Der Zauber der Schneeflocken - Holly Baker - E-Book
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Holly Baker

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Beschreibung

Ein ganz besonderer Adventskalender zaubert weihnachtliche Glücksmomente zum Verlieben Seit Leni an Heiligabend vor zwei Jahren ihren geliebten Ehemann verlor, erinnert sie alles in der Weihnachtszeit an ihren Verlust, und die Trauer hat sie noch immer fest im Griff. Um Leni zurück ins Leben zu führen, haben ihre Zwillingsschwester Marie und ihre beste Freundin Emma deshalb dieses Jahr einen ganz besonderen Adventskalender für sie erstellt: Hinter jedem Türchen verbirgt sich eine Aufgabe, die Leni jene Weihnachtsvorfreude wieder näherbringen soll, die sie früher so begeistert ausgelebt hat. Dabei erhält sie Unterstützung von ihrer Familie und ihren Freunden – und bald auch von ihrem Nachbarn Erik, dem sie mit jedem Türchen langsam ihr Herz ein wenig mehr öffnet … »P.S. Ich liebe dich« für Weihnachtsfans! Holly Bakers berührender Roman ist perfekt für kuschelige Lesestunden vor dem Kamin. Holly Baker, die in den bunten 80ern geboren wurde, lebt mit ihrer Familie im Ruhrgebiet. Sie ist ein leidenschaftlicher Weihnachtsfan und liebt es, sich Geschichten auszudenken, die ihre Leserinnen zum Träumen bringen, sowie selbst in Romanen, Serien oder Filmen zu schwelgen. Unter ihrem richtigen Namen schreibt die Autorin auch Krimis und Fantasyromane.

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Für Niklas, Betty und ChristianFür meine Mutter

Gedicht: Erich Fried, Was es ist. Aus: Es ist was es ist. Liebesgedichte Angstgedichte Zorngedichte © 1983, 1994 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin.

© Piper Verlag GmbH, München 2020Redaktion: Friederike HallerCovergestaltung: zero-media.net, MünchenCovermotiv: FinePic®, München

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Inhalt

Cover & Impressum

Gedicht

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Epilog

Lenis Adventskalender zum Mitmachen

Dank

Was es ist

von Erich Fried

Es ist Unsinn

sagt die Vernunft

Es ist was es ist

sagt die Liebe

Es ist Unglück

sagt die Berechnung

Es ist nichts als Schmerz

sagt die Angst

Es ist aussichtslos

sagt die Einsicht

Es ist was es ist

sagt die Liebe

Es ist lächerlich

sagt der Stolz

Es ist leichtsinnig

sagt die Vorsicht

Es ist unmöglich

sagt die Erfahrung

Es ist was es ist

sagt die Liebe

Prolog

Ich ignorierte das leise Lachen aus dem Schwesternzimmer und hastete den Flur hinunter zum letzten Zimmer auf der rechten Seite. Ich rannte, denn ich wollte nicht zu spät kommen. Ich durfte nicht zu spät kommen.

Die Klänge von Last Christmas begleiteten mich. Normalerweise zauberte mir dieses Lied ein Lächeln ins Gesicht, war es doch gewissermaßen unser Lied. Aber nicht hier. Nicht jetzt. Stattdessen schnürte es mir die Kehle zu. Eben noch hatte ich mit meiner Familie zusammengesessen und über einen Witz geschmunzelt, den Finn, der Mann meiner Zwillingsschwester, erzählt hatte, und jetzt war ich hier und so weit vom Glücklichsein entfernt, wie es nur ging.

Ich bog um die Ecke und trat durch die offene Tür in sein Zimmer. Überdeutlich mischte sich der Duft von Zimt, Nelken und Orangen aus dem Flur unter den Geruch von Desinfektionsmitteln. Eigentlich liebte ich den Duft der Adventszeit, doch in diesem Augenblick erschien er mir völlig deplatziert.

»Bin ich zu spät?«, fragte ich so leise, dass ich meine Stimme selbst kaum hörte.

Der Pfleger – Erik – sah von der Maschine auf und schüttelte den Kopf. »Hallo, Leni. Nein, du bist rechtzeitig.«

Rechtzeitig. Wofür? Das, was hier gerade geschah, kam alles andere als zur rechten Zeit. Es passierte etwa fünfzig Jahre zu früh. Ich war nicht bereit dafür, würde es niemals sein.

Mein Blick heftete sich auf das Bett, in dem Tom lag. Auf seine Brust, die sich langsam und kaum merklich hob und senkte. Eben hatte ich es noch eilig gehabt, doch als ich nun auf ihn zuging, bremste ich meine Schritte in der Hoffnung, die Zeit würde stehen bleiben.

Erik durchquerte den Raum und strich mir mit einem angedeuteten Lächeln über den Arm, bevor er mich mit Tom allein ließ. Inzwischen kannte ich den Pfleger gut. Besser, als ich ihn jemals hatte kennenlernen wollen, obwohl er sehr nett und hilfsbereit war. In den letzten Wochen hatte ich jedoch zu viele Stunden auf dieser Station verbracht.

Ich nahm Toms Hand in meine und drückte sie, während ich ihm einen Kuss auf die Stirn gab. Tränen rollten mir über die Wangen, tropften hinab auf das weiße Laken und hinterließen einen nassen Fleck.

»Tu mir das nicht an«, flüsterte ich nahe an seinem Gesicht. »Wir haben uns geschworen, dass wir das schaffen. Im Frühling, weißt du noch? Du kannst mich nicht einfach verlassen. Ich liebe dich, ich brauche dich. Bleib bei mir.«

Er gab keine Antwort, ich hörte ihn kaum atmen. Mein Blick glitt automatisch zu dem Monitor, der Toms Blutdruck und Puls anzeigte. Noch war er bei mir, aber wie lange noch? Nicht lange genug, nicht einmal annähernd.

Erik kam zurück in den Raum, beinahe lautlos. Er sah kurz nach Tom, bevor er sich erneut an den lebenserhaltenden Maschinen zu schaffen machte. Ich hielt Toms Hand fest in meiner, streichelte mit dem Daumen über seinen Handrücken, während Tränen meinen Blick verschleierten.

Den ganzen Vormittag und Mittag hatte ich an Toms Bett gesessen, bis meine Mutter vorbeigekommen war, um mich abzuholen. Jetzt wünschte ich, ich wäre hiergeblieben, bei ihm. Niemand hatte damit gerechnet, dass uns nur noch so wenig Zeit bleiben würde.

Die Minuten dehnten sich wie Kaugummi und vergingen doch viel zu schnell. Und dann, einfach so, hörte Tom auf zu atmen und verließ mich. Ich schluchzte auf, seine Hand immer noch fest in meiner. Wie durch einen Schleier bekam ich mit, wie Erik etwas auf einem Zettel notierte und die Maschinen abschaltete.

»Es tut mir so leid, Leni«, sagte er leise, bevor er mich erneut mit Tom allein ließ. Zum letzten Mal.

Ich zitterte, so heftig begann ich zu weinen. Hinter mir betrat jemand den Raum, doch ich drehte mich nicht um. Ich wollte allein sein, brachte allerdings keinen Ton heraus, nur ein Schluchzen. Toms Hand glitt aus meiner. Ich wollte sie festhalten, aber die Kraft wich aus meinen Fingern wie das Leben aus Tom.

»Ist er …?«, hörte ich die Stimme meiner Mutter, die sogleich wieder verstummte.

Ich hatte meine Mutter gebeten, zu Hause zu bleiben und mit der Familie Heiligabend zu feiern, doch jetzt war ich froh, dass sie hier war, als ich jeden Halt verlor.

Kapitel 1

Zwei Jahre später

Der Schnee knirschte unter meinen Schuhen. Es war eisig kalt, und ich wickelte den Schal fester um meinen Hals. Mein Atem zeichnete Wölkchen in die Luft. Schneebedeckt sahen die Gräber auf den ersten Blick alle gleich aus, inzwischen war ich jedoch so oft auf diesem Friedhof gewesen, dass ich das richtige blind hätte finden können. Vor dem herzförmigen Grabmal blieb ich stehen. Ich nahm die erfrorenen roten Rosen aus der Vase, stellte stattdessen den Strauß bunter Dahlien hinein und wischte mit der behandschuhten Hand den Schnee vom Stein.

Tom Kaiser

Geliebter Ehemann & Sohn

2. März 1981 – 24. Dezember 2018

Fast zwei Jahre war es mittlerweile her, und dennoch fühlte es sich immer noch so schmerzhaft und unwirklich an wie am ersten Tag. Als hätte Toms Herz erst gestern aufgehört zu schlagen und meines damit in undurchdringlicher Finsternis versenkt. Fast zwei Jahre, in denen nicht ein Tag verging, an dem ich ihn nicht vermisste. Und jetzt stand schon wieder die Adventszeit bevor, die alles nur noch schlimmer machte.

Ich warf einen Blick in den Himmel, an dem sich die Wolken türmten und neuen Schnee ankündigten. Die Sonne hatte sich seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr blicken lassen. Nicht am Himmel und nicht in meinem Herzen.

Wo bist du, Tom? Warum hast du mich allein zurückgelassen? Du fehlst mir, jeden Tag ein bisschen mehr. Wie soll ich das nur schaffen?

»Guten Tag, Leni.« Die Stimme von Pfarrer Peters, der mit einem Mal neben mir stand, war leise und tröstlich.

»Hallo, Herr Pfarrer.« Ich schenkte ihm ein Lächeln, auch wenn mir nach Weinen zumute war. »Wie geht es Ihnen heute?«

Er lächelte zurück. »Das wollte ich dich gerade fragen. Es ist immer noch schwer, nicht wahr?«

Ich nickte, denn die plötzliche Enge in meinem Hals machte es mir unmöglich, etwas zu sagen. Eine Weile standen der Pfarrer und ich schweigend nebeneinander und betrachteten das Grab, während sich der Friedhof langsam füllte. Es war Totensonntag, und ich war gewiss nicht die Einzige, die einem verstorbenen Familienmitglied die Ehre erweisen wollte, auch wenn ich mich vor allem in letzter Zeit immer öfter alleingelassen fühlte.

Die Kirchenglocken läuteten, gleichzeitig rieselten die ersten Flocken vom Himmel, und die auf dem Friedhof verstreuten Hinterbliebenen zündeten Kerzen auf den Gräbern an. Es war ein wunderschöner Anblick, der mich zugleich tieftraurig stimmte. Ich bückte mich, um die Lichter auf Toms Grab ebenfalls zu entzünden und mir verstohlen eine Träne von der Wange zu wischen.

»Die Arbeit ruft.« Bevor er ging, drehte sich Pfarrer Peters noch einmal zu mir um. »Möchtest du mich zum Gottesdienst begleiten? Es könnte dir Trost spenden.«

Ich schüttelte den Kopf. »Das ist nett, vielen Dank, aber Sie wissen doch …« Mit Toms Tod habe ich den Glauben verloren. Ich sprach es nicht aus, aber das musste ich auch nicht. Pfarrer Peters war ein Freund der Familie. Seit ich ein kleines Mädchen war, hatten wir uns nahezu jeden Sonntag in der Kirche gesehen, sämtliche Familiengeburtstage zusammen gefeiert und gemeinsam Familienmitglieder betrauert. Mit Toms Tod hatte sich vieles verändert.

Nach dem ersten Schock und der Trauer, die mich bis heute allgegenwärtig umhüllte, war ich so wütend geworden, dass ich es nach der Beerdigung nicht mehr geschafft hatte, einen Fuß in die Kirche zu setzen. Tom war gerade einmal siebenunddreißig gewesen. Wir hatten Pläne gehabt, das ganze Leben noch vor uns, und dann war es uns einfach so genommen worden. Ich erinnerte mich an den Tag, als er vom Arzt gekommen war – eine Routineuntersuchung, die alles veränderte. Blutkrebs im Anfangsstadium. Wir hatten uns geschworen, nicht aufzugeben und zu kämpfen. Allerdings hatte Tom gar nicht erst die Chance dazu bekommen. Bereits die erste Chemo hatte sein Herz dermaßen geschwächt, dass die notwendige Knochenmarktransplantation als Option ausfiel. Man hatte nichts für ihn tun können, und ich hatte dabei zusehen müssen, wie er immer schwächer geworden war. Am Ende hatten die Organe eins nach dem anderen aufgegeben, und er war an Herzversagen gestorben. Ich hatte mich betrogen gefühlt, tat es noch. Man hatte mir die Liebe meines Lebens genommen und erwartete, dass ich einfach so weitermachte. Doch das fiel mir verdammt schwer. Die Zeit heilt alle Wunden. Wie oft hatte ich diesen Spruch schon gehört? Es stimmte nicht. Zwei Jahre reichten nicht annähernd, um eine Wunde dieser Größenordnung zu heilen. Vermutlich reichte nicht einmal ein ganzes Leben dafür aus.

Pfarrer Peters nickte. »Nun denn. Irgendwann wirst du es schaffen, darüber hinwegzukommen, da bin ich sicher, und dann werden wir uns in der Kirche wiedersehen. Wer weiß, vielleicht schon dieses Jahr an Weihnachten.«

Ich sagte nichts dazu, da ich ihn nicht vor den Kopf stoßen wollte, und er lächelte mir noch einmal zu, bevor er sich Richtung Kirche entfernte. Nach und nach leerte sich der Friedhof, die Kirchenglocken verstummten, und ich blieb allein zurück. Eine Weile beobachtete ich die tanzenden Schneeflocken, die sich auf Toms Grab legten, dann verließ auch ich den Friedhof.

Ich war durchgefroren und spürte meine Füße kaum noch, trotzdem konnte ich mich nicht dazu aufraffen, nach Hause zu gehen. Also lief ich immer weiter am Neckar entlang. Es dämmerte, und tatsächlich hatten bereits einige Anwohner Weihnachtsbeleuchtung an den Fenstern oder Bäumen vor den Häusern angebracht und eingeschaltet, sodass mir überall Lichter entgegenleuchteten. Allerdings schlossen sie mich eher aus, als dass sie mich einluden.

Früher hatte ich ebenfalls Lichterketten und anderen Leuchtschmuck herausgekramt und überall verteilt, sobald die Herbstsonne an Kraft verlor, auch wenn man damit eigentlich bis nach dem Totensonntag warten sollte. Ich hatte die Adventszeit so sehr geliebt, dass ich es nie hatte erwarten können, endlich die ganze Wohnung zu dekorieren. Schon als kleines Mädchen hatte mein Zimmer zur Adventszeit stets ausgesehen wie die Zweigstelle des Weihnachtsmanns. Kaum zu glauben, dass Tom und ich uns ausgerechnet auf dem Weihnachtsmarkt kennengelernt hatten.

Ich war mit einer gemeinsamen Freundin unterwegs gewesen, und sie hatte ihn mir vorgestellt, nachdem wir ihm auf dem Marktplatz zufällig über den Weg gelaufen waren. Weniger zufällig hatten Tom und ich uns dann auch an den folgenden Tagen in der Heidelberger Altstadt getroffen. An unserem ersten Jahrestag hatte er mir auf der Eisbahn unterhalb des Schlosses schließlich einen Antrag gemacht. So war die Adventszeit für uns zu etwas ganz Besonderem geworden. Bis sein Herz ausgerechnet an einem Heiligabend aufhörte zu schlagen.

Mit dem Advent stand also Toms und mein Jahrestag vor der Tür, ebenso wie sein zweiter Todestag. Am liebsten hätte ich mich zu Hause eingeigelt und Winterschlaf gehalten, um all den Erinnerungen zu entgehen, doch ich bezweifelte, dass mir das gelingen würde.

Nachdem ich den letzten Heiligabend allein zu Hause im Bett verbracht hatte statt mit meiner Familie unter dem Tannenbaum, hatte meine Mutter angekündigt, meine Abwesenheit dieses Jahr nicht zu akzeptieren. Die Schonfrist war vorbei; alle waren der Meinung, es sei an der Zeit, endlich wieder nach vorn zu sehen.

Alle außer mir.

Mein Handy klingelte – I don’t care von Ed Sheeran und Justin Bieber. Früher hätte ich zu dieser Zeit des Jahres längst Last Christmas als Klingelton ausgewählt, heute ging ich diesem Lied, wann immer ich konnte, aus dem Weg. Was beinahe unmöglich war. Es war mir nie aufgefallen, wie oft es im Radio lief oder irgendjemand es in der Straßenbahn summte. Jetzt hörte ich es spätestens ab Ende November immer und überall.

Ich ignorierte den Anruf, und kurz darauf klingelte es ein zweites Mal. Seufzend holte ich das Smartphone aus meiner Manteltasche und nahm den Anruf entgegen. Es war Emma, meine beste Freundin.

»Was gibt’s?«

»Hi, Leni. Wollen wir uns auf einen Kaffee treffen?«

»Ich hab eigentlich schon was vor.« Das war gelogen, aber ich hatte keine Lust, mich mit Emma zu treffen, wollte es nur nicht so deutlich sagen. Dabei hätte sie mit Sicherheit kein Problem damit. Emma war ehrlich, nahm für gewöhnlich kein Blatt vor den Mund. Erst vor einer Weile hatte sie sich beschwert, dass ich kaum noch Zeit für sie hatte – was stimmte. Wie im letzten Jahr hatte ich bereits Halloween angefangen, mich zurückzuziehen, um mich für die bevorstehenden Wochen zu wappnen. Gut gemeinte Ratschläge und mitfühlende Blicke und Gesten ertrug ich dabei nicht und erst recht keine Vorwürfe.

»Was hast du denn vor?«, wollte Emma wissen.

Mist. »Ähm, ich wollte …«

»Erwischt«, sagte Emma nur. »Komm schon, Leni. Wir haben uns bestimmt drei Wochen nicht gesehen, und ich würde dich wirklich gern noch mal treffen und quatschen, bevor du die Innenstadt wieder meidest wie ein Minenfeld. So wie früher, ja?«

Ich seufzte. »Also gut.« Früher hatten wir uns mindestens einmal pro Woche in unserem Lieblingscafé in einer der schmalen Gassen nahe des Marktplatzes getroffen, stundenlang dort gesessen und geredet. Obwohl unsere Treffen weniger geworden waren, nachdem Emma geheiratet und ich Tom kennengelernt hatte, trafen wir uns trotzdem weiterhin regelmäßig. Sie fehlte mir, und ich beschloss, dass es für mein Herz heute in der Stadt noch relativ ungefährlich war. Die Buden standen zwar bereits über die ganze Innenstadt verteilt, aber der Weihnachtsmarkt eröffnete erst morgen.

»Super. Was hältst du davon, wenn wir ins Café Glück–«

»Vergiss es«, unterbrach ich sie. Ins Café Glücklich würde ich nie wieder einen Fuß setzen, denn es war nicht nur Emmas und mein Lieblingscafé, es war auch Toms und meins gewesen.

»Ach, Leni.« Nun war es Emma, die seufzte. »Irgendwann musst du über deinen Schatten springen.«

»Warum? In Heidelberg gibt es Cafés wie Sand am Meer. Ich treffe mich gern mit dir, aber nicht im Glücklich.«

»Na schön. Dann am Bismarckplatz?«

»Ich schreib dir, wann die nächste Bahn fährt.«

Ich stieg aus der Bahn und überquerte die Straße. Emma war schon da, als ich das Kurpfalz Café durch den schweren roten Vorhang betrat. Sie hatte einen Tisch in der Ecke gewählt und sich so hingesetzt, dass ich dem Trubel im Gastraum den Rücken zuwenden konnte. Ich zögerte kurz, als mir nicht nur der Geruch von frisch gerösteten Kaffeebohnen in die Nase stieg, sondern auch ein Hauch von Zimt und gebrannten Mandeln. Außerdem war das Café über und über mit Mistelzweigen, Lichterketten und LED-Sternen dekoriert. Zum Glück lief wenigstens keine Weihnachtsmusik, sonst wäre ich wahrscheinlich sofort wieder gegangen. So steuerte ich auf Emma zu, die aufstand und mich umarmte, als ich sie erreichte.

»Hallo. Wie schön, dass das geklappt hat. Ich freue mich riesig, dich zu sehen.«

»Ich find’s auch schön«, gab ich zu und setzte mich Emma gegenüber. »Hast du schon bestellt?«

»Noch nicht, aber die Saisonkarte ist klasse. Hier, wirf mal einen Blick hinein.« Sie schob das laminierte Heftchen über den Tisch zu mir.

Ich sah nur kurz hinein: Latte macchiato mit geröstetem Mandelaroma, Waffeln mit Pflaumen und Zimt, Kuchen mit Kirschen und Marzipan. Alles viel zu weihnachtlich! Auch wenn es zugegebenermaßen lecker klang und ich mich früher wie eine Ausgehungerte auf das Angebot gestürzt hätte. Ich schob die Karte zurück, was Emma netterweise nicht kommentierte.

»Wie geht es dir?«, fragte sie stattdessen.

»Gut«, log ich, doch sie kannte mich besser und griff nach meiner Hand.

»Kann ich dir irgendwie helfen?«

»Wie denn? Nein, ich muss da allein durch.«

»Du musst da nicht allein durch«, erwiderte sie. »Du hast mich, du hast deine Familie. Wir machen uns Sorgen um dich.«

»Warum? Weil ich immer noch trauere, obwohl es nach zwei Jahren nicht mehr angemessen ist?«

Emma schüttelte den Kopf. »So ein Blödsinn, das hat niemand gesagt.«

»Doch, meine Mutter. Mehr oder weniger zumindest.«

Sie schnaubte. »Ach, deine Mutter. Versteh mich nicht falsch, ich mag sie gern, aber manchmal reagiert sie wenig empathisch.«

»Und das sagst ausgerechnet du. Ich hab dich lieb, Emma, aber hin und wieder benimmst du dich selbst wie die Axt im Wald.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich bin pragmatisch. Das ist ein Unterschied. Und wir machen uns Sorgen, weil du dich abschottest«, kam sie zum eigentlichen Thema zurück.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Das ist nicht wahr, ich bin doch hier.«

»Du schottest dich ab. Wann hast du zum Beispiel deine Schwester das letzte Mal gesehen?«

Marie. Ich hätte wissen müssen, dass sie dahintersteckte. »Sie hat dich auf mich angesetzt, stimmt’s?«

Emma schnaubte. »Niemand hat mich auf dich angesetzt, aber ich will dich nicht anlügen. Marie und ich waren neulich im Kino und haben auch über dich geredet.«

Zu dumm, dass Emma nicht nur mit mir, sondern auch mit meiner Schwester befreundet war. Wenn Marie und ich uns stritten, was vor allem zu Schulzeiten regelmäßig der Fall gewesen war, versuchte Emma jedes Mal zu vermitteln. Sie war ein Einzelkind und hatte sich immer eine Schwester gewünscht; ich hatte sogar eine Zwillingsschwester. Für Emma war das das pure Glück, und auch ich hatte es immer cool gefunden. Doch im Moment …

Obwohl Marie ebenfalls in Heidelberg lebte, hatte ich sie seit ein paar Wochen nicht gesehen. Sie fehlte mir, allerdings konnte ich ihren Anblick momentan einfach nicht ertragen.

»Wie geht es ihr?«, fragte ich. »Ist alles in Ordnung?«

Emma nickte lächelnd. »Sie sieht mittlerweile aus wie eine Marzipankartoffel, aber es steht ihr, und sie fühlt sich mehr als wohl.«

Ich nickte und spürte ein Brennen im Hals. Ich erinnerte mich noch genau daran, wie Tom und ich vor drei Jahren an einem Sonntagmorgen kurz vor Halloween im Bett gelegen hatten.

»Was hältst du eigentlich von Babys?«, hatte er mich gefragt.

»Ich liebe Babys, das weißt du doch. Warum? Hat es bei deiner Schwägerin endlich geklappt?«

Tom zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, du kennst doch meinen Bruder. Stefan redet über so etwas nicht mit mir, da musst du dich schon mit Stefanie unterhalten.«

Stefan und Stefanie. Anfangs hatte ich die ähnlichen Namen für ein Klischee gehalten und erwartete irgendein perfektes Traumpaar. Die beiden hatten sich als furchtbar nett herausgestellt – und sie taten mir schrecklich leid. Am letzten Muttertag, den wir zusammen in einem griechischen Restaurant gefeiert hatten, hatte mir Stefanie verraten, dass sie schon länger versuchten, Eltern zu werden.

»Warum fragst du dann?«

Tom grinste. »Na ja, ich dachte, es wäre vielleicht an der Zeit, dass wir selbst probieren, ein Baby zu bekommen. Ich meine, ich bin sechsunddreißig, du bist zweiunddreißig. Wie lange sollen wir noch warten? Wenn wir Pech haben, klappt es auch bei uns nicht auf Anhieb …«

»Warum sollte es nicht klappen?«, erwiderte ich mit klopfendem Herzen. »Du bist ein Glückskind, Tom Kaiser, schon immer gewesen.«

»Heißt das, du möchtest ein Baby?« Er strahlte mich an.

»Natürlich. Ich will ganz viele Kinder von dir haben, die so aussehen sollen wie du. Du hast völlig recht, du gehst bald auf die vierzig zu, also küss mich endlich.«

Er hatte mich gekitzelt, ich gelacht, und dann hatte er mich endlich geküsst.

Inzwischen war ich fünfunddreißig und weiter davon entfernt, eine Familie zu haben, als jemals zuvor. Das Schicksal schien mich nicht besonders zu mögen.

Auch bei Tom und mir hatte es nicht gleich geklappt, und irgendwann war er heimlich zum Arzt gegangen, um auszuschließen, dass es an ihm lag. Der Arzt hatte, gründlich wie er war, einen kompletten Check-up verordnet und Tom am Ende mitgeteilt, dass es mit seiner Fruchtbarkeit kein Problem gäbe, dafür hätte er bedauerlicherweise etwas anderes gefunden …

»Hallo. Was darf ich Ihnen bringen?«, riss mich der Kellner aus meinen Erinnerungen.

»Hi. Ich hätte gern den Latte mit Mandelaroma und die Waffeln mit Pflaumen und Zimt«, bestellte Emma.

Ich versuchte, die Erinnerung wegzublinzeln, was natürlich nicht funktionierte, daher täuschte ich ein Gähnen vor. »Entschuldigung. Ich nehme bitte einen Cappuccino und ein Stück Nusskuchen, danke.«

»Sehr gern. Möchten Sie vielleicht etwas Zimt in Ihren Cappuccino?«

Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Das ist sehr nett, aber lieber nicht.«

»In Ordnung.« Der Kellner machte sich eine Notiz und ließ uns wieder allein.

»Der steht auf dich«, meinte Emma, als er außer Hörweite war. Ich zuckte nur mit den Schultern. »Ach, Leni, darf ich jetzt nicht einmal mehr so etwas sagen? Warum …?«

»Lass uns bitte über etwas anderes reden«, unterbrach ich sie.

»Na schön. Wie läuft es mit der Arbeit?«

Ich war freie Journalistin und schrieb für einige Frauenmagazine als feste Freie, was bedeutete, dass ich regelmäßig Aufträge bekam. Zum Glück plante diese Branche Monate im Voraus, sodass die Weihnachtsausgaben längst fertig waren. »Gut. Das Valentinstagsheft ist so gut wie druckreif. Willst du wissen, welche Farben nächstes Frühjahr angesagt sind?«

»Danke, verzichte«, erwiderte Emma kopfschüttelnd. »Ich verstehe nicht, wie du Jahr für Jahr diese inhaltlosen Artikel schreiben kannst. Im Prinzip ist es doch immer das Gleiche, nur, dass jetzt meinetwegen Pastellfarben statt Colour Blocking angesagt sind.«

»Heutzutage kann man so gut wie alles tragen.«

Mir machte die Arbeit Spaß, obwohl ich mich deutlich von den meisten Redakteurinnen in diesem Ressort unterschied. Ich rannte nicht jedem Trend hinterher, und ich ging alles andere als regelmäßig zum Friseur. Meine Haare waren seit jeher blond und halblang. Einmal hatte ich es mit einer Kurzhaarfrisur versucht, sie jedoch gleich wieder aufgegeben, weil es mir nicht stand. Zu lang durften meine Haare allerdings auch nicht sein, weil sie dafür zu fein waren. Mein Kleiderschrank wusste nichts von Gucci oder Prada, und ich hasste es, mir die Nägel zu lackieren, obwohl ich es eigentlich ganz hübsch fand. Aber für gewöhnlich schaffte ich es schon am ersten Tag, dass der Lack wieder abblätterte, sodass es schäbig aussah. Worüber Tom sich jedes Mal köstlich amüsiert hatte.

»Wie läuft es bei dir?«, fragte ich. »Viel zu tun?« Emma war Scheidungsanwältin.

»Nicht übermäßig. Du weißt doch, um die Weihnachtszeit herum lassen sich weniger Paare scheiden, auch wenn ich das nicht verstehe. Ich meine, Schwiegermütter sind besonders anstrengend, wenn es um die Zubereitung des Festtagsbratens geht. Darüber solltet ihr mal einen Artikel schreiben: Wie bleibe ich ruhig, wenn sich die Schwiegermutter über die Feiertage ankündigt?«

Ich schmunzelte. »Gute Idee. Ich werd’s dem Chefredakteur morgen vorschlagen, damit die Kolleginnen über die Feiertage Stoff für eine Reportage sammeln können. Für dieses Jahr ist es leider schon zu spät. Du weißt, wir bereiten uns schon wieder auf die Bikinifigur vor.«

»Scheiß drauf, ich will mir erst mal ein bisschen Winterspeck anfuttern«, sagte Emma, als der Kellner zu uns an den Tisch kam.

»Na dann viel Erfolg.«

Emma lachte, und ich musste mitlachen. Sie war, seit ich sie kannte – und das waren inzwischen immerhin fünfundzwanzig Jahre –, rank und schlank. Sie konnte essen, was sie wollte, ohne auch nur ein Gramm zuzunehmen, was echt unfair war. Ich war zwar kein Moppelchen und hatte aus Prinzip etwas gegen Diäten und Kalorienzählen, ein wenig aufpassen musste ich allerdings schon. Dass ich Weihnachten und damit auch all den Köstlichkeiten wie Lebkuchenherzen oder Dominosteinen aus dem Weg ging, war in dieser Hinsicht tatsächlich ein Vorteil.

»So, der Latte macchiato und die Waffeln für Sie«, sagte der Kellner und servierte zuerst Emma. »Und einmal der Cappuccino und der Nusskuchen für die hübsche Frau.«

Er zwinkerte mir zu, und zum ersten Mal seit Langem sah ich nicht beschämt weg. Vielleicht wurde ich ein bisschen rot, aber ich hielt seinem Blick stand. Er hatte unglaublich schöne Augen – eine Mischung aus grün und braun – und sah insgesamt ziemlich gut aus, wenn auch ein wenig jung.

»Oh, vielen Dank. Das ist nett.«

»Es entspricht der Wahrheit. Ich bin Lars.« Er reichte mir die Hand, und ich ergriff sie.

»Leni.«

»Was für ein wunderschöner Name. Sagen Sie …«

In diesem Moment ertönte das weltberühmte Intro von Last Christmas, und jemand schaltete die Anlage lauter. Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen schossen, und sprang so abrupt von meinem Stuhl auf, dass er fast umkippte und ich gegen den Tisch stieß, wo der Cappuccino überschwappte. Ohne ein weiteres Wort griff ich nach meinem Mantel und meiner Tasche und flüchtete Richtung Ausgang.

»Hab ich was Falsches gesagt?«, hörte ich Lars erschrocken fragen.

»Scheiße. Könnte ich bitte die Rechnung haben?« Das war Emma.

Als ich durch den Vorhang an die frische Luft stürzte, schlug mir Kälte entgegen, und es schneite heftiger. Inzwischen war es dunkel, und obwohl der Weihnachtsmarkt noch nicht eröffnet war, leuchtete überall die Weihnachtsbeleuchtung. Wütend wischte ich mir die Tränen aus den Augen.

Wenn ich mal für ein paar Augenblicke tatsächlich nicht an das denken musste, was passiert war, genügte irgendeine Kleinigkeit, die die Erinnerung zurück und mich aus der Fassung brachte: ein Lied, ein Geruch, ein Ort. So ging es jedes Mal, und zur Adventszeit war es besonders schlimm. Genau deshalb ging ich ihr so gut wie eben möglich aus dem Weg.

Kapitel 2

Das Erlebnis im Kurpfalz Café hing mir noch den restlichen Tag lang nach. Auf Außenstehende mochte meine Reaktion hysterisch wirken, aber ich konnte nichts daran ändern – Musik rief seit jeher heftige Emotionen in mir hervor. Wenn ich schlechte Laune hatte, brauchte ich bloß Walking on Sunshine laufen zu lassen, damit es mir besser ging. Andersherum funktionierte es mindestens genauso effektiv. Die ersten Klänge von Whitney Houstons I will always love you, und schon rollten die Tränen. Last Christmas war besonders schlimm. Es reichte bereits, an das Lied zu denken, damit die Erinnerungen auf mich einprasselten:

Mein erstes Aufeinandertreffen mit Tom an der großen Weihnachtspyramide auf dem Marktplatz. Tom und ich auf der Eisbahn am Karlsplatz, wo er mir den Antrag machte. Tom und ich beim Plätzchenbacken. Tom und ich tanzend, während wir eigentlich den Weihnachtsbaum schmücken sollten. Und dann ich allein, wie ich den Gang der Intensivstation entlanghastete, um Toms letzten Atemzug zu begleiten. Jedes Mal dudelte Last Christmas im Hintergrund.

Obwohl ich dieses Lied inzwischen hasste, verkrümelte ich mich am Abend mit einer Familienpackung Taschentücher und einer Wärmflasche ins Bett und hörte es mir eine halbe Stunde lang in Dauerschleife an in der Hoffnung, mich nach dieser quasi Konfrontationstherapie besser zu fühlen. Fehlanzeige. Danach ging es mir nur noch schlechter.

Ich weinte mich in den Schlaf und träumte von Tom, und als ich am nächsten Morgen aufwachte, fühlten sich die nächtlichen Bilder einen Moment lang so real an, dass ich vor Verzweiflung fast geschrien hätte. Wann wurde es endlich besser? Ich ertrug diesen Schmerz nicht mehr. Er war schlimmer als alles, was ich jemals hatte ertragen müssen, und würde mir über kurz oder lang den Verstand rauben.

Während ich am Waschbecken im Bad stand und mir kaltes Wasser ins Gesicht spritzte, kam mir ein Gedanke, der mir nicht neu war, den ich jedoch bislang nicht zugelassen hatte: Könnte ich doch nur aufhören, immerzu an die Vergangenheit zu denken.

»Hallo, Leni, wie geht es dir?«, fragte meine Schwester am anderen Ende der Leitung vorsichtig.

»Hallo, Marie. Ganz okay, danke.« Ich schloss die Augen. Jetzt log ich schon meine Schwester an … Ich wusste, dass sie es gut meinten, und dennoch: Wenn meine Familie oder meine Freunde versuchten, mir zu helfen, ging es mir danach umso schlechter, weil sie mir das Gefühl gaben, dass ich übertrieb und endlich lernen sollte, mein Leben ohne Tom zu leben.

»Wie ist es bei dir?«, fragte ich, um von mir abzulenken. »Alles okay mit dem Baby?«

Marie ging nicht darauf ein. »Bist du sicher?«, fragte sie stattdessen.

Seufzend klappte ich den Computer zu. Ein Wunder, dass ich es überhaupt geschafft hatte, den Artikel über romantische Urlaube in den Bergen zu Ende zu schreiben. »Emma hat dir alles erzählt, oder?«

»Schon, aber sei ihr bitte nicht böse. Sie hat sich nur …«

»… Sorgen gemacht, ich weiß.« Geräuschvoll atmete ich aus. »Gebt mir noch ein bisschen Zeit. Ich komme darüber hinweg.« Irgendwie. Irgendwann. Zumindest hoffte ich das.

»Sei mir nicht böse, Leni, aber ich habe das Gefühl, dass es schlimmer wird statt besser. Du schottest dich ab, kommst kaum noch zu den Familienessen. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie du aussiehst.«

»Dann schau in den Spiegel«, erwiderte ich. Wir waren eineiige Zwillinge und sahen uns zum Verwechseln ähnlich. Wir hatten die gleiche Figur, die gleiche Haarfarbe, ja sogar die gleiche Frisur. Nur ihr Babybauch unterschied uns momentan voneinander, und Marie kleidete sich zugegebenermaßen etwas hipper als ich, weshalb die meisten dachten, sie sei diejenige von uns beiden, die als freie Journalistin für Frauenmagazine schrieb. Meine Schwester hatte sich jedoch noch nie für Journalismus interessiert und arbeitete lieber mit den Händen. Sie hatte eine Ausbildung zur Floristin gemacht und besaß ihren eigenen Blumenladen. Auch das unterschied uns voneinander: Maries grünen Daumen suchte man bei mir vergebens. Ich hatte es sogar geschafft, einen Kaktus zu töten.

»Das ist mein Ernst«, sagte Marie. »Ich habe wirklich Angst, dass du in eine Depression abrutschst und dann nicht mehr herauskommst.« Sie holte tief Luft. »Bitte, Leni, lass dir helfen.«

»Du meinst eine Therapie?« Ich stand auf und verließ das Arbeitszimmer, ging langsam hinüber zum Wohnzimmer und setzte mich aufs Sofa. Der Gedanke war mir nicht fremd, ich hatte bereits selbst darüber nachgedacht, mich allerdings dagegen entschieden. Für die meisten Menschen mochte eine Therapie eine gute Sache sein, aber nicht für mich. Allein bei dem Gedanken, stundenlang über Tom reden zu müssen, begann ich am ganzen Körper zu zittern. Ich hatte regelrecht Angst davor und war überzeugt davon, dass mich Gespräche über meinen Ehemann in ein noch tieferes Loch stürzen würden, aus dem es erst recht kein Entrinnen mehr gab. Nein, Aufarbeitung im Dialog war keine Option. Es musste einen anderen Weg geben, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie er aussehen könnte.

»Denk einfach mal darüber nach, okay?«, sagte Marie, nachdem ich ihren Vorschlag mit Schweigen beantwortet hatte. »Finn hat einen Freund, der ist zufällig Therapeut. Da müsstest du nicht erst lange auf einen Termin warten, und er würde ausnahmsweise sogar zu dir nach Hause kommen, wenn dir das lieber wäre.«

»Ich denke darüber nach«, log ich, denn ich hatte gewiss nicht vor, mit einem Freund meines Schwagers über meinen Verlust zu reden. Ich mochte Finn, und bestimmt war sein Therapeutenfreund ein netter Typ, aber ich wollte nicht, dass sie beim gemeinsamen Abendessen über mich sprachen. Schweigepflicht hin oder her.

»In Ordnung. Sag mal …« Marie klang zögerlich.

»Ja?«

»Am Montag steht der letzte Ultraschalltermin an. Möchtest du mich begleiten? Ich hätte dich gern dabei.«

»Ach, richtig«, brachte ich mühsam heraus. Ich fühlte mich wie gelähmt.

»Du bist doch die Patentante«, fuhr Marie fort. »Und du bist meine Zwillingsschwester und ein Teil von mir. Ich wünsche mir so sehr, dass du auch hiervon Teil bist.«

Die Tränen waren ihrer Stimme deutlich anzuhören, und auch mir liefen sie über die Wangen.

»Ich weiß«, erwiderte ich leise.

»Es bedeutet mir sehr viel, Leni.«

»Ich weiß«, wiederholte ich. Es tat mir leid, dass meine Schwester enttäuscht von mir war. An ihrer Stelle wäre es mir nicht anders gegangen, ich hätte sie ebenso gern dabeigehabt wie sie mich.

»Der Termin ist um Viertel vor neun. Ich werde vorher beim Bäcker nebenan etwas frühstücken«, sagte sie nach einer Weile. »Vielleicht magst du ja kommen, ich würde mich jedenfalls sehr darüber freuen.«

Ich schluckte. »Ich versuche, es einzurichten, okay?« Noch während ich den Satz formulierte, wusste ich, dass ich sie versetzen würde. Und mit Sicherheit wusste Marie es auch.

Ich schaute aus dem Fenster. Draußen war es nasskalt und dunkel. Das, was vom Himmel fiel, waren keine flauschigen Flocken, sondern Schneeregen. Es half jedoch nichts, ich musste noch mal raus. Mein Kühlschrank war so gut wie leer, und ich hatte nicht einmal genügend Bargeld, um mir eine Pizza zu bestellen. Die vier Euro, die ich aus meinem Portemonnaie schüttelte, reichten zwar gerade so für eine kleine Pizza Feta, doch unter zehn Euro lieferte der Service nicht. Mit Tom …

Ich verbot mir, an ihn zu denken, zog die gefütterten Winterstiefel an und die dicke Jacke, wickelte mir den Schal mehrfach um den Hals, setzte mir die Mütze auf und schlüpfte in die Handschuhe. Gott, wie ich die warme Jahreszeit vermisste. Da reichte ein Paar Schuhe, um das Haus verlassen zu können, während man im Winter mindestens fünf Minuten fürs Anziehen einplanen musste. Früher hatte mich das nie gestört, da hatte ich es sogar ganz kuschelig gefunden, dick eingemummelt durch die verschneite Nachbarschaft zu spazieren und mir die Weihnachtsdeko der anderen anzuschauen. Tom an meiner Seite …

Ich schnappte mir meine Tasche und den Schlüssel und lief die Treppe nach unten, kam allerdings nur einen Stock weit, denn dort öffnete sich just die Wohnungstür, und Erik trat heraus. Jener Erik, der auf der Intensivstation in der Uniklinik arbeitete und Tom beim Sterben begleitet hatte.

Als er im Sommer in dasselbe Haus gezogen war, in dem auch ich wohnte, nur ein Stockwerk tiefer, hatte ich es nicht glauben können. Warum ausgerechnet mein Haus? Er war einer der freundlichsten Menschen, die ich kannte, und trotzdem stellte ich mir jedes Mal, wenn ich ihm zufällig begegnete – was sich leider kaum vermeiden ließ –, diese Frage. Sobald ich ihn sah, kamen die Erinnerungen hoch: Tom, wie er um sein Leben kämpfte und schließlich verlor.

Trotzdem blieb ich stehen und lächelte zurück, als Erik mir zuwinkte. Tatsächlich hatte ich schon mehr als einmal überlegt, mir eine neue Wohnung zu suchen. Es war ja nicht nur er. Die Wohnung, die Nachbarschaft, der gesamte Stadtteil erinnerten mich an Tom. Das Problem war jedoch, dass überall in Heidelberg Erinnerungen an meinen Ehemann in mir auflebten. Es würde nicht reichen, in einen anderen Stadtteil zu ziehen, ich würde Heidelberg verlassen müssen und meine komplette Garderobe austauschen, denn auch jedes Kleidungsstück war mit Erinnerungen an ihn behaftet. Und ich fürchtete, selbst mit einer kompletten Neuausstattung die Geister der Vergangenheit nicht abschütteln zu können. Außerdem liebte ich Heidelberg, Wieblingen und meine Wohnung und würde es wahrscheinlich irgendwann bereuen, alles hinter mir gelassen zu haben.

»Hallo, Leni. Wie geht es dir?«

Immer die gleiche Frage und immer die gleiche Lüge. »Gut, und wie ist es bei dir?«

»Ich kann mich nicht beklagen, ich liebe die Adventszeit. Die Lichter, die gemütlichen Adventssonntage, der Baumkuchen.« Erik lachte. »Zu dem kann ich einfach nicht Nein sagen, was man mir im Januar leider jedes Jahr aufs Neue ansieht.«

»Ach was, das glaube ich nicht.«

»O doch.« Er sah mich an und wartete offensichtlich darauf, dass ich etwas sagte.

Ich wollte ihn fragen, was die Arbeit machte, ließ es jedoch bleiben und biss mir stattdessen auf die Zunge, weil ich seine Antwort gar nicht hören wollte. Ich überlegte, was ich stattdessen fragen konnte, aber mir fiel einfach nichts ein. »Ähm, ich muss los, bevor die Supermärkte schließen. Bis dann …« Ich wollte die Treppe nach unten hasten, als Erik mich zurückhielt.

»Leni, warte mal. Hast du vielleicht Lust, mich auf den Weihnachtsmarkt zu begleiten? Ich weiß, das Wetter ist nicht das beste, aber ich würde dich mit Glühwein und Crêpe entschädigen. In spätestens einer Stunde sollen die Schauer vorbei sein.«

Er klang beiläufig, das tat er immer, wenn er mich fragte, ob ich mit ihm ins Kino gehen oder den neuen Italiener ausprobieren wollte. Ich konnte nicht einschätzen, ob er lediglich Anschluss suchte oder ob mehr dahintersteckte. Mochte er mich, obwohl wir uns kaum kannten? So oder so, ich gab ihm jedes Mal einen Korb, auch jetzt. Ich war noch nicht bereit, etwas Neues einzugehen, und auch wenn Erik gut aussah und mir sympathisch war, kam er schon dreimal nicht infrage. Außerdem war es Samstagabend, das erste Adventswochenende, und auf dem Heidelberger Weihnachtsmarkt würde die Hölle los sein. Dafür war ich genauso wenig bereit.

»Das ist nett von dir, aber ich bin nicht so der Weihnachtstyp.«

»Wie kann man denn …? Oh.« Er schien zu verstehen und unterbrach sich selbst. Sein Gesicht mit dem freundlichen Lächeln wurde ernst. »Tut mir leid, daran habe ich nicht gedacht.«

Dachte er überhaupt jemals an das, was passiert war? Wahrscheinlich war Tom für ihn lediglich ein Patient wie jeder andere. Immerhin arbeitete er auf der Intensivstation und sah regelmäßig Menschen sterben. Wenn er sich das jedes Mal zu Herzen nähme, hätte ihn sein Job längst zermürbt. Trotzdem machte mich der Gedanke wütend.

»Alles gut«, presste ich hervor. »Du, mir fällt gerade ein, dass ich was vergessen habe. Viel Spaß auf dem Weihnachtsmarkt.« Ich machte auf dem Absatz kehrt und stürmte die Treppe nach oben, zurück in den Schutz meiner Wohnung. Mir war der Appetit vergangen.

Ich warf einen Blick auf den Wecker: kurz nach sieben. Normalerweise stand ich nie vor halb acht auf, denn vor halb neun brauchte ich mich gar nicht an den Schreibtisch zu setzen. Frühmorgens war ich einfach nicht kreativ, und heute wartete auch noch ein Artikel über die schönste Frühlingsdekoration auf mich. Ich hatte keine Ahnung, was ich schreiben sollte.

Ich stieg aus dem Bett in meine Plüschpantoffeln und ging hinüber zum Fenster. Draußen war es noch dunkel, und die Weihnachtsbeleuchtung der Nachbarn schien zu mir herüber. Den ersten Advent hatte ich irgendwie hinter mich gebracht, morgen startete der Dezember. Noch etwa dreieinhalb Wochen, bis ich den ganzen Weihnachtstrubel für ein weiteres Jahr überstanden hatte.

Ende der Leseprobe