Der Zementgarten - Ian McEwan - E-Book

Der Zementgarten E-Book

Ian McEwan

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Beschreibung

Ein Kindertraum wird Wirklichkeit: Papa ist tot, Mama stirbt und wird, damit keiner was merkt, einzementiert, und die vier Kinder - zwei Mädchen und zwei Jungen zwischen 6 und 16 haben das große Haus in den großen Ferien für sich. Im Laufe des drückend heißen, unwirklichen Sommers kapselt sich die Gemeinschaft der Kinder mehr und mehr gegen die Außenwelt ab, und keiner merkt, dass etwas faul ist.

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Seitenzahl: 208

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Ian McEwan

DerZementgarten

Roman

Titel der 1978 bei Jonathan Cape Ltd., London,

erschienenen Originalausgabe:

›The Cement Garden‹

Copyright © 1978 by Ian McEwan

Die deutsche Erstausgabe

erschien 1980 im Diogenes Verlag

Aus dem Englischen übersetzt von einer studentischen

Arbeitsgruppe des Instituts für englische Philologie an der

Universität München. Gruppenleitung und Endredaktion:

Christian Enzensberger

Covermotiv: Gemälde von Daniel Bennett Schwartz, ›Reclining Figures‹, 1991

Copyright © Daniel Bennett Schwartz/Private Collection/Lahr & Partners for Daniel B Schwartz/Bridgeman Art Library/Bridgeman Images

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2016

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 20648 7 (28.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60174 9

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Teil eins

1

Ich habe meinen Vater nicht umgebracht, aber manchmal kam es mir vor, als hätte ich ihm nachgeholfen. Und bis auf die Tatsache, daß sein Tod zeitlich mit einem Meilenstein in meiner eigenen körperlichen Entwicklung zusammenfiel, schien er unbedeutend, verglichen mit dem, was dann kam. Meine Schwestern und ich sprachen über ihn in der Woche, nachdem er gestorben war, und natürlich weinte Sue, als ihn die Sanitäter in eine hellrote Decke einpackten und forttrugen. Er war ein schwächlicher, jähzorniger, verbohrter Mann, gelblich an den Händen und im Gesicht. Ich führe die kleine Geschichte von seinem Tod nur an, weil sie erklärt, wieso meine Schwestern und ich auf einmal eine so große Menge Zement zur Verfügung hatten.

Im Frühsommer meines vierzehnten Lebensjahres hielt ein Lastwagen vor unserem Haus. Ich [6] saß auf der Vordertreppe und las ein Comic, das ich schon kannte. Der Fahrer und noch ein Mann kamen auf mich zu. Sie waren mit feinem, hellem Staub bedeckt, der ihren Gesichtern ein geisterhaftes Aussehen gab. Sie pfiffen beide schrill zwei völlig verschiedene Melodien. Ich stand auf und steckte das Comic weg. Ich wünschte, ich hätte die Rennseite in Vaters Zeitung oder die Fußballergebnisse gelesen.

»Zement?« sagte der eine. Ich hakte die Daumen in die Hosentaschen ein, verlagerte mein Gewicht auf ein Bein und kniff die Augen etwas zusammen. Ich wollte etwas Knappes und Treffendes sagen, aber ich war nicht sicher, ob ich sie richtig verstanden hatte. Ich brauchte zu lange, denn der Mann verdrehte die Augen nach oben, stemmte die Hände in die Hüften und starrte an mir vorbei auf die Haustür. Sie ging auf, und mein Vater trat heraus, an seiner Pfeife kauend, eine Schreibplatte gegen die Hüfte gedrückt.

»Zement«, sagte der Mann wieder, diesmal in sinkendem Tonfall. Mein Vater nickte. Ich steckte das Comic zusammengefaltet hinten in die Tasche und ging den drei Männern auf dem Weg bis zum Lastwagen nach. Mein Vater stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Seitenwand zu schauen, nahm die Pfeife aus dem Mund und nickte nochmals. Der Mann, der bis [7] jetzt noch nichts gesagt hatte, schlug hart mit der Handkante zu. Ein Stahlbolzen sprang weg und eine Seitenlade des Lastwagens klappte mit großem Lärm herunter. Die prallgefüllten Zementsäcke lagen in zwei Reihen auf der Ladefläche. Mein Vater zählte sie, schaute auf seine Schreibplatte und sagte, »Fünfzehn.« Die zwei Männer brummten. Mir gefiel diese Art Unterhaltung. Ich sagte auch »Fünfzehn« vor mich hin. Die Männer nahmen jeder einen Sack auf die Schulter und wir gingen wieder zurück, diesmal ich voran und mein Vater hinterher. Nach der Hausecke deutete er mit dem nassen Pfeifenstiel auf die Kohlenluke. Die Männer wuchteten ihre Säcke in den Keller und gingen zum Lastwagen, um neue zu holen. Mein Vater machte auf der Schreibplatte ein Kreuz mit dem Bleistift, der an einem Stück Schnur daran baumelte. Er wippte wartend auf den Absätzen. Ich lehnte mich an den Zaun. Ich wußte nicht, wofür der Zement bestimmt war, und wollte aus dieser angespannt arbeitenden Gemeinschaft nicht ausgeschlossen werden durch mein Unwissen. Ich zählte die Säcke mit, und als alle unten waren, stand ich meinem Vater zur Seite, als er den Lieferschein unterschrieb. Dann ging er wortlos ins Haus.

Am Abend stritten sich meine Eltern wegen der Zementsäcke. Meine Mutter, ein ruhiger Mensch, [8] war außer sich. Sie wollte, daß mein Vater das ganze Zeug wieder zurückschickte. Wir waren gerade mit dem Abendessen fertig. Während meine Mutter redete, nahm mein Vater ein Taschenmesser und schabte damit schwarze Brocken aus dem Pfeifenkopf auf sein Essen, das er kaum angerührt hatte. Er wußte, wie er seine Pfeife gegen sie einsetzen konnte. Sie hielt ihm vor, wie wenig Geld wir hätten und daß Tom bald neue Kleider für den Schulanfang bräuchte. Er steckte die Pfeife wie einen fehlenden Teil seiner Anatomie zwischen die Zähne zurück und unterbrach sie: es komme »nicht in Frage«, die Säcke zurückzuschicken, und damit Schluß. Da ich den Lastwagen, die schweren Säcke und die Männer, die sie gebracht hatten, selbst gesehen hatte, gab ich ihm dem Gefühl nach recht. Aber wie wichtigtuerisch und lächerlich er aussah, als er das Ding aus dem Mund nahm, am Kopf festhielt und den schwarzen Stiel auf meine Mutter richtete. Sie wurde immer wütender, die Stimme erstickte ihr vor Erbitterung. Julie, Sue und ich verzogen uns nach oben in Julies Zimmer und machten die Tür zu. Das Auf und Ab von Mutters Stimme drang durch den Boden zu uns herauf, aber die Worte wurden verschluckt.

Sue lag auf dem Bett und kicherte, die Fingerknöchel im Mund, während Julie einen Stuhl vor die Tür schob. Zusammen zogen wir Sue rasch [9] aus, und als wir ihr die Unterhose herunterstreiften, berührten sich unsere Hände. Sue war ziemlich dünn. Ihre Haut spannte sich straff über den Rippen, und die harte Muskelwölbung ihrer Hinterbacken ähnelte seltsam ihren Schulterblättern. Leichter rötlicher Flaum wuchs zwischen ihren Beinen. Das Spiel ging so, daß Julie und ich Wissenschaftler waren, die ein Lebewesen aus dem Weltraum untersuchten. Wir sprachen mit abgehackten fremdländischen Stimmen und schauten uns dabei über den nackten Körper hinweg an. Von unten kam müde, monoton und beharrlich Mutters Stimme herauf. Julies Backenknochen waren stark vorgewölbt unter den Augen, was ihr den tiefen Blick eines seltenen, wildlebenden Tieres gab. Im elektrischen Licht waren ihre Augen schwarz und groß. Die sanfte Linie ihres Mundes wurde nur eben von zwei Vorderzähnen unterbrochen, und sie mußte eine Schnute ziehen, um ihr Lächeln zu verbergen. Ich sehnte mich danach, meine ältere Schwester zu untersuchen, aber das war in dem Spiel nicht vorgesehen.

»Noonn?« Wir wälzten Sue auf die Seite und dann auf den Bauch. Wir strichen ihr mit den Fingernägeln über Rücken und Schenkel. Wir schauten ihr mit einer Taschenlampe in den Mund und zwischen die Beine und fanden die kleine Blume aus Fleisch.

[10] »Was sagen Sä dazo, Herr Docktor?« Julie strich mit einem angefeuchteten Finger darüber, und ein leichtes Zittern lief Sues knochiges Rückgrat entlang. Ich schaute genau zu. Ich befeuchtete meinen Finger und ließ ihn über den von Julie gleiten.

»Nächts Ärnstes«, sagte sie schließlich und drückte den Schlitz mit Zeigefinger und Daumen zu. »Aber wir wärden weitere Äntwäcklonk verfolgen, wie?« Sue drängte uns weiterzumachen. Julie und ich sahen einander an, wissend, und wußten nichts.

»Julie ist dran«, sagte ich.

»Nein«, sagte sie wie immer. »Du bist dran.« Auf dem Rücken liegend, bettelte Sue weiter. Ich ging durchs Zimmer, hob Sues Rock auf und schmiß ihn auf sie.

»Kommt nicht in Frage«, sagte ich durch eine nicht vorhandene Pfeife. »Und damit Schluß.« Ich schloß mich im Bad ein und setzte mich auf den Rand der Wanne, die Hosen hingen an den Knöcheln. Ich dachte an Julies hellbraune Finger zwischen Sues Beinen, während ich mich zu meinem schnellen, trockenen Stich von Lust brachte. Ich blieb vornübergebeugt sitzen, nachdem sich der Krampf gelöst hatte, und wurde mir bewußt, daß die Stimmen unten schon lang verstummt waren.

[11] Am nächsten Morgen ging ich mit meinem jüngeren Bruder Tom hinunter in den Keller. Er war groß und in eine Reihe von zwecklosen Räumen unterteilt. Tom klammerte sich an mich, als wir die Steintreppen hinunterstiegen. Er hatte von den Zementsäcken erfahren und wollte sie jetzt sehen. Die Kohlenluke führte in den größten der Räume, und die Säcke lagen so, wie sie heruntergefallen waren, über den Kohlenresten vom letzten Jahr verstreut. An der einen Wand stand eine massige Blechkiste, die irgendetwas mit Vaters kurzer Militärzeit zu tun hatte, und eine Weile dazu diente, den Koks von der Kohle getrennt zu lagern. Tom wollte hineinschauen, also hob ich den Deckel für ihn hoch. Die Kiste war leer und geschwärzt, so schwarz, daß wir in dem staubigen Licht den Boden nicht sehen konnten. Tom, der glaubte, in ein tiefes Loch zu starren, hielt sich am Rand fest, rief in den Kasten hinein und wartete auf das Echo. Als nichts passierte, wünschte er die anderen Räume zu sehen. Ich führte ihn zu einem näher an der Treppe. Die Tür hing kaum mehr in den Angeln, und als ich sie aufstieß, fiel sie ganz heraus. Tom lachte und bekam nun doch sein Echo aus dem Raum, in dem wir vorher waren. Hier lagen Pappkartons mit schimmligen Kleidern, von denen mir keins bekannt vorkam. Tom fand einige seiner alten Spielsachen. Er drehte sie verächtlich [12] mit dem Fuß um und erklärte mir, sie wären etwas für Babys. Hinter der Tür lag in einem Haufen ein altes Messing-Gitterbett, in dem wir alle irgendwann schon geschlafen hatten. Tom wollte, daß ich es für ihn zusammensetzte, und ich erklärte ihm, Gitterbetten wären auch etwas für Babys.

Am Fuß der Treppe trafen wir unseren Vater, der gerade herunterkam. Ich sollte, sagte er, bei den Säcken mit anpacken. Wir gingen mit ihm in den großen Raum zurück. Tom hatte Angst vor seinem Vater und hielt sich ein gutes Stück hinter mir. Julie hatte kürzlich zu mir gesagt, jetzt, wo Vater Halbinvalide sei, müsse er mit Tom um Mutters Aufmerksamkeit konkurrieren. Das war ein sonderbarer Gedanke, und ich dachte lange darüber nach. So einfach, so grotesk, Konkurrenz zwischen einem kleinen Jungen und einem erwachsenen Mann. Später fragte ich Julie, wer gewinnen würde, und sie sagte ohne zu zögern, »Tom natürlich, und Daddy wird’s an ihm auslassen.«

Und er war streng mit Tom, nörgelte und stichelte dauernd an ihm herum. Er setzte Mutter ähnlich gegen Tom ein, wie seine Pfeife gegen sie. »Sprich nicht in diesem Ton mit deiner Mutter«, oder, »Sitz gerade, wenn deine Mutter mit dir redet.« Sie nahm das alles schweigend hin. Wenn Vater dann aus dem Zimmer ging, lächelte sie Tom kurz zu oder strich ihm die Haare glatt. Jetzt [13] blieb Tom ein Stück vor der Tür stehen und sah zu, wie wir die einzelnen Säcke gemeinsam über den Boden schleiften und sie dabei in zwei ordentlichen Reihen an der Wand stapelten. Seit seinem Herzschlag durfte mein Vater solche Arbeit nicht mehr machen, aber ich sorgte dafür, daß er genausoviel trug wie ich.

Wenn wir uns bückten und jeder von uns nach einem Sackzipfel griff, merkte ich, wie er abwartete, bis ich ihm die Last abnahm. Aber ich sagte, »Eins, zwei, drei…« und zog erst, wenn ich ihn den Arm anspannen sah. Wenn ich mehr für ihn tun sollte, dann wollte ich es von ihm laut und deutlich bestätigt haben. Als wir fertig waren, traten wir zurück, wie Arbeiter das tun, und betrachteten unser Werk. Mein Vater stützte sich mit der Hand gegen die Wand und atmete schwer. Ich atmete absichtlich so leicht ich konnte, durch die Nase, obwohl mir dabei schwindlig wurde. Die Hände stützte ich lässig in die Hüften. »Zu was brauchst du das alles?« Ich glaubte, ich hätte jetzt ein Recht zu fragen.

Er schnappte zwischen Atemstößen nach Worten. »Für… den Garten.« Ich wartete auf eine Fortsetzung, aber nach einer Pause wandte er sich zum Gehen. In der Tür griff er nach Toms Arm. »Sieh bloß, wie deine Hände wieder aussehen«, jammerte er, ohne zu merken, was er mit seiner [14] Hand auf Toms Hemd anrichtete. »Los jetzt, hinauf mit dir.« Ich blieb noch einen Augenblick und drehte dann die Lichter aus. Als er das Knipsen hörte, so schien mir, blieb mein Vater am Treppenende stehen und mahnte mich streng, auch ja die Lichter auszumachen, bevor ich nach oben ging.

»Hab ich doch grade«, sagte ich gereizt. Aber er hustete laut im Hinaufgehen.

Er hatte seinen Garten weniger angelegt als konstruiert, nach Plänen, die er manchmal abends auf dem Küchentisch ausbreitete; wir schauten ihm dann über die Schulter. Schmale Plattenpfade waren in kunstvollen Kurven unterwegs zu Blumenbeeten, die nur ein paar Schritte entfernt lagen. Ein Pfad wand sich in Spiralen an einem Steingarten hoch, als sei es ein Gebirgspaß. Einmal ärgerte Vater sich, als er sah, daß Tom den Steingarten hochstieg, indem er den Pfad wie eine kurze Stiege benutzte.

»Geh ordentlich hinauf«, schrie er aus dem Küchenfenster. Ein Rasen von der Größe eines Bridgetisches war einen knappen Meter erhöht auf einem Felshaufen angelegt. An seinem Rand war gerade Platz genug für eine einzelne Reihe Ringelblumen. Er nannte das als einziger den hängenden Garten. Genau in der Mitte des hängenden Gartens stand ein tanzender Pan aus Gips. Da und dort waren unvermutete Treppen, [15] runter, dann rauf. Es gab einen Teich mit blauem Plastikgrund. Einmal brachte er zwei Goldfische in einer Plastiktüte heim. Die Vögel fraßen sie noch am selben Tag. Die Wege waren so schmal, daß man leicht das Gleichgewicht verlieren und in die Blumenbeete fallen konnte. Von Blumen wollte er, daß sie ordentlich und symmetrisch waren. Tulpen hatte er am liebsten und pflanzte sie in wohl bemessenen Abständen. Büsche, Efeu oder Rosen mochte er nicht. Er duldete kein Gewirr. Rechts und links von uns waren die Häuser abgerissen worden, und im Sommer wucherte auf den leeren Grundstücken üppig das Unkraut mit seinen Blüten. Vor seinem ersten Herzinfarkt hatte er um seine eigene kleine Welt eine hohe Mauer bauen wollen.

In der Familie gab es einige stehende Witze, von meinem Vater aufgebracht und beibehalten. Gegen Sue, weil sie fast unsichtbare Augenbrauen und Wimpern hatte, gegen Julie, weil sie unbedingt eine berühmte Sportlerin werden wollte, gegen Tom, weil er manchmal sein Bett vollpißte, gegen Mutter, weil sie schwach war im Rechnen, und gegen mich, weil ich damals die ersten Pickel kriegte. Einmal beim Abendessen reichte ich ihm einen Teller, und er bemerkte, er möchte nicht, daß sein Essen meinem Gesicht zu nahe käme. Das Gelächter war prompt und rituell. Weil Witzchen dieser [16] Art immer von meinem Vater inszeniert waren, richteten sie sich nie gegen ihn. Am gleichen Abend sperrten Julie und ich uns in ihrem Zimmer ein und machten uns daran, ganze Seiten mit plumpen, überstrapazierten Witzen vollzuschreiben. Alles, was uns einfiel, kam uns komisch vor. Wir fielen aus dem Bett auf den Boden, hielten uns die Seiten und kreischten vor Vergnügen. Draußen hämmerten Tom und Sue an die Tür und wollten hereingelassen werden. Unsere besten Witze, glaubten wir, waren die mit Frage und Antwort. Mehrere galten Vaters Verstopfung. Aber wir kannten die wahre Zielscheibe. Wir wählten den besten aus, feilten und probten ihn. Dann warteten wir ein, zwei Tage. Es war beim Abendessen, und zufällig kam er auch wieder mit einem Späßchen über meine Pickel daher. Wir warteten, bis Tom und Sue nicht mehr lachten. Mein Herz schlug so heftig, daß es mir schwerfiel, den beiläufigen Gesprächston zu finden, den wir eingeübt hatten. Ich sagte, »Heute hab ich was im Garten gesehen, das hat mich richtig erschreckt.«

»So«, sagte Julie. »Was denn?«

»Eine Blume.«

Niemand schien uns zu hören. Tom führte Selbstgespräche, Mutter goß etwas Milch in ihre Tasse, und Vater bestrich weiter das Stück Brot vor ihm mit Butter. Sobald die Butter sich über [17] die Rinde hinausverirrte, faltete er sie mit einer schnellen, gleitenden Messerbewegung wieder zurück. Ich überlegte, ob wir es noch einmal lauter sagen sollten, und schaute zu Julie hinüber. Sie wich meinem Blick aus. Vater aß sein Brot auf und ging aus dem Zimmer. Mutter sagte, »Das war ausgesprochen überflüssig.«

»Was denn?« Aber mit mir sprach sie nicht mehr. Über Vater wurden keine Witze gerissen, denn sie waren nicht komisch. Er war beleidigt. Ich hatte Schuldgefühle, und wollte doch verzweifelt in Hochstimmung sein. Ich versuchte Julie von unserem Sieg zu überzeugen, damit sie dann ihrerseits mich überzeugte. Wir ließen Sue am Abend heraufkommen und zwischen uns liegen, aber das Spiel machte uns keinen Spaß. Sue war gelangweilt und verzog sich. Julie war dafür, daß wir uns entschuldigten, es irgendwie wieder ausbügelten. Dazu konnte ich mich nicht durchringen, aber als er zwei Tage darauf wieder zum erstenmal mit mir redete, war ich sehr erleichtert. Danach wurde der Garten lange nicht mehr erwähnt, und wenn Vater seine Pläne auf dem Küchentisch ausbreitete, betrachtete er sie alleine. Nach seinem ersten Herzanfall hörte er mit der Gartenarbeit ganz auf. Unkraut trieb aus den Sprüngen in den Steinplatten, ein Teil des Steingartens stürzte ein, und der kleine Teich trocknete aus. Der tanzende Pan [18] fiel um und zerbrach in zwei Stücke, aber es wurde nicht darüber gesprochen. Die Möglichkeit, Julie und ich könnten für diesen Verfall verantwortlich sein, erfüllte mich mit Schauder und Entzücken.

Kurz nach dem Zement kam der Sand. Ein hellgelber Haufen füllte die eine Ecke des Vorgartens aus. Es stellte sich heraus, wohl über meine Mutter, daß geplant war, das Haus, vorne wie hinten, mit einer gleichmäßigen Zementdecke zu umgeben. Eines Abends bestätigte mein Vater das.

»Es sieht dann ordentlicher aus«, sagte er. »Ich kann den Garten jetzt nicht mehr pflegen« (er klopfte sich mit der Pfeife links auf die Brust), »und eure Mutter hat dann nicht mehr den Dreck auf ihren sauberen Böden.« Er war von der Vernünftigkeit seiner Idee so überzeugt, daß keiner gegen den Plan etwas sagte, weniger aus Angst, sondern weil es so peinlich war. Ich fand an einer großen Zementfläche um das Haus sogar Gefallen. Man konnte Fußball darauf spielen. Ich sah darauf Hubschrauber landen. Aber überhaupt Zement zu mischen und über einen eingeebneten Garten auszubreiten, war eine faszinierende Schandtat. Meine Aufregung wuchs noch, als Vater davon sprach, einen Betonmischer auszuleihen.

Den muß ihm meine Mutter ausgeredet haben, denn eines Samstagmorgens im Juni gingen wir [19] mit zwei Schaufeln an die Arbeit. Im Keller schlitzten wir einen der Papiersäcke auf und füllten einen Zinkeimer mit dem blaßgrauen Pulver. Dann ging mein Vater hinaus, um mir den Eimer abzunehmen, den ich ihm durch die Kohlenluke hinaufreichte. Als er sich vornüber beugte, war er ein Schattenriß vor dem weißen, ausdruckslosen Himmel dahinter. Er schüttete das Pulver auf den Pfad und gab mir den Eimer zum Nachfüllen zurück. Als wir genug davon hatten, holte ich einen Schubkarren voll Sand aus dem Vorgarten und schüttete ihn zum Haufen dazu. Vater wollte um die eine Hausseite einen festen Weg anlegen, damit man den Sand leichter zum hinteren Garten bringen konnte. Außer seinen spärlichen, knappen Anweisungen sprachen wir nichts. Es gefiel mir, daß wir beide so genau wußten, was zu tun war und was der andere gerade dachte, daß wir nicht zu reden brauchten. Endlich einmal fühlte ich mich wohl mit ihm zusammen. Während ich mit dem Eimer Wasser holte, machte er aus Zement und Sand einen Hügel mit einer Mulde in der Mitte. Ich übernahm das Mischen, und er goß das Wasser zu. Er zeigte mir, wie ich die Hebelwirkung verbessern konnte, wenn ich mich mit dem Unterarm innen am Knie abstützte. Ich tat so, als hätte ich das schon gewußt. Als die Mischung gleichmäßig war, verteilten wir sie auf dem Boden. Dann kniete [20] sich mein Vater hin und glättete mit der Breitseite eines kurzen Bretts die Oberfläche. Ich stützte mich hinter ihm auf meine Schaufel. Er stand auf, hielt sich am Zaun fest und schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, blinzelte er, als wäre er überrascht, sich hier zu finden, und sagte, »Na, dann wollen wir mal weitermachen.« Wir wiederholten den Vorgang, die Eimerladungen durch die Kohlenluke, die Schubkarre, das Wasser, das Mischen, Verteilen und Glätten.

Bei der vierten Runde wurden meine Bewegungen von Langeweile und den altbekannten Sehnsüchten langsamer. Ich gähnte des öfteren und fühlte mich schwach in den Kniekehlen. Im Keller steckte ich die Hände in die Unterhose. Ich fragte mich, wo meine Schwestern waren. Warum halfen sie nicht mit? Ich reichte meinem Vater einen Eimer voll hinaus und sagte zu seinem Umriß, ich müßte aufs Klo. Er seufzte und machte dabei ein Geräusch mit der Zunge gegen den Gaumen. Oben angekommen, seiner Ungeduld bewußt, bearbeitete ich mich hastig. Wie immer hatte ich dabei das Bild von Julies Hand zwischen Sues Beinen vor mir. Von unten konnte ich das Scharren der Schaufel hören. Mein Vater mischte den Zement selber. Dann geschah es, es erschien ganz plötzlich auf meinem Handgelenk, und obwohl ich aus Witzen and Biologieschulbüchern davon wußte und seit [21] vielen Monaten darauf gewartet hatte, in der Hoffnung, nicht anders als die andern zu sein, war ich jetzt doch erstaunt und bewegt. Auf dem flaumigen Haar, hingezogen über den Rand eines grauen Betonflecks, schimmerte eine kleine flüssige Spur, nicht milchig, wie ich gedacht hatte, sondern farblos. Ich tupfte mit der Zunge daran, und es schmeckte nach nichts. Ich starrte es lange an, von ganz nah, um die kleinen Dinger mit den langen flimmernden Schwänzchen zu finden. Wie ich es betrachtete, trocknete es ein zu einer kaum sichtbaren, glänzenden Kruste, die Risse bekam, als ich mein Handgelenk beugte. Ich beschloß, sie nicht abzuwaschen.

Mir fiel ein, daß mein Vater wartete und ich ging rasch hinunter. Als ich durch die Küche lief, standen meine Mutter, Julie und Sue herum und redeten. Sie schienen mich nicht zu bemerken. Mein Vater lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, sein Kopf ruhte auf dem frisch verteilten Zement. Das Brett zum Glätten hielt er in der Hand. Ich ging langsam näher und wußte, daß ich nach Hilfe laufen mußte. Mehrere Sekunden lang konnte ich mich nicht wegbewegen. Ich starrte voller Staunen, wie wenige Minuten zuvor auch. Ein schwacher Luftzug lüpfte einen losen Zipfel von seinem Hemd. Anschließend gab es viel Lärm und Hin und Her. Ein Krankenwagen kam, und [22] 

[23] 2

Im Jahr darauf trainierte Julie, um in die Leichtathletikmannschaft ihrer Schule zu kommen. Die lokalen Rekorde im 90- und 200-Meter-Sprint in der Gruppe der Unterachtzehnjährigen hatte sie schon. Sie konnte schneller laufen als irgendjemand, den ich kannte. Vater hatte sie nie ernst genommen, er sagte, Schnellauf wäre etwas Dämliches für ein Mädchen, und nicht lang vor seinem Tod weigerte er sich, mit uns zu einer Sportveranstaltung zu kommen. Wir setzten ihm heftig zu, sogar Mutter beteiligte sich. Er lachte über unsere Erbitterung. Vielleicht wollte er wirklich noch hingehen, aber wir ließen ihn allein und waren beleidigt. Weil wir ihn an dem betreffenden Tag nicht nochmal aufforderten, vergaß er es, und sein letzter Lebensmonat ging vorbei, ohne daß er seine ältere Tochter als Star des Sportplatzes gesehen hätte. So versäumte er ihre hellbraunen, schlanken Beine, die wie Klingen über den Rasen flitzten, und mich, Tom, Mutter und Sue, wie wir durch die Absperrung rannten und Julie abküßten, als sie ihr drittes Rennen gewann. Abends blieb sie oft zu Hause und wusch sich die [24] Haare, oder bügelte den marineblauen Faltenrock ihrer Schuluniform. Sie gehörte zu der Handvoll verwegener Mädchen an der Schule, die gestärkte weiße Petticoats unter dem Rock trugen, damit sie sich bauschten und hochwirbelten, wenn sie sich auf den Absätzen drehten. Sie trug Strümpfe und schwarze Schlüpfer, was streng verboten war. Fünf Tage die Woche hatte sie eine saubere weiße Bluse. Manchmal band sie am Morgen ihr Haar im Nacken mit einem strahlend weißen Band zusammen. Das alles erforderte jeden Abend erhebliche Vorbereitungen. Ich lungerte gewöhnlich herum, sah ihr am Bügelbrett zu und fiel ihr auf die Nerven.

Sie war mit einigen Jungen in der Schule befreundet, aber ließ sie nie wirklich an sich heran. Es war eine unausgesprochene Familienregel, daß keiner von uns je Freunde nach Hause brachte. Ihre engsten Freundschaften hatte sie mit Mädchen, den aufsässigsten, die schon einen Ruf hatten. Ich sah sie manchmal in der Schule weit weg am Ende eines Gangs, umgeben von einer kleinen, lärmenden Gruppe. Aber Julie selbst gab wenig von sich preis, sie beherrschte ihre Gruppe und festigte ihr Ansehen durch ihr einschüchterndes, jegliche Unterhaltung sprengendes Schweigen. Ich stand als Julies Bruder in einem gewissen Ansehen in der Schule, aber nie sprach sie dort mit mir oder nahm meine Anwesenheit zur Kenntnis.

[25]