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Cozy Crime für Weihnachtsfans! In einem kleinen französischen Hotel trifft sich jedes Jahr im Dezember eine Gruppe ehemaliger Ermittler: Polizisten, Detektive, eine Kriminalistikprofessorin und ein Gerichtsmediziner. Die Hotelleitung organisiert stets ein Krimidinner, an dem die ergrauten Profis zwischen Punsch und Plätzchen ihre Fähigkeiten vor dem Einrosten bewahren. Doch als sie im Weinkeller die vermeintliche Leiche finden, stellt sich heraus, dass dort ein echter Toter liegt! Die pensionierten Profis lassen kein gutes Haar an der Arbeit der herbeigerufenen Polizei. Ganz klar: Sie müssen selbst ran!
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Seitenzahl: 348
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Originalausgabe
© Piper Verlag GmbH, München 2022
Redaktion: Uta Rupprecht
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Cover & Impressum
Ägäisches Meer …
Der erste Tag
Geraldine
Kim
Hugo
Claire
Gustave
Der zweite Tag
Louanne
Alexandros
Ruben
Den Haag, Europol-…
Claire
Kasimir
Louanne
Lyon, Interpol-…
Geraldine
Claire
Kim
François Baptiste Lefèvre
Der dritte Tag
Louanne
Geraldine
Ruben
Kasimir
François Baptiste Lefèvre
Den Haag, Europol-…
Geraldine
Marisa
Kim
Louanne
Kasimir
Kim
Der vierte Tag
François Baptiste Lefèvre
Marseille, Hauptquartier …
Geraldine
Kim
Marseille, Hotel …
Louanne
Claire
Côte d’Azur, …
Ruben
Louanne
Geraldine
Kim
Geraldine
Lyon, Interpol- …
Louanne
Kim
Hugo
Louanne
Kasimir
Der fünfte Tag
Geraldine
Kim
Ruben
Louanne
François Baptiste Lefèvre
Le Lavandou, …
Geraldine
Hugo
Kim
Gustave
Ruben
Louanne
Der sechste Tag
Ruben
Kim
Louanne
Kasimir
Marisa
Geraldine
Le grand final
Ruben
Geraldine
Ruben
Geraldine
Der letzte Tag
Kasimir
Danksagung
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Ägäisches Meer, 15 Seemeilen vor der türkischen Küste
Die Gischt schoss kaskadenförmig auf. Karl-Wilhelm Becker, den alle nur »Kim« nannten, spürte jeden Wellenschlag, der gegen den Rumpf knallte. Der Kriminaloberrat des Bundeskriminalamtes war mit einem Gurt gesichert, wie auch die französische Interpolagentin Louanne Chevalier, die neben ihm saß. Alexandros Dimitriadis, Kommandeur der griechischen Küstenwache, stand breitbeinig vor ihnen und wies den Steuermann des Speedbootes an, mit voller Geschwindigkeit weiterzufahren. Nur so hatten sie eine Chance, die Jacht des berüchtigten Drogenbosses Marcello Ferraro abzufangen, bevor sie das türkische Hoheitsgebiet erreichte. Ihr Boot schaffte mit seinem pfeilspitzenschmalen Bug und den sechshundert PS mehr als hundertzwanzig Stundenkilometer. Viel schneller als die Fregatte, die zeitgleich mit ihnen den Hafen von Rhodos verlassen hatte, inzwischen jedoch weit hinter ihnen lag. Wenn jemand diesen Verbrecher stoppen konnte, dann waren sie es mit ihrem Speedboot!
Mit beiden Händen hielt sich Kim an der Kante seines Sitzes fest, als der nächste Brecher seine Wassermassen über das Deck ergoss. Trotz des Overalls und der dicht geschnürten Schuhe fühlte er die Nässe auf jedem Quadratzentimeter seiner Haut. Hinzu kam der ohrenbetäubende Lärm des Motors und der mannshohen Wogen.
»Mehr Tempo!«, hörte er Alexandros brüllen, während er besorgt den Kurs der Nobeljacht verfolgte, die etwa eine Seemeile voraus auf den Wellenkämmen schaukelte. Dahinter lag, zum Greifen nahe, das ockergelbe Band der türkischen Küste. Sollte es Ferraro gelingen, sich und seine Fracht über die unsichtbare Grenzlinie zu bringen, welche die europäischen Gewässer von denen der Türkei trennte, mussten sie ihre Jagd abblasen. Nicht einen Fuß weiter durften sie fahren, wenn sie nicht Gefahr laufen wollten, einen internationalen Grenzkonflikt auszulösen oder – schlimmer noch – von der türkischen Seite unter Beschuss genommen zu werden. Die Türken hatten es nämlich gar nicht gern, wenn ein griechisches Boot ihnen zu nahe kam.
Deshalb waren sie fest entschlossen, alles zu geben. Alles! Das waren sie nicht nur sich selbst, sondern auch den anderen schuldig. Vor allem Mastermind Geraldine Walker. Die Kriminologieprofessorin der London Metropolitan University und Beraterin von New Scotland Yard hatte jeden Schritt von Supergauner Ferraro exakt vorausberechnet. Und Europol-Offizier Ruben van Dijk hatte auf undurchsichtigen Wegen Wind bekommen von der Ladung, die Ferraro an Bord genommen hatte. Eine Ladung, die dem Gangster das Genick brechen würde: dreieinhalb Millionen Euro an Drogengeldern. Zudem würden sie im Frachtraum vermutlich noch Spuren des Rohopiums finden, das im Tausch gegen das Geld nach Europa geschmuggelt worden war. Ruben hatte es nicht rechtzeitig geschafft herzukommen, was ihn sicherlich maßlos ärgerte. Geraldine dagegen zog es vor, die Krönung ihrer gemeinsamen Mission in sicherer Entfernung von London aus mitzuverfolgen. Die action überließ sie gern anderen.
Ihr Plan ließ keine Kompromisse zu: Sie würden das Luxusboot aufbringen, zur Umkehr zwingen und anschließend bis auf die letzte Niete auseinandernehmen. Dann besäßen sie die Beweismittel, nach denen sie suchten. Selbst wenn das Geld inzwischen über Bord geworfen worden wäre und Ferraro leugnete, würde der Fund der Drogenspuren ausreichen, um einen Haftbefehl gegen ihn zu erwirken.
Die Distanz zu ihrem Ziel verkürzte sich. Kim setzte ein Fernglas vor die Augen und beobachtete das auf- und abschaukelnde Heck der Jacht. Angesichts des schweren Seegangs würde es kein Kinderspiel werden, das Schiff zu entern. Das war bestimmt auch Alexandros klar, andererseits war er darin geschult, mit fast jeder denkbaren Situation auf offener See umzugehen. Auch wenn Ferraro und seine Leute sich wahrscheinlich zur Wehr setzen und erbitterten Widerstand leisten würden. Und sie waren nicht zimperlich in der Wahl ihrer Mittel. Kim tippte auf Schnellfeuerwaffen.
Deshalb trugen er und die anderen an Bord schusssichere Westen unter dem Ölzeug. Außerdem waren sie selbst gut gerüstet und imstande, Ferraro so lange in Schach zu halten, bis die Fregatte eintraf. Vor deren Bordgeschützen musste Ferraro kapitulieren. Es sei denn, er hatte vor, sich und seine Mannschaft zu opfern. Eine Möglichkeit, die Kim nicht ernsthaft in Erwägung zog. Dazu war Ferraro zu feige und hing laut Geraldines Prognose viel zu sehr am Leben. Ein Leben, das sich bald hinter Gittern abspielen würde.
Ein befriedigtes Schmunzeln trat auf Kims windumtostes Gesicht, während er dem so lange gesuchten Oberschurken gedanklich bereits Handschellen anlegte. Der heutige Tag würde mit einem Triumph enden! Höhepunkt einer monatelangen Hetzjagd quer über den Kontinent, angetrieben in erster Linie von Ruben van Dijk und seiner Europol. Ruben – ja, er hätte sicherlich gern an Alexandros’ Stelle am Bug des Bootes gestanden und der stürmischen See getrotzt. Seinen Lebenstraum, einen der meistgesuchten Schurken der Welt dingfest zu machen, würden sich an seiner Stelle nun die anderen erfüllen: Kim, Louanne und Alexandros …
Ein dumpfer Knall unterbrach seinen Gedankenfluss, gleich darauf verlor ihr Boot an Fahrt. Was war geschehen?
Alexandros warf dem Steuermann einen irritierten Blick zu. Dieser wischte mit der flachen Hand über die Armaturen, um sie vom Wasserfilm zu befreien. Auf der Suche nach einer Erklärung starrte er auf die Instrumententafel und die Kontrollleuchten.
Kim merkte, wie seine Vorfreude auf die bevorstehende Verhaftung der Nervosität wich. Hatten sie die Grenze etwa schon erreicht? Wurde gar auf sie geschossen?
Sehr bald erkannte er seinen Irrtum. Nein, der Motor musste ausgefallen sein. Eine Verpuffung, Kolbenfresser, oder war etwa das Benzin ausgegangen? Was auch immer zum Ausfall der Maschine geführt hatte, sie kamen nicht mehr von der Stelle. Steuerlos dümpelte das Speedboot einer Nussschale gleich auf den Wellen. Kim musste hilflos zusehen, wie Ferraros Jacht sich immer weiter entfernte, kleiner wurde und schließlich am Horizont verschwand.
Die Drogenspuren und das viele Geld waren außer Reichweite. Und damit auch Supergangster Ferraro.
Wie hatte sie diesen Ausblick vermisst! Von der Terrasse des Le Petit Hôtel bot sich, begünstigt durch die Lage auf einer kleinen Bergkuppe, eine grandiose Sicht auf die Küste mit ihren weißen Sandstränden, die sich mit schroffen, bis in die Brandung reichenden Felsvorsprüngen abwechselten. Pinien, Zypressen, Kakteengewächse und vereinzelte Palmen ergänzten das tiefe Blau des Meeres und das Zinnoberrot des Gesteins um ein sattes Dunkelgrün. Es war Geraldine Walkers Lieblingsfarbe, was sich in ihrer Kleiderwahl ebenso widerspiegelte wie im Lack ihres Mini Cooper, der zu Hause am Eaton Square auf sie wartete: Racing Green. Was für ein schönes Fleckchen Erde!, ging es ihr durch den Kopf. Le Lavandou, du Perle der Côte d’Azur!
Sogar jetzt, mitten im Winter, versprühte die Landschaft trotz der niedrigen Temperaturen einen frühlingshaften Charme und schien nur darauf zu warten, erneut wachgeküsst zu werden und sich dem turbulenten Treiben der Sommermonate hinzugeben. Wo jetzt auf den Wellen nur einige kleine, bunte Fischerboote dümpelten, würden dann wieder die protzigen Schiffe der Schönen und Reichen um die besten Liegeplätze wetteifern, Segelschulen mit ihren Mini-Katamaranen ausschwärmen und angehende Stand-up-Paddler zu weit von der Küste abtreiben, in Seenot geraten und die Rettungsschwimmer auf den Plan rufen. Vom Pudersand der Strände war dann nichts mehr zu sehen, denn dicht an dicht lagen die Badetücher, über die gefährlich tief Frisbee-Scheiben und Gummibälle flogen. Die Strandcafés waren schon am Morgen überfüllt, und die Promenade wurde von kläffenden Hunden und ihren knurrenden Besitzern in Beschlag genommen.
Nein, dachte Geraldine, während sie am Geländer lehnte und den Blick schweifen ließ, ihr war die Nebensaison wesentlich lieber. Im Dezember gehörte das Hotel ihr und ihren Freunden und früheren Kollegen, wie auch fast der ganze Ort. Die »Rentner-Gang« aus ehemaligen Ermittlern konnte sich ausbreiten, und kein lästiger Tourist kam ihnen in die Quere. Da störte es kaum, dass das typische Azurblau des Himmels meist von Wolken verdeckt blieb und nur die wenigsten Geschäfte und Lokale geöffnet hatten.
Auch die Unterbringung entsprach ganz ihrem Geschmack. Das kleine Hotel mit seinen drei Etagen schmiegte sich an den Hügel, auf dem es stand. Im Erdgeschoss befanden sich die Empfangshalle, die Küche, ein winziger Fitnessraum und die Privaträume des Hotelier-Ehepaares. Im ersten Stock gab es einen Salon oder Speisesaal mit Zugang zu der großen Terrasse, auf der sie sich gerade aufhielt, einen Wintergarten und eine kleine Bibliothek mit Kamin. In der obersten Etage folgten dann die Hotelzimmer, darunter auch ihres. Und dann war da noch der in den Felsen gehauene Keller mit Vorräten und Wein. Alles in allem kein Luxustempel, dafür gerade richtig für ihre Bedürfnisse – und nicht so sündhaft teuer wie manch anderes Etablissement hier in Südfrankreich.
Es fiel ihr nicht leicht, sich vom Blick aufs Meer zu lösen und den anderen Gästen zuzuwenden, die nach und nach eingetroffen waren und nun Salon und Terrasse bevölkerten. Am liebsten hätte sie die entspannte Ruhe und die liebliche Landschaft noch länger genossen, bevor sie sich ins Gesellschaftsleben stürzte. Denn – das kannte Geraldine ja aus den vergangenen Jahren – selbst der Small Talk stellte in dieser sehr speziellen Runde eine Herausforderung dar. Je älter sie wurden und je mehr Gebrechen es zu kaschieren galt, desto strapaziöser wurden die Gespräche. Auf jedes Wort musste man achten, wenn man keine Schwäche zeigen wollte – und das vermieden sie alle.
Sie waren seit vielen Jahren Freunde, zusammengeschweißt durch lang währende gemeinsame Polizeiarbeit und frühere Ermittlungserfolge. Mehr noch aber waren sie Konkurrenten, die jedes Jahr aufs Neue den Wettbewerb suchten.
»Also dann!«, feuerte sie sich an. Mit dem Champagnerglas, das ihr die neue Angestellte Marisa, eine zierliche Frau mit scheuen Rehaugen, in die Hand gedrückt hatte, drehte sie sich um. Geraldine zeigte ein freudiges, aber nicht übertriebenes Lächeln, als sie sich an denjenigen wandte, der ihr am Nächsten stand.
»Cheers«, sagte sie und ließ den Kelch an das Glas von Karl-Wilhelm »Kim« Becker klirren.
»Zum Wohl!« Der kräftige Mann deutete eine Verbeugung an. »Gut siehst du aus! Nahezu unverändert. Wie macht ihr englischen Ladys das nur?«
»Ich kann schwerlich für über dreißig Millionen Britinnen sprechen, mich persönlich halten die Enkelkinder jung.« Sie tätschelte ihm den Arm. »Danke für das Kompliment, mein Lieber. Du hast dich auch gut gehalten.«
Vor allem hast du noch mal ganz schön zugelegt! Geraldine musste sich beherrschen, um nicht auf das viel zu enge Karohemd und den bis zum letzten Loch geweiteten Gürtel zu starren. Wie viele zusätzliche Pfunde mochte Kim sich seit dem letzten Treffen vor einem Jahr angefressen haben? Fünf? Eher sieben oder acht. Und sein Schnauzbart war längst nicht mehr so akkurat gestutzt wie in alten Zeiten. Kein Zweifel: Seit dem Tod seiner Frau achtete er noch weniger auf sein Äußeres, als er es früher getan hatte.
»Zufrieden mit der Unterbringung?«, fragte sie. »Ich habe das gleiche Zimmer wie immer. Es ist, als würde man nach Hause kommen.«
»Wie bitte?«
Kim, der Geraldine um fast zwei Köpfe überragte, beugte sich zu ihr herunter. Sein Hörgerät gab unangenehme Pfeifgeräusche von sich.
Sie kam nicht dazu, den Satz zu wiederholen. Zwei zärtlich-fordernde Arme schlangen sich ihr von hinten um den Leib, begleitet von einer Parfümwolke.
»Geraldine! Ma chère amie!«, rief Louanne Chevalier und gab ihr Küsschen auf beide Wangen. »Was für einen hübschen Hut du wieder trägst! Extravagant und absolut ladylike.« Flugs zog sie Geraldine von Kim weg und erklärte laut und völlig unbefangen: »Es wird immer schwieriger, sich mit ihm zu verständigen. Der Apparat in seinem Ohr ist falsch justiert, das habe ich ihm schon beim letzten Mal gesagt. Aber er meint, für seine Zwecke würde es reichen, er wolle all den Unsinn, den die anderen verzapfen, gar nicht immer mitbekommen.«
»Heidrun wäre von dieser Haltung ganz bestimmt nicht begeistert gewesen«, meinte Geraldine. »Wie lange ist es jetzt her, dass seine Frau gestorben ist? Zwei Jahre? Oder sind es schon drei?«
»Ich weiß es nicht, die Zeit fliegt.« Louanne tauschte ihr leeres Glas gegen ein frisches. »Santé!«
Geraldine stieß mit ihr an und bemerkte, wie sorgsam sich Louanne geschminkt hatte. Lidschatten, Wimperntusche, Rouge und Lippenstift – sie hatte es wieder einmal zur Perfektion getrieben, und trotzdem gelang es auch ihr nicht, die verräterischen Runzeln auf der Stirn und die Krähenfüße um die Augen zu kaschieren. Die Falten vollständig verbergen konnte sie nur am Hals, um den sie ein Seidentuch geschlungen hatte. Außerdem trug sie einen elegant geschnittenen Mantel, unter dem das samtene Rot eines Kleides hervorlugte.
»Du siehst bezaubernd aus, sweetheart«, sagte Geraldine, »wirklich bezaubernd.«
Louanne schien das Kompliment gar nicht wahrzunehmen. »Hast du ihn eigentlich schon gesehen?«, erkundigte sie sich stattdessen und kniff beim Umherschauen angestrengt die Augen zusammen. »Angeblich soll er sich schon seit ein paar Tagen in Südfrankreich aufhalten. Hat wohl einen Zwischenhalt bei Menton eingelegt.«
Louanne brauchte Ruben van Dijks Namen nicht auszusprechen, Geraldine wusste sofort, wen sie meinte. Und ja: Längst hatte sie ihn erspäht. Was nicht schwer war bei seiner stattlichen Erscheinung. Groß, breit, blond (nun ja, von der Originalfarbe war auch bei ihm nicht mehr viel übrig) – und laut. In diesem Moment saß der Niederländer breitbeinig in einem Loungesessel ganz am Rande der Balustrade und plauderte mit Kasimir Nowak, einer einstigen Koryphäe der Rechtsmedizin. Vielleicht hatte ihn Louanne deshalb noch nicht entdeckt. Aber zum Teufel, dann sollte sie eben endlich ihre Eitelkeit überwinden und eine Brille benutzen, anstatt die Welt um sich lediglich im Nebel wahrzunehmen.
»Dort drüben.« Sie schob Louanne so in Position, dass sie genau in Rubens Richtung blickte. »Wenn du ihn nicht sehen kannst, müsstest du ihn wenigstens hören. Das ist unverkennbar seine Lache, isn’t it?«
»O ja, kein Zweifel.«
Louanne streckte den schmalen Rücken durch. Um ihre kleinen Brüste größer wirken zu lassen? Als ob darauf noch jemand achten würde. Du bist einundsiebzig, Schätzchen!, spottete Geraldine im Stillen. Es kommt die Zeit, da springen die Männer nicht mehr darauf an.
»Ich will ihm bonjour sagen, begleitest du mich?«, fragte Louanne.
»Später vielleicht«, antwortete Geraldine mit kühlem Lächeln. »Kasimir und Ruben sind wahrscheinlich eifrig dabei, sich eine Taktik zu überlegen. Geschickt von Ruben, sich ausgerechnet Kasimir zu krallen. Er selbst ist ja nur ein mittelmäßig begabter Spieler und ein ausgesprochen schlechter Verlierer, aber er weiß genau, an wen er sich wenden muss, wenn er besser abschneiden will. Unser polnischer Professor ist eine kluge Wahl.«
»Noch wissen wir ja nicht einmal, ob es diesmal überhaupt ein Spiel geben wird«, entgegnete Louanne und strich sich über das kinnlange rabenschwarze Haar.
Es war natürlich gefärbt. Zwar war bei Louanne niemals ein grauer Haaransatz zu erkennen, doch Geraldine war felsenfest davon überzeugt, dass ihre Freundin sehr viel Geld bei ihrem Friseur in Lyon ließ.
»Es wird the game geben«, erklärte sie überzeugt. »Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.« Claire und Hugo Martin, die beiden Hoteliers, kannten schließlich die Vorlieben ihrer Stammkunden und wussten, dass es nicht reichte, genügend Teebeutel in ihrem Zimmer zu hinterlegen und die Minibars der Männer mit Hochprozentigem aufzufüllen, um die Gäste bei Laune zu halten. Die Dezembergesellschaft verlangte mehr – und sie bekam es Jahr für Jahr.
Louanne, die auf ihren Pfennigabsätzen leicht schwankte, genehmigte sich auf dem kurzen Weg zu den beiden Freunden einen weiteren Champagner. Offenbar hatte sie es nötig, mal wieder die Sau rauszulassen. Warum wohl? Vielleicht bekam ihr das Landleben weniger gut, als sie stets behauptete.
Geraldine hatte sich ohnehin gewundert, dass ausgerechnet die umtriebige und quirlige Louanne, die das Stadtleben liebte, gerne ausging und an fast keiner Boutique vorbeikam, ohne dort ein kleines Vermögen zu lassen, zusammen mit ihrem Mann und zwei Hunden in ein winziges Nest irgendwo im Département Rhône gezogen war. Die beiden hatten ja nicht einmal Kinder, die sie gelegentlich besuchen konnten, um dem ländlichen Dasein zu entfliehen, geschweige denn Enkel. Und die nächste größere Stadt war weit entfernt. Wozu brauchte Louanne noch all ihre Kleider und die vielen schönen Schuhe, wenn sie die elegante Garderobe nirgends ausführen konnte?
Mittlerweile war sie bei Ruben angekommen, ganz so blind schien Louanne also doch nicht sein. Geraldine beobachtete aus sicherer Entfernung, wie sich die beiden begrüßten. Die vielen Küsschen, ganz auf französische Art. Ruben ließ sich das gern gefallen. Für Kasimir dagegen hatte Louanne bloß eine nahezu berührungslose Umarmung übrig. Darauf konnte sich Geraldine ihren Reim machen, selbst nach so vielen Jahren hatte sich nichts verändert.
»Yamas!« Wie aus dem Nichts erschien neben ihr Alexandros Dimitriadis, um mit Geraldine anzustoßen. »Wie schön, dich zu sehen!«
Auch Geraldine war ehrlich erfreut, dem alten Freund wiederzubegegnen. Wie eh und je sportlich schlank und durchtrainiert, mit gewitzten dunklen Augen im wettergegerbten Gesicht und kleinen schwarzen Locken über der Stirn. Wenn sie ihm sagen würde, er habe sich seit ihrer ersten Begegnung vor über zwanzig Jahren kaum verändert, müsste sie nicht einmal lügen. Ganz anders als bei Kim.
Alexandros’ Mund näherte sich ihrem rechten Ohr bis auf wenige Zentimeter, als er sehr leise und mit seinem unverkennbaren, harten Akzent sagte: »Die Teams formieren sich bereits. Wie sieht es aus? Ich könnte gut jemanden mit ausgeprägten analytischen Fähigkeiten an meiner Seite gebrauchen.«
Geraldine antwortete mit einem Zwinkern: »Und ich jemanden, von dem ich weiß, dass er zur Stelle ist, wenn es hart auf hart kommt.«
Alexandros hob die Augenbrauen. »Wird es denn hart auf hart kommen?«
Geraldine zuckte mit den Schultern. »Kann ich hellsehen?«
Konnte sie nicht. Dennoch ahnte sie, dass es diesmal anders laufen würde als gewohnt.
Es lag etwas in der Luft.
Ihr britischer Snobismus stand ihm schon jetzt bis zum Hals. Kim tauschte sein Champagnerglas, an dem er nur genippt hatte, bei Claire Martin gegen ein Bier ein und ließ seinem Ärger über die Begegnung mit Geraldine freien Lauf. Unverschämt, wie »Maggie« ihn gemustert hatte, mit einem Blick wie ein Arzt, der einem eine strenge Diät verordnen möchte. Maggie. So nannte er sie insgeheim, weil sie eine verdammt große Wesensverwandtschaft mit der ehemaligen Regierungschefin Margaret Thatcher aufwies und mindestens genauso viele Haare auf den Zähnen hatte. Auch die Martins sprachen heimlich von der »Eisernen Lady«. Da musste etwas dran sein, denn warum wohl hatte damals ihr Ehemann Reißaus genommen und sie mit den drei Kindern sitzen lassen? Die Kinder waren inzwischen längst erwachsen und hatten selbst für Nachwuchs gesorgt, doch Maggie alias Geraldine saß noch immer allein in ihrem angestaubten Londoner Apartment, die Familie machte sich nämlich rar. Nach außen hin kehrte sie die zufriedene Pensionärin heraus, aber innerlich dürfte sie ziemlich frustriert sein. Die größte Freude bereitete es ihr wahrscheinlich, wenn sie sich mal wieder einen dieser verrückten kleinen Hüte leistete, die einfach nur lächerlich aussahen. Wie der, den sie heute trug: ein halbierter grüner Ball mit jeder Menge Tüll drum herum.
Trotzdem, und auch wenn er sich hin und wieder über sie ärgerte, schätzte er vieles an Geraldine, sogar die steife Art, mit der sie sich oftmals selbst im Weg stand. Man wusste bei ihr, woran man war. Da gab es keine bösen Überraschungen. Dazu kam noch ihre Cleverness. Mit Geraldine als Partnerin würden seine Chancen gut stehen, das Krimispiel diesmal für sich zu entscheiden.
Die Martins organisierten jedes Jahr ein Krimidinner für sie mit Mordfällen, die es in sich hatten. Daran sollten sich die Gäste die Zähne ausbeißen – sofern sie noch welche besaßen. Überaus unterhaltsam, aber eben auch anspruchsvoll. Dass es allein kaum zu schaffen war, hatte er beim letzten Mal gemerkt: Die vom Ehepaar Martin engagierte Theatertruppe hatte sich wirklich ins Zeug gelegt und sie bis zum Schluss an der Nase herumgeführt. Ein listig konstruierter Fall, den ein Einzelner kaum imstande war zu lösen. Und dazu die hervorragenden Effekte: Die Leiche, die sie auf der Veranda entdeckt hatten, schwamm geradezu in Blut, und die tiefe Halswunde hatte dermaßen echt ausgesehen, dass Kasimir der Schauspielerin sicherheitshalber den Puls gemessen hatte. Ja, diese feinen, ausgefeilten Kabinettstückchen, die ihnen Jahr für Jahr geboten wurden, stellten echte Herausforderungen dar. Wenn er die Nuss diesmal knacken wollte, was ihm zuletzt vor sieben Jahren gelungen war, brauchte er zur Unterstützung jemanden wie Geraldine. Ob er seine Verstimmung beiseiteschieben und sie fragen sollte?
Wahrscheinlich war es noch zu früh, um Bündnisse zu schmieden. Die meisten von ihnen waren ja gerade erst angekommen und mussten sich noch akklimatisieren. Wie auch Geraldine. Vorhin hatte er sie dabei beobachtet, wie sie völlig entrückt an der Brüstung lehnte und aufs Meer starrte. Ja, es war schon verdammt schön hier. Auch Kim schätzte den Zauber dieser Gegend, die sich so stark von seiner Heimat in Deutschland unterschied. Wiesbaden im Winter konnte man sich schenken. Während zu Hause seit Tagen klirrende Kälte herrschte, roch die milde Luft hier selbst kurz vor Weihnachten noch mediterran. Jeder Atemzug schmeckte würzig wie das Meer. Gerade eben meinte er, eine Prise Wildkräuter und den Hauch von getrocknetem Lavendel zu schnuppern. Vielleicht nahm er die Düfte nach dem Sekt und dem Bier auch einfach stärker wahr. Alkohol schärfte angeblich den Geruchssinn.
Beim nächsten Schluck dachte Kim darüber nach, weshalb ihm diese eine Woche an der Côte d’Azur so viel wichtiger war als die übrigen einundfünfzig im Kalender. Weil er sich seit der Pensionierung und mehr noch nach Heidruns Tod daheim langweilte? Sein üblicher Zeitvertreib bestand aus dem Lösen von Sudoku-Rätseln, übermäßigem Fernsehkonsum und seit einiger Zeit vor allem aus Tippspielen. Und sonst? Donnerstags trafen sie sich im Roten Ochsen. Er und zwei alte Bekannte. Sie spielten Skat und tranken zwei oder drei Bier. Ganz nett, aber mittlerweile auch immer dasselbe.
Heidrun. Noch einmal dachte er an seine Frau. Drei Jahre war sie jetzt tot, doch was hieß das schon, wenn man fünfzig Jahre verheiratet war? Hin und wieder wachte er aus wirren Träumen auf und wollte ihr davon erzählen. Aber sie war nun mal nicht mehr da, und was man nicht ändern konnte, damit musste man sich abfinden, dachte Kim.
Vielleicht ödete ihn sein Alltag auch deshalb so an, weil sich in seinem Dunstkreis fast alles um Altersbeschwerden drehte. Bei seinen Bekannten genauso wie bei ihm selbst. Dazu zählten die Gewichtsprobleme und die daher rührende Kurzatmigkeit, vom ständigen Ärger mit dem Hörgerät ganz zu schweigen. Und jetzt noch die leidige Prostatageschichte. Letztes Jahr hatten sie bei ihm Krebs diagnostiziert, dem man nun mit Spritzen zu Leibe rückte. Sein Urologe gab sich zuversichtlich, dass sich das Wachstum des Geschwürs damit so lange hinauszögern ließ, bis er jenseits der achtzig war. Mindestens. Die Alternative, eine Operation, hatte Kim abgelehnt, vor allem, weil ihm ein Freund anvertraut hatte, dass er seitdem inkontinent war. Wollte Kim den Rest seiner Tage mit einer Windel herumlaufen? Ganz bestimmt nicht!
Diese eine Woche Frankreich bot ihm die Gelegenheit, aus der Seniorentristesse auszubrechen und sich abzulenken. Denn es herrschte ein stillschweigendes Übereinkommen zwischen ihm und den anderen, dass sie über alles redeten, bloß nicht über Krankengeschichten. So wusste Kim zwar ganz genau um die zunehmende Schwerhörigkeit von Ruben (ja, auch an ihm ging dieser Kelch nicht vorüber!), um Geraldines Arthritis, und auch aus Kasimirs häufigem Nachfragen zog er seine Schlüsse. Vielleicht handelte es sich bloß um eine neue Marotte von ihm, eine schlechte Angewohnheit. Es könnte aber auch ein Anzeichen für das Schreckgespenst schlechthin sein: Vergesslichkeit, Zerstreutheit, Desorientierung – Vorboten einer Demenz.
Längst hatte jeder von ihnen sein Päckchen zu tragen, aber ihre Unterhaltungen kreisten gottlob nicht um Gehhilfen, Dioptrien oder Diäten. Die unausgesprochene goldene Regel für diese Woche im Dezember lautete: Behaltet eure Leidensgeschichten für euch! Und das wusste Kim sehr zu schätzen.
Die Stimmung draußen auf der Terrasse könnte besser nicht sein. Die alten Leute amüsierten sich, ihr Lachen war bis nach unten in die Küche zu hören. Claire und Marisa hatten den Service im Griff und trugen eine Champagnerflasche nach der anderen die Treppen hinauf, während der neue Koch Gustave emsig Kanapees auf Silbertabletts verteilte. Ein gelungener Auftakt, sollte man meinen. Dennoch konnte Hugo Martin sich nicht entspannen, weil die Vorbereitungen für die Besuchergruppe ihn einfach schlauchten.
Da war zum Beispiel die Sache mit dem Schnee, an der Côte d’Azur mit ihrem milden Klima eine absolute Rarität. Die Wettervorhersage hatte zwar für die nächsten Tage ein paar Flocken angekündigt, aber die würden wahrscheinlich wegschmelzen, bevor sie am Boden ankamen. Weil die Gäste – oder zumindest einige von ihnen – trotzdem auf weiße Vorweihnachtstage hofften, sorgte Hugo üblicherweise für Kunstschnee. Die letzten Male hatte er glitzernde Dekoflocken bestellt und im Foyer, dem Treppenhaus und im großen Salon verteilt, in der wetterfesten Version sogar am Dachsims. Doch das ging ins Geld: Pro Kilo musste er fast zwanzig Euro auf den Tisch legen.
Kunstschnee! Was tat man nicht alles für seine Gäste … Eigentlich hatte die Provence ja ihre ganz eigenen Weihnachtstraditionen, auf die man sehr stolz war. Am 4. Dezember, dem Tag der heiligen Barbara, wurden nach alter Sitte Weizenkörner auf gewässerte Wattebäusche ausgesät und bis Weihnachten an einem warmen Ort aufbewahrt. Sie standen für eine gute Ernte im neuen Jahr, Le Blé de Sainte-Barbe. Etwas ganz Besonderes waren auch die wunderschönen provenzalischen Krippen, die aus frisch gesammeltem Moos, mit Thymianzweigen als Miniatur-Olivenbäumen und Haushaltsfolie für Bäche und Teiche gebastelt wurden. Hier, in seiner geliebten Heimat, pflegten sie Weihnachtsbräuche, die vom christlichen Glauben, aber eben auch von der regionalen Identität geprägt waren. Doch das kam bei den ausländischen Besuchern nicht besonders gut an, zumindest nicht bei den Winterstammgästen, die mehr Wert auf die ihnen vertrauten Strohsterne, Christbäume und Girlanden legten – und eben auf den unvermeidlichen Schnee. Trotzdem hatte Claire es sich nicht nehmen lassen, wenigstens ein paar lokale Akzente zu setzen und an verschiedenen Stellen einige Santons zu platzieren: Tonfiguren, ursprünglich Krippenfiguren, die inzwischen auch traditionelle Handwerker der ländlichen Provence darstellten. Man bekam sie auf den Santons-Märkten, den typischen Weihnachtsbasaren der Provence. Aber die Gäste würden sie wahrscheinlich überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen.
Und nun eine weitere Herausforderung: Seit einer geschlagenen Stunde telefonierte Hugo herum, ohne dass er etwas erreicht hatte. Sein Ohr war schon ganz heiß.
»Merde!«
Die Schauspieltruppe Cercle de spectacle, die im Vorjahr so hervorragend performt hatte, fiel aus. Die kurzfristige Absage hatte Hugo kalt erwischt. Angeblich waren die Hauptdarsteller erkrankt, doch in Hugos Ohren hörte sich das nach einer Ausrede an. Wahrscheinlich hatte jemand anderes mehr für den Auftritt geboten. Das war höchst ärgerlich. Dabei sollte das dîner criminel schon morgen Abend stattfinden. Wie, zum Teufel, sollte er so schnell Ersatz beschaffen?
Freischaffende Schauspieler und andere Kleinkünstler gab es hier an der Küste zwar genug. Sie tingelten von Campingplatz zu Campingplatz oder sorgten als Animateure für die Unterhaltung der Gäste in den großen Clubanlagen. Hugo brauchte aber Qualität! Keinen billigen Touristenrummel, sondern eine Aufführung mit gehobenem Anspruch.
Dargebracht werden musste ein durchdachtes, wendungsreiches Spiel, in dessen Verlauf die Gäste Gelegenheit bekamen, sich an der Lösung des Krimistücks zu beteiligen. Wobei der »Fall« nicht lapidar und leicht zu enträtseln sein durfte. Die Damen und Herren wünschten sich einen komplexen Tathergang, mehrere glaubhafte Motive und mindestens ebenso viele Verdächtige sowie jede Menge falsche Fährten. Das kam nicht von ungefähr, denn sie waren ja Profis. Alt gewordene Profis, aber dennoch Berufspolizisten, Ermittler, Kriminologen und Rechtsmediziner. Sozusagen ein Club der Detektive. Um ihre kleinen grauen Zellen wachzuhalten, gönnten sie sich das kriminalistische Vergnügen im freundlichen Ambiente der winterlichen Côte d’Azur. Und sie waren gut zahlende Kunden, höchst willkommen in der umsatzschwachen Nachsaison. Sie kamen Jahr für Jahr, weil sie darauf vertrauten, dass Hugo sie nie enttäuschte. Treu und zuverlässig. Und jetzt das: die Absage von Cercle de spectacle!
»Putain!«
Für seine wählerische Klientel wäre der Ausfall des Krimirätsels wie ein Schlag ins Gesicht. Allein ihre weite Anreise! Diese herbe Enttäuschung würden sie ihm schwer verübeln. Nervös trat Hugo von einem Bein aufs andere. Nein, nein, dachte er, das konnte er den alten Leuten nicht antun. Wer weiß, für die eine oder den anderen von ihnen war es vielleicht das letzte Mal, dass sie an diesem Treffen teilnahmen, ihnen blieben ja nicht mehr allzu viele Jahre. Umso wichtiger erschien es Hugo, dass es bei ihrer jährlichen Vergnügungsreise keine bösen Überraschungen gab. Deswegen versuchte er es erneut und wählte eine weitere der Telefonnummern, die er zuvor gegoogelt hatte. Wobei bei den meisten um diese Uhrzeit niemand mehr abnahm. Wahrscheinlich wäre es sinnvoller, es am nächsten Morgen zu versuchen, wenn die Büros der Künstleragenturen wieder besetzt waren.
Er war bereits im Begriff aufzugeben, da meldete sich doch noch jemand. Eine kleine Agentur aus Bormes-les-Mimosas, nur ein paar Kilometer entfernt.
»Sie wünschen?«, fragte ein Mann, der sich als Monsieur Besoin vorstellte.
Nie von ihm gehört, aber egal. Hugo machte deutlich, dass es sich um einen Notfall handelte und er dringend ein kleines, agiles Ensemble für ein Krimidinner suchte.
»Keine Laien, meine Gäste sind verwöhnt und erwarten hohe Standards«, betonte er.
»Soso. Für wann genau?«, fragte der Theateragent, und Hugo hörte das Blättern von Papier.
»Schon morgen!«, platzte es aus Hugo heraus. »Morgen Abend.«
»Welches Stück?«, erkundigte sich Besoin bedachtsam und blätterte weiter.
»Kein bestimmtes. Die Truppe, die das bisher für uns gemacht hat, hat jedes Mal eine neue Idee mitgebracht.«
»Also Improvisation«, folgerte der Agent. »Ich denke, ich kann Ihnen helfen. Ich schicke Ihnen ein junges Team, zwei Frauen, ein Mann. Frisch von der Schauspielschule, sie dürsten nach Erfahrung. Aber es wird nicht billig.«
Hugo atmete auf. »Die drei sind morgen verfügbar? Dann nehme ich sie, auch wenn es etwas teurer ist.«
»Siebzehnhundert«, sagte Besoin gelassen.
»Bitte, was?« Augenblicklich kehrten Hugos Beklemmungen zurück. »Sie verlangen eintausendsiebenhundert Euro für einen einzigen Abend?«
»Dafür bekommen Sie drei aufstrebende Nachwuchstalente, vielleicht die Stars von morgen.«
»Für dieses Geld kriege ich ja richtige Schauspieler!«
»Ich bitte Sie, Monsieur, in meiner Kartei führe ich ausschließlich richtige Schauspieler. Außerdem vergessen Sie nicht: So kurzfristig finden Sie keine andere Truppe.«
Vieles ging Hugo jetzt durch den Kopf. Er sah die ihm angepriesenen Jungschauspieler bildlich vor sich, ihr ungelenkes Auftreten, ihr stümperhaftes Rezitieren. Seine Gäste würden das falsche Spiel sehr bald durchschauen und enttäuscht sein. Er dachte aber auch an das Gesicht von Claire, die Mischung aus Vorwurf und Sorge, mit der sie ihn ansehen würde, wenn er ihr gestand, dass die Theateraufführung nicht stattfinden konnte. Selbstverständlich würde sie sofort erkennen, welche Konsequenzen das hatte: die umgehende Abreise ihrer Stammgäste und das Ende ihrer jährlichen Wiederkehr. Ein schwerer Schlag, denn Le Petit Hôtel war finanziell nicht auf Rosen gebettet. Gerade im Herbst und Winter waren sie auf jeden einzelnen Gast dringend angewiesen.
Was also tun?
»Sind Sie noch am Apparat?«, fragte Besoin und unterbrach damit Hugos Gedankenfluss. »Sie können es sich ja überlegen, und wir telefonieren morgen wieder. Ich kann allerdings nicht garantieren, dass Olga, Valerie und Sergej dann noch frei sind.«
Hugo biss sich auf die Lippen. Sein Blick wanderte durch die Küche und blieb am breiten Rücken von Gustave hängen. Dieser stand über eine Anrichte gebeugt und bereitete das Dessert für den heutigen Willkommensabend vor: mousse au chocolat. Er war ein guter Koch. Kein Meister seines Fachs, aber ein solider und zuverlässiger Arbeiter, der sich mit einem moderaten Gehalt zufriedengab. Wenn er ihn und auch das neue Zimmermädchen Marisa halten wollte, musste er für die nötigen Einnahmen sorgen. Und das gelang nur, wenn stets zahlende Gäste im Haus waren.
»Also? Wollen Sie eine Nacht darüber schlafen?«, erkundigte sich der Agent mit der Geduld desjenigen, der den Sieg schon in der Tasche hatte.
»Ich nehme die drei«, entschied Hugo, auch wenn ihn diese Lösung nicht überzeugte.
»D’accord. Dann ist es ausgemacht. Es wäre gut, wenn Sie das Honorar in bar bereithalten. Ich werde die Darsteller selbst bei Ihnen abliefern und das Geld entgegennehmen. Die siebzehnhundert plus Fahrtkosten plus Notfallzuschlag.«
»Notfallzuschlag?«
»Nun ja, es handelt sich doch um einen Notfall, nicht wahr? Jeder Installateur, jeder Schlüsseldienst verlangt in solchen Fällen ebenfalls eine Zulage. Das werden Sie sicher verstehen.«
Die Stunden vergingen wie im Flug, der Konsum an Champagner, Cognac, Bier und Häppchen war beachtlich und die Stimmung ausgelassen. Nachdem Claire Martin die Gäste überzeugt hatte, die inzwischen abendlich kühle Terrasse gegen den Salon einzutauschen, setzten die alten Herrschaften dort ihr munteres Geplauder fort. Der große Raum mit gefliestem Boden, hohen Fenstern und mintgrünen gusseisernen Pfeilern diente wahlweise als Speisesaal, Konferenzraum oder für Familienfeste und Firmenevents. Für heute hatten sie Stehtische aufgestellt, aber nun fragte sie sich, ob Sitzgelegenheiten nicht besser wären, einige ihrer Gäste waren ziemlich wacklig auf den Beinen.
Doch niemand beschwerte sich, alle schienen zufrieden. Wozu auch Marisa ihren Beitrag leistete, emsig und patent sorgte sie stets für Nachschub und gefüllte Gläser. Da hatten sie bei der Personalwahl wohl einen Glücksgriff getan. Genau wie mit dem neuen Koch Gustave. Ein etwas grobschlächtiger Kerl, dessen Manieren zu wünschen übrig ließen, wie Claire fand, dafür kochte er durchaus passabel und gab nebenbei einen brauchbaren Konditor ab. Was wollte man mehr? Zumal wenn man nicht so gut zahlen konnte wie andere Häuser.
Ja, alles lief reibungslos. Wenn es morgen auch mit dem Theaterstück klappte, würden sie den Rest der Woche glückliche und zufriedene Gäste haben. Sie hoffte nur, dass Hugo das hinbekam, denn beiläufig hatte sie etwas von Problemen mit der Buchung aufgeschnappt. Hugo schien ziemlich am Rudern zu sein. Aber das war seine Aufgabe, er musste sich allein darum kümmern. Claire hatte weiß Gott genug um die Ohren, sie erledigte ohnehin das Gros der Arbeit, die im Hotel anfiel. Also sollte Hugo die Sache mit dem Theater nur ja nicht verbocken.
Claire half beim Servieren von belegten Baguettescheiben und Käse, nahm weitere Getränkebestellungen auf und wechselte einige Worte mit ihren Gästen. Manche bemühten sich wieder einmal, Französisch mit ihr zu sprechen, wobei sie ihnen meist auf Englisch antwortete, um die bescheidenen Sprachkenntnisse nicht zu überfordern.
Während sie sich mit den Senioren unterhielt, merkte sie, dass das vergangene Jahr bei allen seine Spuren hinterlassen hatte. Weil Claire die Gruppe nur alle zwölf Monate sah, fielen ihr die Veränderungen besonders auf: Sie bauten ab, die einen mehr, andere weniger. Aber die Unterschiede zu ihrer früheren Fasson ließen sich kaum leugnen, was Claire ein wenig schmerzte. Nicht, dass sie diesen Gästen besonders nahestand, außer in dieser einen Woche hielt sie keinerlei Kontakt zu ihnen. Trotzdem bestand eine Verbundenheit zwischen ihnen, weil sie Le Petit Hôtel schon so lange die Treue hielten.
Und dann gab es da noch dieses besondere Ereignis, eine eindrückliche Erfahrung, die sie miteinander geteilt hatten. An einem Tag, den Claire niemals vergessen würde, auch wenn er schon so lange zurücklag.
Das Schaffen im Akkord machte Gustave nichts aus. Wer wie er in einer Pariser Großküche gelernt hatte, war es gewohnt, an mehreren Gerichten gleichzeitig zu arbeiten, ohne den Überblick zu verlieren. Gustave sah sich als Herr über die Töpfe und Pfannen und schaffte es mühelos, eine mittelgroße Gesellschaft ganz ohne Gehilfen zu bekochen. Weil er wusste, was er tat, und jeder Handgriff saß.
Der heutige Abend war deshalb keine große Herausforderung für ihn. Die Handvoll Gäste konnte er mühelos verköstigen, gar kein Problem. Da blieb sogar Zeit für die eine oder andere zusätzliche Verzierung, denn das Auge isst bekanntlich mit.
Der neue Job sagte ihm zu, die Küche war sein Reich, und niemand redete ihm rein. Die Chefs, Claire und Hugo Martin, schienen in Ordnung zu sein. Auch Marisa, Zimmermädchen und Hilfskellnerin in einer Person, war okay. Und ziemlich hübsch. Ganz seine Kragenweite, allerdings zehn Jahre oder noch mehr jünger als er. Außerdem ziemlich zugeknöpft, von ihr würde er besser die Finger lassen. Vorläufig jedenfalls. Nicht auszuschließen, dass sich später mal was ergeben konnte.
Insgesamt also ein ordentlicher Start. Trotzdem fühlte sich Gustave nicht recht wohl in seiner Haut. Das hatte allerdings nichts mit der etwas in die Jahre gekommenen Ausstattung der Hotelküche zu tun, die er an seinem ersten Tag erst einmal auf Vordermann gebracht und gründlich geputzt hatte. Jetzt glänzte wieder alles, die Messer waren frisch geschliffen. Nein, sein Unbehagen hatte andere Gründe. Es lag an den Gästen. Claire, die Chefin, hatte ihm eine Rentnergruppe angekündigt, woraufhin er sich Gedanken über den Speiseplan gemacht und darauf geachtet hatte, beim Einkauf auf dem Großmarkt nichts Blähendes zu erstehen. Damit die dritten Zähne und Brücken heil blieben, verzichtete er außerdem auf allzu Festes und Krosses. Zu fettig durften die Zutaten ebenfalls nicht sein, um Herz und Kreislauf zu schonen, obwohl er da auch Ausnahmen machen musste, damit es keine Beschwerden gab, denn Fett war ein wichtiger Geschmacksträger.
Doch all diese Überlegungen waren in den Hintergrund getreten, als er mitbekam, dass diese Gäste keine gewöhnlichen Besucher waren. Es gab etwas, was sie gemeinsam hatten: ihren Beruf. Oder wohl eher den Beruf, den sie einst ausgeübt hatten, denn arbeiten musste die Ü-70-Truppe bestimmt schon eine ganze Weile nicht mehr.
Angeblich hatten die alten Frauen und Männer früher etwas mit der Polizei zu tun gehabt. Was genau sie gemacht hatten, wusste Gustave nicht, aber allein die Vorstellung, es mit einem halben Dutzend ehemaliger flics zu tun zu bekommen, behagte ihm ganz und gar nicht.
Der Instinkt sagte ihm, dass er auf der Hut sein musste. Diese Leute mochten alt sein, aber man wusste ja nie, wen sie so kannten und welchen Einfluss sie noch besaßen. Daher nahm er sich vor, in Deckung zu bleiben. Er würde ihnen allerhöchstens etwas übers Essen erzählen, wenn sie danach fragten. Harmlose Dinge, nichts, was sie stutzig machen könnte. Und sonst: den Kopf einziehen und sich zurückhalten, bis sie wieder abreisten.
Es war ja bloß eine Woche, das musste doch zu schaffen sein.
Das Frühstücksbüfett fiel für französische Verhältnisse sehr reichhaltig aus. Louannes Blick glitt von einem Korb voller Baguettes, Croissants und Toast über gläserne Tiegel mit diversen Konfitüren bis zu einer stattlichen Auswahl an Pasteten, Wurstaufschnitt und Käse. Hinzu kamen Warmhalteschalen mit Spiegelei, Baked Beans und Sausages. Letzteres war in erster Linie für Geraldine bestimmt.
Doch Louanne beobachtete, dass sich auch Kim darüber hermachte. Er verschlang die fettigen kleinen Würstchen voller Hingabe, obwohl das seinem Cholesterinspiegel sicher nicht guttat. Ganz zu schweigen von seiner Figur. Ein richtiges Pummelchen, was Louanne auch mangelnder Bewegung zuschrieb: Er war so langsam wie ein altes Walross, und bei jeder kleinen Anstrengung bildeten sich Schweißflecken unter seinen Achseln. Trotzdem redete er, als ob er fit wäre wie ein Turnschuh. Warum wohl? Sich nur ja nicht anmerken lassen, wie der Zahn der Zeit an einem nagt. Schon gar nicht in der erlauchten Runde einer ehemaligen Ermittler-Elite von europäischem Rang! Kasimir, der auch nicht mehr gut zu Fuß war, machte es ja genauso. Männer und ihre Eitelkeiten!
Nur Männer? Auch Louanne konnte ein Lied davon singen, ihr ging es ja nicht viel anders. Im kleinen Bad ihres Hotelzimmers brauchte sie vor dem Spiegel morgens doppelt so lange wie zu Hause, um sich so herzurichten, dass sie sich vor die Tür wagte. Fältchen wurden gnadenlos weggeschminkt, erst recht die verräterischen Altersflecken. Am Tag vor ihrer Abreise aus Lyon hatte sie sich die Haartönung auffrischen lassen und peinlich genau darauf geachtet, dass kein grauer Ansatz zu erkennen war. Zweck der Übung: Gemeinsam mit Alexandros gehörte sie mit gerade mal einundsiebzig zu den Jüngsten ihres Clubs, sie waren quasi die Küken. Das wollte sie den anderen auch rein äußerlich vor Augen führen. Sollten sie daraus ruhig ihre Schlüsse auf ihre geistige Agilität ziehen. Sie sollten wissen, dass Louanne es noch draufhatte und beim diesjährigen Krimispiel abräumen würde. Sie wollte dieses Mal als Siegerin vom Platz gehen und sich wieder jung fühlen. So jung wie in jener legendären Ära, als sie gemeinsam Jagd auf »das Phantom« gemacht hatten, wie Drogenbaron Marcello Ferraro auch genannt worden war. Fast zwanzig Jahre lag das alles zurück – im Nachhinein die beste Zeit ihres Lebens. Oder zumindest die aufregendste.
Das beschrieb allerdings nur die halbe Wahrheit. Der zweite, traurige Grund, warum sie sich so viel Mühe gab, gut auszusehen, war, dass Louanne nicht sicher sein konnte, nächstes Jahr wieder dabei zu sein. François, ihr Mann, war seit einem Schlaganfall sehr eingeschränkt. Noch kam er halbwegs zurecht, wenn Louanne ihn für ein paar Tage allein ließ. Da reichte es, wenn zweimal am Tag der mobile Pflegedienst nach dem Rechten sah. Die Hunde brachten sie solange auf dem benachbarten Hof unter. Doch wie würde sich François’ Zustand weiterentwickeln?
Ihr Liebster baute ab, Woche für Woche ein bisschen mehr. Sollte er eines Tages vollends pflegebedürftig sein, würde sie sich um ihn kümmern. Das stand für sie fest. Ein Heim kam nicht infrage. Sie wollte selbst für ihn da sein. Das war sie François schuldig.
Schuldig? Ja, sie fühlte sich ihm verpflichtet. Aus Zuneigung und Mitmenschlichkeit und auch, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte, schon seit vielen Jahren. Seit ihrem Fehltritt, den sie François bis heute verschwiegen hatte und der ihre Emotionen noch immer aufkochen ließ, sobald sie daran zurückdachte.
»Ein Gläschen Champagner?«
Ende der Leseprobe