädchen nicht das einzige Kind der kräftigen Frau bleiben, dachte Anna. Die Enttäuschung über die Geburt einer Tochter hatte der junge Vater gottlob nur gegenüber seiner Mutter, der alten Frau Holtmann, ausgesprochen.

Arme Hiltrud, dachte Anna, die nur zu gut wusste, was der jungen Bäuerin bevorstand. Nicht selten brachten die Frauen auf dem Lande zehn und mehr Kinder zur Welt, oft ohne die Hilfe einer Amme. Denn Kinderkriegen war das Selbstverständlichste auf der Welt, das die Frauen auch schon mal auf dem Feld erledigten.

Anna ging über die Allee und musste bei jedem Schritt auf die tiefen ausgefahrenen Schlaglöcher achtgeben. Im dämmrigen Licht des späten Abends galt es aufzupassen. Die alte Bäuerin hatte ihr angeboten, die Nacht auf dem Hof zu verbringen, doch Anna wollte nicht. Ihre Kinder befanden sich alleine zu Haus. Auch wenn Johanna, Annas älteste Tochter, es gewohnt war, auf ihre jüngeren Geschwister Acht zu geben, wollte sie doch so schnell es ging zurück.

Der dunkle Weg zu dem kleinen Kotten in St. Mauritz schreckte Anna nicht. Sie dachte darüber nach, welch ein Glück sie hatte, das kleine Haus ihr Eigen zu nennen. Zu Fuß gelangte sie schnell in die Bauernschaften und östliche Außenbezirke von Münster. Und die Frauen dort nahmen gerne ihre Hilfe als Hebamme in Anspruch. Anna dachte an ihre älteste Tochter und lächelte. Vielleicht würde auch Johanna eines Tages Hebamme werden. Vor ein paar Tagen hatte sie gefragt, woher Anna all ihr Wissen über Kräuter und Tees habe. Anna hatte geantwortet, sie habe das uralte Hebammenwissen von ihrer Mutter gelernt. Einer weisen, resoluten Frau, die ihr schon früh beigebracht hatte, wie wichtig das traditionelle Wissen war. Sie hatte in gefährlichen Geburtssituationen immer exakte Anweisungen erteilt. Anna schmunzelte stolz bei dem Gedanken an ihre Tochter. Ein großes selbstständiges Mädchen mit Verantwortungsbewusstsein. Durch den schneidenden Wind schmerzten Annas kalte Wangen. Sie blickte in den Himmel. Dunkle Regenwolken brauten sich dort zusammen. Wenn es zu regnen beginnen würde, wäre sie innerhalb kürzester Zeit bis auf die Haut nass. Anna dachte einen Moment an eine Rückkehr zum Hof der Holtmanns. War dies eine gute Idee? Der Weg zurück war mindestens genauso lang wie der nach Hause. Nein, es war besser weiterzugehen. Sie beschleunigte ihre Schritte voll Vorfreude auf die warme Stube und eine heiße Tasse Tee.

Die ersten Regentropfen fielen, als Anna unvermittelt stehen blieb. Im Dickicht meinte sie, etwas gehört zu haben. War da jemand? Wer sollte das schon sein, jetzt, mitten in der Nacht?, beruhigte sie sich. Bestimmt nur ein Reh oder ein Hase. Da war es wieder. Diesmal hörte sie es deutlich und näher. Lauschend blieb sie stehen und versuchte herauszufinden, was das Geräusch verursacht hatte. War es wirklich ein Tier?

Der Angriff traf sie völlig überraschend. Ein wuchtiger Schlag gegen ihren Rücken riss ihr den Boden unter den Füßen weg. Der plötzliche Schock schnürte ihr die Kehle zu. Sie war nicht einmal in der Lage, einen Laut von sich zu geben, so bäuchlings am Boden. Eine riesige Gestalt sprang im nächsten Moment auf ihren Rücken und begann, an ihren Kleidern zu reißen. Mit einem kurzen Blick zur Seite sah sie einen pelzigen Lauf neben sich.

Ein Wolf, dachte sie entsetzt. Scharfe Krallen rissen tiefe Furchen in ihren Rücken. Anna schrie nun aus Leibeskräften. Sie wollte sich wehren und um sich schlagen, aber ihre Hände lagen unter ihrem Körper begraben. Sie versuchte sich zu drehen, strampelte mit den Beinen, stemmte keuchend die Füße gegen den Boden, doch der behaarte Körper auf ihr war zu schwer und das Tier hieb seine Klauen immer wieder in ihr Fleisch. Anna roch den bestialischen Gestank des Wolfes, der sich jetzt noch tiefer über sie beugte. Er grub seine Krallen in ihren Körper, wie glühende Messerspitzen zerfetzten sie ihren Rücken. Und dann hörte sie zwischen ihren eigenen Schreien widerliche, saugende Geräusche. Es trank ihr Blut.

»Nein!«, flehte sie verzweifelt. Als könnte ihr Kopf sie verteidigen, als könnte er dem Grauen ausweichen, warf sie ihn in panischer Furcht hin und her. Sie musste das Tier von sich abschütteln, musste sich befreien. Es gelang ihr, einen Arm zu lösen. Sie griff nach der Bestie, riss an ihrem Fell und versuchte, um sich zu schlagen und zu kratzen. Anna fühlte, wie eine Pranke ihren Kragen zu fassen bekam. Vor ohnmächtiger Wut spannte Anna immer wieder ihre Muskeln an und weckte ungeahnte Kräfte, um gleich darauf voller Verzweiflung zu spüren, dass sie nicht ausreichten. Voller Angst flehte sie Gott um Hilfe an. Sie biss und kratzte, schlug wild um sich und krallte ihre Fingernägel in das ekelhafte Fell des Tieres, bis die Nägel brachen. Doch das Tier drückte sie mit seinem ganzen Gewicht zu Boden. Unaufhörlich drangen die Krallen in ihr Fleisch und ihr warmes, klebriges Blut vermischte sich mit dem Regen zu einem schaurigen Rinnsal. Schon wollten ihre Kräfte schwinden, da hörte sie Geräusche. Sie kamen vom nahen Prozessionsweg. Pferdehufe, eine knarrende Kutsche, Peitschenknallen. Sie musste lauter schreien, um Hilfe rufen. Es gelang ihr mit einem Ruck, den Kopf zu drehen, und sie brüllte, schrie aus Leibeskräften. Im gleichen Augenblick, als die Wolkendecke aufriss und der Mond auf den Weg schien, sah sie in die Augen des Tieres. Sie spürte einen dumpfen Schlag, dann versank alles in tiefem Schwarz.

*

Johanna erwachte mit einem Ruck, schweißgebadet aus ihrem Albtraum. Wie spät mochte es sein? Sie blickte zum Fenster in die dunkle Nacht und ihre Hand suchte im Bett neben sich nach ihrer Mutter, doch das Bett war kalt und leer. Wo blieb sie nur so lange? Gab es Probleme bei der Geburt? Johanna versuchte, sich an ihren Traum zu erinnern, doch es gelang ihr nicht. Von ihrem Albtraum blieb nur die unbestimmte Angst, irgendetwas Schreckliches sei geschehen. Ihre Gedanken und Vorstellungen, dass irgendetwas passiert sein könnte, ließen Johanna nicht zur Ruhe kommen. Sie warf sich immer wieder von einer Seite auf die andere. Johanna dachte daran, aufzustehen und nach ihrer Mutter zu suchen, verwarf den Gedanken jedoch sofort wieder. Jetzt konnte sie nichts tun. Sie musste warten, bis es hell wurde und sie durfte die Geschwister jetzt nicht allein lassen. Widerwillig sank sie auf die Matratze zurück, schloss die Augen und wartete. Ihre Mutter kam und kam nicht. Stunden vergingen. Endlich wurde es draußen hell. Gabriel, der jüngste Bruder, erwachte und Johanna versorgte ihn, während sie die anderen weckte und ankleidete. Dann brachte sie die Kleinen zu den Nachbarn und beschloss, ihrer Mutter entgegenzugehen. Vielleicht dauerte die Geburt immer noch an und sie konnte ihr ein wenig helfen.

Wie wunderschön der Tag werden würde, dachte sie in freudiger Erwartung, als sie sich auf den Weg machte. Vom Regen der letzten Nacht waren nur noch die Pfützen auf dem schlammigen Weg übrig geblieben. Durch die Äste der Bäume glitzerten die ersten Sonnenstrahlen. Hinter der Gabelung zum Hof des Bauern Lammerding, an der die große alte Buche stand, führte der Prozessionsweg entlang. Zufällig drehte Johanna den Kopf in Richtung einer kleinen Grasfläche am Wegesrand und erblickte etwas Dunkles, das im hohen Gras lag. Sie verlangsamte ihre Schritte und blieb schließlich stehen. Lag dort auf der kleinen Lichtung ein heruntergefallener Ast? Vorsichtig näherte sie sich. Beim genaueren Hinsehen erkannte sie, dass der Gegenstand zu rundlich für einen Ast war. Langsam ging sie zur Lichtung. Behutsam setzte sie einen Schritt vor den anderen. Angst und Aufregung krabbelten wie Ameisen durch ihren Magen. Die schweißnassen Handflächen streifte sie immer wieder an ihrem Mantel ab. Sie musste einfach nachsehen, was dort lag. Plötzlich stolperte sie. Johannas Herz hämmerte wild und sie schluckte. Was war das? Sie blickte nach unten auf einen schwarzen Gegenstand, der im Gras verborgen gewesen war. Ganz in der Nähe sah sie ein weißes Stück Papier. Vorsichtig stieß sie noch einmal gegen das schwarze Ding und erkannte die Tasche ihrer Mutter. Ein Schrei löste sich aus ihrer Kehle, als sie voller Grauen erkannte, wen sie dort auf der Lichtung entdeckt hatte. Johanna stürzte zu ihr und sah ihren blutverschmierten Körper. Was um Himmels willen war passiert? Johanna warf sich neben ihrer Mutter auf den Boden, berührte vorsichtig das zur Seite gedrehte Gesicht und fühlte noch etwas Wärme an ihrer Haut. Sie hatte von ihrer Mutter gelernt, dass man an einigen Stellen des Körpers den Pulsschlag fühlen und daran feststellen konnte, ob und wie schnell das Herz schlug. Fieberhaft tastete sie nach der richtigen Stelle am Hals. Johanna wusste, dass sie viel zu aufgeregt war, und zwang sich zur Ruhe, holte mehrmals tief Luft, schloss die Augen und zählte langsam bis drei. Ihre feuchten Fingerspitzen tasteten sich suchend vorwärts, bis sie glaubte, etwas zu spüren. Doch sie konnte den Puls nicht fühlen. Wieder und wieder trocknete sie die schweißnasse Hand an ihrem Rock ab, um erneut nach dem Puls zu tasten, vergeblich. Sie betrachtete das Gesicht der Mutter. Ihre Augen waren geschlossen und die blutig verschmierte Haut mit sandigen Schlammspritzern und Gras verdreckt. Dann keimte Hoffnung in ihr auf, denn sie glaubte, eine winzige Bewegung zu sehen. Johanna hielt ihre Hand ganz nah an die Nase der Mutter und spürte einen winzigen Lufthauch. Lebte sie noch? Mutter durfte nicht tot sein! Sie wollte Mutter zum Leben erwecken und bedeckte das Gesicht mit Küssen.

»Mutter! Ich hole Hilfe. Ich bin gleich zurück!« Johanna sprang auf und beeilte sich, zum Hof Lammerding zu kommen. Sie rannte auf den Bauernhof zu, aus dem die alte Bäuerin trat. »Hilfe!«, schrie sie. Jetzt eilten auch die anderen Bewohner des Hofes herbei. Johanna stolperte der Bäuerin völlig außer Atem in die Arme und berichtete von ihrer verletzten Mutter.

Die Bäuerin erteilte sofort Anweisungen: »Albrecht und Bertold! Ihr geht mit dem Mädchen. Nehmt den Karren und Decken mit. Und beeilt euch!«

Wenige Minuten später liefen die beiden Bauernsöhne mit zu der Stelle, an der Johannas Mutter lag. Albrecht und Bertold standen einen Augenblick mit kreidebleichen Gesichtern vor dem leblosen Körper. Stumm hoben sie Anna auf den Karren und brachten sie zu Lammerdings Hof.

*

Der Brief an ihre Freundin Bernadette in Berlin war fast fertig, da vernahm sie das Klingeln der Türglocke. Wenige Augenblicke später meldete ihr Hausmädchen unerwarteten Besuch. Katharina erstaunte es, ihre Nichte Johanna in der Salontür stehen zu sehen. »Welche Überraschung, Johanna!« Als Katharina jedoch die Furcht im Gesicht des Mädchens erkannte, rief sie besorgt: »Was um Himmels willen ist mit dir?« Erst jetzt fiel Katharinas Blick auf ihren Neffen, den zweijährigen Gabriel, der sich verschreckt am Bein seiner Schwester festklammerte.

Johanna traten Tränen in die Augen und sie begann zu schluchzen. »Tante, verzeih, dass ich so einfach hereinplatze. Aber ich wusste mir keinen Rat. Du musst uns helfen!«

»Kinder! Was macht ihr denn hier in Münster?« Katharina umarmte ihre weinende Nichte und strich dem kleinen Gabriel über das Haar. Die Kinder schienen ganz aufgebracht. Wo war ihre Mutter, Katharinas Schwester Anna? Was machten die Kinder allein in Münster? Irgendetwas musste passiert sein.

Johanna setzte sich und trocknete ihre Tränen. »Mutter ist überfallen worden. Es geht ihr sehr schlecht.«

»Was heißt, sie ist überfallen worden?«

»Ich weiß nicht, was passiert ist, Tante Katharina! Sie ist vor ein paar Tagen zu einer Entbindung gerufen worden. Sie hatte noch gemeint, es könne lange dauern, weil es sich um eine Erstgebärende handelte. In jener Nacht habe ich mir große Sorgen gemacht, also bin ich ihr im Morgengrauen entgegengegangen und habe sie schließlich fürchterlich zugerichtet gefunden.«

Katharina fühlte, wie ihr Herz klopfte und eine unbestimmte Unruhe ihren Körper erfasste. »Um Gottes willen! Weiß wirklich niemand, was geschehen ist?«

Johanna schüttelte den Kopf. »Nein. Mutter hat seit dem Überfall nicht mehr gesprochen. Sie liegt nur da. Meistens hat sie die Augen geschlossen. Ich weiß nicht einmal, ob sie uns überhaupt hört oder versteht.« Johanna drückte den Bruder zärtlich an sich und schaukelte ihn sanft, als könne der kleine Kerl ihr Halt geben.

Katharina kannte ihre Nichte und wusste, Johanna war für ihr Alter schon recht vernünftig und durchaus in der Lage, selbst zurechtzukommen, doch jetzt erschien sie ihr verzweifelt und hilflos. Offensichtlich brauchte sie Katharinas Hilfe tatsächlich. »Hast du einen Arzt kommen lassen?«

Johanna nickte und erzählte von der Bauernfamilie, die sofort nach einem Arzt geschickt und nach der Untersuchung dafür gesorgt hatte, dass Anna zurück nach Hause kam.

»Was sagt denn der Arzt? Hat er eine Vermutung, was ihr geschehen sein kann?«

Johanna schüttelte den Kopf. »Er sprach nur davon, dass sie großes Glück gehabt hätte. Eigentlich hätte sie tot sein müssen, bei den vielen Wunden und dem Blutverlust.«

Unzählige Erinnerungen an ihre Schwester strömten in diesem Augenblick auf Katharina ein: Anna, die Starke, die Robuste, die große Schwester. Bilder einer unbeschwerten Kindheit kamen zurück. Bilder von Sommerwiesen in Telgte und Badevergnügen in der nahen Ems.

Johanna holte Katharina in die Realität zurück. »Als ich Mutter fand, habe ich diesen Zettel in ihrer Nähe entdeckt.«

Johanna reichte Katharina ein zerknittertes Blatt Papier. Es war unverkennbar die herausgetrennte Seite eines Buches. Eine Stelle war markiert: ›Ich weiß, wo du wohnst, da, wo der Thron des Satans ist.‹ Sie konnte sich keinen Reim auf diese Textstelle machen. Vielleicht hatte dieses Blatt auch gar nichts mit dem Überfall zu tun. Doch was war ihrer Schwester nur widerfahren? Was sollte aus Anna und den Kindern werden, wenn sie nicht arbeiten konnte?

Johanna beugte sich Katharina entgegen. »Bei uns im Dorf erzählt man sich, dass ein Werwolf des Nachts herumstreift. Die Bauern glauben, dass Mutter von ihm angefallen worden ist. Die Bäuerin Lammerding hat sogar behauptet, an Mutters Kleiderfetzen hätte sie Wolfshaare gefunden. Einige sagen, sie hätten den Werwolf mit eigenen Augen gesehen. Sie haben sogar die Polizei informiert, aber die wollte von alledem nichts wissen und sprach von dummem Aberglauben.«

Katharina bemerkte, wie sich die Härchen auf ihren Armen aufstellten und ihr ein Schauer den Rücken hinunterlief. Werwölfe. Sie stellte sich vor, wie so ein Wolf sich auf Anna gestürzt haben könnte. Wie er über sie hergefallen und sie zugerichtet hatte. »Johanna, bitte beruhige dich. Die Leute im Dorf haben nichts Besseres zu tun, als von Werwölfen, Hexen und Zauberern zu faseln, weil ihr Leben so langweilig ist. Solche Wesen gibt es nicht«, versuchte sie ihre Nichte zu beruhigen.

Johanna schaute Katharina mit ihren großen Augen Hilfe suchend an. »Ich habe Angst. Ich weiß nicht, was ich noch tun soll. Die Geschwister müssen versorgt werden und die Mutter auch. Kannst du mir helfen?«

»Wir fahren sofort zu euch nach Hause!«, entschied Katharina und befahl ihrem Hausmädchen Lore, eine Droschke zu rufen. »Wo sind denn deine Geschwister jetzt?«

»Lisbeth und Justus sind bei den Nachbarn. Eine andere Nachbarin ist bei Mutter, bis ich wieder zurück bin.«

Die Zeit in der Kutsche schien zu kriechen und Katharina kam es vor, als nehme der Weg kein Ende. Sie musste unaufhörlich darüber nachdenken, was mit Anna geschehen war. Sie sah das Bild ihrer Schwester, die mit blutenden Wunden im Gras lag vor sich. Und was mochte es mit dem merkwürdigen Zettel auf sich haben, den Johanna ihr gegeben hatte? Als die Droschke endlich vor dem kleinen Kotten hielt, beeilten sie sich, in die Schlafstube zu kommen. Die Nachbarin, die am Bett der Verletzten wachte, erhob sich und sagte: »Sie schläft, gottlob!«

Katharina trat leise an das Bett. Zwischen den Decken lugte Annas vertrautes Gesicht hervor, auf dem Katharina beim Näherkommen Kratzer und gelblich blaue Flecken erkennen konnte. »Oh mein Gott«, flüsterte Katharina und schüttelte den Kopf. Vorsichtig streichelte sie die Wange der Schwester.

Johanna winkte ihr zu und zusammen gingen sie in die Wohnküche. Ihre Nichte schloss die Stubentür. Katharina nahm Johanna in den Arm, strich beruhigend über ihren Rücken und sagte mit fester Stimme: »Ich bleibe jetzt erst einmal bei euch. Vielleicht sollte Anna später ein paar Tage mit zu mir nach Münster kommen. Dort kann ich sie versorgen lassen. Und ihr Kinder wäret am besten bei den Großeltern und bei Onkel Johannes in Telgte aufgehoben. Du wirst sehen, Johanna. Es wird alles wieder gut.«

Kapitel III

Otto versorgte Heinrichmit allen notwendigen Informationen über seine Aufgabe. Dazu zählten unter anderem: eine Aufzählung von Gesetzesübertretungen der katholischen Kirche, Informationen über die Zusammensetzung der Stadtverordnetenversammlung und über Heinrichs neuen Dienstherrn, den Oberbürgermeister Caspar Offenberg. Heinrich war also bestens im Bilde. Außerdem stellte Otto ihm eine nicht unerhebliche Geldsumme zur Verfügung. Jetzt saß Heinrich in der Kutsche, die ihn am Bahnhof abgeholt hatte, und war gespannt auf sein neues Zuhause. Ein Großteil von Ottos Versprechungen hatte sich jedoch auf der Zugfahrt nach Münster schon als Luftschloss entpuppt. Heinrich hatte es nicht überrascht, als ihm sein Freund offenbarte, ganz so viele Bedienstete seien es dann doch nicht geworden und auch die Wohnung sei etwas kleiner ausgefallen. Ottos Rechtfertigung für das magere Gehalt war die simple Tatsache, dass Heinrich als städtischer Beamter der kommunalen Beamtenbesoldung Münsters unterlag. Ihn in die Münsteraner Polizei einzuschleusen, hatte schon einiger Winkelzüge bedurft, auf die Otto augenscheinlich sehr stolz war. Mehr hatte er da angeblich nicht für Heinrich rausschlagen können. Typisch preußische Geheimpolizei. Sie machte eine Vielzahl an Versprechungen und hielt nur die Hälfte davon, dachte Heinrich, während er aus dem Fenster der Kutsche auf die Münsteraner Häuser blickte. Rumpelnd fuhr der Zweispänner über das grobe Kopfsteinpflaster und bog schließlich in Richtung der Liebfrauenkirche ab. Heinrich bemerkte, dass der Landauer die kleine Holzbrücke der Aa überquerte, um gleich darauf vor einem rötlichen Haus anzuhalten. Der Kutscher sprang vom Bock, öffnete die Tür und lächelte ihn an. »So, wir sind da, Herr Kommissar!«

Heinrich musterte den jungen Mann. Ein blonder Jüngling, vielleicht gerade mal 20 Jahre alt, mit einem wachen Blick und zwei strahlend blauen Augen. Er nickte ihm zu und stieg aus. Heinrich war lange Zeit nicht mehr in Münster gewesen. Es sah so aus, als hatte sich nichts verändert. Von seinem Standpunkt aus konnte er die beiden mächtigen Türme des Doms sehen. Sie überragten die anderen Häuser um ein Vielfaches. Dann ließ Heinrich seinen Blick an dem roten Haus hinauf bis zum Dach gleiten. »Gar nicht schlecht«, murmelte er mehr zu sich selbst.

»Ja, nicht wahr? Es ist ein sehr schönes Haus und warten Sie erst einmal, bis Sie drinnen sind, Herr Kommissar. Das Haus hat Herrn Postrat Becker gehört, leider ist er letztes Jahr gestorben. Ich bin überzeugt, Sie werden sich hier wohlfühlen, Herr Kommissar!«

Heinrich blickte ihn an. »Wie ist dein Name?«

»Jolmes, Jolmes Winterbach, Herr Kommissar. Else Winterbach, ihre Köchin, ist meine Mutter!«, grinste ihn der junge Mann an und trat ein paar Schritte auf ihn zu.

Erst jetzt fiel Heinrich auf, dass der Kutscher hinkte. »Warum ziehst du dein linkes Bein nach, Jolmes?«

»Kriegsverletzung, Herr Kommissar. Ich war beim Militär, wissen Sie? Und nach dem Krieg wollte ich zur Polizei. Ein Querschläger. Na ja, kann man nix machen. Polizei ist nicht mehr, mit dem Hinkefuß, also stellte mich der alte Postrat auf Bitten meiner Mutter ein. Von irgendwas muss man ja leben. Aber ich habe eine sehr gute kriminalistische Spürnase, die Ihnen vielleicht noch von Nutzen sein kann.«

»Ach, tatsächlich?«, grinste Heinrich, auf den der junge Mann sehr sympathisch wirkte.

»Ja, kleine Kostprobe gefällig, Herr Kommissar?«

»Wie meinst du das?«

»Ihr Freund zum Beispiel, der aus Berlin, der Sie am Bahnhof verabschiedet hat. Er hat das Haus vor einigen Wochen gekauft und Sie ziehen nun hier ein. Da fragt man sich doch warum, nicht wahr? Vielleicht ist er ein Agent der Regierung oder Ähnliches …«

Wie kam dieser impertinente Bursche nur zu solchen Schlussfolgerungen? Entweder hatte sich Otto ausgesprochen auffällig verhalten oder Jolmes verfügte über eine erstaunliche Kombinationsgabe. Nichtsdestoweniger war das Verhalten dieses Kutschers mehr als ungebührlich. Heinrich rümpfte die Nase und brachte Jolmes mit leicht gehobenem Arm zum Schweigen. Sollte er sich vor diesem dreisten Kutscher rechtfertigen? Heinrich entschied sich für eine Erklärung, sonst würde der Bursche womöglich noch weitere unangenehme Fragen stellen. »Bemühe deinen kriminalistischen Spürsinn nicht weiter. Otto ist mein Vetter und hat in meinem Auftrag das Haus gekauft. Ich bin gebürtiger Münsteraner und nach Jahren wieder froh, Dienst in meiner Heimatstadt tun zu dürfen«, log er.

Jolmes wurde rot. »Entschuldigung, Herr Kommissar, ich wollte nicht …«, stotterte er verlegen.

»Schon gut. Wenn ich Unterstützung bei Kriminalfällen brauche, lass ich es dich zeitig wissen, und nun lass uns hineingehen.«

»Sehr wohl, Herr Kommissar!« Jolmes holte Heinrichs Tasche hinter dem Kutschbock hervor und öffnete vor ihm die Tür.

Das Haus stellte sich als größer heraus, als es von außen aussah. Die Eingangstür öffnete sich in ein hohes, schmales Treppenhaus. Sein Blick fiel auf die Holzstiege, die steil in die erste Etage führte. Im Erdgeschoss stand eine Flügeltür offen, in der eine ältere, kleine und beleibte Frau mit weißer Schürze stand. Es handelte sich um seine Köchin, Else Winterbach, Jolmes Mutter. Sie und Jolmes waren seine einzigen Bediensteten. Else trat auf ihn zu und knickste höflich. »Kommen Sie, Herr Kommissar. Sie werden hungrig sein nach der langen Reise, das Essen steht schon auf dem Tisch!«

»Jetzt lass den Herrn Kommissar doch erst einmal ankommen und sich das Haus anschauen, Mutter!«

Else zog die Stirn kraus. »Das Haus wird nicht kalt, mein Essen schon!«

»Ich kann mir das Haus auch noch später ansehen und deine Mutter hat recht, Jolmes, gutes Essen sollte man nicht warten lassen!«, lächelte Heinrich.

In den nächsten Tagen war Heinrich damit beschäftigt, sich einzurichten. Er bezog sein Büro in der Polizeidienststelle am Syndikatplatz, gleich hinter dem alten Rathaus. Sein Vorgesetzter Gustav Wittemeier, ein etwas rundlicher Mann mit einem Zwicker auf der Nase, stellte ihn allerlei Sergeanten vor. Die eigentliche Polizeiwachstube von Münster befand sich im Souterrain eines erst vor sechs Jahren neu erbauten Verwaltungsgebäudes. Sie war über eine schmale kurze Treppe sowie über einen Hintereingang zu erreichen. Die Amtsstuben der höheren Beamten befanden sich im Erdgeschoss. Heinrichs Meinung nach unterschieden sich die Mitarbeiter in den engen Stuben nicht maßgeblich von anderen preußischen Beamten, die er in den letzten Jahren kennengelernt hatte. Und auch die Polizisten, die mit Pickelhaube Dienst in den Straßen taten, besaßen ihren Kopf offensichtlich ebenso nur dafür, sich selbige aufzusetzen, eher nicht, um eigenständig zu denken. Preußische Polizisten waren geboren, um Befehle auszuführen und das alles ohne Widerspruch zu leisten. In die Geheimpolizei gelangte man mit einer solchen Einstellung nicht, dazu gehörte mehr als blinder Gehorsam, wusste Heinrich.

Einige Tage schlurfte er mehr oder weniger lustlos zwischen Büro und Wohnhaus an der Liebfrauenkirche hin und her, verbrachte seine Zeit hauptsächlich damit, sich ein Bild von der Dienststelle und seinen tagtäglichen Aufgaben zu machen. Dazu gehörten ebenso die Angelegenheiten der Bauaufsicht als auch sicherheits-, gesundheits-, fremden- und straßenpolizeiliche Aufgaben. Heinrich bot sich ausreichend Gelegenheit herauszufinden, was sich in Münster seit seinem Weggang alles verändert hatte. Es war nicht allzu viel, musste er feststellen. An seinem zweiten Diensttag erhielt er die Order, Inspektor Wittemeier bei einem Besichtigungstermin zu begleiten. Ein gewisser Professor Landois hatte ein Stück Land, die sogenannte Insel an der Aa, zwischen Himmelreichallee und Stadtgraben erworben und beabsichtigte einen Zoologischen Garten darauf zu errichten. Die Genehmigungsverfahren waren so weit abgeschlossen, sodass mit dem Bau der Gehege begonnen werden konnte. Seiner Behörde oblag die Kontrolle der Einhaltung der baupolizeilichen Auflagen. Bewaffnet mit Bauplänen und Auflagenanordnungen machten sich Heinrich und Inspektor Wittemeier auf den Weg zum Zoologischen Garten. Unterwegs erzählte Wittemeier Heinrich von Professor Landois. Der Mann habe Einfluss, lehrte als Privatdozent der Zoologie an der Akademie zu Münster, war Theologe und Lehrer am Gymnasium Paulinum. Heinrich erfuhr, dass Landois durch seine Aktivitäten als Ornithologe und Vogelfreund immer wieder für Aufsehen sorgte.

Heinrich musste sich zusammennehmen, um nicht zu gähnen. Wie konnten gestandene Polizisten nur Freude an solcher Arbeit finden?, fragte er sich, machte jedoch gute Miene zum bösen Spiel und ließ sich nichts anmerken. Seine Langeweile wurde schließlich auf dem Zoogelände durchbrochen von Professor Landois, den Heinrich etwas wunderlich, aber nicht unsympathisch fand. Hermann Landois sprang immer wieder von einem Bein auf das andere und erklärte ihnen die unterschiedlichsten Vogelarten, dann machte er eine ausladende Bewegung mit seinem Arm. »Meine Herren! In ein paar Jahren werde ich nicht nur Vögel und Rotwild hier haben, sondern Affen, Bären, Wölfe, Löwen und vielleicht sogar Elefanten!«

Jetzt konnte Heinrich ein Gähnen doch nicht mehr unterdrücken. Der Professor musste seinen Fauxpas wohl bemerkt haben, denn er tänzelte plötzlich wie einer seiner Vögel auf ihn zu und wedelte mit seinem Zeigefinger vor Heinrichs Gesicht. »Langweilt Sie mein Vortrag, Herr Kommissar?«

Heinrich räusperte sich: »Nun, ich will nicht gerade sagen, dass er mich langweilt …«

»Sie sind Kriminalist, nicht wahr? Achten Sie besonders auf den Ruf des Strix Aluco!«, fiel ihm der Professor ins Wort und seine Augen funkelten.

»Den was?«

»Den Strix Aluco, ein Höhlenbrüter, er gehört zu einer mittelgroßen Eulenart. Sie kennen ihn nicht? Aber Sie kennen seinen Ruf«, dann verzog der Professor seinen Mund und ahmte den Ruf des Vogels nach, dabei schaute er nach oben.

Heinrich musste sich sehr zusammenreißen, um nicht laut loszulachen. Dann fragte er: »Sie meinen einen Waldkauz? Warum soll ich darauf achten?«

Der Professor kam mit seinem Gesicht ganz nahe an Heinrich heran und flüsterte: »Der Ruf bedeutet ›komm mit‹, es ist der Ruf des Todesvogels.«

Einen Augenblick starrte Heinrich in die Augen des Professors, der ganz ernst schaute, doch dann grinste Landois und lachte kurz auf: »Ich habe bloß Spaß gemacht, Herr Kommissar, damit Sie mir nicht einschlafen!« Landois wandte sich Wittemeier zu: »Also? Bekomme ich die Genehmigung?«

Diesem wunderlichen Mann konnte man nichts abschlagen und so war schließlich aus baupolizeilicher Sicht nichts gegen seinen Vogelpark einzuwenden. Professor Landois schwenkte die Genehmigung zum Abschied in seiner Hand hin und her und rief: »Sie werden es nicht bereuen, meine Herren! Eines Tages kriechen genau an der Stelle, wo Sie gerade gehen, Krokodile!«

Unwillkürlich musste Heinrich nach unten zu seinen Füßen blicken. Krokodile konnte er sich wirklich nicht in Münster vorstellen.

Den Anstandsbesuch bei seinem Vater, der bei der Familie seiner Schwester Gertrud lebte, seit Mutter vor einigen Jahren gestorben war, schob Heinrich immer wieder vor sich her. Wenn er an die ständigen Vorhaltungen seines Vaters dachte, wurde ihm übel. Also vermied er, so gut es ging, jede Konfrontation mit ihm. Als er am Sonntagmorgen aufwachte, wurde ihm jedoch klar, dass er den Besuch bei seiner Schwester nicht länger aufschieben konnte, also zog er nach dem Frühstück seinen Gehrock über und machte sich auf den Weg. Jolmes bot an, ihn zu fahren, doch Heinrich winkte ab, was der junge Kutscher mit einem zweifelnden Blick quittierte. Heinrich atmete tief durch und sagte mit einem ironischen Unterton in der Stimme: »Bevor dich dein kriminalistischer Spürsinn auf die falsche Fährte führt und du dich fragst, warum ich deine Dienste nicht in Anspruch nehme und wohin mich mein geheimnisvoller Weg führen mag, will ich es dir verraten, Jolmes: zu meinem Vater! Er wohnt bei meiner Schwester nicht weit vom Prinzipalmarkt. Ich kann also durchaus zu Fuß gehen.«

»Geht klar, Herr Kommissar!«, antwortete Jolmes und zog seine Mütze tiefer ins Gesicht.

Heinrichs Schwester eilte ihm freudestrahlend mit offenen Armen entgegen. Durch die herzliche Wärme ihrer Umarmung fühlte er sich an früher erinnert. Sein Schwager, die Nichten und Neffen kamen ebenfalls und begrüßten ihn. Als sein Vater die Wohnstube betrat und sein Blick auf Heinrich fiel, zog er seine Augenbrauen zusammen und trat zum Fenster. Ohne mit ihm zu sprechen, starrte er minutenlang hinaus. Heinrich krampfte sich der Magen zusammen. Der alte Herr besaß immer noch eine gewisse Macht über ihn, musste er sich eingestehen. Es gab Zeiten, in denen sie ein gutes Verhältnis hatten, doch je älter Heinrich wurde, umso mehr wurde seinem Vater wohl klar, dass sein ältester Sohn sich nicht so entwickelte, wie ursprünglich angedacht.

Gertrud schickte die Kinder hinauf, trat zu ihrem Vater und legte ihm die Hand auf die Schulter. Ihre Stimme klang versöhnlich. »Vater, Heinrich war so lange nicht da. Willst du ihm nicht ›Guten Tag‹ sagen?«

Sein Vater drehte sich zu ihm um. »Ich habe schon davon gehört, dass mein gottloser Sohn seine Laufbahn in unserer Heimatstadt fortführen will. Wen sollst du diesmal bespitzeln, vielleicht deinen eigenen Vater?«

Heinrich wusste, dass sein Vater auf den Selbstmord von Georg ansprach, Heinrichs jüngeren Bruder. Georg hatte seinerzeit wegen von ihm verfasster, regierungsfeindlicher Artikel ein Arbeitsverbot auferlegt bekommen. Damals hatte sein Vater gedacht, Heinrich selbst habe seinen Bruder bespitzelt und denunziert. Die Tatsache, dass Georg unter Schwermut gelitten hatte, wollte sein Vater nie akzeptieren. Alle Versuche, seinem Bruder damals zu helfen, waren erfolglos geblieben. Schließlich war Georg inhaftiert worden und hatte sich im Gefängnis das Leben genommen.

»Vater, ich bin ein einfacher Polizeibeamter. Ich bin hier in Münster, um meinen Dienst für das Wohl der Stadt zu tun«, log er. Sein Vater war nun wirklich nicht der Richtige, dem er die wahren Gründe seines Hierseins offenbaren konnte.

»Du hast noch bis vor Kurzem im Dienst der Regierung gestanden, die mir meinen Sohn nahm. Einmal regierungstreu, immer regierungstreu!«

»Mich trifft am Tod Georgs keine Schuld, Vater!«, widersprach Heinrich, obwohl er wusste, dass sein Vater nichts von seinen Erklärungen hören wollte.

Der alte Herr hob verzweifelt seine Hände in die Höhe. »Nein, du und deine gottlosen Staatsdiener, die die Autorität unserer Mutter Kirche untergraben wollen. Ihr glaubt, uns mit Gesetzen und Verurteilungen kleinkriegen zu können. Aber da täuscht ihr euch. Bereits vor Jahren hat der Papst unmissverständlich klargestellt, dass sich der Staat nicht in die Angelegenheiten der Kirche einzumischen hat. Und der Papst ist unfehlbar.«

Heinrich schloss für einen kurzen Moment die Augen. Immer die alte Leier vom Dogma der Unfehlbarkeit. Welcher Mensch auf Erden war schon ohne Fehler. Doch genau diese verfluchte Lehre war schuld an so vielen Auseinandersetzungen und hatte den Streit zwischen dem Kaiserreich und dem Vatikan auflodern lassen. Doch es brachte nichts, mit seinem Vater darüber zu streiten, daher schwieg Heinrich.

»Aber der Herr Bismarck setzt sich ja über alles hinweg. Er und sein Vollstreckungsgehilfe, unser hochehrenwerter Herr Oberpräsident von Kühlwetter, wollen in allen inneren Angelegenheiten über die Kirche bestimmen. Sie gehen sogar so weit, den Bischof zu Geldstrafen zu verurteilen und zu pfänden. Sie vertreiben unschuldige Jesuiten und die Schwestern des Sacré Coeur aus Stadt und Land. Aber euch trifft nie Schuld an irgendetwas. Lauf zu deinem Herrn Bismarck und erzähl dem deine Lügen, aber geh mir aus den Augen!«

Sein Vater hatte sich in Rage geredet, drehte sich schließlich wieder zum Fenster und schaute hinaus.

Gertrud zuckte hilflos mit den Schultern.

Heinrich spürte einen Kloß in seinem Hals. Er hätte gerne etwas erwidert, doch es ging nicht. Sein Vater machte ihn wütend und Heinrich schluckte diese Wut hinunter. Jedes weitere Wort würde unweigerlich zur Katastrophe führen. Fritz Maler behandelte ihn ungerecht, das hatte er die ganzen letzten Jahre getan, und am liebsten hätte Heinrich seine Wut hinausgeschrien. Als einziges, zaghafte Zeichen dafür, dass er sich im Recht fühlte, verließ Heinrich kopfschüttelnd die Stube. Gertrud folgte ihm. An der Tür zog er seinen Gehrock an und umarmte zum Abschied seine Schwester. »Ich werde nun gehen. Er wird sich niemals ändern, Gertrud.«

Sie seufzte. »Schau wieder vorbei, sobald es deine Zeit erlaubt.«

Er nickte und machte sich auf den Rückweg.

Heinrich hatte vor zwei Tagen im Ordinariat nach einem Audienztermin beim Bischof angefragt und am Morgen durch einen Boten eine Einladung des Bischofs zum Essen erhalten. Jetzt stand er in der Halle des bischöflichen Palais am Domplatz und übergab einem Sekretär seinen Mantel. Er fühlte sich plötzlich seltsam, so, als habe jemand die Zeit zurückgedreht. Früher war er oft mit seinen Eltern hier gewesen und Bilder von damals bahnten sich den Weg in seinen Kopf. Seine Gedanken wurden unterbrochen von einem weiteren Diener, der ihn in das Arbeitszimmer des Bischofs führte. Heinrich wusste, alle Besucher wurden seit jeher im bischöflichen Arbeitszimmer empfangen. Dieses Empfangsritual führte also auch Bischof Brinkmann so durch. Heinrich betrat den Raum und blickte in das runde, lächelnde Gesicht des Kirchenfürsten, der sich sogleich von seinem Schreibtisch erhob und mit offenen Armen auf ihn zukam.

»Heinrich, mein Junge!«, rief er und umarmte ihn.

Heinrich erwiderte seine herzliche Geste mit den Worten: »Eure Eminenz.«

»Schön, dass du wieder zu Hause bist. Warst du schon bei deinem Vater?« Der Bischof bemerkte wohl Heinrichs betretenes Gesicht, denn er legte ihm die Hand auf die Schulter und fragte: »Ihr habt euch immer noch nicht versöhnt, oder?«

»Nein.«

»Das ist nicht gut, Heinrich. Ihr seid Vater und Sohn, vom gleichen Blut. Gott gefällt es nicht, wenn zwischen Vater und Sohn Zwietracht herrscht.«

Heinrich senkte den Blick, denn er wusste nur zu gut, woher die Spannungen zwischen ihm und seinem Vater kamen. »Er gibt mir immer noch die Schuld an Georgs Tod.«

Bischof Brinkmann atmete tief ein. »Du stehst nun mal in Diensten der Regierung und dein Bruder sah sich wohl verpflichtet, mit seinen Schriften gegen den Reichskanzler die Kirche zu beschützen. Dennoch hat er sich selbst gerichtet, eine schwere Sünde.«

Heinrich verabscheute diese verlogene Doppelmoral der Kirche. »Trotzdem habt Ihr ihn auf geweihter Erde begraben!«

Der Bischof seufzte. »Ja. Das war ich deinem Vater schuldig und auch deinem Bruder, der viel für das Bistum getan hat.«

»Ja, ich weiß. Unter anderem hat mein Bruder unseren Kanzler in einem seiner Artikel einen ›gottlosen Tyrannen mit Pickelhaube‹ genannt.«

»Ich weiß nicht, ob er damit so unrecht hatte!«, konterte der Bischof. »Bismarck hat den Kanzelparagrafen erlassen, um die Meinungsfreiheit der Geistlichen einzuschränken. Es droht sogar Zuchthaus, wenn jemand das Falsche sagt, ist das Gerechtigkeit?« Der Bischof verschränkte seine Arme vor der Brust. »Wie man hört, werden weitere Sondergesetze gegen die katholische Kirche erlassen.«

Heinrich seufzte. »Ich bin nicht gekommen, um zu streiten, Eure Eminenz.«

Der Bischof legte seinen Arm um ihn. »Du hast recht, mein Junge. Lassen wir die Politik und begeben uns ins Esszimmer.«

Dort angekommen, schloss der Bischof sorgsam die Tür, trat zu Heinrich und legte die Hand auf seine Schulter. »Heinrich, wir stehen uns so nah, du und ich. Ich kenne dich, seitdem du ein kleiner Junge warst, und ich würde mich freuen, wenn du mich – solange wir alleine sind – Onkel Johannes nennst.«

Heinrich zögerte einen Moment. Ihn beschämte das großzügige Angebot des Bischofs. Ein solches Zeichen von Intimität und Verbundenheit ließ es Heinrich noch schwerer fallen, den Bischof zu bespitzeln. »Es ist mir eine Ehre, Onkel Johannes.«

»Komm, erzähl mir von dir«, fuhr der Bischof vertraulich fort. »Sag, wirst du nicht langsam einmal heiraten wollen?«

Erstaunt darüber, wie schnell der Bischof das Thema wechselte, antwortete Heinrich: »Ohne Frau kann man nicht heiraten.«

Kapitel IV

Lupus konnte es nicht erwarten. Wie lange musste er noch ausharren, bis es endlich dunkel wurde. Er hasste den Sommer, weil es ewig dauerte, bis die Sonne unterging. Die alte Kirchturmglocke läutete bereits zum achten Mal und noch immer war es hell. Gut, dass es noch einiges zu tun gab, bevor er gehen konnte. Lupus musste sich konzentrieren, um alle Utensilien zusammenzusuchen, die er für seine Mission brauchte. Er durfte sich keine weiteren Fehler erlauben. Sie würde sonst wieder wütend werden. Sie würde ihn anschreien oder, noch viel schlimmer, gar nicht mehr mit ihm sprechen.

War er nicht Lupus? War er nicht der Auserwählte? Nur er konnte vollbringen, was sie ihm auftrug. »Ich darf nicht noch einmal versagen«, murmelte er vor sich hin und setzte sich an den schmalen Tisch. Dieses Hämmern in seinem Kopf. »Bitte hör auf!«, schrie er und fasste sich an die Schläfen. »Ich muss mich auf heute Nacht konzentrieren«, flüsterte er im nächsten Augenblick. Er biss sich auf die Unterlippe und dachte angestrengt nach. Hatte er etwas vergessen? Was konnte es nur sein? In Gedanken ging Lupus noch einmal alles durch. Und dann fiel es ihm ein. Die Bibel. Sie lag noch auf seinem Nachtschrank. Wie hatte ihm das passieren können? Nie wieder durfte das passieren, wollte er nicht ihren Zorn auf sich ziehen, so wie beim letzten Mal. Da war er verjagt worden, hatte sein Werk nicht vollenden können. Die Stimme hatte vor Zorn gebebt, war durchgedrungen bis in jeden Winkel seines Gehirns. Sie hatte ihn verfolgt. Doch sobald sich die Gelegenheit bot, würde er seine Aufgabe erfüllen und den Fehler wiedergutmachen.