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Kai Hagenbuchs Sommer beginnt desaströs, denn ein Unfall befördert ihn in das Reich der Geister und zwingt ihn sich endlich seiner unerledigten Aufgabe zu stellen. Er weiß jedoch nicht, dass auch sein Körper noch im Diesseits wandelt. Gleichzeitig findet Daria einen Untoten auf dem Friedhof und beschließt, ihn mit nach Hause zu nehmen, sehr zum Entsetzen ihres besten Freundes Steve. Für die beiden beginnt ein gefährliches Abenteuer, das irgendwie mit Kais Schicksal verbunden zu sein scheint, denn auch noch andere sind hinter ihrem Zombie her…
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Seitenzahl: 309
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Alexa Abrahams (Ps.) wurde 1982 in einem kleinen Dorf geboren. Nach Beendigung ihrer kaufmännischen Ausbildung zog sie mit ihrer Familie ins Badenländle, wo sie ihre Liebe zur Schriftstellerei entdeckte. Diese Liebe lebt sie auch nach einem weiteren Umzug ins hügelige Kraichgau weiter aus. Ihre Geschichten erschienen in mehreren Anthologien und seit 2012 hat sie bereits drei Romane veröffentlicht.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Epilog
»Hast du sie gesehen?«
Daria blickte starr geradeaus. Nicht reagieren, auf keinen Fall reagieren. Aber die Verlockung wuchs von Augenblick zu Augenblick. Sie spähte aus den Augenwinkeln zu dem Mann neben sich. Jener Mann, der ihr bereits aus einigen Metern Entfernung aufgefallen war. Jener Mann, dessen rundlicher Körper in einem dicken Fleecepulli steckte, während die Hose löchrig und schmutzig seine Beine bedeckte. Alles in allem viel zu warm für den Sommer. Sein schleichender Gang und die Ruhelosigkeit seiner Lippen, die unentwegt Worte in die Welt entließen – ja, das alles hatte sie bereits, seit sie hier lehnte, bemerkt. Vielleicht hatte er ja gar nicht sie gemeint?
»Du hast sie gesehen, nicht wahr?«
Fehlanzeige – er sprach sie direkt an, hielt ihrem bohrenden Blick stand. Daria seufzte.
»Wen soll ich gesehen haben?«
Dumme Nuss. Was waren die Regeln? Nicht anschauen, nicht antworten – hatte Mama das nicht immer gesagt? Nun war es zu spät. Er hatte den Köder ausgelegt und sie hatte angebissen. Wie ein hungriger Fisch, ein sehr hungriger.
»Die Monster.«
Seine Antwort troff vor inbrünstiger Überzeugung. Da gab es kein Flackern in den Augen, kein Zucken der Mundwinkel, dieser Mann meinte, was er sagte.
»Monster? Du meinst diese Kreaturen, die sich unter Betten und im Schrank verstecken?«
Kaum, dass sie es ausgesprochen hatte, wischte der Mann ihren Einwurf mit einer fahrigen Handbewegung fort. Danach rückte er etwas näher und berührte sie sacht am Arm. Instinktiv hielt die Sechzehnjährige die Luft an.
»Zombies.«
Hilfe suchend spähte Daria am zerzausten Haar des Fremden vorbei, um nachzusehen, wo ihr Kumpel so lange blieb. Steve stand bereits an der Theke des kleinen Cafés und gab seine Bestellung auf. Ein Fluch lag auf Darias Lippen, doch sie verkniff ihn sich.
»Es gibt keine Zombies, Alter.«
Als hätte er sich verbrannt, wich der Mann einen Schritt zurück – endlich konnte sie wieder atmen. Dennoch stand der unangenehme Geruch nach Schweiß, Dreck und Alkohol zwischen ihnen.
»Sie sind unter uns!«
Daria stieß sich von der warmen Hauswand ab und wandte sich dem Fremden zu.
»Weniger Alkohol und man könnte das gleiche von dir behaupten. Und nun zisch ab.«
Der Mann musterte sie abschätzig, mehr noch, er sah ernsthaft gekränkt aus, doch Daria schob die Meldung ihres schlechten Gewissens tapfer beiseite.
»Hast du einen Euro für mich?« Dann begann er zu röcheln und stützte sich an der Wand ab. Es klang, als würde er jeden Augenblick seine Lungen vor ihr aushusten – sie rümpfte die Nase.
Als sich der Fremde wieder gefangen hatte, sah er sie erwartungsvoll an. Ohne einen Kommentar stülpte Daria die leeren Taschen ihrer Shorts nach außen. Ein paar Fussel des mehrfach mitgewaschenen Taschentuchs rieselten auf den Bürgersteig. Der Mann winkte genervt ab, als hätte sie seine Zeit vergeudet.
»Irgendwann wird die ganze Welt an meine Worte denken.«
Dann schlurfte er, ohne eine Antwort abzuwarten, weiter. Erleichtert atmete Daria aus und lehnte sich wieder an die Hauswand. Die Sonne beschien ihren zarten Körper und vertrieb das unheimliche Gefühl, das der seltsame Stadtstreicher in ihr ausgelöst hatte. ›Zombies‹, spukte es durch ihre Gedanken, die sie durch sachtes Schütteln des Kopfes zu vertreiben versuchte. Das war bei Weitem die beste Schnorrer-Masche gewesen, die ihr in München je untergekommen war.
»Hier, nimm dein Vieh zurück.«
Das war Steve, der sich neben ihr bemerkbar machte. In seinen Händen balancierte er zwei durchsichtige Becher, die mit Kaffee, Eis und jeder Menge Sahne gefüllt waren. An seinem Unterarm baumelte Darias Tasche – ein Traum aus zotteligem, braunem Fell.
»Nächstes Mal suchst du dein Geld vorher raus. Ich hab da drin Dinge gesehen, die mich noch in meine Träume verfolgen werden«, beschwerte sich Steve, während Daria die Tasche und ihren Kaffeebecher an sich nahm.
»Quatsch, da sind doch nur Frauensachen drin.«
»Eben.«
Nun musterte sie ihn genau, doch als Daria seine Mundwinkel zucken sah, grinste sie ebenfalls breit.
»Du bist ein Arsch, weißt du das?«
»Und deshalb magst du mich so, ich weiß, ich weiß.« Steve klang wie ein überheblicher Möchtegern-VIP. Aber er spielte die Rolle überzeugend, das musste sie ihrem besten Freund lassen.
Gemeinsam schlenderten sie nebeneinander her und gaben sich ihren leckeren Getränken vollkommen hin, während die Sonne auf beide herabschien und die Münchner auf die Straßen lockte.
»Wie lange musst du heute?« Daria kannte die Antwort, weil es nicht das erste Mal war, dass sie ihren Kumpel zur Bayerischen Staatsbibliothek begleitete. Dennoch loderte in ihr das Bedürfnis, die restlichen Meter des Weges nicht schweigend zu verbringen. Sie konnte Ruhe nicht ausstehen und außerdem fand sie es ein klein wenig doof, dass Steve seine Sommerferien mit Arbeiten verbrachte.
Steve nahm einen kräftigen Schluck von seinem Kaffee, leckte die Sahne genüsslich von seinen schmalen Lippen und schaute mit zusammengekniffenen Augen zu seiner Freundin. In seinem Blick las sie die Antwort, kombiniert mit einem Einwurf wie…
»Du hast auch schon bessere Fragen gestellt.«
Nun, er war heute schneller als ihre Gedanken, scheinbar war ihr nötiges Koffeinlevel noch nicht erreicht. Sie kicherte und schob die Sonnenbrille von ihren Haaren zurück auf ihre Nase. »Du weißt, wie ich es meine.«
Steve brummte, während er den Becher beinahe waagrecht nach oben hielt und versuchte, mit einem gelb gestreiften Strohhalm die letzten Reste Sahne und Kaffee in seinen Mund zu schieben. Anschließend beförderte er den Becher mit einem gezielten Wurf in eine nahe gelegene Mülltonne, die sich mithilfe zweier Metallriemen an eine Straßenlaterne klammerte.
»Natürlich weiß ich das. Bis sechs«, antwortete er und fuhr sich durch sein braunes Haar. Daria mochte diese Geste an Steve. Er wirkte dabei natürlich, kein Stück gekünstelt und außerdem offenbarte es ihr die Unterseite seiner Unterarme, die sie so wahnsinnig scharf an ihm fand. Eine der schönsten Körperstellen überhaupt, wie Daria offen zugeben musste und das hatte sie Steve bereits mehrfach gesagt. Ob dies einer der Gründe war, weshalb er sich auffallend oft in ihrer Gegenwart durch die Haare fuhr, vermochte die lebhafte Perserin jedoch nicht zu sagen – es war ihr allerdings auch herzlich egal.
»Kommst du danach noch zu mir?«, wollte sie wissen und sog an ihrem Strohhalm. Feine Grübchen bildeten sich in ihrem herzförmigen Gesicht, das durch den schrägen und in grellem Rot gefärbten Pony noch mehr betont wurde.
»Sind deine Eltern daheim?«, entgegnete Steve skeptisch. Er rückte sein Schweißband am Handgelenk zurecht und blickte hoch zum Eingang der Bibliothek. Ein paar Minuten blieben ihm noch.
»Mein Vater nicht, der macht heute länger. Bald geht das Oktoberfest los, er muss also einige Dirndl flicken und Lederhosen umnähen. Meine Mama ist aber da.«
Genervt verzog Steve das Gesicht. Nichts war schlimmer für den Sohn eines Metzgers, als in ein Haus mit eingefleischten Vegetariern zu gehen. Er fühlte sich unter Frau Attars Blicken immer wie der Staatsfeind Nummer eins.
Daria boxte ihm gegen die Schulter, um die Stimmung etwas aufzulockern – es gelang ihr. Erschrocken deutete Steve hinter sie und Daria schaute über ihre Schulter. Sofort packte er sie an der Taille, wirbelte sie herum und nahm sie dann in den Schwitzkasten. Daria lachte, während Steve ihre Mütze vom Hinterkopf zog und die Frisur durcheinander rubbelte, dass die blonden Haare am Hinterkopf herumwirbelten.
»Du Volldepp«, protestierte sie atemlos, gackerte jedoch fröhlich los. Zur Strafe musste Steve ihre Sonnenbrille halten, damit sie sich darin spiegeln und den Sitz ihrer Frisur und der Mütze wieder korrigieren konnte. Wie immer: Rot nach vorne, blond nach hinten. Wozu sonst sollte unterschiedlich gefärbtes Haar gut sein?
Daria nahm die Brille wieder an sich und schob sie auf ihre Nase. Sie standen einander gegenüber, abwartend, was wohl als nächstes passieren würde. Wenn sie geradeaus blickte, sah sie nichts weiter, als seine Brust, die sich unter dem engen Shirt deutlich abzeichnete und von der eine unbändige Anziehungskraft ausging. Daria vergrub ihre Hand im Fell der Handtasche, um dem Drang zu widerstehen, Steve zu berühren, doch ihre Muskeln und Nerven rebellierten. Dann schlang sie die Arme um Steves Nacken und küsste ihn kräftig auf die Wange, damit er einen dicken Abdruck ihres Lippenstifts mit sich trug, und ehe sich Steve versah, rannte sie bereits den Bürgersteig entlang Richtung U-Bahn-Station.
»Bis morgen dann«, rief Steve ihr hinterher, was Daria mit einem flüchtigen Winken bestätigte.
Während er die Stufen zur Bibliothek emporstieg, versuchte er, die letzten Reste von Darias Streich von seiner Wange zu wischen.
Als das Bewusstsein wieder in seinen Körper drang, kroch auch das Gefühl, Tage gelegen zu haben, in seinen Verstand. Und nur wenige träge Wimpernschläge später, war er hellwach und stand auf seinen Beinen.
Wo bin ich hier? Das war der einzige Satz, der Kai Hagenbuch immer und immer wieder durch den Kopf ging. Wie bei einer alten Schallplatte, die immerzu an derselben Stelle hängt. Dabei war es offensichtlich. Das hier war ein Krankenhaus. Es musste eines sein. Es roch danach, trug denselben sterilen Schein mit seinen Gummiböden, den Handläufen an den Wänden und den nichtssagenden Kunstdrucken an der Wand. Dennoch ergab das keinen Sinn. Wie war er hierhergekommen? Seit dem Verlassen seiner Wohnung vor wenigen Tagen, bis zu seinem Erwachen hier, fehlte ihm jegliche Erinnerung. Sie war gelöscht oder zumindest so tief vergraben, dass er sie nicht abrufen konnte. Irgendetwas blockierte sie. Vielleicht war es ein Schutz, vielleicht aber auch nur Willkür seines Gehirns. Das galt es, herauszufinden.
Kai starrte auf die Dame hinter dem Tresen. Sie saß da, schichtete ein Blatt von einem auf den nächsten Stapel und zog dabei ein Gesicht, das ihre Unlust mehr als deutlich zur Schau stellte. Ihre schwarzen Haare hatte sie streng zu einem Pferdeschwanz gebunden, was wiederum einen leichten Liftingeffekt auf die Falten rings um die dunklen Augen und die hängenden Wangenknochen hatte. Aber eben nur leicht. Ihr untersetzter Körper drohte den weißen Kittel über ihrem Busen zu sprengen. Es war wie bei einem Unfall, obwohl Kai es nicht wollte, kam er nicht umhin, dauernd auf den kleinen Knopf des Kittels zu blicken. Jener Knopf, der ihre unbedeckte Blöße vor der Außenwelt verbarg. Ein winziger Knopf, der sich krampfhaft an den Saum des ausgeleierten Knopflochs klammerte.
Eine Schwester, in dunkles Blau gehüllt, wuselte knapp an Kai vorbei und sorgte dafür, dass er sich wieder in Erinnerung rief, weswegen er hier herumstand.
Niemand schien Notiz von ihm zu nehmen. Wie so oft in München. Jeder kochte sein eigenes Süppchen, ohne Rücksicht auf andere. Eine Stadt voller Einzelkämpfer. Die Warmherzigkeit und Gastfreundlichkeit der Münchner war ein hart verdientes Gut.
Kai schnaufte einige Male durch, ehe er genug Mut gesammelt hatte, um die Dame hinter ihrem Tresen anzusprechen.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte er, offenbar zu leise, denn die Frau sortierte unbeirrt weiter und kritzelte in braun eingeschlagenen Akten herum. Kai räusperte sich, ehe er erneut ansetzte.
»Hallo, können Sie mir sagen, wo ich hier bin?«
Kai machte eine ausladende Geste, in der Hoffnung, seinen Worten dadurch Nachdruck zu verleihen. In seinen zweiundzwanzig Jahren hatte er sehr genau mitbekommen, wie man auf sich aufmerksam machte, doch die Dame vor ihm schien eine harte Nuss zu sein.
»Klinikum Neuwittelsbach, Intensivstation, Sie sprechen mit Schwester Gabriele, was kann ich für Sie tun?« Sie schenkte Kai ein bezauberndes Lächeln, während sie diesen Spruch hinunter leierte. Wieder war Kai an die hängende Schallplatte seiner Gedanken erinnert. Intensivstation echoten seine Gedanken – das war eine Ansage, jedoch eine, mit der er nichts anzufangen wusste. Was suchte er hier? Es ging ihm gut. Ihn plagten keine Schmerzen. Außerdem fehlte ihm noch immer die Information, wie er hierhergekommen war.
Kai stand unter Druck, wenn Schwester Gabriele nicht augenblicklich das Interesse an ihm verlieren sollte, musste er handeln.
»Weswegen bin ich hier?«
Die erstbeste und wohl einfachste Frage, die Kai in den Sinn kam. Nur am Tonfall sollte er noch feilen. Er empfand sich selbst als zu harsch und das tat ihm leid, wenngleich er davon absah, sich dafür zu entschuldigen.
»Meine Schicht hat eben erst begonnen, wenn Sie mir sagen, um wen es geht, kann ich im Computer nachsehen.«
Schwester Gabriele richtete ihren Blick auf den Monitor vor sich und machte ihre Finger bereit, um diese über die Tasten gleiten zu lassen.
»Kai Hagenbuch ist mein Name, wie Hagen und das Buch.«
Interessiert lehnte sich Kai vor, um ihren Fingern dabei zuzusehen, wie sie seinen Namen in den Computer hämmerten. Nachdem das erledigt war, stierte die Schwester in den Computer. Ihre Lippen bewegten sich, während kein Ton von ihnen abfiel. Ungeduldig musterte Kai die Umgebung. Zwischen den Zimmern liefen Leute umher, einer beschäftigter als der andere. Sie trugen mal weiße, mal blaue, mal grüne Kittel. Manche trugen Klemmbretter oder ganze Akten vor sich her, und wieder andere trugen Infusionsbeutel. Der Geruch von Desinfektionsmittel hing aufdringlich in der Luft. Ein Orchester aus piependen und surrenden Geräten hallte auf den Flur hinaus und drohte Kai den Verstand zu rauben. Er wollte endlich wissen, was los war. Also richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf Schwester Gabriele.
»Ja, dieser Name ist hier aufgeführt.«
Mit krauser Stirn musterte Kai die Stationsschwester – war das alles? Eine Bestätigung, dass sein Name im Computer war? Erst jetzt bemerkte er, dass Gabriele zwischenzeitlich eine rot umrahmte Brille auf ihre Nase gesetzt hatte. Unsicher fasste er an seine Stirn. Er war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob es ihm gut ging. Schwindel erfasste ihn und ließ ihn augenblicklich wieder los.
Kai hielt sich am Tresen fest und sah zu Schwester Gabriele, die stur in ihren Bildschirm starrte. Das Flackern spiegelte sich in ihren Gläsern und Kai war versucht, sich näher zu beugen, um die Reflexionen zu entschlüsseln, entschied sich dann aber doch dagegen.
»Und weswegen bin ich hier?«, versuchte er an weitere Informationen zu kommen.
»Das darf ich Ihnen nicht sagen.«
Kai rollte mit den Augen. Allmählich verließ ihn die Geduld.
»Hören Sie, Schwester Gabriele, mein Kopf schmerzt höllisch und ich habe das Gefühl, keine Luft zu bekommen, also bitte sagen Sie mir, was geschehen ist: Weswegen bin ich hier?«
Ein grelles Piepsen aus dem Raum schräg gegenüber dem Tresen ließ Kai herumfahren. Sein Kopf drohte augenblicklich zu zerbersten, seine Lungen blähten sich auf und trotzdem hatte er das Gefühl, keinen Sauerstoff aufnehmen zu können. Das unerträgliche Fiepen steigerte sich. Stimmen drangen zu ihm durch, alles drehte sich, wie bei einer wilden Kettenkarussellfahrt, die Kai ohnehin nicht ausstehen konnte.
Mit purem Entsetzen in den Augen wandte sich Kai erneut an Schwester Gabriele, die bereits aufgesprungen war, wild einige Knöpfe auf ihrem Pult betätigte und sich dann eine Art Antenne aus dem Ohr riss.
Kai wunderte sich, dass ihm dieses kleine, schwarze Gerät zuvor nicht aufgefallen war.
Plötzlich spürte er deutlich ein unangenehmes Kratzen im Hals, er versuchte sich dagegen zu wehren, hustete, doch es half nichts. Dann umgab ihn Kälte. Sie war überall, strich um seinen Körper, umhüllte ihn. Sowohl von innen als auch von außen. Dann war es deutlich: Hände. Sie waren überall. An seinem Hals, an seiner Brust, selbst an den Beinen.
Hände, die in Einweghandschuhen steckten. Deutlich nahm er die gummierte Oberfläche wahr. Kai sah an sich herunter, sah das Krankenhaushemd, er sah es, und auch wieder nicht. Eine Fata Morgana, dachte er, schloss die Lider, öffnete sie, schüttelte den Kopf. Die Farben und Formen vor seinen Augen verschwammen. Dann fuhr ein unsagbar beißender Schmerz durch seinen Körper. Sein Brustkorb brannte wie die Flammen der Hölle. Verzehrend, gierig und unerbittlich.
Kai stürzte auf die Knie. Abermals dieser Schmerz, der ihm die Luft zum Atmen raubte, dann hörte er ein durchgehendes Fiepen. Wieder begann sich die Welt um ihn herum zu drehen, erst langsam, dann schneller und wieder langsamer. Dann fraß sich nochmals dieser grässliche Schmerz in sein Herz – erbarmungslos.
Mühsam kroch Kai voran. Immer weiter auf die Tür zu, in die alle hineingerannt waren. Der Abstand war nicht weit, doch Kai glaubte, sein Ziel unmöglich erreichen zu können. Dennoch trieben ihn ungeahnte Kräfte an. Er brauchte Hilfe, dringend, und er hoffte, diese hinter jener Schwelle zu erhalten. Das Piepen wurde lauter, umso näher er kam, es quälte seine Ohren, dröhnte mit unwirschem Echo in seinem Kopf. Wieder dieser Schmerz. Kalt und unersättlich. Er spürte, wie sich Magensäure seinen Hals empor drängte und wie er es als unmöglich empfand, diese hinunterzuschlucken. Und zwischen all der Anstrengung, all der Qual, tönte immerzu das Fiepen. Lang, laut und die einzige Konstante in diesem grausamen Orchester.
Mit letzter Kraft erreichte Kai den Türrahmen. Seine Sicht verschwamm, klarte wieder auf, ehe sich die Welt erneut drehte.
»Zeitpunkt des Todes: 22:10 Uhr.« Er hörte die Worte, wusste um ihre Bedeutung und dennoch verstand er sie nicht.
Das furchtbare Piepsen erlosch, die Leute im Raum schwiegen. Einige wandten sich vom Bett ab, eilten weiter, andere hantierten mit Schläuchen. Kais Sicht klarte auf und er erhaschte einen Blick auf die Person im Bett. Ein Beatmungsschlauch steckte im Mund des Patienten, während der Kopf mit einem dicken Verband umhüllt war.
Kai japste nach Luft, presste die Hand an seine Kehle – er kannte den Mann auf dem Bett – er selbst war es! Es war Kai Hagenbuch!
Kraftlos sackte Kai zusammen und blieb liegen. Die Leute gingen einfach durch ihn hindurch, ohne dass er es gespürt hätte, oder dass man von ihm Notiz genommen hätte. Er sah das Licht an der Decke über sich. Das kalte, grelle Neonlicht.
Seine Sicht verschwamm, wurde leer. Ganz leise drang die Stimme einer Frau an seine Ohren. Eine bekannte Stimme, eine Stimme, die er abgöttisch liebte. Sie schrie.
Schrie sie bereits die ganze Zeit? Sie klang viel rauer als sonst und von Angst und Verzweiflung geschwängert, und zerrissen, wie durch ein Telefon.
»Sprechen Sie mit mir verdammt, bitte sprechen Sie mit mir: Kai Hagenbuch, was ist mit ihm?«
Mit Erreichen der U-Bahn-Station nahe der Bibliothek hatte auch Daria ihren Becher leer getrunken und genoss das kühle Gefühl in ihrem Magen. Die Sommerferien hatten erst vor wenigen Tagen begonnen, doch die Sonne tat alles, um vom ersten Tag an gute Laune zu verbreiten. Wenn es nach Daria ging, konnte das Gymnasium ruhig viel länger geschlossen bleiben.
Daria stand vor den Fahrplänen. Sie kannte ihre Linie, kannte sogar die Uhrzeit, dennoch verharrte sie vor der beschmierten Plexiglasscheibe. Nicht zuletzt, um den Sitz ihrer Haare in der Reflexion zu überprüfen. Ihr weißes Shirt war ihr von einer Schulter gerutscht und offenbarte darunter ein schwarzes Tanktop, das sich eng an ihren Körper schmiegte. Trotz der luftigen Kleidung war ihr warm. Schweiß glitzerte auf ihrem Körper und nahm jeden Windhauch, der von der Straße herunter in die Station wehte, dankbar auf.
Mit einem gezielten Griff in ihre Umhängetasche, die durch das zottelige Material Ähnlichkeit mit einem gerupften Teddybären besaß, kramte sie ihren Lippenstift hervor. Kurz darauf erstrahlten ihre Lippen wieder in einem dunklen lilafarbenen Schimmer. Sie war bei Weitem keine Tussi, aber ein gewisses Erscheinungsbild musste sein. Schließlich hatte sie einen Ruf zu verlieren. Obwohl – eigentlich nicht. Sie galt als zickig, eigenbrötlerisch und stur. Alles Eigenschaften, die sie rigoros abstritt. Das Einzige, was sie sich vorwerfen ließ, war ihre Offenheit. Der verdankte sie es, dass diese Schulpüppchen mit ihren blonden Locken und den perfekt manikürten Nägeln nichts mit ihr anzufangen wussten. Ein Umstand, der Daria ganz recht war, so konnte sie sich auf ihre wahren Freunde konzentrieren. Also, auf Steve. Und er war immer an ihrer Seite, bereits seit jenem Tag, als sie den ersten Sandkuchen im Kindergarten gebacken … und Steve gezwungen hatte, ihn zu essen.
Eine Gruppe Teenager weckte Darias Interesse. Die vier unterhielten sich lautstark. Zwei von ihnen ließen sich lässig auf der Wartebank nieder, während die anderen beiden jeweils einen Fuß auf den Rand der Sitzflächen stellten. Einer der Burschen drehte sich eine Zigarette, während ein anderer an einem Energydrink nippte.
Daria packte ihren Lippenstift hastig zurück in ihre Tasche und trat näher an die Haltestelle. Mit einer Schulter lehnte sie sich an eine deckenhoch gekachelte Säule. Die Kälte, die von der Wand ausging, tat gut. Daria genoss das Gefühl und lehnte ihre Stirn ebenfalls gegen die Säule.
Einer der Teenager rülpste ordinär und amüsierte sich über das Echo, das von den U-Bahn-Wänden reflektiert wurde. Daria reagierte mit rollenden Augen. Das war genau der Grund, weshalb ihr Gleichaltrige normalerweise auf den Keks gingen. Dieses Profilieren um jeden Preis war ihr schlichtweg zuwider. Steve war da anders. Er ließ sich steuern, manchmal sogar manipulieren – Daria wusste genau, welche Knöpfe sie drücken musste – dennoch hatte er Stil.
»Ey, Prinzessin, wie spät ist es?«
Laut und deutlich hallte die Frage durch die Station. Da Daria weder Prinzessin hieß, noch eine Uhr an den unbekleideten Handgelenken vorzuweisen hatte, reagierte sie nicht.
»Ey, ich rede mit dir.«
Daria ließ sich herab, einen Blick zu den Teenagern zu werfen. Wenn sie sich nicht komplett verschätzte und die sprießenden Härchen um Mund und Kinn und die Pickel auf Wange und Stirn richtig deutete, lag der Altersdurchschnitt bei sechzehn - maximal. Der Größte, anscheinend der Anführer der Affenbande, grinste sie an. Er kaute auf einem Kaugummi herum, wobei er sehr einem wiederkäuenden Ochsen glich, und ließ die Augenbrauen tanzen, als er ihre Aufmerksamkeit hatte. Sein weißes Muskelshirt hob seine Vorzüge deutlich hervor, doch sein Ego machte das Gesamtbild sofort wieder zunichte.
»Na, komm doch mal rüber«, lud er Daria ein, die dankend abwinkte. »Nu' komm schon, Schnecke«, drängte er weiter. Zumindest fand sein Fuß den Weg zurück auf den Boden. Wirklich aufrecht stand er deshalb noch immer nicht.
»Nee, lass mal«, erwiderte Daria und begann abermals in ihrer Tasche zu kramen. Irgendwo da drin musste ihr Mp3 Player sein. Fehlanzeige. Ein leiser Fluch verließ ihre Lippen.
»Hat das Ding da mal gelebt?«
Der Affenbanden-Häuptling deutete auf Darias Tasche. Niemand beleidigte ihre Tasche!
»Hattest du mal Hirn?«, konterte sie salopp.
Respekt, seine Affen-Kollegen lachten. Sie schienen den tieferen Sinn ihrer Worte schneller kapiert zu haben, als der Häuptling selbst. Scheinbar war noch nicht aller Tage Abend. Leider, denn es trennten Daria noch immer etwa sieben Minuten, von der rettenden U-Bahn, die dann endlich einfahren würde.
Der Kerl baute sich auf, was, unter anderen Umständen, wahrlich einen Hauch von Erregung bei ihr erzeugt hätte. Mit den khakifarbenen Shorts und den gelben Flipflops hingegen wirkte er etwas – ja, affig eben.
Resigniert schüttelte Daria den Kopf und trat näher an die Gruppe heran. Gekonnt schob sie ihre Tasche weiter über ihre Hüfte, bis diese über ihrem Po baumelte, um ihren Standpunkt im Zweifel auch mit Tritten klar zu machen. Sie legte den Kopf schief und ließ den gelangweiltesten Gesichtsausdruck auf ihren Zügen erscheinen, zu dem sie fähig war.
»Herzchen, du und ich spielen in ganz unterschiedlichen Ligen, okay? Wenn du also die Uhrzeit wissen willst, dann dreh deinen Kopf, hinter dir hängt eine Uhr an der Wand – das verräterische Ticken in deinen Ohren ist nämlich nicht das knöcherne Vakuum in deinem Kopf, sondern das Ticken des Sekundenzeigers. Und dann tu' dieser Welt bitte einen Gefallen und sabbel mit Leuten, die es interessiert und die bei deinem Niveau keinen Haltungsschaden davontragen, okay?«
Mit diesen Worten machte Daria auf dem Absatz kehrt und schlenderte zurück zu ihrer Säule, die sie erneut mit angenehmer Kühle in Empfang nahm. Ein tosender Applaus hallte in ihren Gedanken wider und ein Stück weit überkam sie Wehmut, dass Steve dieses Schauspiel nicht hatte verfolgen können.
Der Häuptling setzte noch an, um etwas zu sagen, was seine Kollegen aber mit dreckigen Witzen und schallendem Gelächter übertünchten. Genauso rasch, wie das Interesse an Daria aufgeblitzt war, verpuffte es auch wieder in Luft.
»Das heute Abend steht?« Es war der Häuptling, er hatte seine Stimme wiedergefunden.
»Ja, um Mitternacht auf dem Westfriedhof.« Diesmal ein anderer. Daria widerstand dem Drang, zur Gruppe zu sehen.
»Kommt diese Isabell nun eigentlich auch?« Ein Dritter.
»Ja, die is' voll bekloppt.« Der Häuptling wieder.
»Will die sich ernsthaft opfern?«
»Sie hat gesagt, wir dürfen mit ihr machen, was wir wollen. Also, wenn uns Satan erscheint und er will, dass sie sein Opfer wird, dann soll er sie ruhig haben, ich hab ihr gesagt, dass das kein Spiel ist.«
Der Häuptling wurde Daria von Minute zu Minute unsympathischer. So wie sie da plauderten, hatte es den Anschein, als würden sie über einen Sonntagsspaziergang philosophieren: Eis essen oder lieber ins Schwimmbad? Daria schüttelte kaum merklich den Kopf. Sie traute den Typen alles zu. Denn von grenzenloser Intelligenz schien keiner von ihnen gesegnet. Im Gegenteil. Selbst in der Summe gesehen, wies eine Eintagsfliege mehr Grips auf, als diese vier Halbstarken.
Die Bahn rauschte heran. Das ohrenbetäubende Dröhnen ging in ein noch fieseres Quietschen über, als der Bremsvorgang gestartet wurde.
Daria hatte alle Informationen, die sie brauchte. Westfriedhof um Mitternacht. Sie würde da sein, und wenn es sein musste, würde sie auch eingreifen. Soviel stand fest.
Obwohl Kai bereits wieder bei Bewusstsein war, weigerte er sich strikt, die Lider zu öffnen. Noch immer hörte er die üblichen Geräusche des Krankenhauses, vermischt mit dem aufdringlichen Geruch, der ihn nicht nur zu umgeben schien, sondern ihm scheinbar sogar selbst anhaftete. Er hoffte, je länger er so ausharren würde, umso eher würde er erwachen. Das alles konnte nur ein seltsamer Traum gewesen sein. Ein Albtraum, der seinesgleichen suchte. Wer konnte es ihm verübeln?
Vor wenigen Wochen hatte er seine erste eigene Wohnung bezogen. Eine kleine Finanzspritze seiner Eltern hatte ihm dabei geholfen. München war ein teures Pflaster. Aber Kai hatte sich geschworen seinen Eltern jeden Cent zurückzuzahlen, wenn er erst mehr Geld verdiente. Er hatte den Übernahmevertrag seiner Ausbildungsfirma, ein Auto und war gerade erst dabei zu leben.
Und nun? Nun lag er hier. Noch immer hallte das verzerrte Rufen von ihr in seinen Gedanken wider. Zwar hatte er sich, seitdem er sie kannte, gewünscht, dass ihre Stimme das Letzte war, was er in seinem Leben hören würde, doch hatte er sich diesen Teil seines Lebens in sehr weiter Ferne und einen Hauch romantischer vorgestellt.
»Seine Eltern sind da.«
Kai öffnete die Augen und bereute diesen Entschluss sogleich. Über ihm thronte Schwester Gabriele. Es war ihm nicht ansatzweise bewusst gewesen, dass ihr zum Bersten gespannter Kittel zeitgleich ein zum Bersten gespanntes Kleid zu sein schien. Und damit stand sie nun direkt über ihm. Nichts außer ihrer gedellten Schenkel trennte ihn von ihrer intimsten Stelle.
Kais Oberkörper schoss empor und mit einem Satz sprang er auf die Füße. Es war wahr. Er hatte die ganze Zeit auf dem Boden gelegen. Ein flüchtiger Blick an sich herunter bestätigte diesen Verdacht. Er trug noch immer ein Krankenhaushemd – eines der Sorte durchsichtig, wie er feststellen musste.
Fasziniert und irritiert zugleich, hob Kai seine Arme. Er konnte durch sie hindurchsehen. Ebenso durch seinen Bauch und seine Beine. Er war zu einem Geist geworden.
Schwester Gabriele stand an der Türschwelle und unterhielt sich mit einem Mann, der hastig in einer Akte blätterte.
»Lassen Sie die Familie zu ihm.«
Schwester Gabriele nickte gehorsam und eilte auf quietschenden Clogs den Flur entlang. Der Arzt hingegen schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Die Akte landete auf dem Tresen.
Aus einem Impuls heraus ging Kai zu Schwester Gabrieles Arbeitsplatz, um einen Blick in die Akte zu werfen. Erstaunen machte sich breit, als er den Deckel mühelos heben konnte. Seine durchschimmernden Hände funktionierten noch immer hervorragend. Wenngleich sich ein Gefühl des Betrugs in ihm breitmachte – wo blieb die Fähigkeit, durch Wände gehen zu können?
Eilig schob er diesen Gedanken beiseite und studierte das Krankenblatt vor sich. Zwischen einer Ansammlung fachchinesischer Begriffe las er einige Brocken Hochdeutsch heraus, deren tieferer Sinn auf einen tödlichen Autounfall hindeutete. Kai ließ den Blick in die Ferne schweifen und kramte angestrengt in seinen Gedanken nach der Erinnerung. Er glaubte ihr zum Greifen nahe zu sein, doch irgendetwas blockierte ihn kurz vor dem Durchbruch.
Stimmengemurmel und ein verräterisches Quietschen weckten Kais Neugierde. Hastig, als könnte man ihn dabei ertappen, schlug er die Akte zu und eilte in das Zimmer, in dem sein lebloser Körper lag.
Kai vermied es, sich selbst anzusehen, wenngleich er in den Gesichtern seiner Eltern genau das las, wovor er sich selbst schützen wollte.
»Ich lasse Sie dann alleine.« Es war Schwester Gabriele, die sich zurückzog und die Tür hinter ihnen schloss.
Kais Mutter eilte an das Bett und begann sofort bitterlich zu weinen. Kais Vater hingegen blieb an der Tür stehen. Beide Gesten brachen Kai das Herz. Hilflos musste er mit ansehen, wie seine Eltern trauerten. Er fühlte ihren Verlust, ahnte, was dieser Abschied bedeutete und nagende Vorwürfe überschwemmten seinen Geist.
»Wieso nur?«, schluchzte Matilde, ehe ihr Körper von einer erneuten Welle der Trauer geschüttelt wurde. Das Wieso war eine Frage, die Kai ebenfalls gerne geklärt gehabt hätte. Wieso war ihm das passiert und wieso ließ sein Gedächtnis nicht zu, dass er sich erinnerte?
»Wir werden keine Antwort erhalten. Kai ist im Himmel …«
»Ist er nicht«, protestierte Kai ungehört.
»Dort ist Gott, der sich seiner annimmt und dort wird er auf uns warten.«
Der Blick, den Matilde ihrem frommen Mann schenkte, war genau jener Blick, den auch Kai in seiner Mimik trug. Nichts von alledem war richtig. Er stand hier, hatte ungeklärte Fragen und war auf einer wichtigen Mission gewesen, als dieser ganze Mist geschehen war. Wütend stampfte Kai auf. Es war ihm egal, ob er dabei wie ein verzogener Bursche wirkte. Er wollte diesen Schlamassel nicht, er wollte leben! Er sollte jetzt bei Letizia sein, in ihren Armen liegen und endlich die Zuneigung erfahren, nach der er sich all die Jahre gesehnt hatte.
Letizia! Da war sie wieder. Die Stimme aus dem Telefon. Sie hatte angerufen und nach Kai gefragt und sie musste mitbekommen haben, was geschehen war. Kai erinnerte sich, dass er auf dem Weg zu ihr gewesen war. Es war eine spontane Entscheidung gewesen. Er hatte angerufen und gefragt, ob er zu ihr kommen dürfe und sie hatte ja gesagt. Und wenn Kai sich nicht täuschte, hatte in ihrer Stimme ein Hauch nervöser Vorfreude mitgetönt. Und dann … Kai ließ seufzend den Kopf in seine Hände sinken. Was war dann geschehen?
»Er war doch noch viel zu jung, Hans-Peter. Wir haben ihn zu einem vernünftigen Jungen erzogen. Mit Anstand und Güte. Er sollte nicht hier liegen – sein Leben fing doch gerade erst an.«
Matildes Trauer bekam einen noch bittereren Beigeschmack, als sie die Hand ihres Jungen berührte. Eine Mischung aus Unverständnis und Zorn füllte ihre Mitte. Sie seufzte und strich Kai über die Wange, bemüht, den Verband um seinen Kopf nicht zu berühren, aus Angst, sie könnte ihm dadurch noch immer Schmerzen zufügen.
Die Tür schwang auf und Schwester Gabriele stand im Raum.
»Benötigen Sie etwas?«, fragte sie fürsorglich. Sie trug wieder die rot umrahmte Brille und Kai stellte fest, dass ihr diese gut stand. Durch die Brille wirkte sie jünger und sehr viel freundlicher.
»Antworten«, sagte Hans-Peter.
Kai bemerkte, wie Tränen in den Augen seines Vaters glitzerten. Sie ähnelten feinen, geschliffenen Diamanten und Kai empfand sie als genauso kostbar. In seinem ganzen Leben hatte er seinen Vater noch nie weinen sehen. Es brach ihm das Herz.
»Ihr Sohn wurde nach einem schweren Unfall eingeliefert. Er wurde wohl von der Straße gedrängt. Der Unfallverursacher starb noch an der Unfallstelle.«
Matilde schluchzte auf.
»Das wissen wir, aber Sie sagten doch noch, dass er stabil wäre«, klagte Hans-Peter an. Dann legte er den Arm tröstend um seine Frau.
»Herr Hagenbuch, das war nicht abzusehen. Die Ärzte warteten mit der Operation, bis sie sicher waren, dass er stabil genug war. Der Tod trat kurz nach der Operation ein, wir haben Sie sofort angerufen«, verteidigte sich Schwester Gabriele. Nun weinten die Eltern in einer engen Umarmung.
Tatsächlich! Ein Unfall also, dachte Kai. Abermals wühlte er in den Tiefen seiner Gedanken nach einer Erinnerung. Dieses Mal gelang es ihm. Es hatte bereits gedämmert, als er sich aufgemacht hatte, um zu Letizia zu fahren. Plötzlich hatte er das Hupen eines anderen Autos gehört, hatte Scheinwerfer auf sich zukommen sehen und zeitgleich mit einem ohrenbetäubenden Knirschen und Klirren war alles um ihn herum schwarz geworden.
In Panik riss Kai die Augen auf. Er sah die Bilder deutlich und klar vor sich: Das rote Auto, das ihm auf seiner Fahrbahn entgegengekommen war, sein Versuch dem Wagen auszuweichen. Ein vergebliches Manöver, das mit seinem Tod endete.
Doch warum war er dann noch hier?
Letizia.
Sein Herz wurde schwer, als er an die quirlige Italienerin dachte, die seit vier Jahren an seiner Seite war. Die gleiche Ausbildung, die gleiche Berufsschule und anschließend die gleiche Abteilung. Das musste ein Zeichen sein. Bereits seit ihrem ersten Zusammentreffen, beim Einstellungstest, war er bis über beide Ohren in sie verliebt. Nur die Sache mit dem Mut stand ihm im Weg. Was sollte eine so hübsche Frau, wie Letizia es war, mit einem gewöhnlichen Typen wie ihm anfangen? Und dennoch wurden sie die besten Freunde. Teilten Freud und Leid miteinander. Lernten gemeinsam, verbrachten ihre Mittagspausen zusammen und ab und an trafen sie sich auch zum Billardspielen. Aber seine wahren Gefühle hatte Kai bislang für sich behalten. Zu groß war seine Sorge, Letizia zu verlieren. Zu tröstend die Hoffnung, sie könne »Ja« zu ihm sagen und ihn mit ihrer temperamentvollen Liebe überschütten.
Kai lachte freudlos auf. Was hatte er davon? Er hatte in seinem Leben nie etwas gewagt und dennoch alles verloren.
»Wir müssen Letizia Bescheid geben«, sagte Matilde und Kai horchte auf. Seine Eltern hielten einander noch immer fest.
»Sie wird ihn vermissen«, murmelte Hans-Peter und küsste seine Frau auf den Scheitel, als diese abermals zu weinen begann.
Schwester Gabriele führte die beiden hinaus auf den Flur, während Kai im Zimmer blieb. Er wusste es. Jetzt war es klar. Sein letzter Weg sollte ihn zu Letizia führen, um ihr endlich die Wahrheit zu sagen. Ihr endlich zu gestehen, was er für sie empfand. Ein Weg, der jäh unterbrochen worden war und den Kai mit seinem Leben bezahlt hatte. Dennoch war es jene Aufgabe, die ihn davon abhielt, endlich Frieden zu finden.
Mit dieser Erkenntnis atmete Kai schwer. Panik stieg in ihm auf: Er wusste, was er zu tun hatte und dieser Gedanke gefiel ihm nicht. Mehr noch, er weigerte sich, diese Aufgabe anzunehmen – es musste einen anderen Weg für ihn geben, um seinem Geist Erlösung zu verschaffen.
»Gott, du bringst Leben hervor und nimmst es wieder auf. Voll Vertrauen auf deine Liebe und Barmherzigkeit nehmen wir Abschied von Kai Hagenbuch. Wir legen ihn in deine Hände.«
Langsam und bedächtig sprach der Pfarrer die Worte aus, dann nahm er eine kleine Schaufel, ehe er weitersprach:
»Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub. Wir tun dies in der Hoffnung, die uns in Jesus Christus gegeben ist.«
Matilde weinte in den Armen ihres Mannes. Auch Kai konnte nicht mehr an sich halten. Er stand direkt neben seinem Grab und blickte auf den Sarg hinunter. Auf seinen Sarg. Er lag darin. Leblos und kalt. Wenigstens hatte man ihn angezogen, so trug auch Kais Geist endlich wieder richtige Kleidung, dennoch war dies nur ein schwacher Trost. Ein Trost, der Kai nicht erlöste.
Mit verschwommener Sicht blickte Kai in die Menge. Die Leute, die vor seinem Grab standen und gemeinsam das Vater Unser beteten, waren von überall hergekommen. Tante Babett und Onkel Erich wohnten, soweit Kai sich erinnerte, in Hamburg. Claudia und Astrid, die Schwestern von Matilde, kamen aus dem Schwarzwald. Daneben entdeckte Kai ein paar Freunde aus der Schulzeit, die er schon längst aus den Augen verloren hatte, und sogar sein Chef war anwesend. Ein Gefühl der Dankbarkeit ergriff Kai, doch es währte nicht lange.
Sie fehlte!
Mit gestrecktem Hals versuchte Kai, auch die hinterste Reihe der Trauernden zu erkennen. Aber wie er sich auch bemühte, er fand sie nicht.
Sein Herz wog schwer. Hatte er sich so in ihr getäuscht? Wenn es selbst sein Chef schaffte, ihm die letzte Ehre zu erweisen, weshalb war es dann Letizia nicht möglich? Nun weinte auch er, von Hoffnungslosigkeit getrieben. Er hatte alles vermasselt. Wäre er an jenem Tag nicht aufgebrochen, um Letizia zu besuchen, wäre er heute noch hier. Dann hätte dieser Wahnsinnige irgendeinen anderen Menschen von der Straße gedrängt, aber nicht ihn.
Die Trauernden begannen, nach und nach, Erde auf seinen Kiefernsarg zu werfen. Vereinzelt fand auch eine Rose ihren Weg nach unten. Und mit jedem neuen Wurf brach Kais Welt ein Stückchen weiter zusammen. Sie bröckelte immer mehr, zerfiel vor seinen Augen zu Staub und offenbarte ihm, dass es vorbei war. Sein Leben war unwiederbringlich beendet worden. Es gab ihn nicht mehr.