Der Zufall eines Sommers - Saskia Sarginson - E-Book

Der Zufall eines Sommers E-Book

Saskia Sarginson

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Beschreibung

Zwei Menschen, die sich einen ganzen Sommer nacheinander sehnen, und der Zufall, der ihnen immer wieder im Weg steht. »Der Zufall eines Sommers« ist ein emotionaler Liebesroman, der zeigt, wie schnell sich alles ändern kann und was für immer bleiben wird: herzzerreißend tragisch, zum Mitfühlen und Wegträumen! Summer und Kit treffen sich Anfang der 90er Jahre in Indien und wissen beide, dass ihre Begegnung etwas Besonderes ist, mehr als eine einfache Urlaubsromanze. Sie verbringen eine magische Zeit miteinander, bis sie durch tragische äußere Umstände voneinander getrennt werden. Während Summer sich von einem schweren Schicksalsschlag erholt, versucht Kit erfolglos, sie zu finden.  Ohne es zu wissen, ziehen beide nur wenige Kilometer voneinander entfernt nach Suffolk. Sie gehen neue Beziehungen ein und verfolgen ihre Träume, verpassen sich immer wieder knapp, bis sie sich plötzlich wieder gegenüberstehen. Doch ihre Leben sind nicht stehengeblieben, und sie müssen sich beide fragen, ob zu viel passiert ist, sich zu viel geändert hat, um wieder zueinander zu finden. »Ein schönes Porträt der Liebe. Echt. Kompliziert. Unwiderstehlich.«  Jemma Wayne  »Ein wunderbarer, herzergreifender Liebesroman.«  Prima Eine unwiderstehliche Liebesgeschichte über den Zufall, das Schicksal und verpasste Chancen. Saskia Sarginsons fesselnder Stil und zauberhafte Kulissen werden die Leser:innen von David Nicholls begeistern!

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Seitenzahl: 517

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Saskia Sarginson

Der Zufall eines Sommers

Roman

Aus dem Englischen von Danielle Styron und Doris Styron

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Auf ihren Reisen im Sommer 1993 sind Summer und Kit nur wenige gemeinsame Tage in Indien vergönnt, bevor sie durch tragische äußere Umstände voneinander getrennt werden. Wieder zurück in England, ohne Möglichkeiten sich zu kontaktieren, können sie sich gegenseitig nicht vergessen. Beide wissen, dass das, was sie hatten, mehr war als eine Urlaubsromanze. 

Während Summer sich von einem schweren Schicksalsschlag erholt, versucht Kit zu akzeptieren, dass er sie wohl nicht wiedersehen wird. Dabei sind sie sich näher, als sie ahnen, und das Ende ihrer Geschichte ist noch nicht geschrieben … 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Motto

Prolog

Januar

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

Februar

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

März

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

April

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

Mai

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

Juni

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

Juli

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

Epilog

Dank

 

 

 

 

Für Cassidy Jackson Jessiman,der zur gleichen Zeit zur Welt kamwie dieses Buch.

 

 

 

 

It is not time or opportunity that is to determine intimacy; it is disposition alone. Seven years would be insufficient to make some people acquainted with each other, and seven days are more than enough for others.

Jane Austen, Sense and Sensibility

 

 

 

I sow’d the seeds of love

Folk song (1689)

Prolog

Kerala, Indien, 15. Januar 1993

Kit schwankt auf seinem Fahrrad, kann gerade noch einem tiefen Schlagloch ausweichen, stützt sich mit einem Fuß ab und betrachtet die Straße, die vor ihm liegt. Es ist eine viel befahrene Schnellstraße voller Lastwagen und SUVs. Hupend braust ein Motorrad in einem schwungvollen Schlenker an ihm vorbei. Hinter dem Fahrer sitzen eng an eng zwei Kinder, und ein Stück roter Stoff flattert wie eine rote Fahne hinterher.

Er verzieht das Gesicht, weil er weiß, dass Summer sich den Weg zum nächsten Dorf wie eine ruhige Landstraße vorstellt, die sich am Meer entlangschlängelt, nicht wie diese von Stau, Abgasen, plärrendem Gehupe und dem Lärm aufheulender Motoren verstopfte Straße. Der Typ im Hotel, bei dem er das Rad gemietet hat, meinte, man würde für die Fahrt eine halbe Stunde brauchen. Reiß dich zusammen, sagt er sich. Das ist doch kaum schlimmer, als im Berufsverkehr um den Marble Arch in London herumzufahren. Er tritt in die Pedale, hält mit gesenktem Kopf Ausschau nach dem nächsten Schlagloch oder einem hochgeschleuderten Stein. Ein kunstvoll bemalter Lastwagen rast vorbei, die Räder kommen ihm so nah, dass er das Reifenprofil deutlich erkennt. Fest umklammert er den Lenker und flucht, als die Wucht des entstandenen Windstoßes ihn fast aus dem Gleichgewicht bringt. Immer weiter, ein Fuß, dann der andere, während seine schweißnassen Hände an den Griffen abrutschen.

Auf den Lippen schmeckt er Schweiß und Staub, dazu kommt der stechende Dieselgestank. Die Sonne ist ein pulsierender Ball aus reiner Energie. Seine Beine fühlen sich schwer an. Aber ihm wird klar, dass es nicht nur an der Hitze liegt. Sein ganzer Körper ist von dem bleiernen Gefühl wie gelähmt, gerade etwas falsch zu machen. Mit jedem Tritt in die Pedale entfernt er sich weiter von ihr. Noch einmal hält er an, stützt sich mit einem Fuß auf der Fahrbahn ab und schaut hinter sich in die Richtung, die zurück zu Summer führt. Bei ihr zu sein ist wichtiger, als für ein paar Skizzen bezahlt zu werden. Das alles ist ein Fehler. Er muss umkehren.

Es dauert eine Weile, bis er es auf die andere Seite der Straße geschafft hat. Sobald er eine Lücke zwischen zwei Lastwagen sieht, muss er die Gelegenheit nutzen. Während sie mit lautem Hupen auf ihn zuhalten, flitzt er hinüber. Zitternd auf dem Seitenstreifen angekommen, nimmt er eine Wasserflasche aus seiner Tasche und leert sie in einem Zug. Er wischt sich das Gesicht mit dem Arm ab und schmiert sich dabei Schweiß und Wasser in die brennenden Augen.

Dabei denkt er daran, wie entsetzt sie sein wird, wenn er ihr diese verrückte Straße beschreibt. Sie wird glücklich sein, dass er wohlbehalten zu ihr zurückgekehrt ist, und sich insgeheim freuen, dass er nicht zu dem Tanzfestival gegangen ist. Den Rest des Nachmittags können sie auf dem Bett zubringen, reden. Es gibt so vieles, was er über sie erfahren möchte. Es ist das erste Mal im Leben, dass er jemanden hat, für den er sorgen, dem er seine Gedanken mitteilen und von den Ereignissen des Tages erzählen will. Er muss alles verstehen, was ihr wichtig ist. Später werden sie vielleicht beim Sonnenuntergang auf dem Weg an den Klippen entlangwandern. In einem der Läden ist ihm eine hübsche Halskette aufgefallen, ein schmales Band aus gewundenen Silberfäden, an denen winzige grüne Steinchen hängen. Sie würde gut zu ihrer Augenfarbe und zu ihren Ohrringen passen.

Sie könnten in ihr Lieblingscafé gehen, an dem kleinen Tisch sitzen und aufs Meer hinausschauen. Und sie werden sich ein üppiges Abendessen bestellen. Andere Frauen, mit denen er früher ausgegangen ist, hatten in ihrem Salat gestochert und so getan, als hätten sie keinen Hunger, obwohl sie dabei die ganze Zeit sehnsüchtig auf sein Essen schielten. Summer wird sich fröhlich Happen von seinem Teller und von ihrem nehmen und ihm einladend zunicken, sich auch an ihrem Essen zu bedienen.

Er kann es kaum erwarten, den kühlen Raum mit den geschlossenen Läden zu betreten, sie schlafend auf dem Bett zu finden und mit einem Kuss zu wecken.

Als er unter dem Schatten der Bananenbäume entlangfährt, überholt ihn ein Motorroller. Während er an ihm vorbeizieht, nimmt er flüchtig den Fahrer wahr und sieht hinter ihm eine Frau im Damensitz mit wehendem Sari, die einen großen Korb auf ihrem Schoß hält. Er fragt sich, wie sie es schafft, so zu sitzen, ruhig und ohne das Gleichgewicht zu verlieren, während der Motorroller nach links und rechts schwenkt. Sie hält sich nicht einmal fest. Es macht ihn nervös, aber zugleich bewundert er sie. Ein Bus kommt schaukelnd um die Ecke auf sie zugefahren, und zugleich hört er von hinten das Knirschen eines Getriebes, erkennt das rumpelnde Geräusch eines Dieselmotors von einem Lastwagen dicht hinter ihm.

Er packt den Lenker fester und macht sich auf das Überholmanöver des Lastwagens gefasst. Der Motorroller ist direkt vor ihm. Der Sari der Frau ist blau. Lächelnd blickt sie über ihre Schulter zurück. Vorn bewegt sich etwas aus dem Schatten der Bananenplantage heraus, und sein Puls beschleunigt sich, als seine Gedanken mit der Wahrnehmung der Augen gleichziehen – es ist ein Hund, der geradewegs auf die Straße läuft.

Der Motorroller schert scharf aus, um das Tier nicht zu überfahren. Die Frau verliert den Halt, fällt wie in Zeitlupe nach hinten, der Korb entgleitet ihr, ihr Sari bläht sich wie ein Stück blauer Himmel.

Er versucht anzuhalten, seine Finger umklammern die Bremsgriffe.

Die Frau liegt ausgestreckt auf der Straße. Der Fahrer klammert sich noch an den Motorroller, schlittert aber auf der Seite liegend weiter, als würde er von einem riesenhaften Kleinkind mitgeschleift.

Der Motorroller mit dem Fahrer rutscht auf die andere Fahrbahn auf den entgegenkommenden Bus zu. Der begräbt sie unter sich, Fahrzeug und Mensch drehen sich unter seinen Rädern, der Bus schwenkt quer vor Kit über die Fahrbahn, steht plötzlich wie eine Wand vor ihm. Gesichter starren aus den Fenstern. Aufgerissene Augen. Offene Münder. Er hört nichts, nicht einmal, als der ihn überholende Lastwagen ungebremst in das entgegenkommende Metall und Glas rast. Er gerät mitten in einen staubigen, heißen Sog schwerer, herumfliegender Gegenstände. Seine Finger verkrampfen sich um die Bremse, das Hinterrad rutscht unter ihm weg. Er schlägt auf die Straße auf, schlittert über den Asphalt. Er sieht seine eigene Hand ins Leere greifen.

Eine weiße Stille umgibt ihn, hält ihn in ihrem Mittelpunkt fest.

Er denkt an Summer, an ihr schlafendes Gesicht.

Dann platzt die Blase, schrille Schreie von Lebendigem vermischen sich mit einem anderen Kreischen, dem des Aufpralls von Metall auf Metall und von Windschutzscheiben, die in tausend Stücke zerbersten.

Der Schmerz explodiert förmlich in ihm.

Er sieht etwas dunkel Schimmerndes, Flüssiges, und die Dunkelheit zieht ihn an sich wie ein Freund, der ihn aus dem Meer rettet.

***

Summer schaut auf die silberne Herrenuhr an ihrem Arm. Das Band ist ihr zu weit und rutscht ums Handgelenk herum. Sie dreht das Zifferblatt nach oben und schnauft ärgerlich. Er ist schon eine Ewigkeit weg. Da fällt ihr ein, dass er ihr gestanden hat, regelmäßig Termine und Fristen zu versäumen. Dabei hatte er selbstironisch die Augen verdreht. Sie fand seine Unfähigkeit, die Zeit im Auge zu behalten, liebenswert, sie gehörte zu seinem künstlerischen, unbekümmerten Wesen. Aber doch nicht ausgerechnet jetzt, wo sie ihn braucht!

Die kleine Hütte ganz oben auf der Klippe ist beklemmend eng, und als sie in das gleißende Licht hinaustritt, fühlt es sich an, als würde ihre Haut verbrennen. Unter dem Kunststoffrahmen ihrer Sonnenbrille hat sich auf ihren Wangenknochen eine Schweißspur gebildet. Schweißtröpfchen kribbeln auf ihrer Stirn. Sie sitzt auf einer Steinmauer neben einem ausgetrockneten Zierteich und versucht sich mit dem Ausschnitt ihrer Bluse Luft zuzufächeln, ihr Koffer steht neben ihr. Jedes Mal, wenn die Tür der Rezeption aufgeht, hebt sie erwartungsvoll den Blick. Aber nie ist er es.

Die Minuten verrinnen, und ihr Hals wird eng, als sie begreift, dass ihr nichts übrig bleibt, als abzureisen, ohne ihn noch einmal gesehen zu haben. Sie kann nicht noch länger warten. Wenn sie das Krankenhaus nicht erreicht, könnte sie sterben. In plötzlicher Panik packt sie den Griff des Koffers und springt auf. Sofort sieht sie Sterne vor den Augen, und die Welt scheint zurückzuweichen, sodass sie sich schnell wieder mit einem Plumps hinsetzt, um nicht zu stürzen. Eine Hand an die Stirn gelegt, wartet sie darauf, dass der Schwindel nachlässt.

In der klimatisierten Kühle der Rezeption bittet sie um Papier und einen Stift.

Es wird eine Weile dauern, alles zu klären, sie könnte dort Stunden festsitzen. Deshalb schreibt sie nur eine kurze Notiz:

Kit, ich kann nicht mehr warten. Ich muss los. Bitte komm zum Flughafen nach und triff mich dort. Ich werde versuchen, den erstmöglichen Flug nach Hause zu bekommen.

Sie schiebt dem Rezeptionisten das Blatt über den Tresen zu. »Könnten Sie das Kit Appleby geben? Und ich brauche ein Taxi, bitte. Es eilt.«

Der Fahrer ist ein junger Mann. Er steigt aus seinem Padmini, um ihr die Tür zu öffnen, und sie bemerkt, dass er barfuß ist. »Ich muss zum Cochin International, so schnell wie möglich«, erklärt sie ihm.

»Ah, es tut mir leid, aber wir werden kleine Nebenstraßen nehmen müssen«, sagt er. »Die große Straße ist gesperrt. Aber machen Sie sich keine Sorgen«, fügt er schnell hinzu. »Sie werden in null Komma nichts dort sein. Ganz sicher. Ich bin der schnellste Fahrer in Varkala.«

Sie rutscht auf den Rücksitz, und der Wagen fährt los. Starr schaut sie aus dem Fenster und nimmt weder die bunt bemalten, vorbeirumpelnden Lastwagen noch die flitzenden Motorräder oder den Elefanten auf der Ladefläche eines Lkw wahr. Sie sieht die Türme von Cambridge vor sich, den kalten englischen Winter und ein Krankenhaus, in dem man auf sie wartet.

Januar

Der erste Monat

1

Sieben Tage zuvor …
Summer

Schon vor dem Frühstück zeigt das Hotelthermometer 28 Grad an. Aber es muss schon mehr zusammenkommen als nur Hitze, um Summer dazu zu bringen, dass sie sich in den klimatisierten Bus zum Rest der Trojan-Tours-Truppe setzt. Seit heute Morgen fühlt sie sich frei. Keine Liste von Sehenswürdigkeiten, die abgearbeitet werden muss, kein Zeitplan, den es einzuhalten gilt. Sie macht sich auf eigene Faust auf den Weg, geht eine der staubigen Straßen von Fort Kochi entlang, die Zöpfe hüpfen über ihre Schultern, die roten Flip-Flops klatschen auf den Asphalt, und sie sprudelt fast über vor lauter Freude in ihrer Brust. Genauso hatte sie sich das vorgestellt, als sie vor vielen Monaten den Umschlag öffnete, den ihr Vater ihr zu ihrem sechsundzwanzigsten Geburtstag überreicht hatte.

Es war eines dieser gewöhnlichen, beigefarbenen Kuverts gewesen, in denen normalerweise langweilige amtliche Briefe stecken. Als Erstes war ein Flugticket nach Madras herausgefallen. Dad lachte, voller Freude, weil sie ihn verwirrt ansah. »Das hast du dir verdient«, sagte er. »Ich weiß, wie schwer das alles war – wie viele Opfer du gebracht hast.«

Für Summer war ein Platz gebucht auf der Rundreise »Das majestätische Südindien« von Trojan-Tours. Auf dem Reiseplan stand auch der Besuch zweier Nationalparks, in denen es Elefanten, Bisons, Rothunde, Leoparden und Tiger gab. Sie stellte sich vor, wie sie, die Kamera am Auge, bei Sonnenuntergang eine Elefantenherde an einer Wasserstelle beobachten würde. Mit viel Glück würde sie vielleicht sogar einen einzelnen Tiger zu sehen bekommen.

Als sie in Madras aus der Ankunftshalle getreten war, empfing sie ein Geschrei und Getümmel von Menschen, die nach ihrem Gepäck grapschten und um ihre Aufmerksamkeit buhlten, das Hupen von Taxis, der Gestank von brennendem Müll. Über allem lag die Nacht wie samtige Tinte, tiefer und weiter als alles, was sie bisher gekannt hatte. »Ich bin da«, flüsterte sie, und ein Schwall staubiger Luft schoss ihr in die Lunge, während sie sich in die Haut an ihrem Handgelenk kniff.

Aber die Nationalparks waren eine Enttäuschung gewesen. Keine Tiger. Keine Leoparden. Nur ein flüchtiges Erhaschen eines Stoßzahns, der hinter grünen Palmwedeln hervorlugte. Tony, ihr Reiseleiter, hetzte sie an sämtlichen Sehenswürdigkeiten vorbei, als ginge es darum, dringend einen Zug zu erreichen. Alle in der Gruppe hatten Kameras dabei, und jedes Mal, wenn der Bus anhielt, ertönte das Klicken der Auslöser. Summer hatte das Gefühl, sie würden alle einen Film schauen, nicht etwas Reales erleben. Ihre eigenen Wege zu gehen, getrennt von Tony und Trojan-Tours, war die beste Entscheidung, die sie seit ihrer Ankunft getroffen hat.

Fort Kochi scheint eine entspannte Stadt zu sein, voller Cafés und Gruppen junger Europäer mit Gitarren auf dem Rücken. Die Häuser leuchten in Blau- und Gelbtönen; üppige Reben ranken an den Wänden in mehr Grüntönen, als sie je für möglich gehalten hätte. Unter einem weit ausladenden Banyanbaum bleibt sie stehen. Sie findet es faszinierend, dass es in einer einzigen Straße einen Hindutempel und eine Moschee geben kann. Und dass nur einen Herzschlag weiter eine katholische Kirche aus weißem Stein auftaucht und daneben ein Jain-Tempel, aus dem bei jedem Schlag der Gebetsglocken Tauben aufsteigen.

Sie geht auf dem staubigen Boden in die Hocke, um einen Languren am Straßenrand zu beobachten. Der Affe wendet ihr sein intelligentes Gesicht zu, betrachtet sie und zerpflückt mit eleganten Bewegungen eine verfaulte Mango.

Sie nimmt die Kamera hoch, hält den Atem an. Das Licht schimmert auf dem hellen grauen Fell des Tieres, als ihr Finger auf den Auslöser tippt.

Weiter unten an der Straße döst eine Ziege auf dem Trittbrett eines geparkten Motorrollers. Lächelnd nimmt sie ihre Kamera und löst zweimal aus. Tuk-Tuks holpern vorbei, Touristen eingezwängt auf den Rücksitzen.

Als sie kurz anhält, um einen Blick auf den Stadtplan zu werfen, stellt sie fest, dass sie auf dem Vasco da Gama Square gelandet ist. Sie schaut auf das Wasser und die berühmten chinesischen Fischernetze, es herrscht reges Treiben. An den Ständen werden frische Fische direkt aus dem Netz verkauft, die Menschen treffen sich hier zum Tauschhandel, magere Katzen, deren Augen gierig glänzen, schlängeln sich zwischen den Beinen hindurch. Summer atmet die von den verschiedenen Düften von Salzlake, Rauch und gebratenem Fisch gesättigte Luft ein, und ihr läuft das Wasser im Mund zusammen. Drei oder vier Kellner wetteifern in dem Versuch miteinander, sie an einen der Plätze der kleinen Außencafés zu lotsen. Sie lässt sich von dem am wenigsten aufdringlichen der jungen Männer zu einem freien Tisch führen. Augenblicke später stehen ein Teller mit fangfrischem Fisch, noch heiß vom Feuer, und ein Glas Limetten-Limonade vor ihr.

Sie nippt an ihrem Getränk und sieht sich auf dem belebten Platz um. Aus Gewohnheit tastet sie nach ihren Ohrringen. An ihren Ohrläppchen baumeln kleine, silberne Hasen. Sie nimmt drei Postkarten aus einer Papiertüte und schreibt eine davon an ihre beste Freundin Laura: Wünschte mir, du wärst hier bei mir – wir hätten so viel Spaß! Eine Karte geht nach Hause: Kochi ist fantastisch, rosafarbener Staub, der Himmel brennt. Hier gibt es so viel zu fotografieren! An ihrem Stift knabbernd, beginnt sie eine weitere Postkarte, an Adam. Nur fällt ihr nichts ein, was sie schreiben könnte. Er hat sie geliebt. Dann war es plötzlich aus, ohne jede Vorwarnung. Er war mit einer anderen Frau im Bett gewesen. »Es ist nun mal so – ich bin noch nicht bereit, mich für immer zu binden«, hat er gesagt, und es war, als hätte er ihrem Herzen einen Fausthieb versetzt. »Du bedeutest mir noch immer viel, Summer, aber … wir sind einfach noch zu jung.« Sie waren fünf Jahre zusammen, und doch ist ihm der Abschied so leichtgefallen.

Zufällig ist sie ihm vor ihrer Abreise über den Weg gelaufen – das ist der Nachteil, wenn man in derselben Stadt lebte. Wenigstens war seine neue Freundin nicht dabei. »Schick mir eine Postkarte«, sagte er, als hätte er ihr nicht das Herz gebrochen. Sie willigte ein, einfach nur, um von ihm wegzukommen. Stirnrunzelnd klappert sie mit dem Stift auf dem Tisch. Adam und sie haben sich vor drei Jahren getrennt. Eigentlich müsste sie längst über ihn hinweg sein, und doch hatte es seitdem niemanden mehr gegeben, jedenfalls keinen, der ihr wichtig war.

Zwei streunende Hunde lungern herum und schauen sie hoffnungsvoll an. Einer von ihnen hat nur noch ein halbes Ohr. Summer muss an die Hunde in Cambridge denken mit ihren Designerhalsbändern und ihrem für viel Geld gepflegten Fell, und sie wünscht, sie könnte sich diese halb verwilderten Wesen schnappen, sie baden und mit einer anständigen Portion Fressen versorgen. Sie nähern sich und schnuppern vorsichtig. Sie lässt kleine Fischstücke auf den Boden fallen, und die Hunde stürzen sich darauf. Unter ihrem staubigen Fell kann sie die Rippen erkennen. Der, dem ein Ohr fehlt, kriecht geduckt und vorsichtig auf sie zu. Sie streckt ihm die Hand entgegen. »Na, komm schon, Kleiner«, murmelt sie, »nimm’s ruhig. Du siehst aus, als ob du’s nötiger hast als ich.«

Der Hund schnappt es ihr aus den Fingern. »Was ist mit deinem Ohr passiert?« Er legt den Kopf schief, als würde er sie verstehen. Sie streichelt ihm das sonnenwarme Fell. »Mach dir nichts draus«, sagt sie. »Du bist auch so noch ein hübsches Kerlchen.«

Sie macht ein paar Schnappschüsse von ihm, wie er mit seinen sanften und hoffnungsvollen Augen zu ihr hochschaut.

»Hey, du!«, blafft ein Engländer sie an, und sie schreckt hoch. Der Hund erstarrt. Sie schaut auf und sieht einen riesigen Mann im Hawaiihemd mit schweren Schritten auf sich zukommen, seine Wampe hängt über die ausgebeulten Shorts, und seine verspiegelte Sonnenbrille glänzt. »Gib denen kein Futter!« Er fuchtelt mit den Armen. »Ab! Verpisst euch!« Der Hund duckt sich weg, kauert an ihrer Seite, die ausgefransten Ohren flach an den Kopf gelegt. Der Mann holt zum Tritt aus. Ein grauenhaftes Geräusch ist zu hören, als sein Fuß den Hund in die Rippen trifft.

»Halt!« Sie springt auf, das Kinn hoch in die Luft gereckt.

Der Hund verschwindet in der Menge, den Schwanz zwischen die Beine geklemmt.

»Was soll das?« Ihre Stimme bebt. »Was ist denn los mit Ihnen? Der hat doch keinem was getan.«

»Drecksköter. Die gehören alle erschossen.« Er schüttelt den Kopf. »Durch Leute wie dich wird’s noch schlimmer mit denen …«

»Leute wie mich?«, schnaubt sie, stellt sich auf die Zehenspitzen und strafft die Schultern.

»Wollen Sie mich jetzt etwa auch erschießen?«

Er zeigt ihr den Vogel mit einem seiner Wurstfinger und lacht kurz auf. »Reg dich ab, Süße.«

»Von jemandem wie Ihnen lasse ich mir sicher nicht sagen, dass ich mich abregen soll!« Sie ballt die Fäuste, vor Wut schnürt es ihr die Kehle zu. »Wie … wie würde es Ihnen denn gefallen, wenn ich Ihnen einen Tritt verpasse!«, platzt es aus ihr heraus.

»Hey, hey!« Ein großer junger Mann stellt sich mit erhobenen Armen zwischen sie. Er wendet sich an den aggressiven Kerl. »Sie gehen jetzt besser«, sagt er mit fester Stimme. »Es geht Sie nichts an, ob sie die Hunde füttert.«

»Alles in Ordnung?«, hört sie irgendwo über ihrem Kopf die gleiche Stimme.

Ihr Herz rast, Adrenalin rauscht durch ihre Adern. Vor Wut und Aufregung kann sie kaum sprechen.

»Ja, alles okay«, bekommt sie heraus, wendet sich ab, schnappt sich ihre Sachen und stürmt davon. Dabei stolpert sie fast über einen Eimer mit gekühltem Fisch, aber sie fängt sich und geht weiter.

»Sind Sie sicher?«, hört sie ihn rufen.

Ohne zurückzuschauen, hebt sie eine Hand.

Hinter der nächsten Ecke, außer Sichtweite, bleibt sie stehen und blinzelt in das grelle Licht der Straße. Noch einmal spielt sich die Szene vor ihrem geistigen Auge ab: der Fuß des Mannes, der die Rippen erwischt, die Wucht des Aufpralls, der das Tier vom Boden abheben lässt.

Sie macht sich auf den Weg zurück zum Hotel – zumindest hofft sie, dass sie in die richtige Richtung geht. Die Sonne ist blendend weiß – eine gleißende Wand, die sie verwirrt. Sie weiß nicht mehr, wo sie abbiegen muss, läuft weiter, ihre Füße sind von der Hitze angeschwollen, der Schweiß sammelt sich zwischen ihren Brüsten.

Erst als sie in die Lobby des Hotels kommt, merkt sie, dass sie vergessen hat, ihr Mittagessen zu bezahlen.

2

Kit

Kit Appleby schaut ihr hinterher. Sie ist sichtlich aufgelöst. Unsicher bahnt sie sich ihren Weg durch die Menge, die rote Hose flattert. Einmal stürzt sie beinahe, er macht sich bereit, hinzulaufen und ihr zu helfen.

Er ruft: »Sind Sie sicher?«

Sie schaut sich nicht um.

Als sie nicht mehr zu sehen ist, kehrt er an seinen Tisch zurück und starrt den Mann in dem schrecklichen Hemd an. Dieser ignoriert ihn, ist unergründlich hinter seinen verspiegelten Brillengläsern. Am besorgten Blick des Kellners und den hektischen Gesten des Cafébetreibers erkennt er, dass die junge Frau in all der Aufregung wohl vergessen hat, ihre Rechnung zu bezahlen. Er drückt dem Kellner das Geld für ihre Mahlzeit und sein Getränk in die Hand, nimmt seinen Skizzenblock, trinkt hastig den Rest seines Eiskaffees aus und geht. Hätte er etwas tun können, um sie zum Bleiben zu bewegen? Er kann sich nicht mehr genau daran erinnern, was er gesagt hat. Es ist alles so schnell gegangen. Er war dabei gewesen, die Fischer zu skizzieren, hatte versucht, den Klang einzufangen, der entsteht, wenn sie auf die Bambusstangen treten. Seit er in Kochi angekommen ist, hat er sich angewöhnt, jeden Morgen in dem gleichen Café zu sitzen, die Zeit, in der er seinen Kaffee trinkt, so lange wie möglich in die Länge zu ziehen und dabei ein oder zwei Stunden zu zeichnen. Auf dem Platz gibt es so viel zu entdecken.

Während er dort sitzt und zeichnet, kommen und gehen Fremde an den Tischen um ihn herum – Touristen aus den unterschiedlichsten Ecken der Welt. Es macht ihm Spaß, zu erraten, woher sie stammen, bevor er sie reden hört. Er hat sie schon in dem Moment bemerkt, als sie sich setzte. Sie strahlte Ruhe aus, eine Eigenständigkeit, die sich selbst zu genügen schien und die in seltsamem Kontrast zu ihren runden, sommersprossigen Wangen und ihren großen Augen stand. Er vermutete, sie sei Holländerin. Möglicherweise nur wegen der blonden Zöpfe. Kaum war ihr Essen da, hatte sie schon angefangen, die Hunde damit zu füttern, es mit den beiden heruntergekommenen und abgemagerten Wesen zu teilen. Die meisten Leute schenkten ihnen keine Beachtung oder jagten sie davon.

Normalerweise würde sich Kit nicht in einen Streit einmischen. Am wohlsten fühlt er sich mit seinem Bleistift und dem Skizzenblock am Rande des Geschehens. Aber als dieser Mann sich plötzlich vor ihr aufbaute, sie anschrie und bedrohte, hat er eingreifen müssen.

Er fragt sich, wo sie wohl untergekommen ist. Fort Kochi ist ein kleiner Ort.

Ziellos irrt er durch die schmalen Gassen. Dann biegt er in den wild wuchernden Garten des Dutch Palace ab. Dort ist eine Treppe – ein Teil davon liegt in einem schattigen Dreieck. Er geht direkt darauf zu und lässt sich nieder, mit dem Rücken an eine Tür gelehnt, zieht er seine Füße zurück in den Schatten. Es wäre schön gewesen, wenn er noch die Gelegenheit gehabt hätte, sie zu zeichnen, bevor der Streit – wortwörtlich – losgetreten wurde. Er schlägt seinen Skizzenblock auf und blättert gedankenverloren darin herum, auf jeder Seite hat er Erinnerungen an Orte festgehalten, die er besucht hat. Da sind Tempel, Elefanten, Frauen, die an einem Flussufer Wäsche waschen. Auf der ersten Seite ist ein flüchtig skizziertes Porträt, das er vor seiner Abreise aus England gezeichnet hat. Er hat die spitzen Züge seiner Mutter eingefangen. Sie ist zwar erst achtundvierzig, wirkt aber um Jahre älter. Er seufzt, als er das Bild betrachtet. Aus ihrem Gesicht spricht die Verbitterung, die zwischen Mund und Nase Furchen der Unzufriedenheit hinterlassen und eine tiefe, sorgenvolle Zickzackfalte zwischen ihren Augenbrauen eingegraben hat.

Immer die gleiche Leier. Das Leben sei nicht auf ihrer Seite. Alles so ungerecht. Und immer war das die Schuld seines Vaters.

Der Scheißkerl, so nannte sie ihn. Der verdammte Scheißkerl. Für alles, was schiefging, war er verantwortlich. Und jedes Mal, wenn Kit etwas tat, was ihr missfiel, verglich sie ihn mit ihm.

Die Sonne ist weitergewandert. Sein linkes Bein ist nicht mehr im Schatten, und die Hitze brennt so stark auf sein Knie, als presse ein Bügeleisen darauf. Er rutscht auf der Treppe ein kleines Stück weiter, tastet sich langsam in den schattigen Bereich zurück. Er will nicht an seine Mutter denken. Stattdessen denkt er an die blonde Fremde, und die Anspannung fällt von ihm ab. Wie sie sich gegen diesen Rowdy behauptet hat! Sie war bestimmt nur halb so groß wie er, hat sich aber keine Angst anmerken lassen. Sie war ein heller, goldener Strahl, eine kleine Kriegerin – ein Schwert der Gerechtigkeit.

Ihm fällt ein, dass sie Englisch gesprochen hat. Vielleicht ist sie doch keine Holländerin. Andererseits sprachen alle Holländer, denen er auf seinen Reisen begegnet war, ausnahmslos perfektes und akzentfreies Englisch. Er nimmt einen Bleistift aus seiner Tasche, legt den Block auf seinen Schoß und beginnt zu zeichnen. Er versucht, sie aus dem Gedächtnis zu skizzieren, seine Finger bemühen sich, die Rundung ihrer Wangen, ihre kräftigen Augenbrauen, ihre sommersprossige Nase einzufangen.

3

Summer

Es macht ihr zwar Spaß, die schmalen Gassen zu erkunden und die Menschen in ihrem Alltag zu beobachten, aber das ist jetzt schon ihr zweiter Tag in Fort Kochi. Deshalb überlegt sie, wohin sie als Nächstes gehen soll, vielleicht in die Westghats. In dem Naturreservat würde es mehr Tiere und Gelegenheiten zum Fotografieren geben.

Während sie ihr Lieblingsalbum hört und mitsingt, hält sie ihren Discman fest in der Hand. Sie kann alle Songtexte auswendig.

Eine Hand legt sich auf ihre Schulter. Die unerwartete Berührung durch einen fremden Menschen lässt sie kurz aufschreien. Sie fährt herum, reißt sich die Kopfhörer aus den Ohren und blickt in ein Gesicht, das ihr bekannt vorkommt.

Der Typ wirkt verlegen und weicht mit erhobenen Händen zurück. »Mist, das tut mir leid! Ich wollte dich nicht erschrecken!«

Sie schluckt, ihr Herz schlägt noch bis zum Hals. »Nein, mir tut es leid. Ich habe überreagiert.« Es gelingt ihr, ein Lächeln aufzusetzen. »Ich war in Gedanken ganz weit weg.«

»Du kommst aus England?«, fragt er überrascht.

Sie nickt.

»Was hörst du denn?« Er deutet auf die baumelnden Ohrstöpsel und den Discman.

Sie macht ihn aus und verstaut ihn in ihrer Tasche. »Kate Rusby.«

Er schaut sie fragend an.

»Das ist eine Folksängerin. Ein Album mit ihren Songs.«

Er zieht eine Augenbraue hoch. »Bist du dafür nicht zu jung?«

»Für solche Alben?« Ihr Ton ist ironisch. Sie weiß natürlich, was er meint.

»Für Folkmusik.«

Jetzt geht das wieder los, denkt sie. »Vermutlich fändest du es besser, ich würde Madonna hören.« Sie holt tief Luft. »Folkmusik ist zeitlos. Dabei geht es um mehr als um Rauschebärte und Blümchenröcke.«

»Das kann man nur hoffen«, sagt er mit einem verschmitzten Grinsen. »Niemand, der einen Bart hat, sollte dazu einen Blümchenrock tragen.«

Sie gibt sich nicht geschlagen. »Du behauptest, ich sei altmodisch«, schmollt sie, »dabei findest du, dass jemand mit einem Bart keinen Rock tragen darf.«

»Das war doch nur ein Witz!« Beschwichtigend hebt er die Hände. »Können wir noch mal von vorn anfangen? So tun, als hätte dieses Gespräch nie stattgefunden?«

Er ist sehr groß. Ihr fällt auf, dass er sein T-Shirt mit der Innenseite nach außen trägt. Er streicht sich mit der Hand durchs Haar, sodass es sich aufrichtet. Sie lenkt ein, denn er kann ja nichts dafür, dass Folkmusik ein so heikles Thema ist.

»Ich habe dich … gesehen … neulich«, sagt er. »Du hast dich doch mit diesem Rüpel angelegt, der den Hund getreten hat.«

»Ach, du bist das. Das dachte ich mir fast.« Sie hat ein schlechtes Gewissen, weil sie ihn so angefahren hat. »Danke, dass du versucht hast zu helfen.«

Er bekommt rote Ohren. »Schon okay. Ich glaube, insgeheim hatte er Angst vor dir. Ich habe ihm nur den nötigen Grund geliefert, sich aus der Affäre zu ziehen.«

Sie lächelt. Dass er seine Rolle in dieser Sache so herunterspielt, macht ihn noch sympathischer. Zumal sie weiß, dass sie ihm für noch etwas anderes zu danken hat.

»Du warst das auch, der meine Rechnung für mich bezahlt hat, oder?«, fragt sie. »Ich bin noch mal dort vorbeigegangen, um mich zu entschuldigen, aber sie meinten, der junge Engländer hätte für mich gezahlt.«

»Ja.« Er reibt sich die Nase. »Das ist doch keine große Sache.«

Die Hitze des Tages dringt durch ihren Hut. Schweißtropfen lassen ihre Kopfhaut jucken. Sie achtet immer sehr darauf, direktes Sonnenlicht zu vermeiden.

Sie zeigt zum Himmel. »Wir sollten aus der Sonne gehen. Wir … hm … also, wir könnten doch einen Eiskaffee trinken gehen, oder so?«, schlägt sie vor. »Ich schulde dir was.«

Er nickt schon. »Ich kenne ein nettes Lokal, gleich hier um die Ecke.«

Das Café hat einen Innenhof, und sie bekommen einen Tisch, der zwischen hellen Töpfen mit Kakteen steht.

»Schön hier«, sagt sie und macht es sich bequem.

»Ja«, antwortet er, während er Zucker in seinen Kaffee schüttet. »Kerala fühlt sich anders an als das restliche Indien.«

»Dann warst du auch schon in anderen Teilen des Landes unterwegs?«

»Hm … ja.« Er senkt das Kinn, sein Haar fällt ihm in die Augen. »Ich bin schon eine ganze Weile hier. Startpunkt war Delhi, und danach war ich in Rajasthan und Uttar Pradesh.«

Sie nippt an ihrem Eiskaffee und beobachtet diesen weit gereisten und etwas betreten wirkenden Fremden unauffällig. Er hat ein gutes Gesicht. Nicht umwerfend attraktiv, wie ihre Freundin Laura es ausdrücken würde, aber offen und herzlich. Seine Augen, die von blonden Wimpern umrahmt sind, haben eine ungewöhnliche Farbe – goldbraun, ist das Wort, das ihr dazu einfällt. Von der Sonne gebleichte Strähnchen durchziehen sein dunkelblondes Haar. Es gibt Frauen, die ein Vermögen für solche Strähnchen ausgeben, denkt sie. Aber dieser Typ verschwendet offensichtlich nicht besonders viele Gedanken auf sein Aussehen – er ist um die 1,90 m groß, hat breite Schultern und schlanke, schlaksige Gliedmaßen, die etwas unkoordiniert wirken. Seit sie ihn kennt, ist er schon zweimal gestolpert. Sein heller, britischer Teint hat eine rötliche Bräune angenommen. Er trägt abgeschnittene, knielange Shorts, ein altes ausgebleichtes T-Shirt, das er verkehrt herum anhat, und Flip-Flops.

»Ich bin Summer«, sagt sie. »Summer Blythe.« Sie reicht ihm ihre Hand, die ganz in seiner verschwindet. In seiner Hand verborgen, kribbelt ihre Haut, es fühlt sich an wie ein kleiner Schock, und sie lässt sie schnell wieder los. Seine Augen weiten sich, als hätte auch er es gespürt.

»Kit Appleby.«

Sie legt die Hände in den Schoß. »Also, Kit Appleby, wie kommt es, dass du dich so durch Indien treiben lassen kannst?«

Er räuspert sich verlegen und rutscht unruhig auf seinem Stuhl herum. »Ich spare schon seit der Teenagerzeit auf ein Auto, aber dann hab ich beschlossen, das Geld lieber fürs Reisen auszugeben. Ich bin«, er verzieht das Gesicht, »seit ungefähr … elf Monaten unterwegs – aber langsam frage ich mich, ob es nicht Zeit wäre, nach Hause zu fahren … etwas mit meinem Leben anzufangen.«

»Welche Möglichkeiten hast du denn?«

»Entweder zu studieren und Zahnarzt zu werden oder weiterhin als arbeits- und brotloser Künstler zu leben.«

»Echt jetzt?« Sie runzelt die Stirn. »Zahnarzt?«

»Ja, kaum zu glauben, ich weiß.« Er nippt an seinem Getränk und lässt die Eiswürfel auf dem Boden des Glases klirren. »Die Idee stammt von meiner Mutter, nicht von mir – letztlich war es einfach nicht mein Ding. Fünf Jahre Studium, um dann ein Leben lang den Leuten in den Mund zu schauen?« Er verzieht das Gesicht zu einer entsetzten Grimasse. »Ich habe einen Abschluss von der Kunsthochschule. Aber natürlich wollte mir nach meinem Diplom niemand ein halbes Vermögen dafür nachwerfen, dass ich Fett in eine Badewanne schmiere. Stattdessen habe ich mich mit miesen Jobs über Wasser gehalten und Porträts gezeichnet, die keiner haben wollte. Eines Tages dachte ich: Was mache ich hier eigentlich? Ich habe mir ein Flugticket gekauft und – schon konnte es losgehen.«

»Das muss aber ein schickes Auto gewesen sein, auf das du gespart hast, wenn dein Geld so lange vorgehalten hat?«, fragt sie.

»Ich gebe zu, ich bin ein Oldtimer-Fan und hatte den Ehrgeiz, einen Ferrari Dino 246GT zu besitzen …« Er macht eine Pause, als erwarte er eine Bemerkung von ihr, aber sie weiß nicht, wovon er spricht. Er fährt fort: »Ich wollte einen kaufen, um ihn zu restaurieren. Nur so hätte ich mir das überhaupt leisten können.« Er blinzelt und schaut in die andere Richtung. »Das Geld für den Ferrari hat bis jetzt gereicht, aber langsam wird es etwas knapp. Wie ist das bei dir?«, fragt er und schaut sie wieder an. »Bist du schon lange unterwegs? Ist das hier ein längeres Abenteuer oder ein Urlaub von einem Job, zu dem du wieder zurückmusst?«

Sie lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück. »Das sind eine Menge Fragen.«

Er hebt seine großen Hände und macht eine entschuldigende, hilflose Geste. »Tut mir leid. Sag nur etwas zu denen, die du beantworten willst – oder auch zu gar keiner.«

Sie lächelt. »Schon gut – ich bin nicht so schnell eingeschnappt.« Ihr fällt auf, dass er gelassener wirkt als die meisten Menschen und nicht über ihre Schulter hinweg die Umgebung betrachtet oder andere Gäste beobachtet. Er scheint ihr seine volle Aufmerksamkeit zu widmen. »Ich bin seit fast einer Woche hier und habe noch etwas mehr als eine vor mir«, erzählt sie ihm. »Ich habe an einer dieser geführten Touren teilgenommen, aber das kam mir vor, als müsste ich eine Checkliste abarbeiten. Ich wollte lieber auf eigene Faust auf Entdeckungstour gehen.«

»Eine kluge Entscheidung«, sagt er ernst.

Eine plötzliche Sorge ergreift sie. »Es ist eben so, ich … ich weiß nicht, ob ich jemals wieder die Gelegenheit haben werde, so was zu erleben.« Sie holt Luft. »Deshalb … muss ich das meiste rausholen.«

Sie haben ihren Eiskaffee ausgetrunken, und sie denkt, dass der Moment gekommen ist, um aufzustehen und wieder getrennte Wege zu gehen. Nur möchte sie gar nicht, dass sie irgendwo hingehen. Es kommt ihr vor, als würde sie ihn schon viel länger kennen als diese eine Stunde, die sie gemeinsam im Café verbracht haben.

Sie begleicht die Rechnung, obwohl er versucht, seine Hälfte beizusteuern, und er zögert kurz, als sie hinaus in das gleißende Licht der Straße treten. »Willst du … also würdest du gerne später etwas essen gehen?« Er fährt sich mit den Fingern durchs Haar und schaut auf seine Füße. »Ich kenne ein nettes Lokal …«

»Noch eins?« Sie lächelt ihn an, will ihn necken, nickt dann schnell. Nicht, dass er womöglich glaubt, sie wolle ablehnen. »Das fände ich schön.«

Sie schauen einander an, seine Pupillen weiten sich, werden größer wie zerfließende Tintenflecken. Sie spürt wieder dieses Kribbeln, das ihr wie ein Schauer über den Rücken läuft. Es fühlt sich an, als fiele sie ihm entgegen. Sie blinzelt und senkt den Blick.

»Wo wohnst du denn? Ich hol dich um sieben ab.« Seine Stimme klingt rau. »Wenn dir das recht ist?«, ergänzt er schnell.

Sie nennt ihm den Namen des Hotels, und sie stehen etwas verlegen herum. Sie vermutet, dass er genau wie sie unsicher ist, ob er sie nun umarmen oder lieber dieses Küsschen-Ding in die Luft machen soll. Sie tut weder das eine noch das andere, hebt nur die Hand zum Abschied und geht. Er erwidert ihr Winken und spaziert in die entgegengesetzte Richtung davon.

Sie fühlt sich seltsam, als wäre sie in dem Moment, als sie ihn verließ, aus dem Gleichgewicht geraten. Sie schüttelt den Kopf. Irre. Er ist doch ein Wildfremder. Sie muss an ein Gespräch denken, das sie vor Jahren mit Dad geführt hat, nachdem Mum gestorben war. Sie fragte ihn, wie er hatte wissen können, dass sie »die Richtige« für ihn sei. Einen Augenblick hatte er in die Ferne geschaut, seine blauen Augen füllten sich mit Tränen , und als er sich ihr wieder zuwandte, sagte er: »Ich wusste es einfach. Praktisch sofort, sogar noch bevor wir miteinander gesprochen hatten. Ein Gefühl in mir. Sehr stark. Nicht rational erklärbar.« Er lachte auf. »Und das mir, einem Mann, dessen Dasein auf Rationalität aufbaut.«

Sie hatte sich eingeredet, dass Adam für sie »der Richtige« sei, aber es stellte sich heraus, dass sie sich da wohl geirrt hatte. Es wird ihr erst jetzt bewusst, wie selten diese Liebe auf den ersten Blick ist – wie leicht man sich etwas vormacht und am Ende enttäuscht wird. Mum und Dad hatten Glück. Alles, was sie weiß, ist, dass es sich mit Kit so anfühlt, als hätte sie in ihm einen verloren geglaubten besten Freund wiedergefunden. Sie hatte das Bedürfnis, seine Hand zu nehmen, nicht nur so zum Spaß, sondern weil es ihr guttat, ihn zu berühren. Sie wollte mit ihrem Daumen über seine großen, geröteten Knöchel streichen und ihre Finger mit seinen verschränken.

Jetzt, wo sie hier ist, möchte sie diese Gelegenheit nutzen. Sie fühlt sich endlich einmal frei. All ihre Sinne sind offen und bereit, die Schönheit, die sie umgibt, aufzunehmen, die Möglichkeiten jedes Augenblicks auszukosten. Lange hat sie im Schatten des Todes gelebt, aber dieser große, lässige Fremde hat ihr da herausgeholfen. Und sollte es auch nur für kurze Zeit sein, will sie doch wissen, wie es ist, ohne Grenzen zu leben.

Sie kann den Abend kaum erwarten, den Moment, wenn sie ihn wiedersehen wird.

4

Kit

Kaum, dass er um die Ecke gebogen ist, bleibt er stehen und schaut nach oben in den indischen Himmel. Beinahe erwartet er dort ein Banner, das in der schillernden Luft schwebend verkündet, dass er, Kit Appleby, sie, Summer Blythe, kennengelernt hat, und sie mit ihm zu Abend essen wird. Trompetenfanfare, bitte!

Ach Mist, wahrscheinlich ist er zu voreilig. Er muss sich zusammenreißen.

Aber, dass sie ihn mag, das weiß er einfach. Immer wieder hat sie ihm in die Augen geschaut und seine Blicke erwidert. Ihre Körpersprache spiegelte seine Gesten. Da ist nichts von den üblichen Zweifeln und der Verwirrung zu spüren, die ihm normalerweise eine Achterbahn der Gefühle bescheren: jenes Auf und Ab der üblichen Spielchen beim Kennenlernen und dem Erraten dessen, was das Gegenüber denkt. Stattdessen kommt es ihm so vor, als teilten sie ein Geheimnis – und ohne dass sie es aussprechen müssen, wissen beide, dass der andere es vollkommen versteht.

Ihm ist vor lauter Glück ganz schwindlig. Diese wunderschöne Frau mit den leicht schiefen Zähnen und den ausdrucksstarken großen Augen von der Farbe des Meeres, diese mutige Frau, über die er kaum etwas weiß und zu der er sich doch sofort hingezogen fühlte, diese Frau interessiert sich also für ihn.

 

Jetzt sitzt sie ihm in dem Straßencafé gegenüber, das er an seinem ersten Abend hier entdeckt hat. Es ist ein kleiner Familienbetrieb. Die Stühle stehen schief auf dem unebenen Lehmboden, helle Plastiksiebe dienen als Lampenschirme, und auf jedem Tisch gibt es Kerzen. In der Ecke bereitet der Koch frischen Fisch und Gemüse auf einem riesigen, rauchenden Grill zu, und auf einer kleinen Bühne tritt eine vierköpfige Band in Glitzerjacketts auf und spielt begeistert ihre ureigene Version von A Horse with No Name. Unter dem Tisch liegt ein kleiner Hund im Staub zusammengerollt und döst vor sich hin. Summer ist aus ihren Schuhen geschlüpft. Auf die Ellbogen gestützt, strahlt sie die Band an und spielt mit einem der silbernen Tierfigürchen, die an ihren Ohrläppchen baumeln. »Ich finde es wunderbar hier«, sagt sie.

»Dabei hast du noch gar nicht das Essen probiert!«

»Muss ich auch nicht«, antwortet sie. »Hör dir nur die Musik an.« Sie schaut sich um. »Die Einrichtung. Der Hund. So was hab ich noch nie erlebt!« Sie senkt ihre Stimme. »Und wir sind hier fast die einzigen Touristen. Die meisten Leute sehen aus wie Einheimische. Das ist ein gutes Zeichen.«

Ihm gefällt ihre Begeisterung, und er empfindet eine Mischung aus Freude und Stolz, dass ihr seine Wahl des Restaurants so zusagt. Tief atmet er die Nachtluft ein, die von köstlichen Kochdüften und einem weiteren Aroma durchzogen ist, das von dem Hund stammen könnte. Aber eigentlich, denkt er, gibt es nichts, was diesen Augenblick verderben kann.

»Was machst du?«, fragt er. »Beruflich, meine ich.«

»Was ich beruflich mache?« Sie schaut ihn einen Augenblick verlegen an, und gerade, als ihm diese langweilige und vorhersehbare Frage anfängt, peinlich zu sein, räuspert sie sich. »Journalismus. Ich … ich arbeite für verschiedene Magazine.«

»Magazine?«

»Zeitschriften. Zeitungen. Ich bin Fotografin, und … ich schreibe Artikel«, erklärt sie.

»Das muss ein spannender Beruf sein.« Ihm fällt die Kamera wieder ein, die sie bei ihrem Kennenlernen um den Hals trug. »Was für Artikel schreibst du denn?«

»Ich schreibe über alles, was mit Natur und Tierwelt zu tun hat.«

»Und die Bilder dazu lieferst du auch?«

»Ja.« Sie blinzelt und schaut auf ihre Hände.

»Und davon kannst du leben?« Er lehnt sich zurück. »Das beeindruckt mich.«

Sie nimmt eine Gabel und dreht sie zwischen den Fingern hin und her. »Im Moment schreibe ich hauptsächlich für Lokalblätter. Und nebenberuflich biete ich auch Gassirunden und Hundebetreuung an.«

Er reibt sich die Nase, und es dämmert ihm, dass sie neben allem anderen auch noch ehrgeizig und talentiert ist. Es fällt ihm schwer, sich im Vergleich zu ihr nicht wie ein Versager zu fühlen. »Als ich gesehen habe, wie du die Streuner fütterst, habe ich mir schon gedacht, dass du sehr gut mit Hunden umgehen kannst.«

Sie lacht auf: »Im Vergleich zu Menschen sind Hunde ja auch unkompliziert.«

Nachdenklich kneift er die Augen zusammen. »Ich stelle mir gerade vor, wie du von Dutzenden Hunden umringt bist.«

»Ganz so viele sind es nicht«, sagt sie schmunzelnd. »Meine übliche Gruppe besteht aus drei schwarzen Labradoren, einem Spaniel und einem süßen Mischling. Mehr als fünf gleichzeitig – das geht nicht, sonst verliert man zu leicht den Überblick, wenn sie von der Leine gelassen werden.«

Ein junger Mann kommt an ihren Tisch und bringt ihnen Teller und die Getränke. Sie warten, bis er wieder weg ist.

»Noch mal zu deinen Fotos. Warum Tiere?«, fragt er. »Ich meine, es ist offensichtlich, dass du sie liebst, aber was reizt dich daran, sie zu fotografieren?«

»Ihre Aufrichtigkeit«, antwortet sie. »Sie verstellen sich nie. Und ich glaube … na ja, zumindest wünsche ich es mir, dass eines meiner Bilder es schafft, die Vorstellung zu verändern, die Menschen von manchen Tieren haben. Dass sie sie als Lebewesen begreifen, statt sie auf eine Mahlzeit oder einen Schädling zu reduzieren, oder sie als Zielscheibe zu sehen. Sie holt tief Luft. »Aber, genug von mir.« Sie lacht etwas verlegen und nippt an ihrem Getränk. »Du hattest erwähnt, dass du daran denkst, nach Hause zu fahren?«, fragt sie. »Wo ist das denn? Dein Zuhause, meine ich.«

»Offen gesagt, weiß ich das gar nicht mehr so genau«, antwortet er zögernd. »Meine Mum lebt in London, aber ich fühle mich gar nicht mehr so richtig mit der Stadt verbunden, und für einen Künstler ist das Leben da eigentlich viel zu teuer.«

Sie isst einen Bissen und macht ein zustimmendes Geräusch.

»Oh Gott«, seufzt sie und legt die Gabel zur Seite. »Ist das lecker!«

Dann nimmt sie einen weiteren Happen. »Probier doch mal«, fordert sie ihn auf. Etwas verlegen beugt er sich vor und öffnet den Mund – und sie lehnt sich über den Tisch zu ihm hin, um ihm den Bissen in den Mund zu stecken. Die Geste ist unglaublich intim. Sein Gesicht wird heiß, und zu seinem Entsetzen spürt er, dass er vor Verlangen steif wird. Er lehnt sich wieder zurück und lässt schnell eine Serviette auf seinen Schoß fallen.

»Ich lebe, solange ich denken kann, in Cambridge«, sagt sie. »Wir sind dorthin gezogen, als ich klein war, weil mein Vater ein Mathegenie ist.« Sie kostet etwas von seinem Teller, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen, und hält kurz inne mit einem Ausdruck von Glückseligkeit auf dem Gesicht. »Er hat an einem der Colleges gelehrt. Es ist eine schöne Stadt, und im Moorgebiet der Fens findet man viele Wildtiere.« Sie strahlt. »Ich verbringe irre viel Zeit damit, im nassen Gras darauf zu lauern, dass mir ein Dachs oder Fuchs über den Weg läuft.«

Nachdem er sich so weit wieder im Griff hat, dass er mit normaler Stimme sprechen kann, deutet er auf ihre Ohren. »Lauerst du auch Kaninchen auf?«

Sie berührt ihre Ohrringe. »Das sind keine Kaninchen. Das sind Hasen, meine Lieblingstiere. Der ideale Ort, um sie zu beobachten, ist Grantchester Meadows bei Sonnenaufgang. Übrigens hast du nie richtig erklärt, warum du das Auto aufgegeben und dein Geld lieber fürs Reisen ausgegeben hast.« Sie schiebt Reis auf ihre Gabel. »Gab es einen bestimmten Grund dafür, dass du einfach so losgefahren bist?«

Er steckt sich einen Happen in den Mund, um Zeit zu gewinnen und eine Antwort zu formulieren. Er kaut und schluckt. »Ich hatte gehofft, es würde sich positiv auf meine Kunst auswirken – du weißt schon, sich Inspiration suchen, die gewohnte Umgebung und den Alltag hinter sich lassen. »Und … tatsächlich, habe ich vor Kurzem meinen ersten Auftrag bekommen«, gibt er zu. »Jemand hat mich beim Zeichnen beobachtet und mich gebeten, Skizzen von einem Festival in Kollam zu machen.«

»Das ist ja großartig«, sagt sie und streicht sich die Haare hinter die Ohren, sodass die kleinen Hasen an ihren Ohrläppchen schaukeln. »Herzlichen Glückwunsch.«

Am liebsten würde er ihre Hände nehmen und seine Lippen auf ihre Handflächen drücken.

Die Band spielt eine Coverversion des Songs Ain’t No Mountain High Enough, und der Hund unter dem Tisch beginnt, sich mit seiner Hinterpfote eifrig hinter dem Ohr zu kratzen.

»Wollen wir zahlen?«, fragt sie.

 

Den ganzen Abend über hatte er sich ausgemalt, wie es sich anfühlen würde, sie zu küssen. Nun gehen sie gemeinsam zu ihrem Hotel zurück und bleiben vor dem Eingangstor stehen. Er legt ihr die Hände auf den Rücken und zieht sie sanft zu sich heran, achtet dabei auf ihre Körpersprache, um sicher zu sein, dass sie sich an seine Brust schmiegen möchte. Einen Moment lang verharrt sie ruhig in seiner Umarmung, bevor sie ihm die Arme um die Schultern legt und ihre Wange gegen seine Brust drückt.

Und dann küssen sie sich. Der Moment dehnt sich und wird immer intensiver, es gibt nur noch diesen Kuss und sie beide, vollkommen versunken. Als sie sich voneinander lösen, sind sie außer Atem.

»Ich fahre morgen weg«, sagt er schnell. »Der Auftrag, von dem ich dir erzählt habe. Es geht dabei um ein Tanzfestival – ich soll die Tänzer zeichnen. Es ist nur ein kleines Stück die Küste runter, und ich habe mir für die Woche eine Hütte am Strand in Varkala gemietet. Das kommt jetzt vielleicht etwas … plötzlich. Aber … willst du mitkommen?« Sein Puls rast, und er hält den Atem an.

Sie geht ein paar Schritte beiseite und starrt in die Nacht hinaus. Er sieht, dass sie sich auf die Lippe beißt, und ihm wird heiß und kalt. Verdammt. Sie hat es wohl in den falschen Hals bekommen.

Dann nickt sie. »Okay«, sagt sie. »Warum eigentlich nicht?«

»Echt?« Er möchte ganz sichergehen. »Ist das ein … Ja?«

»Ja!« Sie lacht und nickt. »Ja. Wahrscheinlich bin ich verrückt. Aber ich komme mit.«

Am liebsten würde er vor Freude schreien und sie in einer überschwänglichen Umarmung an sich reißen, aber er kann sich gerade noch bremsen und nickt stattdessen glücklich. »Das ist … das ist toll!«

Sie spielt an ihren Haaren herum, und ihr Gesichtsausdruck wird distanzierter: »Ich meine – natürlich werde ich ein Einzelzimmer nehmen.«

Einen Augenblick ist er ernüchtert, aber dann nickt er schon wieder: »Ja. Na klar. Ich rufe da an, sobald ich wieder im Hotel bin.«

Sie küssen sich, verlieren sich in längerem und langsamerem Erkunden der Zungen, Lippen, Zähne.

Eines Tages wird er diese Geschichte mal einem befreundeten Menschen erzählen, denkt er, und auf die Frage, wie sie sich kennengelernt haben, wird er antworten, dass er Summer bei ihrem ersten Date eingeladen hat, mit ihm in einer Hütte an einem indischen Strand zu übernachten. Der Freund würde überrascht sein, vielleicht sogar schockiert, aber auch überwältigt von der verwegenen Romantik dieser Begegnung. Und er würde sagen, weißt du, ich wusste es einfach vom ersten Moment an, dass wir füreinander bestimmt waren.

Er kann das nicht laut aussprechen – sie würde sofort die Flucht ergreifen, und das könnte er ihr dann nicht mal verdenken –, aber gegen dieses Gefühl kommt er einfach nicht an.

5

Summer

Mit dem Kuss wurde alles anders. Als seine Lippen ihre berührt hatten, flackerte Hitze durch ihren Körper und entzündete ein Feuer in ihrem Bauch. Ihre Gefühle wirbelten durcheinander, und sie hätte zugleich weinen und lachen können. Sie zitterte am ganzen Leib, und als sie sich voneinander lösten, waren sie beide atemlos. Sie schaute ihm in die Augen und wusste intuitiv, dass er es genauso empfand. Es gab nur eine einzige Antwort auf seine Einladung.

 

Als er sie am nächsten Morgen in der Kühle des anbrechenden Tages vom Hotel abholt, ist sie sich nicht mehr so sicher. Bei der Begrüßung am Empfang ist ihre Schüchternheit so stark, dass sie ihm kaum in die Augen schauen kann. Als sie es tut, erkennt sie sofort, an seiner linkischen Körpersprache, dass etwas nicht stimmt. »Ich habe bei der Strandhüttenvermietung angerufen«, sagt er, während er seine Tasche von der Schulter nimmt. »Aber sie sind ausgebucht.« Er zieht die Augenbrauen zusammen. »Tut mir leid, vielleicht ist das wegen des Tanzfestivals. Ich habe auch bei ein paar anderen Hotels in der Nähe angefragt, ob sie Einzelzimmer frei haben, alles ist proppenvoll. Ich würde es verstehen, wenn du doch nicht mitkommen willst. Oder … ich übernachte auch gern auf der Couch, oder so.«

Einen Augenblick zögert sie. Kann sie diesen Mann wirklich einschätzen, nachdem sie ihn gerade mal ein paar Stunden kennt? Sie blickt auf sein offenes, angespannt wirkendes Gesicht, seine großen Hände, sein dichtes, wildes Haar. »In Ordnung«, sagt sie. »Aber auf dein Angebot, auf der Couch zu schlafen, werde ich zurückkommen.«

 

Als er aus dem Zugfenster starrt, beobachtet sie ihn heimlich. Er dreht den Kopf und bemerkt ihren Blick. »Was ist?« Es ist nicht böse gemeint, nur neugierig, ein bisschen frech.

Sie wird rot. »Nichts«, sagt sie und räuspert sich. »Ich hab nur überlegt, ob ich erraten kann, wie verrückt du bist.«

»Verrückt?«

»Du musst doch ein bisschen durchgeknallt sein, mich zu deinem Trip einzuladen.« Sie lächelt, um ihm zu zeigen, dass es ein Scherz sein soll. »Also, ich frage mich, zu welchen unzumutbaren Dingen du vielleicht neigst – Phobien, Wutanfälle – eklige Angewohnheiten wie an deinen Zehennägeln herumzupulen …«

»Ach so.« Er grinst. »Du würdest also gern mit mir meine nervigsten Angewohnheiten durchgehen?« Er fährt sich durchs Haar, sodass einige Strähnen abstehen. »Okay, gut. Mal sehen … welche Macken kann ich zugeben? Mmh. Ich raste aus, wenn ich meine Sachen nicht finden kann – du weißt schon, Schlüssel, Brieftasche und so weiter –, und ich gerate in Panik, wenn ich spät dran bin.« Er beugt sich vor und runzelt nachdenklich die Stirn, als genieße er dieses Geständnis. »Unter uns, das ist vermutlich sogar meine größte Schwäche. Timing ist nicht so mein Ding. Ich versäume dauernd Fristen. Vergesse Termine. Verpasse Busse, Züge.« Er lehnt sich auf seinem Sitz zurück. »Heute habe ich alles gegeben, um nicht zu spät zu kommen.« Er grinst. »Wirklich alles.«

»Das war’s schon?«

»Klar. Ansonsten bin ich absolut perfekt. Jetzt bist du dran.«

»Zu dem Thema könnte ich eine ganze Abhandlung schreiben … aber jetzt erst mal die Sachen, die du für die nächsten paar Tage wissen musst …« Sie denkt kurz nach. »Ich bin vermutlich … nein, ich bin definitiv zwanghaft ordentlich.« Sie zählt weiter an den Fingern ab. »Chaos mag ich gar nicht. Außerdem sollte man mich vor dem Frühstück nicht ansprechen.« Dabei schiebt sie ihren langen Zopf über die Schulter nach hinten. »Ich bekomme schlechte Laune, wenn ich zu lange Hunger habe.« Und dabei macht sie eine entschuldigende Geste. »Niedriger Blutzucker.«

»Dann sollte ich besser darauf achten, dass du nie hungrig bist.«

Sie lächelt. »Die Gefahr ist gering.«

Ihre Tickets sind nummeriert, und er sitzt auf dem Platz ihr gegenüber. Es wäre ihr lieber, wenn er neben ihr sitzen würde. Der Zug schlängelt sich träge durch die staubige Landschaft, vorbei an plötzlich auftauchenden Tälern voll von dem üppigen Grün der Bananenbäume, wo Kinder in großen Flüssen schwimmen. Es geht vorbei an kleinen Behausungen, und sie beobachtet einen Schwarm schlanker, weißer Vögel, die sich mit gestreckten, langen Hälsen erheben. Sie heißen Ibisse, fällt ihr ein. Dann Wasserbüffel, vor einen Karren gespannt. Frauen, die mit flatternden Saris hintereinander über ein Feld gehen, leuchtend bunt wie Schmetterlinge.

»Im Hotel gibt es aber schon ein Telefon, oder?«, fragt sie und erinnert sich, plötzlich unruhig werdend, dass sie in einer Hütte am Strand übernachten werden.

»An der Rezeption«, sagt er. »Musst du jemanden anrufen?«

»Hm, ja … ein oder zwei Leute schon.« Sie weicht seinem Blick aus, möchte es nicht erklären müssen – jedenfalls jetzt noch nicht. »Das Leben steht ja nicht still, nur weil man selbst unterwegs ist, oder?«, fügt sie achselzuckend hinzu.

Sie kramt ihren Reiseführer heraus, blättert zu der Seite, auf der etwas über Varkala steht, und liest den Teil über den Strand, an dem sie übernachten werden. Die Perle des Arabischen Meeres, auch bekannt unter dem Namen Papanasam Strand, was so viel bedeutet wie »sich von seinen Sünden reinwaschen«.

»Ich sitze hier drüben viel zu weit weg von dir«, sagt er, steht auf und setzt sich auf den freien Platz neben sie. »Das ist viel besser.«

Sie fühlt sich wieder wohler, spürt das Gewicht seiner Schulter warm an ihrer Seite, lehnt sich an ihn und verdrängt ihre früheren ängstlichen Gedanken. Als der Zug in den Bahnhof einfährt, hievt Kit seinen riesigen, ramponierten Rucksack auf die Schultern und schnappt sich zusätzlich ihre Taschen. Der überfüllte, wuselige Bahnsteig ist ein Schock für sie, obwohl sie darauf vorbereitet war. Gepäckträger schreien und feilschen mit Reisenden. Ein Mann mit einem riesigen Koffer auf dem Kopf drängt sich vor sie, versperrt ihr die Sicht auf Kit, und sie muss sich durch die Menge schlängeln und sich beeilen, um ihn einzuholen. Ganze Familien sitzen, an aufgerolltes Bettzeug gelehnt, auf dem Boden. Teeverkäufer klappern mit Aluminiumkannen und Tassen. Es sind Rufe zu hören: »Chai, Chai. Heißer Chai!« Auf den gegenüberliegenden Gleisen entdeckt sie ein paar Affen mit Schwänzen wie Fragezeichen, die sie gerne fotografieren würde, aber Kit verschwindet gerade wieder in der Menge.

Sie hastet ihm hinterher, um mitzuhalten, öffnet schon den Mund, will ihm zurufen, sie könne ihre Taschen selbst tragen, aber Kit läuft mit entschlossenen, sicheren Schritten voraus, als kenne er sein Ziel ganz genau. Sie folgt ihm und bemerkt dabei eine ungleichmäßige Narbe auf der Rückseite von einem seiner Knöchel. Woher er sie wohl hat, rätselt sie. Schlagartig wird ihr wieder bewusst, dass sie keine Ahnung hat, wer er wirklich ist.

Er dreht sich um und wartet, hält ihr eine Hand hin und nimmt die beiden Taschen in die andere.

Sie eilt ihm hinterher. »Gib mir doch wenigstens eine«, sagt sie. Wortlos reicht er ihr die kleinste. »Gut«, sagt er. »Dann gehen wir mal diesen Strand suchen.«

»Die Perle des Arabischen Meeres.«

Er schaut sie mit hochgezogenen Augenbrauen erstaunt an. »Heißt der so?«

Sie nickt, und dann sagen sie beide gleichzeitig: »Wie romantisch.«

Er lacht. »Erst mal sehen, ob er hält, was er verspricht.«

Ihr wird so flau im Magen, als wäre sie von einer Klippe gesprungen. In gewisser Weise stimmt das auch – sie stürzt sich Hals über Kopf in eine Situation, die jedem blauäugigen frisch Verliebten genug Romantik bieten würde. Aber vielleicht hat er ja nur ein paar schöne, gemeinsame Tage am Strand im Sinn. Das spielt keine Rolle. Sie will das hier erleben. Sie will ihn. Sie wollte ihn von dem Augenblick an, als er sie auf der Straße angesprochen hat.

Summer umklammert ihre Tasche und nimmt Kits Hand. Dies hier ist ihre einzige Chance, spontan und wild zu sein. Ihre letzte Chance.

6

Kit

Kit stößt die Tür zu der Hütte auf und schaut sich in dem schummrigen Raum um. Es ist die billigste Unterkunft in ganz Varkala. Er hat sie gebucht, bevor er ahnen konnte, dass er Summer dorthin einladen würde. Der Raum ist klein und rund mit zwei Fenstern ohne Glas; sie haben lediglich Bambusläden, die geschlossen sind. Nachdem er die Taschen abgestellt hat, versucht er, die Läden zu öffnen, aber die Verriegelungen sind schwergängig, und er müht sich damit ab, flucht leise vor sich hin, klemmt sich den Finger ein, bevor er es endlich schafft, sie weit zu öffnen. Nichts Gutes ahnend, dreht er sich um und begutachtet das Zimmer.

Die gekrümmten, geriffelten Wände sind braun und glänzen ölig – sie sind aus einer Art lackiertem Bambus, vermutet er. Ein breites Bett nimmt den größten Teil des Raumes ein, über der dunklen Tagesdecke baumelt ein schmuddeliges Moskitonetz, das unten zu einem Knoten zusammengebunden ist.

Er schluckt, dreht sich zu Summer um und befürchtet, auf ihrem Gesicht Enttäuschung oder sogar Entsetzen zu sehen. Aber sie öffnet eine schmale Nebentür und tritt in eine Flut von Licht. Er blinzelt kurz verwirrt.

»Das Bad ist nicht überdacht!«, ruft sie begeistert. »Schau mal, unter der Dusche könnte uns eine Kokosnuss auf den Kopf fallen. Oder noch schlimmer, auf dem Klo!«

Er folgt ihr in den winzigen Raum und blickt hoch in den freien Himmel, der umrandet ist von den Wedeln einer Kokospalme. Es gibt eine Dusche, ein wackliges Waschbecken und eine alte, aber – wie er erleichtert feststellt – europäische Toilette. Die Wände sind mit plumpen Wellenmustern spiralförmig bemalt, und auf den gesprungenen Fliesen steht eine pinkfarbene Plastikwaschschüssel.

»Nicht gerade Fünf-Sterne-Komfort«, murmelt er mürrisch, um seine Verlegenheit zu überspielen.

»Also mir gefällt’s!« Sie kehrt ins Schlafzimmer zurück, bleibt in der Tür stehen und deutet in Richtung Meer. »Und dafür hat es auch einen Fünf-Sterne-Ausblick.«

Er tritt neben sie, während er an seinem Finger lutscht, wo sich gerade ein blauer Fleck bildet. Sie summt leise vor sich hin. Die runde, strohgedeckte Hütte ist eine von mehreren, die alle gleich aussehen und in einem eingezäunten Bereich rund um einen ausgetrockneten Zierteich angeordnet sind. Zwischen den Hütten verlaufen schmale, gepflasterte Wege, die zur Rezeption und zum Ausgang führen. Ein glücklicher Zufall will es, dass ihre Hütte auf der Spitze der Klippe steht und einen freien Blick auf das darunter liegende schimmernde Meer bietet. Unmittelbar hinter der Einzäunung schlängelt sich ein Fußweg am Rand der Klippe entlang.

»Wir werden ohnehin die meiste Zeit am Strand sein«, sagt er.