Schneeflocken und Plätzchenduft - Holly Baker - E-Book

Schneeflocken und Plätzchenduft E-Book

Holly Baker

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Beschreibung

An Weihnachten schlagen Herzen höher Heidelberg, 1996. Chrissie hilft in der Adventszeit ihrer Tante im Café Neckarplätzchen mit dem jährlichen Adventskalender: Jeden Tag gibt es eine neue Plätzchensorte! Als aber ihre ehemalige beste Freundin Ellen und deren Mann Mark, Chrissies große Liebe, plötzlich vor ihr stehen, reißen alte Wunden auf. Denn der Verrat der beiden schmerzt noch immer – besonders, wenn man am Fest der Liebe allein ist. Doch Ellen möchte sich versöhnen. Mit jeder Schneeflocke und jeder Plätzchensorte öffnet sich Chrissies Herz ein bisschen mehr, bis nicht nur Vergebung darin Platz finden kann.

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© Piper Verlag GmbH, München 2022

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: DaveLongMedia / getty images und

FinePic®, München

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe

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Text bei Büchern ohne inhaltsrelevante Abbildungen:

Für Christian, Niklas und Betty.

Danke, dass es euch gibt!

Und für Anna.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Kapitel 1

Mittwoch, 27. November 1996

Kapitel 2

Samstag, 30. November 1996

Kapitel 3

Donnerstag, 23. Juni 1977

Kapitel 4

Sonntag, 1. Dezember 1996

Kapitel 5

Samstag, 25. Juni 1977

Kapitel 6

Sonntag, 1. Dezember 1996

Kapitel 7

Dienstag, 12. Juli 1977

Kapitel 8

Montag, 2. Dezember 1996

Kapitel 9

Mittwoch, 13. Juli 1977

Kapitel 10

Dienstag, 3. Dezember 1996

Kapitel 11

Sonntag, 24. Juli 1977

Kapitel 12

Dienstag, 3. Dezember 1996

Kapitel 13

Sonntag, 7. August 1977

Kapitel 14

Sonntag, 8. Dezember 1996

Kapitel 15

Freitag, 12. August 1977

Dienstag, 16. August 1977

Kapitel 16

Mittwoch, 11. Dezember 1996

Kapitel 17

Sonntag, 21. August 1977

Mittwoch, 26. Oktober 1977

Kapitel 18

Mittwoch, 11. Dezember 1996

Donnerstag, 12. Dezember 1996

Kapitel 19

Mittwoch, 30. November 1977

Kapitel 20

Sonntag, 15. Dezember 1996

Kapitel 21

Freitag, 16. Dezember 1977

Freitag, 23. Dezember 1977

Kapitel 22

Sonntag, 15. Dezember 1996

Kapitel 23

Montag, 16. Dezember 1996

Kapitel 24

Mittwoch, 24. Dezember 1997

Rezepte

Anisstangen

Marzipanstangen

Erdnusskekse

Pudding-Kokos-Pralinen

Dinkel-Spekulatius

Spritzgebäck

Nussplätzchen

Aprikosensterne

Stollenkonfekt

Zimtschnecken

Lebkuchenkipferl

Dank

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Kapitel 1

Mittwoch, 27. November 1996

Der Mann neben mir summte leise Jingle Bells, und das weihnachtlich beleuchtete Hamburg glitt an den Fenstern der Straßenbahn vorbei. Schmunzelnd genoss ich den Anblick, als mir mit einem Mal heiß wurde. Punkte tanzten vor meinen Augen, und ich umklammerte die Haltestange vor mir noch fester. O nein, nicht schon wieder. Das passierte leider regelmäßig, wenn ich mich dick eingemummelt zu lange in überhitzten Räumen aufhielt. Warum hatte ich nicht das Auto genommen? Wobei die Antwort klar war, denn wer fuhr schon gern bei Glatteis mit dem Auto? Außerdem war ich grundsätzlich gern mit der Bahn unterwegs, denn da konnte man wunderbar seinen Gedanken freien Lauf lassen.

Ich lockerte den selbst gestrickten Schal um meinen Hals, den ich letztes Weihnachten von meiner Tante geschenkt bekommen hatte, und öffnete die obersten beiden Knöpfe meines Mantels.

Um mich von meinem Kreislaufproblem abzulenken, ließ ich meinen Blick über die bunt gemischte Menge schweifen, die sich mit mir in die Straßenbahn gequetscht hatte – junge wie alte Menschen, Geschäftsleute wie Teenager, die nach der Schule noch einen Abstecher zu einem Freund oder einer Freundin gemacht hatten, bevor sie nun mit ihren Eastpaks und in viel zu weiten Hosen den Heimweg antraten.

Und dann gab es da noch die Weihnachtseinkäufer, die jetzt schon die ersten Geschenke ergattert hatten, dabei war es gerade einmal Mittwoch vor dem ersten Advent. Leider gehörte ich selbst zu denjenigen, die sich zwar das ganze Jahr über Gedanken über das perfekte Präsent machten, dieses aber trotzdem erst kurz vor Heiligabend besorgten. Jedes Jahr nahm ich mir aufs Neue vor, die Geschenke früher zu kaufen – viele waren es ohnehin nicht –, doch ich scheiterte immer wieder an meinem Vorhaben. Aber vielleicht klappte es ja dieses Weihnachten.

Unvermittelt kam die Straßenbahn zum Stehen, und gleich darauf öffneten sich die Türen. Zwei Männer und eine Frau quetschten sich an mir vorbei, als mir klar wurde, dass das auch meine Haltestation war. Schnell stieg ich ebenfalls aus und geriet auf einer zugefrorenen Stelle auf dem Asphalt, die ich nicht gesehen hatte, ins Schlingern. Ein Mann mit dunklem Haar, das hier und da grau meliert war, fasste mich am Arm und bewahrte mich somit vor einem Sturz.

»Alles okay?«, fragte er und schenkte mir ein Lächeln, das reif für die Zahnpastawerbung war.

»Ja, äh, klar. Vielen Dank fürs Auffangen.«

Kurz erwiderte ich sein Lächeln, bevor ich meinen Mantel zuknöpfte und den Schal wieder enger um meinen Hals zog. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, dass der hilfsbereite Mann seine Aufmerksamkeit nach wie vor auf mich gerichtet hatte, doch als sich die Türen der Straßenbahn schließen wollten, hielt er schnell seinen Arm dazwischen und sprang hinein. Bedauernd zuckte er mit den Schultern, während sich die Bahn langsam in Bewegung setzte.

Ups.

Für den Bruchteil einer Sekunde verspürte ich selbst so etwas wie Bedauern, weil ich den Flirtversuch des Mannes nicht erkannt hatte, doch ich drängte es ebenso wie die Resignation zurück, die sich wie so oft, wenn es um das Thema Männer ging, in mir ausbreiten wollte. Was soll’s. Auf diese Weise hatte ich uns immerhin eine Enttäuschung erspart, denn darauf wäre es hinausgelaufen. So war es leider immer. Es war eben niemand wie er.

Entschlossen stapfte ich los. Kalte Luft und Nieselregen umhüllten mich, fühlten sich an wie tausend Nadelstiche auf meinen Wangen, und mein Atem verwandelte sich in sichtbare Wölkchen. Ich beschleunigte meine Schritte. Wenn es wenigstens schneien würde, kalt genug war es, doch Schnee in Hamburg war nicht nur zu Weihnachten selten. Aber wer weiß, vielleicht hatten wir ja dieses Jahr Glück, und der Himmel beschenkte uns doch noch mit dicken weißen Flocken, so wie früher in Heidelberg. Heidelberg … dort war vieles anders gewesen, doch ich schüttelte den Kopf, um nicht weiter daran zu denken. Das war lange her, fühlte sich beinahe an wie ein anderes Leben, auch wenn ich die Auswirkungen wie ein Nachbeben bis heute zu spüren bekam.

Das wilhelminische Haus, in dem meine Altbauwohnung lag, kam in Sicht, und vor der Haustür erspähte ich eine Frau mit weißem Lockenkopf, die, egal wie kalt oder warm es draußen war, stets lange Wollröcke trug: meine Vermieterin, Inge Lüdtke. Sie war knapp einen Meter sechzig groß, Anfang achtzig und hatte nur einen Makel: Fast jeden Abend sah sie in viel zu hoher Lautstärke fern, da sie ihr Hörgerät ausschaltete, sobald sie den Fernseher einschaltete. Dafür hatte sie ein großes Herz, immer ein offenes Ohr, und sie buk – abgesehen von meiner Tante Karla – den besten Kuchen, den ich je gegessen hatte. Jeden Sonntag stellte sich meine Vermieterin in die Küche und warf den Backofen an, und jeden Sonntagnachmittag stand dann ein Teller mit saftigem Apfel-, Pflaumen- oder Kirschkuchen vor meiner Tür. Gab es keinen Kuchen, wusste ich sofort, was los war. Dann machte Frau Lüdtke das Rheuma mal wieder zu schaffen.

Auch heute schien sie darunter zu leiden. Sie fummelte schon seit einer gefühlten Ewigkeit an dem Türschloss herum, und nun rutschte ihr der Schlüssel auch noch aus den steifen Fingern und landete auf dem Boden. Ich eilte zu ihr.

»Warten Sie, ich helfe Ihnen«, rief ich, bevor sie sich umständlich danach bücken konnte.

Sie legte eine Hand auf ihr Herz und blickte in meine Richtung. »Ach, Frau Willert. Vielen Dank, das ist sehr lieb von Ihnen.«

Sie machte mir Platz. Ich hob den Schlüsselbund auf, an dem mindestens fünfzehn Schlüssel und noch mal halb so viele Anhänger baumelten, und fand schnell den Haustürschlüssel, da er mit einer roten Kappe gekennzeichnet war. Nachdem ich aufgeschlossen hatte, griff ich nach der Einkaufstasche, die auf dem Boden stand, und ließ Frau Lüdtke den Vortritt.

»Warum sagen Sie denn nicht Bescheid, wenn Sie etwas brauchen?« Meine Stimme klang gewollt vorwurfsvoll, während ich auf die Tasche zeigte und dann den richtigen Schlüssel für die Wohnungstür suchte, auf dem eine grüne Kappe steckte.

»Ach, na ja. Wegen ein paar Backzutaten jage ich Sie doch nicht bei dem Wetter vor die Haustür. Außerdem weiß ich ja, dass Sie sehr beschäftigt sind.«

»Für Sie nehme ich mir immer Zeit«, erwiderte ich mit einem Lächeln, dabei hatte sie nicht ganz unrecht.

Kurz bevor die Adventszeit startete, hatte ich immer mehr Aufträge als sonst, weil sich mein Auftraggeber bei seinen Kunden bedanken oder besondere Aktionen zur Weihnachtszeit machen wollte. Ich bastelte die entsprechenden Grafiken dafür oder übernahm die Kalligrafie. Die Kunst des schönen Schreibens mochte ich am liebsten, auch wenn das mein damaliger Deutschlehrer sicher nie für möglich gehalten hätte, und zu meiner Freude wurde dieser Teil meiner Arbeit immer wichtiger. Und das Beste daran war, dass ich es überall machen konnte. Im Sommer hatte ich oft mit meinem Skizzenblock im Hayns Park gesessen, Kinder beim Spielen und Teenager beim Knutschen beobachtet und mich vom Leben inspirieren lassen.

Im Spätherbst und Winter war das freilich keine Option, weshalb ich oft tagelang in meiner Wohnung vor dem Computer hockte – es sei denn, ich hatte wie heute einen Kundentermin vor Ort, oder die regelmäßige Verabredung mit meinem Onkel Manfred stand an. Einmal im Monat traf ich mich sonntagmorgens mit dem Bruder meines Vaters auf dem Altonaer Fischmarkt, und dann bummelten wir über den Markt und an der Elbe entlang, um anschließend noch zusammen in einem Café oder Restaurant einzukehren.

So oder so tat ein bisschen Ablenkung von der vielen Arbeit im Spätherbst ganz gut, und sei es nur, um schnell Besorgungen für meine Vermieterin zu erledigen. Und tatsächlich wurde die Arbeit auch allmählich wieder überschaubar, denn bis Weihnachten war es nicht mehr allzu lange hin.

»Melden Sie sich beim nächsten Mal gerne bei mir. In meinem Job schadet es nie, mal unter Leute zu kommen, ich muss mich bei schlechtem Wetter nur manchmal daran erinnern.«

»Ähm, Frau Willert? Haben Sie noch einen Moment?«, fragte meine Vermieterin, als ich ihr den Schlüsselbund reichte und Anstalten machte, die Treppe zu meiner Wohnung hochzugehen.

Ich unterdrückte ein Stirnrunzeln, denn sie klang ernst und nicht so, als wäre ihr einfach nur nach ein wenig Gesellschaft zumute. »Natürlich. Was kann ich für Sie tun?«

»Lassen Sie mich erst mal was zu trinken holen. Kaffee oder Tee?«

Zehn Minuten später saßen wir uns in ihrem Wohnzimmer gegenüber; sie auf dem Sessel, in dem sie zwischen all den Kissen mit Blümchendruck fast versank, ich auf dem Sofa. Auf dem Tisch in der Mitte standen zwischen unzähligen Teelichthaltern zwei Tassen dampfender Tee, der herrlich nach Zimt roch.

Für gewöhnlich hatte Frau Lüdtke keinen großen Hang zu Dekoartikeln, sie bezeichnete diese gern als Staubfänger. Zur Adventszeit ließ sie sich jedoch von ihrem Sohn die Kisten mit der Weihnachtsdeko aus dem Keller holen, und dann verteilten sich überall in ihrer Wohnung Engel, Weihnachtsmänner, Rentiere und anderer Schmuck. Je kitschiger und skurriler, desto besser.

Ich riss meine Aufmerksamkeit von den drei angetrunkenen Keramikweihnachtsmännern auf dem Sideboard los und richtete sie stattdessen auf die graue Katze, die in der Tür saß und mich misstrauisch beäugte, als wolle sie mich jede Sekunde anspringen und überlege nur, wie sie das am besten anstellen sollte, ohne von ihrem Frauchen Ärger zu bekommen. Bisher hatte sie nie viel Notiz von mir genommen, doch nun kam sie plötzlich zu mir und sprang ohne Vorwarnung auf meinen Schoß. Ich zuckte zusammen und hob schützend die Hände vor mein Gesicht, doch die Katze rollte sich auf meinen Beinen zusammen und schnurrte leise vor sich hin. Zögerlich strich ich ihr übers Fell, und das Schnurren wurde lauter. Ich wandte mich wieder meiner Vermieterin zu, die noch kleiner als sonst wirkte. Das ungute Gefühl in meinem Bauch verstärkte sich. Was auch immer Frau Lüdtke mir zu sagen hatte – es würde garantiert nichts Gutes sein.

»Was liegt Ihnen denn auf dem Herzen?«, fragte ich, als sie sich fast gleichzeitig räusperte.

»Nun, Sie wissen ja, dass ich im Frühling dreiundachtzig werde und mein Rheuma immer schlimmer wird. Das geht mir alles einfach nicht mehr so leicht von der Hand, und mein ältester Sohn, der Franz, ist auch nicht mehr der Jüngste. Er hatte bereits einen Herzinfarkt und möchte das Leben jetzt etwas ruhiger angehen. Außerdem hat er ja das schöne Haus in Blankenese.« Sie griff nach ihrer Tasse mit Rosenmuster und pustete kräftig hinein, bevor sie von dem Tee schlürfte. »Im Sommer, wenn der Franz in den Vorruhestand geht, kommt das vierte Enkelkind. Können Sie das glauben? Dann werde ich erneut Uroma. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das noch erlebe. Meine älteste Enkelin hat mit der Kinderplanung abgeschlossen, die mittlere möchte keine Kinder haben, und das Nesthäkchen ist gerade einmal dreiundzwanzig. Das ist doch heutzutage kein Alter. Früher, ja früher gehörte man mit dreiundzwanzig fast schon zu den Spätgebärenden, aber heute lassen sich die Frauen ja viel mehr Zeit mit der Familienplanung, auch wenn das nicht immer die beste Entscheidung ist. Ich meine, die Biologie lässt sich nicht überlisten, nicht wahr?«

Sie trank einen weiteren Schluck Tee und räusperte sich erneut, als sie mich ansah. Offenbar standen mir meine Gefühle ins Gesicht geschrieben.

»Entschuldigen Sie, Frau Willert, verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Es steht mir nicht zu, über andere zu urteilen. Oftmals hat das ja auch alles seine Gründe, und jeder kann seine eigenen Entscheidungen treffen.«

Richtig, wollte ich sagen. Nicht immer sind die Umstände so, wie man sie gerne hätte. Manchmal hat es berufliche Gründe, und manchmal fehlt auch einfach der passende Mann. Häufiger, als man denkt, ist es keine bewusste Entscheidung, das Kinderkriegen so lange aufzuschieben. Doch ich schluckte die Worte hinunter und zwang mich stattdessen zu einem Lächeln. Meine Vermieterin meinte es nicht böse, und sie konnte schließlich nicht wissen, warum ich mit sechsunddreißig noch Single und kinderlos war. So vertraut waren wir dann eben doch nicht miteinander.

»Machen Sie sich keine Gedanken, und herzlichen Glückwunsch zum vierten Urenkel. Das ist großartig«, hörte ich mich sagen, während sich meine Fingernägel schmerzhaft in meine Handflächen bohrten.

Ein bitterer Geschmack breitete sich in meinem Mund aus. Ich hatte ihn längst gefunden gehabt, den Mann, mit dem ich mein Leben teilen wollte. Zwar war ich damals recht jung, und doch war ich mir dessen zu einhundert Prozent sicher gewesen. Er war einfach perfekt. Bis heute konnte ich nicht aufhören, an ihn zu denken, dabei war das mit uns inzwischen fast zwanzig Jahre her. Jeder Mann, der seitdem versuchte, sich in mein Herz zu stehlen, musste unweigerlich scheitern, weil ich ihn mit ihm verglich. Und gegen ihn kam keiner an.

»Vielen Dank, Frau Willert. Und es tut mir wirklich leid. Ich habe Sie als Mieterin stets geschätzt, das wissen Sie.«

Frau Lüdtkes Worte katapultierten mich jäh aus der Vergangenheit zurück in die Gegenwart. Ich richtete mich auf, was die Katze nicht im Geringsten störte. »Bitte was?«

Sie setzte eine schuldbewusste Miene auf. »Die Entscheidung ist mir nicht leichtgefallen, aber sehen Sie, wenn weder der Franz noch mein Jüngster, der Walter, Interesse hat, habe ich keine andere Wahl.«

Sie redete wirr, tat so, als hätte sie all die Fakten mir gegenüber schon erwähnt. Und doch ergab das alles einen Sinn. Punkte tanzten erneut vor meinen Augen, Hitze durchfuhr mich. »Sie wollen das Haus verkaufen?«

»Vermutlich bleibt mir nichts anderes übrig.« Entschuldigend zuckte sie mit den Schultern. »Der Franz hat doch das schöne Haus in Blankenese. Ich habe schließlich zugestimmt, zu ihm zu ziehen, denn das Haus im Treppenviertel ist ausreichend für uns alle und macht genug Arbeit. Zwar fällt es mir nicht leicht, meine Selbstständigkeit aufzugeben, aber ich bin froh, dass Franz mich zu sich holt und nicht in ein Heim stecken will. Dort hätten mich keine zehn Pferde hinbekommen.«

Abwesend streichelte ich die Katze und nickte. Das konnte ich sogar verstehen – besser, als sie vermutlich annahm. Wo würde ich im Alter einmal landen? Vielleicht befand ich mich derzeit in den besten Jahren meines Lebens, aber was das Kinderkriegen anging, wurde die Zeit allmählich knapp, da brauchte ich mir nichts vorzumachen. Und ohne Kinder war mein Weg vorgezeichnet – ich würde einsam und verlassen in einem Pflegeheim enden, und mich würde vermutlich nicht mal jemand besuchen kommen oder sonntags zum Kuchenessen abholen.

Kopfschüttelnd holte ich mich zurück in die Gegenwart, denn das war nicht der richtige Augenblick, um darüber nachzudenken, und außerdem hatte ich es satt, dass meine Gedanken ständig um ein und dasselbe Thema kreisten. Ich konnte doch nichts daran ändern, sofern ich mich nicht künstlich befruchten ließ, und dazu war ich trotz allem noch nicht bereit. Es erschien mir erbärmlich, und was bitte sollte ich meinem Kind sagen, wenn es eines Tages nach seinem Vater fragte? Du bist im Reagenzglas entstanden? Nein, so emanzipiert war ich dann doch nicht.

»Bis wann muss ich aus der Wohnung raus sein?«, fragte ich geschäftsmäßig.

»Immer langsam mit den jungen Pferden.« Frau Lüdtke hievte sich aus ihrem Sessel und ging mit ihrer leeren Tasse hinüber zum Esstisch, wo die Teekanne stand. Mit steifen Händen goss sie sich nach. »Für Sie auch noch eine Tasse?«

Ich lehnte höflich ab, da ich meinen Tee bisher nicht angerührt hatte. Schnell trank ich einen Schluck. »Aber Sie sagten doch, Sie wollen das Haus verkaufen? Oder denken Sie, der Käufer übernimmt die bestehenden Mietverträge?«

Das war schließlich nicht ungewöhnlich, auch wenn ich in dem Fall ganz sicher mit einer Mieterhöhung zu rechnen hatte. Dieses Gebaren fand ich zwar ziemlich mies, aber damit würde ich mich wohl oder übel abfinden müssen. Alles war besser als umzuziehen. Ich liebte meine Wohnung, die Gegend, das ganze Viertel, und ich konnte außerdem nicht leugnen, dass es durchaus Spielraum nach oben gab, was die Miete anbelangte. Frau Lüdtke war keine Halsabschneiderin, im Gegenteil, denn für Hamburger Verhältnisse verlangte sie wirklich nicht viel. Zwar war das hier nicht Blankenese, aber Eppendorf war eine ebenso gute Gegend. Sie hätte deutlich mehr fordern können, und ein Wechsel bei den Eigentümern war die perfekte Gelegenheit dafür.

»Natürlich werde ich alles tun, damit Sie und die anderen Mieter übernommen werden, wenn ich das Haus wirklich verkaufen muss. Das sollte kein Problem sein, denn ich würde es an jemanden verkaufen, der keinen Eigenbedarf anmeldet. Momentan kann ich aber leider keine Versprechungen machen. Der Franz steckt zwar mitten in den Verhandlungen mit potenziellen Käufern, und es sind einige Interessenten ohne Eigenbedarf dabei, allerdings hoffe ich immer noch, dass sich der Walter, mein Jüngster, dazu entschließt, das Haus zu übernehmen. In dem Fall würde er es aber für den Eigenbedarf nutzen wollen, und dann müssten Sie tatsächlich ausziehen. So oder so wird das aber nicht vor nächstem Sommer der Fall sein, das kann ich Ihnen zusichern.«

»Danke«, brachte ich mühsam hervor. Immerhin das. Ich hatte mich schon auf Wohnungssuche und beim Kistenpacken gesehen, während alle anderen um mich herum gemütliche Feiertage verbrachten.

Ich verabschiedete mich rasch, denn nach der Hiobsbotschaft war mir die Lust auf Small Talk vergangen, und stieg die Stufen nach oben zu meiner Wohnung. Der Gedanke, dass das bevorstehende Weihnachtsfest möglicherweise das letzte in diesen vier Wänden war, bescherte mir einen Kloß im Hals. Und dabei hing ich nicht einmal sonderlich an materiellen Dingen, ich hatte es mir abgewöhnt. Offenbar nicht so gut, wie ich gedacht hatte. Möglicherweise hatte ich aber auch einfach nur ein Problem mit Veränderungen.

Ich ignorierte den Gedanken, schloss die Tür auf und lehnte mich mit geschlossenen Augen für einen Moment dagegen, ehe ich den Mantel aufhängte und die Stiefel abstreifte. Auf dem Weg zum Badezimmer zog ich mich aus, ein Kleidungsstück nach dem anderen, ließ diese an Ort und Stelle auf den Boden fallen, bis ich nackt war. Ich trat unter die Regendusche, stellte das Wasser heißer, als gut für meine Haut war, und ließ mich einfach nur berieseln. Das tat ich nicht oft, da ich es für Ressourcenverschwendung hielt, doch heute war mir das egal. Ich wollte diesen Tag fortspülen, die Hiobsbotschaft meiner Vermieterin und all die unschönen Gedanken an die Vergangenheit, die stets in mir steckten und nur darauf lauerten herauszubrechen. Ich wollte das nicht. Es machte keinen Spaß, ständig an ihn denken zu müssen, jeden Mann mit ihm zu vergleichen und zu wissen, dass es keine Zukunft mit einem anderen für mich geben würde, solange er mein Denken bestimmte, aber so war es nun einmal. Ich konnte nichts dagegen tun.

Tränen schossen mir in die Augen, mischten sich mit dem heißen Wasser. Energisch griff ich nach dem Shampoo und blinzelte die Tränen fort. Weinen würde mich nicht weiterbringen, also konnte ich es genauso gut bleiben lassen. Viel zu grob wusch ich mir die Haare und seifte mich ein. Anschließend stieg ich in meinen flauschigen Bademantel und wickelte mir ein Handtuch um die Haare. In der Küche machte ich mir eine Dosensuppe warm – leider muss ich zugeben, dass ich davon immer einen Vorrat habe, auch wenn ich es nicht sollte – und kochte mir einen Kräutertee, dann kuschelte ich mich unter die Decke aufs Sofa, um mich von einer meiner Lieblingsserien berieseln zu lassen – Magnum. In diesem Moment konnte ich mir nichts Schöneres vorstellen, als mich für eine Dreiviertelstunde nach Hawaii zu träumen. Doch kaum hatte ich den Fernseher eingeschaltet, klingelte das Telefon. Eine Sekunde überlegte ich, den Anruf zu ignorieren, doch sofort beschlich mich der Gedanke, dass es wichtig sein könnte.

Seufzend stellte ich die Suppenschüssel beiseite und hievte mich vom Sofa, um in den Flur zu gehen. Dummerweise reichte das Telefonkabel nicht bis ins Wohnzimmer, deshalb setzte ich mich auf die Bank und hob den Hörer ab.

»Christina Willert«, meldete ich mich.

»Chrissie, hier ist Karla. Wie geht es dir?«

Ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht. »Tante Karla, was für eine Überraschung. Schön, dass du anrufst.«

Sie kicherte. »Du gehst auf die vierzig zu, meine Kleine. Willst du nicht endlich aufhören, mich Tante Karla zu nennen? Außerdem macht mich das älter, als ich ohnehin schon bin.«

Ich musste lachen. »Entschuldige, das rutscht mir manchmal einfach so raus. Ist alles okay bei dir? Seid ihr schon im Plätzchenbackstress?«

Ende der Siebzigerjahre hatte meine Tante eine Art Adventskalender ins Leben gerufen, der bis heute Tradition in ihrem Café, dem Neckarplätzchen, war. Jeden Tag im Dezember bot sie ihren Kunden eine andere Plätzchensorte an. Diese Aktion kam unglaublich gut an bei der Kundschaft, weshalb Karla im Dezember stets zusätzliche Hilfskräfte einstellen musste.

Sie stieß ein Seufzen aus und versetzte mich damit sofort in Alarmbereitschaft. »Was ist los?«

»Ich habe mir den Arm gebrochen, bin auf den nassen Fliesen im Bad ausgerutscht. Sag nichts, ich weiß selbst, dass ich ein Schussel bin.«

»Und was nun?«

»Nun habe ich ein richtiges Problem, denn zu allem Überfluss hat sich Wilma die Grippe eingefangen. Jeden Winter versuche ich, sie zu überreden, sich impfen zu lassen – zwecklos. Jetzt liegt sie sicher zwei Wochen lang flach.«

Auch das noch. Wilma war Karlas beste und längste Angestellte. Dass sie zusammen mit meiner Tante ausfiel, kam einer Katastrophe gleich. »Was kann ich tun?«, fragte ich sofort.

Ich hörte das Lächeln in Karlas Stimme, als sie antwortete. »Lieb, dass du fragst. Mir ist klar, dass du selbst viel Arbeit und sicher schon Pläne für Weihnachten hast, weshalb ich dich auch eigentlich gar nicht mit meinen Problemen belasten will. Natürlich habe ich mich schon um neue Aushilfen gekümmert, aber abgesehen von Wilma, Barbara und mir kennt niemand das Café so gut wie du.«

»Ich habe doch bisher nur einmal im Advent ausgeholfen«, wandte ich ein.

»In jenem Jahr hast du mehr Zeit im Neckarplätzchen verbracht als zu Hause, meine Kleine.«

Das stimmte allerdings. »Ich mach’s«, sagte ich daher, ohne weiter darüber nachzudenken, was mich selbst am meisten wunderte, war Spontanität doch eigentlich überhaupt nicht meine Art.

»Wirklich? Bist du dir ganz sicher? Fühl dich bitte nicht verpflichtet, Chrissie. Ich könnte verstehen, wenn …«

Ich schüttelte den Kopf. »Du kannst dich auf mich verlassen, Karla. Ich komme nach Heidelberg.«

»Geht das denn so einfach mit deinen Aufträgen?«

Ich nahm den Hörer in die andere Hand. »Die nehme ich mit, das wird schon gehen. Die Firma, für die ich als feste Freie tätig bin, hat mir einen mobilen Computer gestellt, sodass das kein Problem sein sollte. Es ist ja ein familiärer Notfall, außerdem wird die Arbeit erfahrungsgemäß immer weniger, je näher der 24. Dezember rückt.«

Karla atmete erleichtert aus. »O Chrissie, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Vielen Dank, du nimmst mir eine große Last von den Schultern.«

»Das ist selbstverständlich, dafür ist die Familie schließlich da. Reicht es, wenn ich am Wochenende komme?«

»Perfekt, ich bin dir wirklich was schuldig. Soll ich …? Warte mal kurz.« Einen Moment hörte ich nur vereinzelte Wörter, dann war sie mit ihrer Aufmerksamkeit wieder bei mir. »Du, ich muss leider schon auflegen, Barbara braucht meine Hilfe mit dem Lieferanten. Sag Bescheid, wenn du kommst. Ich hole dich vom Bahnhof ab und koche Lasagne.«

Ich runzelte die Stirn. »Mit einem Arm?«

»Du glaubst gar nicht, was alles mit einem Arm geht. Ich bin nur nicht so schnell wie sonst. Zum Bahnhof würde ich allerdings die Bahn und nicht das Auto nehmen.«

»Das ist wirklich nicht nötig.«

»Das mache ich gern. Ich freue mich auf dich, meine Kleine. Bis zum Wochenende dann.«

Sie hatte aufgelegt, ehe ich noch etwas sagen konnte. Langsam legte ich den Hörer ebenfalls zurück auf die Gabel; das Herz schlug mir bis zum Hals. Verdammt, was hatte ich mir nur dabei gedacht?

Ich wusste, dass ich keine Wahl gehabt hatte. Karla war immer für mich da gewesen, wenn meine Eltern, allen voran meine Mutter, mich nicht verstanden hatten, und ich hatte sie wirklich viel zu lange nicht gesehen. Es stand völlig außer Frage, dass ich ihr helfen würde, allerdings war ich lange nicht so gelassen, wie ich ihr vorgespielt hatte. In meine alte Heimat zurückzukehren machte mir nämlich eine Heidenangst, denn sehr wahrscheinlich würde ich dort auch ihm über den Weg laufen. Ihm und ihr. Und dafür war ich offensichtlich alles andere als bereit.

Kapitel 2

Samstag, 30. November 1996

Nur die Ruhe, sagte ich mir immer wieder, während der IC an der wunderschönen Landschaft vorbeirollte. In Frankfurt war ich umgestiegen, da der ICE aus Hamburg nicht in Heidelberg hielt. Wäre ich in Hamburg direkt in einen IC gestiegen, hätte ich durchfahren können – was mich allerdings über eine Stunde mehr Zeit gekostet hätte. Jetzt fragte ich mich, warum ich das nicht in Kauf genommen hatte, immerhin hatte ich es doch gar nicht so eilig, nach Heidelberg zu kommen.

Die letzte Nacht hatte ich kaum ein Auge zugetan, weil ich mir permanent vorstellte, wie ich meiner Jugendliebe und seiner Frau gegenüberstand, und auch die ganze Zugfahrt über ließen mich diese Gedanken nicht los. Ich konnte mich weder auf mein Buch noch auf mein Hörbuch konzentrieren. Schließlich hatte ich die CD gewechselt und viel zu laut Musik aufgedreht, um meine Gedanken zu übertönen. Irgendwo zwischen Kassel und Frankfurt hatte ich den Discman jedoch wohl oder übel beiseitegelegt, da mir schon die Ohren geklingelt hatten.

Nur die Ruhe, wiederholte ich noch einmal in Gedanken und atmete tief durch. Es war überhaupt nicht gesagt, dass ich den beiden über den Weg laufen würde. Ja, sie lebten in Heidelberg, aber das taten Tausende anderer Menschen auch, und dass sie zumindest früher gern ins Neckarplätzchen gegangen waren, musste nicht bedeuten, dass sie es auch heute noch taten und ich sie dort unweigerlich treffen würde.

Ich würde ja nicht einmal im Café bedienen, sondern in der Backstube stehen, und in meiner Freizeit konnte ich mich einfach in Karlas Haus verkriechen – auch wenn es lächerlich war, nach zwanzig Jahren solch ein Aufhebens zu machen, und es war ja auch nicht so, dass ich sie in all den Jahren kein einziges Mal gesehen hätte.

Das letzte Aufeinandertreffen lag jedoch schon wieder fünf Jahre zurück, und ich hatte mir geschworen, beim nächsten Mal besser dazustehen. Ich hatte verheiratet oder wenigstens in einer festen Beziehung sein wollen. Ich wollte glücklich sein. Stattdessen war ich nach wie vor Single und verglich weiterhin jeden potenziellen Partner mit meiner Jugendliebe. Wenn das nicht erbärmlich war, wusste ich auch nicht.

»Werd endlich erwachsen«, murmelte ich vor mich hin.

»Haben Sie was gesagt?« Mein Sitznachbar wandte sich mir zu und betrachtete mich skeptisch. Ich räusperte mich. »Nur ein Selbstgespräch.«

Ich überlegte, meinen Discman wieder anzustellen, als der nächste Halt durchgesagt wurde – Heidelberg Hauptbahnhof. Na endlich. Erleichtert, weil ich jetzt nicht mehr mit meinen Gedanken allein sein musste, erhob ich mich von meinem Platz, quetschte mich an meinem Sitznachbarn vorbei und bahnte mir mit meinem riesigen Koffer einen Weg durch den schmalen Gang. Mit quietschenden Rädern kam der IC zum Stehen.

Mühevoll hievte ich den Koffer aus dem Zug, stolperte fast und konnte gerade noch einen Sturz verhindern. Obwohl mich Menschen nervten, die mitten im Weg stehen blieben, um sich erst einmal zu orientieren, tat ich genau das, um einen Moment nach Luft zu schnappen. Ich sollte wirklich mehr Sport treiben, denn jetzt schon aus der Puste zu sein war genauso erbärmlich wie die Tatsache, seine Jugendliebe einfach nicht vergessen zu können.

Stöhnend schnappte ich mir meinen Koffer, um ihn an die Seite zu ziehen, und stieß mit einem Mann zusammen, der im selben Moment an mir vorbeieilte.

»Oh, Entschuldigung«, murmelte ich, während ich erneut versuchte, mein Gleichgewicht wiederzuerlangen.

»Nichts passiert.«

Mit einem Lächeln strich er sich die viel zu langen Haare nach hinten und wollte weitergehen, als er plötzlich stehen blieb und sich noch einmal zu mir umdrehte. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er mich, und ich wusste nicht so recht, wie ich mich verhalten, geschweige denn, wo ich hinschauen sollte. Hatte ich was im Gesicht? War ich ihm auf die Füße getreten? Ich beschloss, dass es mir egal war, doch bevor ich mich abwenden konnte, strahlte er mit einem Mal.

»Chrissie, bist du’s wirklich? Was für eine Überraschung. Wir haben uns ja ewig nicht gesehen.«

»Ähm«, machte ich wenig einfallsreich. Ich hatte keine Ahnung, woher ich den Typen kennen sollte.

»Tim. Tim Wagner.«

»Tim?«

Ich konnte nicht anders, als ihn anzustarren. Oh. Mein. Gott.

Bilder ploppten vor meinem geistigen Auge auf – ein ganz niedlicher, aber auch irgendwie unscheinbarer Junge von achtzehn beziehungsweise neunzehn Jahren, der damals mit seinen weichen Gesichtszügen und dem nicht vorhandenen Bartwuchs viel jünger als achtzehn gewirkt hatte, was in dem Alter alles andere als von Vorteil war. Heute hingegen … Tims Gesichtszüge waren immer noch weich und seine Haare wie gesagt viel zu lang – sie reichten ihm beinahe bis zur Schulter und waren unten ein wenig gestuft. Er trug keinen richtigen Scheitel, der lange Pony hing ihm mehr oder weniger im rechten Auge. Und trotzdem wirkte er nicht nur im Vergleich zu damals unglaublich männlich und sogar irgendwie markant. Vielleicht lag es an den Koteletten und dem gestutzten Vollbart, der seinen herzförmigen Mund stilvoll umrahmte.

»Tim Wagner«, wiederholte ich ungläubig. »Tut mir leid, aber ich hätte dich im Leben nicht wiedererkannt.«

Er grinste. »Ist das jetzt gut oder schlecht?«

»Entschuldigen Sie bitte, können Sie mal Platz machen?«, fragte eine genervte Stimme hinter mir.

»O ja, natürlich.« Ich trat an die Seite, Tim folgte mir. »Tim Wagner«, sagte ich noch einmal, weil ich es nicht fassen konnte. »Wie lange ist das her?«

»Na ja, es dürften an die zwanzig Jahre sein. Erinnerst du dich noch an den Sommer 77?«

Ich schluckte und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, dass meine Laune augenblicklich in den Keller rutschen wollte. Wie könnte ich diesen Sommer – und den darauffolgenden Winter – jemals vergessen? »Klar. Mensch, wie jung wir damals noch waren. Fühlst du dich auch auf einmal so alt?«

»Hey, mach uns nicht älter, als wir sind.« Lachend fuhr sich Tim erneut mit der Hand durch die Haare, um sie sich aus dem Gesicht zu streichen – ein hoffnungsloses Unterfangen. »Sag, was führt dich nach Heidelberg? Bleibst du ein paar Tage? Ich würde gern ein bisschen mit dir quatschen, hab es aber gerade ziemlich eilig. Ich muss die Regionalbahn nach Ludwigshafen erwischen. Meine Oma hat extra für mich Flammkuchen gemacht.«

»Karla hat sich den Arm gebrochen, deshalb helfe ich ihr die nächsten Wochen im Café aus. Vielleicht erinnerst du dich an ihre Adventskalenderaktion mit den täglich wechselnden Plätzchensorten?«

»Na hör mal, im Dezember bin ich Stammgast im Neckarplätzchen. Prima, dann komme ich dich die Tage dort besuchen.«

Ich nickte. »Gern, das wäre nett.«

»Finde ich auch. Wir sehen uns.«

Er hob die Hand zum Gruß, lächelte mir ein letztes Mal zu und verschwand im Getümmel. Ich konnte nicht anders, als ihm hinterherzustarren. Tim Wagner. Kaum zu glauben, wie sehr er sich zumindest äußerlich verändert hatte. Allerdings musste ich zugeben, dass er generell viel cooler und offener wirkte als noch vor neunzehn Jahren. Oder hatte ich ihn damals einfach nur nicht richtig wahrgenommen, weil meine Aufmerksamkeit einzig und allein jemand anderem gegolten hatte?

Jemand rief meinen Namen. Ich sah mich nach meiner Tante um und brauchte einen Moment, bis ich die Frau, die im Slalom um die anderen Passagiere herum in meine Richtung eilte, als Karla erkannte. Ihre früher blonden Haare leuchteten orange, was trotz des übergroßen Hutes, den sie auf dem Kopf trug, nicht zu übersehen war. Ansonsten hatte sie sich bis auf die tiefer gewordenen Lachfältchen um die Mund- und Augenpartie jedoch kaum verändert.

»Chrissie! Es ist so schön, dass du hier bist. Komm her.« Mit ihrem nicht eingegipsten Arm zog sie mich an sich.

»Hallo, Karla.« Ich erwiderte die Umarmung so fest, dass beinahe der Hut von ihrem Kopf rutschte, und musste schlucken, als mir ihr Parfüm in die Nase stieg, das sie benutzte, seit ich sie kannte. Und plötzlich fragte ich mich, warum ich ganze fünf Jahre nicht hier gewesen war. Sicher, ich kannte die Antwort, und trotzdem fühlte ich mich schlecht. Wir wurden schließlich alle nicht jünger.

»Gut schaust du aus.« Karla hielt mich ein wenig auf Abstand, um mich besser ansehen zu können. »Vielleicht ein bisschen blass, aber das wird sich in den nächsten Wochen sicher ändern. Ich freue mich schon darauf, mit dir am Neckar spazieren zu gehen. Zu zweit macht es viel mehr Spaß als allein.«

So viel zu meinem Vorhaben, mich in Karlas Haus zu verkriechen. Ich hätte mir gleich denken können, dass sie das zu verhindern wissen würde, und es war wie gesagt auch lächerlich.

»Du siehst toll aus, vor allem deine Haare.« Ich konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Haarfärbeunfall?«

Sie nickte und erwiderte mein Grinsen. »Du kennst mich einfach zu gut. Eigentlich wollte meine Friseurin das wieder richten, aber sie hatte nicht gleich Zeit für mich, und jetzt gefällt es mir eigentlich ganz gut. Ich denke, ich werde es so lassen. Ist mal was anderes.«

»Das auf jeden Fall. Du, ich soll dich ganz lieb von Papas Bruder grüßen. Wir haben gestern telefoniert, weil ich unsere morgige Verabredung auf dem Fischmarkt absagen musste.«

»Und ich soll dich von deiner Mutter grüßen, wir haben nämlich auch erst gestern telefoniert.«

Während sich Karla nach Manfreds Befinden erkundigte und ich nach meiner Mutter fragte, fuhr ich die Stange von meinem Koffer aus, und wir setzten uns in Bewegung. Wir verließen das zugige Gleis und gelangten in die große Bahnhofshalle, liefen an einem Bäcker und einem Zeitschriftenladen vorbei, die beide festlich geschmückt waren. Vor einem Kiosk stand ein älterer Mann und verkaufte gebrannte Mandeln. Der Duft stieg mir in die Nase, und ich hätte mir gern eine Tüte geholt, doch Karla durchquerte mit großen Schritten die Halle. Vermutlich fuhr unsere Straßenbahn gleich ab, deshalb sagte ich nichts und folgte ihr.

»Danke fürs Abholen, auch wenn das völlig unnötig war. Nach Wieblingen hätte ich schon allein gefunden. Hier wird sich ja nicht so viel verändert haben.«

»Iwo, wo denkst du hin? Heidelberg ist und bleibt die romantische Stadt am Neckar, in der sich am Wochenende die Touristen tummeln, allen voran Amerikaner und Japaner, und die in den Semesterferien immer ein bisschen leerer und ruhiger ist als sonst.«

»Dann statten wir der Innenstadt heute wohl keinen Besuch mehr ab«, sagte ich gespielt enttäuscht, obwohl ich erleichtert war. Zwar liebte ich die Altstadt, doch gleichzeitig war sie für mich wie ein Minenfeld. Dort lauerten, wie an so vielen Orten in Heidelberg, unzählige Erinnerungen. Erinnerungen an eine Zeit, die ich einfach nicht vergessen konnte – paradoxerweise aber auch nicht vergessen wollte. »Wobei sie im Café sicher schon auf uns warten, oder?«, wandte ich mich erneut an Karla.

Sie winkte ab. »So weit kommt’s noch, ich schlepp dich doch jetzt nicht ins Café. Du erholst dich erst mal ein bisschen von der langen Reise, und außerdem steht die Lasagne schon im Ofen und wartet nur darauf, gebacken und später von uns verspeist zu werden.«

»Kommen sie denn im Neckarplätzchen ohne dich aus?«, wollte ich wissen. Immerhin war Samstag, und am Wochenende war es in Karlas Café genauso voll wie in der Heidelberger Innenstadt beziehungsweise Altstadt, was in Heidelberg quasi dasselbe war. Dort lag auch das Café in einer kleinen Gasse mit Kopfsteinpflaster nahe des Neckars.

Wir verließen das Bahnhofsgebäude, vor dem ein großer Tannenbaum stand, dessen Lichter tapfer gegen das trübe Wetter ankämpften. Kalte Luft schlug mir entgegen und wirbelte bunte Blätter über die Straßen und Gehwege, und wie in Hamburg empfing mich auch hier Nieselregen. Fröstelnd setzte ich mir die selbst gestrickte Mütze auf den Kopf – ebenfalls ein Weihnachtsgeschenk von Karla – und holte meine Handschuhe aus den Manteltaschen, während ich einer älteren Dame auswich, die ungeachtet der Menschen um sich herum ihren Regenschirm ausschüttelte. Karla verdrehte die Augen, und mir war nicht klar, ob sie damit die Frau mit dem Schirm oder meine Frage meinte.

»Im Café werden sie ohne mich zurechtkommen müssen, mit nur einem Arm bin ich ohnehin keine allzu große Hilfe. Wir zwei machen es uns jetzt erst mal gemütlich, immerhin habe ich dich viel zu lange nicht gesehen. Oder hast du etwas anderes vor?«

Kopfschüttelnd hakte ich mich bei meiner Tante ein, froh darüber, vorerst nicht in die Stadt fahren zu müssen. Morgen würde ich nicht drum herumkommen, das war klar, denn schließlich war ich hier, um im Café zu helfen, aber das war okay. Irgendwie würde ich die nächsten Wochen schon überstehen, immerhin war ich sechsunddreißig Jahre, bald schon siebenunddreißig, und keine siebzehn mehr.

Und warum hatte ich jetzt den Schlager Du kannst nicht immer 17 sein im Kopf? Mir blieb auch nichts erspart.

Karla stieg vor mir die Holztreppe nach oben, die mit jedem Schritt ein Knarzen von sich gab. Der Duft von Tannennadeln begleitete mich, seit ich das Haus betreten hatte. Meine Tante hatte seit jeher eine Vorliebe für Duftlämpchen, und im November und Dezember verwendete sie am liebsten Tanne oder Orange.

Oben am Dachzimmer angekommen, öffnete sie die Tür. Staub tanzte im Licht der Deckenlampe, und hier roch es ein bisschen abgestanden, weshalb Karla sofort das Dachfenster aufstieß. Ich verspürte augenblicklich ein Gefühl von Heimat und Geborgenheit, als ich das Zimmer hinter ihr betrat, und das lag nicht an den Lichterketten, die Karla im ganzen Raum verteilt hatte. Wie viele Stunden meines Lebens hatte ich hier verbracht, unverstanden von meinen Eltern, meinen Freunden, der ganzen Welt. Wie oft hatte ich weinend auf dem Bett unter dem Fenster gesessen und mir gewünscht, Karla könnte meine Mutter sein. Sie hatte als Einzige stets gewusst, wie es in mir aussah und was ich brauchte, um mich wieder besser zu fühlen. Manchmal hatten ein Glas Milch und ein paar Plätzchen ausgereicht, hin und wieder hatte ich auch einfach nur meine Ruhe haben wollen, und am allermeisten hatten mir Karlas uneingeschränkte Liebe und ihr Verständnis geholfen.

»Tut mir leid, Kleines«, riss sie mich aus meinen Erinnerungen. »Ich habe den ganzen Morgen und Vormittag gelüftet. Frag mich nicht, warum es immer noch so muffig riecht.«

Ich stellte meinen Koffer vor die Kommode mit der Bauernmalerei. »Das macht nichts, wirklich. Ich mag dieses Zimmer.«

Karla schenkte mir ein warmes Lächeln und zog mich an ihre Brust. »Du hast mir gefehlt. Schön, dass du mal wieder hier bist.« Einen Moment drückte sie mich so fest an sich, dass ich mich fragte, ob alles in Ordnung war, doch schon in der nächsten Sekunde gab sie mich frei, ein verschmitztes Funkeln in den Augen, das sie mindestens fünfzehn Jahre jünger wirken ließ. »Dann stelle ich mal den Ofen an. Ich hab Hunger.«

»Soll ich dir helfen?«

Sie winkte ab und marschierte bereits Richtung Tür. »Das schaffe ich gerade noch allein. Wenn du nachher die Auflaufform aus dem Ofen holen könntest, wäre das super, aber jetzt komm erst mal an. Ruh dich ein bisschen aus, mach dich frisch oder pack deinen Koffer aus. Wie du magst.«

Mit einem weiteren Lächeln verschwand sie durch die Tür, die sie hinter sich zuzog. Ich lauschte ihren Schritten auf der Treppe, dem Knarzen jeder Stufe, bis sich Stille über mich senkte. Nicht einmal von draußen drangen Geräusche zu mir herein – keine Autos, keine Menschen, kein gar nichts. Meine Tante wohnte in einem verkehrsberuhigten Bereich direkt unten am Neckar, und bei diesem Mistwetter schienen es sich die Nachbarn in ihren Häusern gemütlich gemacht zu haben.

Ein Frösteln erfasste mich, und ich schloss das Fenster wieder, bevor ich mich umsah. In diesem Zimmer hatte sich nicht allzu viel verändert, oder Karla hatte extra aufgeräumt und alle unnützen Dinge weggebracht, bevor ich angekommen war. Zuzutrauen wäre es ihr. Genau genommen handelte es sich bei dem Raum nicht einmal um ein Zimmer, sondern um Karlas ausgebauten Dachboden, den sie vor beinahe zwanzig Jahren, als das Verhältnis zwischen mir und meiner Mutter immer schlechter geworden war, entrümpelt und mir ein Bett hineingestellt hatte. Nach und nach waren eine Kommode, ein Bücherregal, ein Lounge-Sessel und schließlich sogar ein geräumiger Schrank gefolgt. Stunden hatte ich hier verbracht, ganze Tage. Aus Tagen waren Wochenenden geworden, aus Wochenenden die kompletten Herbstferien. Meine Mutter hatte es damals gar nicht gern gesehen, dass ich so viel Zeit bei ihrer Schwester gewesen war, doch am Ende hatte sie es akzeptieren müssen, weil mein Vater ihr gut zugeredet hatte. Ihn hatte ich vermisst, während ich versucht hatte, wieder Ordnung in das Chaos meines Lebens zu bringen, aber Mama und ich – das war damals eine hochexplosive Mischung gewesen, die schließlich tatsächlich wie eine Bombe hochgegangen war. Daraufhin hatte ich Heidelberg den Rücken gekehrt – wobei meine Mutter nicht einmal der ausschlaggebende Grund gewesen war. Aber sie hatte eben auch nichts dafür getan, damit ich mich besser fühlte, im Gegenteil. Durch sie war alles nur noch schlimmer geworden.

Den Kontakt hatte ich dennoch nie komplett abgebrochen, sie war immerhin meine Mutter, aber wir sahen uns nicht allzu oft und telefonierten nur sporadisch miteinander. Und nachdem Papa gestorben war, der wie ein Puffer zwischen uns agiert hatte, war es natürlich nicht besser geworden. Inzwischen war sie noch weiter in den Norden gezogen als ich, da sie mit dem Alter Asthma bekommen hatte und ihr die Meeresluft guttat. Sie lebte in Lübeck, genauer gesagt in Travemünde, und obwohl es von Hamburg aus im Vergleich zu Heidelberg nur ein Katzensprung war, besuchten wir uns kaum. Im Grunde waren wir wie Fremde füreinander, wussten nicht, was in der jeweils anderen vorging. Andererseits – hatte meine Mutter das je gewusst? Oder besser gesagt: Hatte es sie je interessiert?

Seufzend öffnete ich den Koffer und holte einen Stapel Unterwäsche hervor, um ihn in der Kommode zu verstauen. Als ich die oberste Schublade aufzog, war die Wäsche allerdings vergessen, und ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht. Achtlos warf ich BHs und Höschen aufs Bett und sah mir meine alte Kassettensammlung an, die Karla dort verstaut hatte – ABBA, Elvis Presley, die Beatles. Von ABBA und Elvis hatte ich mir damals sofort jedes Album kaufen müssen. Ob die Kassetten noch funktionierten? Doch jetzt schob ich sie erst mal beiseite und entdeckte dabei die alten BRAVO-Ausgaben. Dass meine Tante auch diese all die Jahre aufbewahrt hatte … ich hätte meine Altbauwohnung darauf verwettet, dass die Zeitschriften längst im Papiermüll gelandet waren.

Ich zog einen Stapel hervor und nahm ihn mit zu dem ockerfarbenen Lounge-Sessel, den ich persönlich schon vor Jahren zum Sperrmüll gebracht hätte, und machte es mir gemütlich, und erstaunlicherweise machte der Sessel tatsächlich mit seinem Komfort alles wieder wett, was ihm in Sachen Design fehlte.

Ich ging die Titelbilder der BRAVO-Hefte durch und musste schmunzeln, als ich eines mit Nastassja Kinski in den Händen hielt. Sie war damals meine Ikone gewesen, ich hatte unbedingt so sein wollen wie sie. Gelungen war es mir traurigerweise bis heute nicht. Mit einem weiteren Seufzen legte ich die Ausgabe beiseite – und erstarrte, als mein Blick auf das Cover darunter fiel. Pierre Brice strahlte mich in seinem Winnetou-Outfit an, doch er war nicht der Grund für meine Reaktion. Ich wurde in einen Strudel aus Erinnerungen gezogen, aus dem ich mich dieses Mal nicht so einfach herauswinden konnte. Bilder aus jenem Sommer 1977 prasselten auf mich ein, als die Beziehung zu meiner Mutter zwar schon kompliziert, aber das ganze Leben noch hoffnungsvoll vor mir gelegen hatte.

Und als meine beste Freundin noch meine beste Freundin gewesen war.

Kapitel 3

Donnerstag, 23. Juni 1977

»Wie stellst du dir dein erstes Mal eigentlich vor?«

Ellen und ich lagen bäuchlings nebeneinander auf meinem Bett, die Beine angewinkelt. Nun sah sie von dem Artikel in der druckfrischen BRAVO auf, die sie heimlich ins Haus geschmuggelt hatte, als sie vorhin gekommen war.

Meine Mutter mochte die Zeitschrift nicht; die Aufklärungsrubrik war ihr ein Dorn im Auge. Vor fünf Jahren war das Magazin ganze zwei Mal auf dem Index der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften gelandet. Ob das meine Mutter in ihrer Meinung bestärkt hatte oder sie sich diese dadurch erst gebildet hatte – keine Ahnung, und es spielte auch keine Rolle. Mama hasste alles, was nur im Entferntesten das Thema Sex streifte. Flower Power, Miniröcke, Nastassja Kinski – all das war für sie Teufelszeug. Deshalb hatte ich das Poster von Nastassja aus der letzten BRAVO-Ausgabe auch an die Innenseite meines Schranks geklebt, obwohl ich es gerne an die Wand über mein Bett gehängt hätte. Da man allerdings Nastassjas Brüste unter dem durchsichtigen Oberteil sehen konnte, war das leider keine Option. Meine Mutter hätte einen Schreikrampf bekommen und mich vermutlich zu vier Wochen Hausarrest verdonnert, und da heute der erste Tag der Sommerferien war, wollte ich das keinesfalls riskieren.

Ich unterdrückte ein Seufzen. Wenn meine Mutter doch nur ansatzweise wie Ellens wäre, der selbst ich jede Frage über das Thema Sex stellen konnte, ohne dass es einer von uns beiden peinlich war.

Oder wenn ich mehr wie Nastassja Kinski sein könnte. Sie war ein paar Monate jünger als ich, wirkte aber so viel erfahrener und selbstbewusster. Ende März hatte ich sie im Tatort gesehen und mich sofort in sie verliebt, allerdings nur im übertragenen Sinn.

Nun seufzte ich doch. »Meine Mutter wird zu verhindern wissen, dass es jemals dazu kommt. Oder glaubst du, sie wird mir erlauben, einen Jungen mit auf mein Zimmer zu nehmen?«

»Ihr müsst es ja nicht in deinem Zimmer tun«, erwiderte Ellen und stieß mich augenzwinkernd mit ihrer Schulter an.

Beinahe hätte ich die Augen verdreht. Ellen hatte vor ein paar Monaten ihre Unschuld verloren, zusammen mit Stefan, der eine ganze Weile ihr Freund gewesen war. Inzwischen gingen die beiden wieder getrennte Wege, was Ellen jedoch seltsamerweise nicht viel auszumachen schien. Von Liebeskummer fehlte zumindest jede Spur, und sie sprach auch nicht oft von ihm. Manchmal fragte ich mich, ob sie in Stefan überhaupt verliebt gewesen war, und wenn nicht, warum sie dann mit ihm ins Bett gegangen war. Jedenfalls gab sie seitdem ziemlich mit ihrer neu gewonnenen Erfahrung an.

»Ja klar, es ist ja auch superromantisch, das erste Mal auf dem Rücksitz eines Autos zu erleben.« Ich konnte den Sarkasmus nicht aus meiner Stimme heraushalten.

»Nun sei doch nicht so, Chrissie«, meinte Ellen. »Vielleicht könnt ihr ja zu ihm gehen, und ansonsten kommt ihr beide einfach zu mir, wenn meine Eltern im Kino sind. Auf jeden Fall kannst du mich jederzeit als Alibi angeben. Sag mir nur Bescheid, damit ich Mama einweihen kann und sie sich nicht deiner Mutter gegenüber aus Versehen verplappert.«

Lächelnd legte ich meinen Kopf an Ellens Schulter. Und genau deshalb war sie meine beste Freundin. »Danke, Ellen, ich bin echt froh, dass ich dich habe. Keine Ahnung, wie ich die Launen meiner Mutter ohne dich aushalten würde.«

»Dafür sind Freundinnen da, und nachdem wir nun auch die Frage nach dem Wo geklärt haben, interessiert mich nach wie vor das Wie. Du hast mir immer noch nicht verraten, wie du dir dein erstes Mal vorstellst.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Weil ich es nicht weiß. Ich weiß ja nicht mal, wie man richtig küsst.« Was mir mehr als peinlich war, denn mit siebzehn Jahren stand ich diesbezüglich ziemlich allein da.

»Wenn es weiter nichts ist. Das kann ich dir beibringen.«

»Lass mich bloß nicht meine Handfläche abknutschen, dabei komme ich mir dämlich vor.«

Ende der Leseprobe