Der Wunderling - Mira Bartók - E-Book

Der Wunderling E-Book

Mira Bartók

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Beschreibung

Bekannt als Nummer Dreizehn lebt eine einohrige, schüchterne Kreatur - halb Fuchs, halb Mensch - im Heim für Missratene Wesen. Unter dem grausamen Regime der Heimleiterin Miss Carbunkle muss Nummer Dreizehn endlose Schikanen über sich ergehen lassen. Doch er hütet ein Geheimnis, dessen wahre Ausmaße ihm erst bewusst werden, als er sich mit dem Vogel Trixi anfreundet. Er hört Geräusche, die kein anderer wahrnimmt - wie Mäuse in den Wänden flüstern, Bienen Nektar schlürfen und meilenweit entfernten Vogelgesang. Mit Trixis Hilfe entkommt er dem Waisenhaus und macht sich auf den Weg in die große weiße Stadt. Und mit jedem Schritt der Reise erkennt er, dass nur seine Begabung eine Katastrophe verhindern kann. Denn nur er ist der Wunderling.

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Alle Rechte vorbehalten.Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- und strafrechtlich verfolgt werden.

Alle deutschen Rechte bei Aladin Verlag GmbH, Hamburg 2017Originalcopyright Text & Illustrationen © 2017 by Mira BartókFirst published in 2017 by Candlewick Press,99 Dover Street, Somerville, Massachusetts 02144Originaltitel: THE WONDERLING. SONGCATCHERAus dem Englischen von Sabine SchulteUmschlaggestaltung: Mira Bartók/Iacopo BrunoLektorat: Nina HornHerstellung: Steffen MeierLettering: Michael HauLithografie: Margit Dittes Media, Hamburg

Satz und E-Book-Erstellung: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

ISBN 978-3-8489-6038-5

www.aladin-verlag.de

Für Doug, für Liebe und Staunen;für Jed, der mir half,meinen Fluganzug zu bauen;und für Jen, die mirFlügel zum Fliegen schenkte.

INHALT

Impressum

Widmung

Motto

Karte

TEIL EINS

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

TEIL ZWEI

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

TEIL DREI

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Danksagung

KAPITEL 1

Ein unglückseliger Beginn

EVOR MAN IHN DEN WUNDERLING NANNTE, hatte er viele Namen, darunter Matschbirne, Depp, Erdling und Spieker. Er störte sich eigentlich kaum daran, nicht mal an Erdling. Nur einen Namen konnte er gar nicht leiden, und das war der allererste, an den er sich erinnerte: Nummer Dreizehn. Eigentlich war das gar kein richtiger Name. Bloß eine Zahl, mit Rot auf ein Stück Papier geschrieben und zu den Akten gelegt, in einem Heim für heimatlose Geschöpfe, wo Hunderte von Akten einen ganzen Raum bis unter die Decke füllten. Diese Zahl war auch in eine kleine Blechmarke eingestanzt, die er an einem Stück Schnur um den Hals trug. Außerdem war sie in sein zerlumptes graues Hemd und in seine schäbigen grauen Hosen eingenäht. Und sie war auf sein hartes, schmales Bett aufgemalt, das in einem großen Saal voller Betten von anderen heimatlosen Geschöpfen stand. Doch die anderen hatten immerhin das Glück gehabt, dass sie bei der Geburt einen richtigen Namen erhalten hatten.

Nummer Dreizehn sah wie ein junger Fuchs aus, ging aber wie ein Kind aufrecht und hatte nur einen kleinen Stummelschwanz. Seine Augen waren wunderschön kastanienbraun mit goldfarbenen Sprenkeln. Aber etwas in seinem Blick ließ erahnen, dass er trotz seines erst kurzen Erdenlebens einen unerklärlichen Kummer in sich trug.

Er war ein Geschöpf mit unschuldigem Herzen. Doch wer vermochte zu sagen, welche Art von Geschöpf er eigentlich war? Er hatte zwar ein Gesicht wie ein Fuchswelpe, aber seine Schnauze ähnelte eher der eines Hundes. Auch mit Kaninchen konnte er verwandt sein, denn wenn er Gefahr witterte, zuckte seine Nase ganz schnell, und sobald er das laute Bimmeln der Waisenhausglocke hörte, zitterte er. Das Eigentümlichste an ihm war jedoch, dass er nur ein Ohr besaß.

Wie er das andere Ohr verloren hatte oder ob er einohrig geboren war, wusste er nicht. Sein rechtes Ohr, ein spitzes Fuchsohr, war samtweich und wie sein ganzer Körper mit rötlich braunem Fell bedeckt. Nur auf der Brust hatte er einen kleinen weißen Fleck, der wie ein Blatt geformt war. Abgesehen von seinem fehlenden Ohr hatte Nummer Dreizehn nichts Absonderliches an sich, jedenfalls nicht äußerlich, denn er lebte in einer Welt, in der es keine scharfe Trennung zwischen Tieren und Menschen gab. Und trotzdem fiel er auf. »So ein Pech, mit dem Ohr«, flüsterten die anderen sich zu. »Der muss ja stocktaub sein. Und dann auch noch dieser Name – Nummer Dreizehn!«

Abends beruhigte er sich so, wie ängstliche Kinder es überall auf der Welt tun. Er griff unter sein Kopfkissen und zog etwas Weiches, Blaues hervor: ein Stück von seiner Babydecke. In einer Ecke war etwas aufgestickt, das wie der Buchstabe M aussah, aber man konnte es nicht mehr richtig erkennen, denn die einstmals leuchtend goldenen Fäden waren mit der Zeit verblasst oder herausgefallen. In diesen Deckenfetzen war ein winziger goldener Schlüssel eingewickelt. Nummer Dreizehn hatte keine Ahnung, was man damit öffnen konnte oder ob dieser Schlüssel überhaupt jemals etwas Wichtiges aufgeschlossen hatte – er wusste nur, dass der kleine Schlüssel und der blaue Fetzen die einzigen Dinge waren, die ihm aus seinem ersten Zuhause geblieben waren.

Doch Nummer Dreizehn, einohrig, namenlos und von kleinem Wuchs, konnte sich nicht erinnern, wo dieses Zuhause gewesen war. Jeder kommt irgendwo her, aber seine Herkunft war nicht bekannt, nicht einmal ihm selbst. Er konnte sich nicht erinnern, ob ihn abends jemand zugedeckt hatte oder ob ihn jemand wirklich lieb gehabt hatte. Nur Töne waren ihm aus dieser längst vergangenen Zeit im Gedächtnis geblieben, die zarte Melodie eines Liedes, das durch einen Himmel voller Sterne schwebte und sich in seinem jungen Herzen niederließ. Alles andere hatte er vergessen.

Wenn er nach seinen ersten Lebensjahren gefragt wurde, konnte er sich nur an das schreckliche Heim erinnern, in das man ihn gesteckt hatte.

KAPITEL 2

Das Heim

DAS WAISENHAUS, in dem Nummer Dreizehn kurz nach seiner Geburt abgegeben worden war – von wem, wusste er nicht –, trug den Namen »Miss Carbunkles Heim für widerspenstige und missratene Geschöpfe«. Seine unglücklichen Bewohner nannten es jedoch schlicht »das Heim«. Es lag auf dem Land, weit entfernt von jeder Stadt und jedem Dorf. Das Gebäude war vor Hunderten von Jahren in der Form eines riesengroßen Kreuzes errichtet worden und hatte schon vielen Zwecken gedient. Ursprünglich war es ein Kloster gewesen, dann ein Gefängnis, schließlich ein Arbeitshaus für die Armen, und jetzt wurde es als Heim für heimatlose Geschöpfe genutzt.

Vorn auf der Broschüre des Heims war ein vergnügtes Wesen mit einem Kaninchenkopf und dem Körper eines kleinen Mädchens abgebildet. Es trug ein gepunktetes Kleidchen und eine Schleife und hielt einen Strauß Margeriten in den Händen. Darunter stand: Hat man Ihnen unerwartet ein frisch verwaistes oder heimatloses Geschöpf aufgebürdet? Keine Sorge! Wir haben die perfekte Lösung für Sie!

Die Werbeschrift prahlte: Das freundliche, einladende Haus schmiegt sich inmitten von Wiesen voller Butterblumen, Hasenglöckchen und Heidekraut in ein idyllisches Tal. Aber keins der verwaisten Geschöpfe hatte, seit es durch das Tor des Heims gegangen war, jemals wieder eine Blume gesehen oder auch nur einen Grashalm unter den Füßen gespürt. Nein, das einzige Grün, das die Zöglinge noch zu sehen bekamen, war das Moos auf den dicken Mauern, die das Heim umgaben.

Und zudem war Miss Carbunkles Heim alles andere als einladend und freundlich.

Dreißig Meter vor dem Eingang des Hauses erhob sich aus einem schmiedeeisernen Zaun ein schwarzes Tor, so hoch, dass sogar Kutschen hindurchfahren konnten. Die Eisenspitzen, die die Torflügel krönten, ähnelten mittelalterlichen Speerspitzen. Sie waren so scharf, dass sich niemals Vögel darauf niederließen. Darüber wölbte sich der Torbogen, von dessen Scheitelpunkt ein verrostetes Schild hinabhing. Vor langer Zeit hatte irgendjemand oder aber die Kraft der Natur es halb heruntergerissen. Einstmals war auf dem Schild der Name des Hauses zu lesen gewesen, aber die schwarzen Buchstaben waren im Laufe der Zeit zum Teil verblasst oder völlig verschwunden, sodass da jetzt nur noch Bruchstücke standen:

MISS CARBUNKLES HEIM FÜR WIDERSPENSTIGE UND MISSRATENE GESCHÖPFE

Rechts und links von der Schrift waren Habichtsköpfe im Profil aufgemalt. Da das Schild nur noch an einem einzigen Haken baumelte, klapperte es laut gegen das Tor, wenn Wind wehte oder wenn jemand das Anwesen betrat oder verließ.

Dazu ist zu sagen, dass mehr Geschöpfe das Anwesen betraten als wieder verließen, und dabei wollen wir es belassen.

Zwei einfältige Mastiffs, groß wie Kälber, standen angekettet vor dem Tor, bellten ständig und sabberten so heftig, das sich vor ihren Pfoten kleine Speichelpfützen bildeten. Nachts, unter dem unheimlichen Lichtschein einer Gaslaterne, ähnelten die Wachhunde einem sabbernden Zerberus, dem dreiköpfigen Wächter der Unterwelt – bloß dass natürlich ein Kopf fehlte. Die Hunde gehorchten nur einer einzigen Stimme, der Stimme von Miss Carbunkle, der Heimleiterin, die kalt und unerbittlich über ihr Reich herrschte.

Das Waisenhaus selbst war von einer gewaltigen Mauer umgeben, und wer es betreten wollte, musste durch eine schwere Eichentür gehen, die sich nur mit Miss Carbunkles großem Messingschlüssel öffnen ließ. In die Tür war ein weiterer Habicht hineingeschnitzt. Er hielt eine winzige Maus in den Fängen, als Warnung für den Fall, dass jemand vergessen sollte, wer hier das Sagen hatte. Die dicke Eichentür war der einzige Durchgang in der Mauer. Früher hatte es noch weitere Türen gegeben, alte Bogentüren mit kunstvoll geschnitzten und bemalten Bildern, aber Miss Carbunkle hatte sie alle versiegeln lassen, als sie das Anwesen gekauft hatte. In der mächtigen Mauer konnte man die früheren Türen nur noch erahnen, als Geisterbilder einstiger Ausgänge in die Welt draußen.

Die Mauer war schon vor Jahrhunderten erbaut worden, drei Stockwerke hoch und zwei Meter breit, aus Tausenden von grob behauenen Feldsteinen. Die Zöglinge nannten sie einfach »die Mauer«, genauso wie sie das Waisenhaus als »das Heim« bezeichneten. Bis auf die Krone einer hohen weißen Birke konnten die Waisen jenseits der Mauer nichts sehen, weder das üppig grüne Tal noch die wogenden Hügel, die es umrahmten, weder die Äcker und Wiesen jenseits der Hügel noch die blauen Berge in der Ferne und schon gar nicht die schimmernden Türme der großen weißen Stadt Lichterburg.

Das scheue, einohrige Geschöpf passte sich den Umständen an und wuchs heran. Wie so viele andere, die niemals Trost oder Liebe erfahren haben, sprach Nummer Dreizehn wenig, hielt den Kopf gesenkt und tat, was man ihm sagte. Er wusste nichts über seine Herkunft und auch nichts über die geheimnisvolle Welt hinter der hohen Mauer und dem Tor. Aber er spürte, dass tief in seinem Herzen eine Sehnsucht wohnte. Wonach er sich jedoch sehnte, musste er erst noch herausfinden.

KAPITEL 3

Nummer Dreizehn

IN MISS CARBUNKLES HEIM für widerspenstige und missratene Geschöpfe fing ein Tag an wie der andere: Wecken um fünf mit der ohrenbetäubenden Glocke des Heims, gefolgt von Miss Carbunkles Kreischen: »Morgenappell, Erdlinge! Raus aus dem Bett!« Dann mussten die Zöglinge sich Gesicht und Hände oder Pfoten waschen, alle zusammen in einem Becken mit schmutzig trübem Wasser, das vom Wäschewaschen am Vortag übrig geblieben war. Anschließend schlüpften sie aus dem zerlumpten grauen Schlafanzug und in die zerlumpte graue Schuluniform, die sich in nichts vom Schlafanzug unterschied, und rannten mit den anderen zum Morgenappell nach draußen – und das alles in halsbrecherischem Tempo.

An einem trüben Dezembermorgen gegen Ende seines zehnten Lebensjahres lief Nummer Dreizehn wie üblich in der Morgendämmerung mit den anderen Erdlingen nach draußen zum Morgenappell. Jeweils zu zehnt aufgereiht standen die Waisen vor der hohen Mauer, die sie wie eine Festung einschloss.

Es war Montag, weniger als eine Woche vor Weihnachten und daher vor Nummer Dreizehns Geburtstag, denn beides fiel auf den gleichen Tag. Doch Nummer Dreizehn hatte keine Ahnung davon, und außerdem waren Feiern jeglicher Art im Heim strengstens verboten.

Feuchter Dunst wehte durch den Hof und kroch langsam durch die fadenscheinigen Jacken der Zöglinge und bis in ihre Knochen. Die Waisen und Findlinge und die Geschöpfe, die hier für kleine Straftaten büßten, standen stramm. Alle waren »Erdlinge«, das heißt, sie hatten Anteile von Menschen und Tieren oder auch von verschiedenen Tieren – Säugetieren, Reptilien oder Vögeln. In der geltenden Rangordnung war der Platz der Erdlinge ganz unten. Sie waren hager oder plump, hatten Fell oder Federn, und manche hätten wie Menschen ausgesehen, wenn sie nicht einen Rattenschwanz, Hasenohren, ein Ferkelgesicht, Flügel oder Füße mit Schwimmhäuten gehabt hätten. Die meisten waren halb Mensch und halb Tier. Manche sahen aus, als wären sie Tiere, konnten aber sprechen und verhielten sich wie Menschen.

Sie alle trugen Nummern um den Hals, und sie alle fürchteten sich, wenn Miss Carbunkle zum Morgenappell erschien. Die Heimleiterin trug einen schwarzen Kapuzenumhang und hatte ihren Stock mit dem Habichtskopf bei sich. Ihr Mund war stets tadelnd zu einem Strich zusammengekniffen.

Wie an jedem Morgen beugte Miss Carbunkle sich vor, stützte sich auf ihren Stock, schürzte die Lippen und schaute böse auf die jungen Waisen hinunter. Sie war eine hochgewachsene, imposante Frau, und ihre erstaunlich hohe, leuchtend orange Perücke ließ sie noch größer erscheinen. Mr Sneezeweed, ihr schlaksiger Gehilfe, war fast genauso groß wie sie. Mit missmutigem Gesicht und hängenden Schultern stand er neben ihr. Er trug eine Brille, und sein fettiges schwarzes Haar klebte an Stirn und Schläfen seines langen, bleichen Gesichts.

Die Heimleiterin fing an, mit schriller Stimme die Namen aufzurufen:

»Hershel!«

»Hier, Madam.«

»Cecil!«

»Hier, Madam.«

»Gaffer!«

»Hier, Madam.«

»Dimble!«

»Hier.«

»DIMBLE!«

»H-hier?«

»Hier, MADAM, heißt das!«

»Hier, Madam.«

»Glover!«

»Hier, Madam.«

»Joop!«

»Hier, Madam.«

Und so ging es weiter. Alle Erdlinge meldeten sich, sobald sie aufgerufen wurden. Sie hatten Namen wie Morris und Stanley, Nesbit und Schnuck, Blinzel und Nickel, Rufus, Triller, Mo und Mimi. Es waren sehr viele und jede Woche kamen noch mehr dazu. Zitternd standen sie im grauen Morgenlicht und sahen zu Miss Carbunkle hoch, deren Gesicht bei dieser Beleuchtung schauerlich aussah. Wären da nicht die Rougekleckse auf ihren Wangen gewesen, dann hätte sie wie ein zorniges Gespenst gewirkt.

Miss Carbunkle machte eine Pause, um ihre Liste zu kontrollieren. Sie konnte sich die Namen ihrer Schützlinge nie merken, denn obwohl die Waisen so verschieden aussahen, erschienen sie der Heimleiterin alle gleich: unberechenbar, missgestaltet und wild. Während Miss Carbunkle die Namen ablas, strich ihr Gehilfe sich zerstreut über eine kleine flaumige Stelle unter seinem linken Nasenloch, als wolle er die Härchen zum Wachsen bewegen. Mortimer Sneezeweed träumte davon, eines Tages einen schicken Zwirbelbart zu tragen, aber bis auf den Flaum unter der Nase fehlte ihm mit seinen dreißig Jahren jegliche Gesichtsbehaarung.

Er war gegen fast alles allergisch, gegen Fell, Federn, Schimmel, Staub und beinahe sämtliche Lebensmittel. Die Waisen nannten ihn hinter seinem Rücken Nieswurz, denn er schniefte ständig und schnäuzte sich dauernd mit weißen Taschentüchern, auf die seine Mutter seinen Namen gestickt hatte. Auch jetzt wandte er sich mit der einen Hand abwechselnd seiner triefenden Adlernase und seinem nicht existierenden Bart zu, während er in der anderen Hand ein langes Paddel hielt, um jeden Zögling, der aus der Reihe tanzte, damit zu bestrafen.

Nummer Dreizehn hatte allerdings viel größere Angst vor Miss Carbunkles Rohrstock. Es war bekannt, dass sie die Erdlinge damit schon beim geringsten Anlass aufs Hinterteil schlug. Oben auf ihrem Stock saß der gleiche finstere Habichtskopf, der auch in die Haustür geschnitzt und auf das Schild des Heims aufgemalt war. Nummer Dreizehn war aufgefallen, dass die Schulleiterin mit ihrem stechenden Blick und der schnabelartigen Nase Ähnlichkeit mit diesem Habicht hatte. Manchmal hätte er schwören können, dass er die bernsteingelben Habichtsaugen auf dem Rohrstock im schläfrigen Zwielicht des Morgens zwinkern sah.

Miss Carbunkle öffnete gerade wieder den Mund zum Sprechen, als Nieswurz einen heftigen Niesanfall bekam. Die Erdlinge mussten sich das Lachen verkneifen, denn wie fast alles andere war auch Lachen streng verboten.

Die Schulleiterin versetzte Sneezeweeds Fuß einen Stich mit ihrem spitzen Stock und sagte: »Um Himmels willen, Mann, beherrschen Sie sich doch!«

Sneezeweed zuckte zusammen und wisperte leise, damit man ihn nicht hörte: »Ich bitte um Verzeihung, Madam, aber … aber … das sind die Sporen. Sporen sind überall. Und –«

»Ach, schweigen Sie«, fuhr Miss Carbunkle ihn an und rasselte weiter die Namen herunter. Manchmal las sie die Namen in alphabetischer Reihenfolge vor, manchmal auch nicht, damit die Erdlinge aufmerksam blieben. Gelegentlich nannte sie einen Namen auch zweimal. Für Nummer Dreizehn hatte das allerdings keine Bedeutung, denn er wurde immer als Letzter aufgerufen. Schließlich war er ja nur eine Nummer, daher hatte er seinen Platz noch hinter X, Y und Z.

Miss Carbunkle betrachtete die Reihen vor sich und rief den letzten Namen auf. »Nummer Dreizehn!«

Doch bevor er antworten konnte, trat ihm jemand in die Kniekehlen, und er stürzte auf einen kleinen Kaninchen-Erdling, sodass sie beide hinfielen. »T-tut mir leid«, stammelte Nummer Dreizehn und half der kleinen Waise wieder auf die Beine.

Er hörte, wie Mug und Orlick hinter ihm kicherten. Mug war ein Bulldoggen-Erdling und Orlick ein Opossum-Erdling, der aus unerklärlichem Grund wie Tümpelbrühe roch und daher auch Stinker genannt wurde. Die beiden waren seine schlimmsten Peiniger im Heim. Solange Nummer Dreizehn zurückdenken konnte, hatten sie ihn gepiesackt. Als Miss Carbunkle einmal mit Nieswurz zusammen aus dem Hof gerannt war, um den Erdling zu fangen, der ihr Pult in Brand gesteckt hatte, hatte Mug Nummer Dreizehn am Ohr gepackt und hineingerufen: »Ist da drinnen jemand zu Hause, du Depp?« Danach hatte sein Ohr wochenlang wehgetan, und seitdem nannten Mug und seine Freunde ihn »Depp« oder »Dussel«.

Doch er hatte sich daran gewöhnt, genau so, wie er sich an alles andere gewöhnt hatte. Besser, einen Namen zu haben, als bloß eine Nummer zu sein, sagte er sich, selbst wenn es kein schöner Name ist.

»Nummer Dreizehn!«, schrie Miss Carbunkle noch einmal in die kalte, neblige Luft.

Wie immer bemühte er sich, die geforderten Worte auszusprechen, aber er brachte keinen Ton heraus. Es war, als würde tief in seiner Kehle ein dicker Stein festsitzen.

Plötzlich riss jemand an seinem Ohr. Nummer Dreizehn fuhr herum, um zu sehen, wer das gewesen sein konnte. Neben Mug und Orlick stand ein Neuer: ein großer grauer Ratten-Erdling mit borstigem Fell, zwei vorstehenden scharfen Nagezähnen, großen Pfoten mit gelben Krallen und einem langen dünnen Schwanz. Er hatte die Schultern so hochgezogen, dass es aussah, als hätte er keinen Hals. Seine kleinen Augen lagen tief in den Höhlen und waren schwarz wie die Nacht.

»Freut mich, dich kennenzulernen«, flüsterte der Ratten-Erdling und rülpste Nummer Dreizehn direkt ins Gesicht.

Der Arme wurde fast ohnmächtig, so schlimm stank die Ratte aus dem Maul – nach schmutzigen Socken, faulem Fleisch und allem, was man in Abwasserrohren findet.

Auch das noch, dachte Nummer Dreizehn. Jetzt waren es sogar schon drei Fieslinge, vor denen er sich fürchten musste.

Wie ein wildes Tier brüllte Miss Carbunkle nun seine Nummer. Unhörbar stammelte er »H-hier«.

Mit samtweicher Stimme flüsterte die Ratte ihm ins Ohr: »Was ist denn? Hat’s dir die Sprache verstunken?«

Nummer Dreizehn begann von der Ohrspitze bis zu den fellbewachsenen Zehen zu zittern.

»Willst du Schläge mit dem Rohrstock, Nummer Dreizehn? Oder ziehst du Mr Sneezeweeds Paddel vor?«, fauchte Miss Carbunkle.

Er versuchte es noch einmal lauter, aber die Schulleiterin konnte ihn immer noch nicht hören.

»Nummer Dreizehn«, donnerte sie. »Bist du heute da oder nicht? Entscheide dich!«

Endlich gelang es ihm, die Worte an dem Stein in seiner Kehle vorbeizupressen: »Hier, M-m-madam.«

Die Waisen seufzten erleichtert auf und marschierten dann, von Nieswurz angeführt, zum Frühstück. Zum Glück gingen Mug, Orlick und ihr neuer Rattenfreund weit hinter Nummer Dreizehn.

Während er mitschlurfte, wie immer mit hängendem Kopf, wünschte er sich eine schöne warme Mütze, um sein Ohr darunter zu verstecken.

KAPITEL 4

Das Geheimnis

MR SNEEZEWEED FÜHRTE die Zöglinge durch den langen schmalen Flur des Sperberhauses. »Eins, zwei, eins, zwei! Haltet euch ran, ihr nutzlosen kleinen Biester!«, trieb er sie an und hielt dabei drohend das Paddel hoch.

An diesem Montagmorgen zogen sie wie an jedem Morgen in den tristen Speisesaal ganz am anderen Ende des Heims. Nummer Dreizehns Magen knurrte ununterbrochen. Der Weg erschien ihm endlos lang, denn das Waisenhaus war sehr weitläufig. Vom Mittelpunkt des kreuzförmigen Bauwerkes gingen vier langgestreckte Häuser ab. Jedes war nach einem Raubvogel benannt: Habicht, Sperber, Falke und Eule. Das Sperberhaus führte von der Mitte des Kreuzes bis ganz nach hinten zu den Schlafsälen der Waisen und zu dem Hof, in dem sie sich zum Morgenappell versammelten. Schulzimmer und Speisesaal lagen im Habichtshaus, das gegenüber dem Sperberhaus den vorderen Teil des Gebäudes bildete. Ganz vorn befand sich die dicke Eichentür, vor der Miss Carbunkles Hunde knurrten und sabberten und bellten.

Das Eulen- und das Falkenhaus bildeten die seitlichen Arme des Kreuzes. Darin befanden sich Dutzende von Werkstätten, darunter auch eine heimeigene, mit Dampfkraft betriebene Fabrik. Hier bauten die Zöglinge unter Anleitung eines übellaunigen Meisters namens Mr Bonegrubber, von den Waisen auch Knochenklauber genannt, merkwürdige kleine Geräte zusammen. Sie sahen aus wie kleine schwarze Käfer, und wozu sie gut waren, wussten die Zöglinge nicht.

Auch wie es in den ersten Stockwerken der Häuser aussah, wussten sie nicht, denn dort hatten nur Miss Carbunkle und ihre Angestellten Zutritt. Natürlich hatten die Waisen ihre Theorien. Sie reichten von mittelalterlichen Folterkammern mit Kesseln voll kochendem Öl, in die unartige Erdlinge getaucht wurden, bis hin zu scheußlichen Zellen, in denen böse Geschöpfe gezwungen wurden, Schüsseln voller großer, behaarter, giftiger Spinnen leer zu essen. Was die Kellerräume anging, waren alle sich sicher, dass sie mit riesengroßen schwarzen Ratten bevölkert waren, die gern Zehen anknabberten und einen Erdling unter Umständen auch mit Haut und Haaren verspeisten, wenn er sich lange genug dort unten aufhielt.

»Hopp, hopp! Beeilt euch!«, brüllte Mr Sneezeweed. Sein Fuß schmerzte nach Miss Carbunkles Stich mit der Stockspitze immer noch, daher war er besonders gereizt.

Sie gelangten in die große Halle, wo sich alle vier Flure trafen und wo sich auch Miss Carbunkles Büro befand. Vor der Tür des Büros verlangsamte Sneezeweed plötzlich sein Tempo, denn Neid packte ihn. Das Büro der Schulleiterin war sehr geräumig, ebenso wie ihre Wohnräume, was man von seinem eigenen Zimmerchen nicht gerade behaupten konnte. Miss Carbunkles Büro war schalldicht und bestand aus einem speziellen Glas, das es ihr erlaubte, nach draußen zu sehen, ohne dass jemand zu ihr hineinsehen konnte. Es reichte vom Keller bis in den ersten Stock. Eine Wendeltreppe führte ganz nach oben in ihre Privaträume, und von dort aus gelangte sie in ihren Beobachtungsturm. Hier konnte sie mit ihrem Fernglas oder der Fernglasbrille in alle Richtungen Ausschau halten. Ihre Zimmer waren zwar nicht üppig eingerichtet, aber groß, modern und sauber.

Mr Sneezeweed dagegen schlief in einem Kämmerchen, in das gerade ein Bett und eine Kommode hineinpassten. Es befand sich im Sperberhaus, gleich neben der Krankenstube und gegenüber dem Schlafsaal der Kleinen. Er hatte die Aufgabe, die Erdlinge nachts zu beaufsichtigen, was dazu führte, dass er kaum Schlaf bekam. Ein Babysitter für Missgeburten bin ich, mehr nicht, sagte er zu sich selbst, während er durch die große Halle ging und an Miss Carbunkles Büro vorbeikam.

Vor Miss Carbunkles Büro stand eine riesengroße Kuckucksuhr. Nummer Dreizehn trug den Kopf gesenkt, um nicht sehen zu müssen, was gleich passieren würde, wie immer zur vollen Stunde, gerade wenn alle hier vorbeizogen. Aus einem Türchen im Zifferblatt erschien ein leuchtend gelber Vogel. Der mechanische Kuckuck zwitscherte und tanzte genau zehn Sekunden lang. Dann schoss ein großer Schnabel hervor und verschluckte das Vögelchen mit einem grässlichen SCHNAPP!

Endlich erreichten sie den Speisesaal. »Nehmt eure Schüsseln, setzt euch und seid still!«, rief Mr Sneezeweed. Er riss an dem dicken Seil, das von einem Dachbalken herunterhing, und ein schrilles Läuten verkündete den Beginn des Frühstücks.

Die Zöglinge bekamen nur Frühstück und Abendessen, und es gab immer das Gleiche: morgens Haferbrei und abends eine dünne Erbsensuppe und trockenes, grobes Brot. Manchmal gab es zum Abendessen auch noch ein Stück rohe Rübe oder eine kleine Möhre oder eine Pellkartoffel, aber dieser Luxus war selten. Nummer Dreizehn war jeden Morgen ausgehungert.

Er setzte sich an den langen Holztisch, an dem sich die kleinsten Erdlinge versammelten – die gutmütige, stachelige Mimi, die sich weigerte, größer zu werden als ein Igel, Blinzel, der eine Kreuzung aus Schwein und Mops war, der Dackel-Erdling Nickel, die kaninchenähnlichen Zwillinge Nesbit und Schnuck, die Faultier-Erdlinge Morris und Mo und der Wombat-Erdling Rufus. Nesbit und Schnuck sahen Nummer Dreizehn freundlich an und formten mit den Lippen ein unhörbares Hallo. Er brachte ein schüchternes Lächeln zustande und machte sich dann über sein Schälchen mit grauem Haferbrei her. Auch die Faultier-Brüder begrüßten ihn, aber sie brauchten so lange, um die Münder zu öffnen, dass Nummer Dreizehn ihren Gruß nicht bemerkte.

Der Speisesaal war hoch und hatte eine Gewölbedecke. Die Wände waren in einem früheren Leben mit farbigen Malereien geschmückt gewesen, und die Mönche hatten hier ihre Chorproben abgehalten. Doch inzwischen waren Wände und Decke schon lange mit einem düsteren Eisengrau überstrichen. Anders jedoch als die übrigen Räume, in denen nur eine weiße Uhr an jeder Wand hing, war der Speisesaal auf ganz besondere Weise dekoriert.

Überall hingen Schilder, dicht an dicht, vom Fußboden bis nach oben zur Decke. Darauf standen Miss Carbunkles Lieblingssprüche, wie: Kenne deinen Platz! Er ist ganz unten! und Die Zeit wartet nicht – und schon gar nicht auf dich! und Gesegnet ist, wer dient und gehorcht! und Musik ist die Wurzel allen Übels!

Nummer Dreizehn warf einen Blick auf das Schild, das über seinem Tisch hing: Warum nach den Sternen greifen, wenn die Sterne außer Reichweite sind? Er seufzte. Gute Frage, sagte er zu sich selbst.

Seine beiden Widersacher und ihr neuer Freund setzten sich an einen Tisch in der Nähe. Wer war diese Kreatur mit den schwarzen Kieselaugen und dem Abwasser-Atem? Nummer Dreizehn spürte, dass die Drei ihn hinter seinem Rücken anstarrten, denn sein ganzes Ohr juckte davon. Ich tue einfach so, als wäre ich unsichtbar, dachte er und aß schweigend seinen wässrigen Haferbrei.

Es wurde ohnehin von ihm erwartet, dass er schwieg. Schweigen und Stille, das war die erste und wichtigste von Miss Carbunkles goldenen Regeln.

Lärm, darunter auch Gespräche, wurde praktisch nicht geduldet. Im Speisesaal war jedes Geräusch, das nicht unbedingt nötig war, streng verboten. Für manche, die unwillkürlich leise Schnüffelgeräusche machten, während sie die bescheidenen Portionen hinunterschlangen, war diese Regel schwer zu befolgen. Wer bei den Mahlzeiten redete, sich nicht ordentlich benahm oder aber so dumm war, den missmutigen Mr Bunmuncher um einen Nachschlag zu bitten, kassierte mehrere harte Schläge auf das Hinterteil. Mr Bunmuncher, den die Zöglinge heimlich Semmelmampfer nannten, war der Koch des Heims. Sein großer kahler Schädel ähnelte einem glänzenden rosa Schinken.

Singen, Summen und Musizieren jeder Art waren ebenfalls verboten. In Miss Carbunkles Augen war Musizieren sogar das schwerste Vergehen überhaupt. Bei Verstößen wurde der Übeltäter zu einem Monat Einzelhaft in das sogenannte Rattenverlies im Keller geschickt und musste zudem wochenlang Toiletten schrubben.

Nummer Dreizehn bemerkte, dass die beiden kleinen Erdlinge neben ihm unter dem Tisch Zettelchen austauschten. Selbst in diesem grässlichen Haus gelang es den Waisen, sich zu verständigen. Sie unterhielten sich hastig flüsternd, mithilfe kleiner Grimassen oder mit einem Geheimcode aus Klopfzeichen mit Fuß, Hand oder Pfote. Sie steckten sich winzige Briefchen, Geschichten und Bilder zu. Es war unmöglich, nicht miteinander zu sprechen oder zu lachen, auch wenn es klammheimlich geschehen musste. Die Sehnsucht nach Gemeinschaft war viel größer als die Angst vor Strafen, mochten sie noch so hart sein.

Auch der einohrige Waisenjunge sehnte sich nach Freunden. Aber immer wenn er den Mut aufbrachte, auf jemanden zuzugehen, sprach er so leise und stotterte so sehr, dass man ihn kaum verstehen konnte. Einige Erdlinge und vor allem die Heimleiterin und Mr Sneezeweed behandelten ihn, als wäre er taub. Für sie war es unvorstellbar, dass dieses stammelnde Geschöpf mit dem Namen Nummer Dreizehn und dem einen jämmerlichen Ohr überhaupt hören konnte.

Doch Nummer Dreizehn hörte gut.

Er hörte alles, was um ihn herum geschah. Und wenn er sich scharf genug konzentrierte und sich an einen stillen Ort in sich selbst zurückzog, konnte er manchmal sogar außergewöhnlich gut hören.

Er hörte die heimlichen Bewegungen von Insekten, die unter den Bodendielen und in den Wänden fleißig ihre Arbeit verrichteten, und fragte sich, ob sie ihn ebenfalls hören konnten. Er hörte, wie der alte Esel im Stall sich abends leise in den Schlaf iahte und wie die beiden Kutschpferde im Sommer mit ihren Schweifen Fliegen verjagten. Nummer Dreizehn hatte diese Tiere noch nie gesehen, aber er wusste, dass es sie gab. Und im Winter konnte er sogar im Hof den Schnee fallen hören. Bei schlechtem Wetter hörte er die schönsten Geräusche: pfft, pfft, pfft, wusch, pfft, pfft, pfft, wusch. Dann fragte er sich, ob diese Melodie des Schnees wohl eine Art Lied war.

Wenn dann im Frühling in dem Baum draußen hinter der Mauer ein Vogel sang, klein und mit zarten Flügeln, dann konnte Nummer Dreizehn ihn so deutlich hören wie die Glocke drinnen im Heim. Er hörte jedes leise Knacken, jedes sanfte Flattern, wenn der Vogel von Ast zu Ast hüpfte. Am allerschönsten aber war der zärtliche Gesang der Vogelmutter, wenn sie zu ihrem neuen Nest flog. Dieses Lied erfüllte Nummer Dreizehn mit einer so unerträglichen Sehnsucht, dass er meinte, das Herz müsse ihm zerspringen.

Seine Fähigkeit – ob sie eine Gabe war oder ein Fluch, das wusste Nummer Dreizehn nicht – hatte sich ständig weiterentwickelt, seit er denken konnte. Aber warum? Und besaßen andere sie auch? Nummer Dreizehn bezweifelte das, und weil er sich davor fürchtete, anders zu sein, erzählte er niemandem davon.

Trotz Miss Carbunkles goldener Regel der Stille und des Schweigens füllte sich der Saal allmählich mit Geräuschen. Die Blechschalen klapperten auf den Tischen, Freunde flüsterten miteinander, Nieswurz rief alle paar Minuten »Ruhe!« und trötete laut beim Naseputzen, und an allen Wänden in allen Zimmern und auf allen Stockwerken tickten unermüdlich die Uhren.

Als Nummer Dreizehn aufgegessen hatte, schloss er die Augen, konzentrierte sich und lauschte. Nicht auf das zunehmende Getöse ringsherum oder auf das Ticken der tausend Uhren, sondern auf etwas, das tief aus dem Bauch des Gebäudes kam, nämlich auf die unruhigen kleinen Mäuschen, die hinter den Wänden umherhuschten.

An ihr Scharren und Piepsen war Nummer Dreizehn gewöhnt. Aber an diesem Morgen hörte er etwas Neues, etwas sehr Merkwürdiges, Wundersames.

Zum ersten Mal in seinem Leben konnte er die Mäuse sprechen hören.

Werde ich jetzt verrückt?, dachte er. Nein, das sind eindeutig Mäuse. Und ich kann jedes Wort, das sie sagen, verstehen.

Was bedeutete das? Bisher hatte Nummer Dreizehn gedacht, nur Menschen und Erdlinge könnten sprechen. Aber Mäuse? Die Menschen bezeichneten sie als dumme Tiere, sie standen sogar noch unter den Erdlingen. Machte ihre Fähigkeit zu sprechen sie vielleicht auch zu Erdlingen? Und wenn nicht, warum war er der Einzige, der sie hören konnte? Außer ihm schien niemandem die lebhafte Unterhaltung hinter den Wänden aufzufallen.

Nummer Dreizehn beugte sich zur Wand und neigte sein Ohr dagegen.

Die Mäuse sprachen anscheinend über eins ihrer Lieblingsthemen, nämlich über das Essen. Ihr Geplauder war faszinierend. Innerhalb weniger Minuten erfuhr Nummer Dreizehn, dass sie erstens Käsekenner waren und insbesondere eine französische Sorte namens Brie schätzten, dass sie zweitens äußerst, ja, fast schon übertrieben höflich waren und dass sie drittens ausgeprägte Meinungen zu etwas hatten, das Poesie hieß. Was immer das sein mochte, die Mäuse diskutierten leidenschaftlich darüber.

Doch dann begann hinter der Wand eine weitere Unterhaltung. Sie wurde immer lauter, bis sie die piepsigen Stimmchen der Mäuse übertönte und sie offenbar forttrippelten. Nummer Dreizehn vermutete, dass die beiden neuen Sprecher Ratten waren, die großen schwarzen Ratten, die durch die Abwasserrohre in den dunklen Keller huschten, in den Miss Carbunkle ungezogene Erdlinge schickte. Ihr Gespräch war größtenteils böse, aber auf vornehme Weise.

RATTEEINS: Sag mal, hast du eigentlich dieses köstliche tote Etwas gesehen, das ich letzte Woche gefunden habe?

RATTEZWEI: Aber ja, das war in der Tat ein vorzüglicher Fund! Kompliment, mein Freund, Kompliment!

RATTEEINS: Ja, der Meinung bin ich auch. Aber nicht alle dachten so. Du weißt schon, von wem ich spreche.

RATTEZWEI: Allerdings! Er ist wirklich ein Neidhammel, nicht wahr? Du weißt doch, man sagt: Neid ist Unwissenheit.

RATTEEINS: Da hast du recht.

RATTEZWEI: Also, guter Freund, wie hast du reagiert? Solchen Ratten muss man eine Lektion erteilen, möchte ich doch sagen.

RATTEEINS: In der Tat! Wie du dir vorstellen kannst, hatte ich tatsächlich nur eine Möglichkeit. Ich habe ihn gefressen. Das hatte er wirklich verdient.

RATTEZWEI: Recht so, gut gemacht! Kompliment, alter Kumpel!

Nummer Dreizehn überlief ein Schauder. Wahrscheinlich, dachte er, sind sie mit dieser schrecklichen Ratte verwandt, diesem Freund von – Plötzlich spürte er, wie etwas Kaltes, Feuchtes, Klebriges ihn am Hinterkopf traf und ihm dann in den Nacken tröpfelte. Als er sich umdrehte, sah er Mug und Orlick bis über beide Ohren grinsen. Ihr neuer Freund saß mit höhnischem Lächeln zwischen ihnen. Er legte den Löffel hin, den er als Schleuder für den kalten Haferbrei benutzt hatte, und gähnte, sodass seine rasiermesserscharfen Zähne zu sehen waren.

Nummer Dreizehn wischte sich mit dem Hemdsärmel den Brei ab. Jetzt war sein Ärmel schmutzig und nass. Er seufzte, denn er besaß nur ein einziges Hemd und er würde keine Zeit haben, es zu säubern.

Denk nicht an die drei, sagte er sich. Denk an etwas anderes.

Er legte den Kopf auf den Tisch, und in den wenigen Minuten, die ihm noch blieben, ließ er seine Gedanken zu seinen Lieblingsgeräuschen wandern: Schneefall, Vogelgesang, das leise Trommeln der Regentropfen auf dem Dach. Die trübe Welt mit ihrer Grausamkeit und ihrer Kleinlichkeit verschwand und mit ihr auch seine Angst. Und das Lied von vor langer Zeit, das immer noch tief in seinem Herzen ruhte, erwachte wieder. Nummer Dreizehn hätte gern gewusst, was das alles bedeutete – das Lied, seine Namenlosigkeit und seine heimliche Fähigkeit, Geräusche zu hören, die außer ihm niemand vernahm.

Das schrille Läuten einer Glocke ließ ihn aus seinem Tagtraum hochschrecken. Er stellte sich mit den anderen Erdlingen in einer Reihe auf, und Nieswurz führte sie zu Miss Carbunkles morgendlichem Unterricht ins Schulzimmer.

Nun standen ihnen zwei Stunden bevor, in denen Miss Carbunkle Vorträge hielt, über Themen wie »Die Notwendigkeit von Erdlings-Gehorsam im Dienst von Fortschritt und Industrie«. Darauf würde dann stundenlange, ermüdende Hausarbeit folgen: Die Erdlinge mussten Fußböden schrubben, mit den Händen, Pfoten oder Klauen in eiskaltem Wasser Kleidung waschen, kaputte Pulte und Stühle reparieren, Decken flicken und Socken stopfen. Anschließend wartete dann die zermürbende Fabrikarbeit auf sie.

Der einzige Tag, der sich von den anderen unterschied, war der Sonntag. Die Waisenkinder wurden zwar auch früh zum Morgenappell geweckt und verrichteten die häuslichen Arbeiten, aber es fand kein Unterricht statt.

Doch dieser Dezembertag war kein Sonntag, sondern ein ganz gewöhnlicher Montag. Für unerfüllbare Wünsche, Vogelgesang oder die Musik des Schnees war keine Zeit. Keine Zeit, über die höflichen kleinen Mäuse nachzusinnen, über ihren französischen Käse und die Poesie. Eine weitere Woche im Heim hatte begonnen, und wie an allen Tagen in Nummer Dreizehns bisherigem Leben gab es sehr viel Arbeit.

KAPITEL 5

Was Weihnachten passierte

IM HEIM SCHLICH DIE ZEIT eintönig dahin. Doch außerhalb der unüberwindlichen Mauern jagte das Leben auf eine großartige, herrliche Zukunft zu. Könige und Königinnen wurden gekrönt, Kriege geführt und Erfindungen gemacht, die den Lauf der Geschichte veränderten. Männer und Frauen erfanden Apparate, die bewegte Bilder auf Wände werfen konnten. Sie bauten dampfgetriebene Fahrräder, die fliegen konnten, und Chronometer, Barometer, Aerometer und viele andere Dinge mit unverständlichen Namen, die auf -meter endeten. Die wunderbarste Erfindung aber war ein geheim gehaltener Apparat, der die schönsten Klänge und Lieder auf der Welt einfangen und sie einem später im Traum vorspielen konnte.

Nummer Dreizehn jedoch wusste kaum etwas von der Welt, er kannte nur die Bruchstücke der Geschichten, die er von Neuankömmlingen hörte. Seine eigene Welt blieb ewig gleich: Morgenappell, Haferbrei, Unterricht, Haushaltspflichten, Fabrikarbeit, Erbsensuppe, Schlafen.

Aber die Sonntage, ja, die Sonntage! Statt nach dem Frühstück zwei todlangweilige Unterrichtsstunden durchstehen zu müssen, durften die Waisen nach draußen. Jedes Haus hatte einen eigenen Hof, aber die Erdlinge hatten nur zum Sperberhof Zutritt. Dort waren sie am Sonntagvormittag eine kostbare Stunde lang frei. Die zweite Unterrichtsstunde wurde dann für zusätzliche Fabrikarbeit verwendet, aber etwas anderes konnte man wohl kaum erwarten.

An Sonntagen durften sie sogar herumrennen und spielen, nur nicht zu wild. Da es nichts gab, was einer Schaukel, einem Sandkasten oder einem Ball geähnelt hätte, erfanden die Kleinen selbst Spiele – auch wenn es in Miss Carbunkles Heim für widerspenstige und missratene Geschöpfe gar nicht gern gesehen wurde, wenn jemand Erfindergeist zeigte.

In diesem Jahr fiel der Weihnachtstag auf einen Sonntag. Allerdings gab es weder mit Lametta geschmückte Bäume noch glitzernde Geschenke oder Teller mit Gebäck und Süßigkeiten. Noch dazu wurde Nummer Dreizehn an diesem Tag elf Jahre alt. Doch er ahnte nicht, dass dieser Tag eine doppelte Bedeutung hatte, für ihn war es einfach irgendein Sonntag. Statt Geburtstagskuchen und Weihnachtskekse zu essen, statt Geschenke auszupacken und Weihnachtslieder zu singen, stand er zitternd am äußersten Ende des Sperberhofes und tat so, als wäre er ein Käfer.

Er stellte sich vor, einer jener Käfer zu sein, die unter den Bodendielen im Schlafsaal lebten, ein winziges Tierchen, das sich im Dunkeln versteckte und kaum ein Geräusch machte. Das bin ich, sagte sich Nummer Dreizehn. Ich bin bloß ein kleiner Käfer. So winzig, dass niemand sich an mir stört.

Dann aber dachte er an die kleinen Mäuschen, die er hinter der Wand gehört hatte, und beschloss, doch lieber eine Maus zu sein und sich mit einer anderen Maus ein Bröckchen Käse zu teilen oder bei einer Tasse Tee über diese geheimnisvolle Poesie zu plaudern.

Jenseits der Mauer begann es leicht zu schneien. Im Sperberhof allerdings fiel der Niederschlag als Regen vom Himmel. Innerhalb der Mauern regnete es fast immer, und es war stets ein schwerer Regen, auf den weder Regenbögen noch strahlender Sonnenschein folgten.

Was für ein merkwürdiger Zauber mochte das sein, der es im Hof regnen ließ, während nur einen Steinwurf entfernt schönes Wetter war? Niemand schien das zu wissen. Und Nummer Dreizehn fragte sich im Stillen, ob es vielleicht etwas mit ihm zu tun haben könnte. Schließlich brachte sein Name doch Unglück.

Bald war der Hof vor lauter Matsch ganz rutschig, aber den Erdlingen machte das nichts aus. Einige hüpften und planschten in den Pfützen herum, andere spielten Fangen und wieder andere spielten Entdecker, Piraten, Feen, Kobolde, Ballonfahrer oder Abenteurer auf dem Meer.

Ausnahmsweise spielten sie einmal völlig unbeschwert.

In Nummer Dreizehns kleinem Winkel der Welt war das Leben so gut, wie es nur sein konnte. Hoch über ihm befand sich einer der großen Wasserspeier des Heims, und darunter versteckte er sich. Das Regenwasser floss nämlich vom Dach auf Augen und Gesicht des Wasserspeiers und stürzte von dort als Wasserschleier in den Hof. Hinter diesem Schleier blieb Nummer Dreizehn trocken und war geschützt. An einer Seite des Wasserfalls befand sich eine schmale Lücke, und falls er seine Ecke verlassen musste, konnte er hindurchschlüpfen, ohne nass zu werden.

In jedem der vier Höfe hingen jeweils vier mittelalterliche Wasserspeier, Überreste der klösterlichen Vergangenheit des Waisenhauses. Im Gegensatz zu Miss Carbunkles allgegenwärtigem Habicht waren es keine Raubvögel, aber sie hatten etwas Vogelähnliches. Die meisten sahen wie traurige Monster aus, mit verwachsenen Schnauzen, großen Ohren, kummervollen Triefaugen und hängenden Flügeln. Ihre Gesichter waren verwittert. Wenn es stark regnete, ergoss sich das Wasser aus allen sechzehn Wasserspeiern in die Höfe.

Dann war es, als würde das Waisenhaus selbst weinen.

Nummer Dreizehn zog ein kleines Stückchen Käse aus der Tasche und knabberte daran. Er hatte es sich vom letzten Sonntag aufgehoben, der zur Freude aller ein Käsesonntag gewesen war. Käsesonntag bedeutete, dass ein Beamter vom »Amt für den Schutz widerspenstiger und missratener Geschöpfe« das Heim besuchte. Das geschah von Zeit zu Zeit, denn das Amt wollte sich vergewissern, dass alles reibungslos verlief. Am Ende des Besuches wurde dann an jeden Zögling ein Stückchen Käse ausgegeben. Normalerweise war dieser Käse grün und so hart, dass viele Geschöpfe sich daran schon ein paar Zähne ausgebissen hatten. Und doch, es war Käse, und ganz selten einmal kam es vor, dass er nicht so alt und grün, sondern fast noch frisch war.

Wenn der Käse tatsächlich einigermaßen frisch war, benutzten manche Erdlinge ihn als Währung: ein Stück Käse konnte man gegen zwei Möhren, ein Blatt Papier oder auch einen Bleistift, ein kaputtes Spielzeug oder eine Handvoll Bettstroh eintauschen. Manche tauschten sogar Geschichten und Neuigkeiten aus der Welt hinter der Mauer ein.

Aber niemand wagte es, mit Liedern zu handeln. Das wäre viel zu gefährlich gewesen.

Miss Carbunkle hatte an diesem Weihnachtstag ein sehr wichtiges Treffen mit einer geheimnisvollen, hochgestellten Persönlichkeit in Lichterburg, daher hatte sie die Leitung des Heims an Nieswurz übergeben. Er selbst wäre gern zu Hause bei seiner Mutter gewesen und hätte zum Abendessen Weihnachtsgans und Plumpudding gespeist. Doch das war nun nicht möglich, und er war sehr enttäuscht.

Obwohl Nieswurz sich vor den Erdlingen so mürrisch und oft drohend aufführte, hatte er eigentlich Angst vor ihnen, und abstoßend fand er sie obendrein. Es machte ihm kein Vergnügen, »diese verdreckten Kreaturen« zu überwachen, wie er seiner Mutter gestanden hatte, und ihren Geruch konnte er erst recht nicht ausstehen. Auch dass er im gleichen Raum mit ihnen essen musste, fand er schrecklich. Du meine Güte, wie die ihr Essen schlürfen! Überhaupt kein Benehmen! Und was sind sie eigentlich? Halb dies, halb das? Ungeziefer, das sind sie! Und wer muss sich tagaus, tagein und sogar Weihnachten mit ihnen abplagen? Mortimer Sneezeweed, so sieht es nämlich aus!

Während er so dachte, warf er rasch einen Blick über den Hof und verzog sich dann gleich wieder ins Haus. Er fand ein schönes warmes Eckchen, wo der kalte Luftzug von der Tür nicht hinkam, und zog sich einen wackeligen Stuhl heran. Die Tür zum Hof befand sich am Ende des Hauses, ganz in der Nähe seines Zimmers, und wenn Miss Carbunkle nicht da war, schlich er sich oft für ein paar Minuten in sein Kämmerchen, holte sich ein Buch oder trug einen kleinen Klecks von Professor Müffelbaums Magischer Schnurrbartpomade auf.

Was können die denn in einer Stunde groß anstellen?, überlegte Mr Sneezeweed, ohne dem wilden Treiben im Hof weiter Beachtung zu schenken. Er schnäuzte sich, schob sein feines weißes Taschentuch wieder unter die Manschette seines gestärkten Ärmels, schlug einen dicken Wälzer mit dem Titel Das heimliche Leben der Buchhalter auf und begann zu lesen.

Währenddessen tat Nummer Dreizehn weiter so, als wäre er eine Maus. Wie gern hätte er mit jemandem gespielt! Doch er blieb in seiner Ecke. Schließlich war er nur ein kleines Mäuschen. Er aß das letzte Käsebröckchen auf und beklopfte nervös sein Ohr, als könnte er es auf diese Weise herunterdrücken, damit es nicht mehr so auffiel. Dabei konnte ihn hinter dem Wasservorhang ohnehin niemand sehen.

Als er jedoch aus seinem Versteck herauslugte, fiel ihm etwas auf. Vor einem der früheren Hauseingänge, der jetzt nur noch das Geisterbild einer zugemauerten Tür war, warfen Mug, Orlick und die Ratte sich etwas zu und grölten dabei vor Lachen. Es sah wie ein kleiner brauner Ball aus, etwa so groß wie ein Igel oder wie ein kleiner Kohlkopf. Nummer Dreizehn fragte sich, wie die drei an diesen Ball gekommen waren – hatten sie ihn von irgendeinem Wohltäter? Gab es solche Wohltäter überhaupt? Oder hatte ein Kind hinter der Mauer ihn versehentlich in den Hof geschossen?

Seltsam, dachte Nummer Dreizehn. Von Lederbällen hab ich schon gehört, aber von Flauschbällen noch nie. Aber es gibt ja schließlich viele Dinge, von denen ich noch nie gehört habe. Er erinnerte sich an etwas Merkwürdiges, was man sich über Katzen erzählte, dass sie nämlich etwas Ekliges ausspucken konnten, das man Haarball nannte. Aber wie groß musste eine Katze wohl sein, um einen Haarball ausspucken zu können, der größer war als sein eigener Kopf? Dann überlegte Nummer Dreizehn, warum er noch nie einen Katzen-Erdling gesehen hatte. Er kam zu dem Schluss, dass es offenbar nur ganz wenige davon gab. War er nicht auch der einzige Fuchs-Erdling in Miss Carbunkles Heim?

Das Gelächter in Mugs Grüppchen wurde noch lauter.

Die Ratte nickte Mug zu, und der warf den Ball hoch und immer höher. Jedes Mal, wenn er ihn hochschleuderte, quietschte der Ball. Das muss ein Quietschball sein, dachte Nummer Dreizehn. Anscheinend werden da draußen alle möglichen Bälle hergestellt.

»Schmeiß mal her!«, rief Orlick, wobei er die Ratte mit einem Blick um Zustimmung bat. Wieder flog der Ball hin und her, und bei jedem Wurf sahen Mug und Orlick zu dem Ratten-Erdling hoch. Er war ihr neuer Anführer.

Immer wenn der Ball durch die Luft flog und aufgefangen wurde, hörte Nummer Dreizehn dieses Geräusch. Es klang eher wie ein Piepen als wie ein Quieken. Ja, es war eindeutig ein Piepen.

Das Spiel ging minutenlang so weiter, bis der Ratten-Erdling sich in die Mitte stellte. Er machte rasche Bewegungen mit den Pfoten, so als wolle er ein Orchester dirigieren. Die beiden anderen Erdlinge blieben reglos stehen und sahen erwartungsvoll zu ihm auf. Die Bewegungen seiner borstigen grauen Pfoten hatten etwas Elegantes – und Eiskaltes.

»Wer von euch glaubt, dass er das Ding da über die Mauer werfen kann, hmmmm? Wer will das probieren? Wer es schafft, kriegt einen Preis. Ein ganz großes Stück – und jetzt kommt’s, meine Freunde – frischen Käse.«

Die beiden Erdlinge jubelten ihm zu.

»Lass mich mal versuchen!«

»Nein, jetzt will ich!«

»Ich!«

»Ich hab’s zuerst gesagt!«

Beide wollten es versuchen, aber Mug setzte sich durch. »Zurück! Ich hab sie gefunden. Sie gehört mir.«

Die Ratte stimmte zu.

Blitzartig begriff Nummer Dreizehn: Der kleine fusselige Ball war gar kein Ball, auch kein von einer besonders großen Katze mit Verstopfung ausgespuckter Haarball. Nein, es handelte sich um ein lebendiges Wesen, das sich wie ein verängstigter Igel zusammengerollt hatte. Allerdings war es kein Igel, das sah Nummer Dreizehn jetzt. Es musste ein Erdling sein wie er selbst. Ein Geschöpf mit einer Blechnummer um den Hals.

Nummer Dreizehn streckte den Kopf vorsichtig hinter dem Wasserschleier hervor und schaute sich im Hof nach Hilfe um. Nieswurz war nirgends zu sehen, und die anderen Erdlinge schienen nichts zu bemerken. Ausnahmsweise wünschte Nummer Dreizehn sich Miss Carbunkle herbei, denn sie hätte dem grausamen Spiel sicherlich ein Ende gemacht, und wenn auch nur, um die Ordnung wiederherzustellen.

Er setzte einen Fuß in die Lücke zwischen Wasservorhang und Mauer, zog ihn aber schnell wieder zurück. Was konnte jemand wie er schon ausrichten?

Orlick übergab das eingerollte Geschöpf an Mug, der es hoch in die Luft hielt, um es zu werfen oder zu kicken oder sonst was mit ihm anzustellen.

Entsetzt sah Nummer Dreizehn mit an, wie Mug das arme Wesen so hoch warf, wie er konnte. Doch er schleuderte es nicht über die Mauer, sondern fing es mit seinen schmutzigen Pfoten wieder auf. Die Ratte befahl ihm, den flauschigen Ball an Orlick weiterzugeben, der jetzt an der Reihe war. Mug knurrte Orlick an, doch der packte das Geschöpf und bereitete sich auf seinen großen Wurf vor.

»H-h«, stotterte Nummer Dreizehn. »H-halt!« Aber der Wasserfall, das Gelächter und der Regen waren so laut, dass niemand ihn hörte.

Orlick warf das Wesen hoch in die Luft, aber auch jetzt flog es nicht über die Mauer.

Schließlich streckte Nummer Dreizehn den Kopf aus seinem Versteck und schrie aus Leibeskräften: »H-halt! Lasst sie los!«

Er hatte noch nie geschrien.

Schreien tat gut.

Die Ratte drehte sich um und hob eine Pfote. Sofort hörte das Gelächter auf. Oha, dachte Nummer Dreizehn und huschte wieder in sein Versteck zurück.

»Wer war das?«, grinste die Ratte. »Wer wagt es, Drahtkralle die Stirn zu bieten?«

Nummer Dreizehn zitterte hinter dem Wasservorhang. »Bitte finde mich nicht, bitte finde mich nicht, bitte finde mich nicht«, murmelte er vor sich hin.

»Raus mit der Sprache«, sagte Drahtkralle, und lässig fügte er hinzu: »Sonst fresse ich dich.« Seine Miene war undurchdringlich und hart wie Stein.