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1891 erstmals erschienen, geht der einzige ausdrücklich politische Essay Oscar Wildes in diesem für Wilde so erfolgreichen Jahr fast unter. Er hat keinen Skandal ausgelöst, widmet sich jedoch dem Skandal der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen so ausgiebig und kenntnisreich, daß er noch heute aktuell ist. Aus eigener Anschauung des Vereinigten Königreiches mit Irland wie der Vereinigten Staaten von Amerika und Frankreichs hat Wilde Einsichten formuliert, die heute Theoretiker wie Historiker der Globalisierung vorbringen. Seine Sprache ist brillant wie immer, provokativ, und sie zeugt von einer tiefgehenden Auseinandersetzung mit Sozialismus wie Christentum.
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Seitenzahl: 116
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Oscar Wilde
Aus dem Englischen neu übersetzt und mit Anmerkungen sowie einem Vorwort versehen von Jörg W. Rademacher.
Mit einem Nachwort von Michael Szczekalla
Vorwort (Jörg W. Rademacher)
Des Menschen Seele im Sozialismus
Aphorismen zur Literatur
Bibliographie
Danksagung
Anmerkungen
Nachwort: Oscar Wilde, «Des Menschen Seele im Sozialismus» (Michael Szczekalla)
Bibliographie
Anmerkungen
Namens- und Begriffsregister
Kurzbiographie
«Wenngleich […] Wilde […] in diesem Essay von der Thematik her ‹enfant de mon siècle› bleibt, wie er in ‹De Profundis› sagt, so ist doch sein Beitrag an gedanklicher und sprachlicher Schärfe allem überlegen, was Schriftsteller der Zeit an Zukunftsperspektiven entwickelten.»1
So pointiert kann man die Dialektik von persönlicher wie politischer Orientierung des Essays «Des Menschen Seele im Sozialismus» formulieren. Es gibt jedoch sowohl literarische und historische als auch philosophische und ideengeschichtliche Zugänge. Diese erörtert Michael Szczekalla im Nachwort. Jene finden sich im Vorwort sowie in den Anmerkungen zum Text wieder.2 Schon Johann Wolfgang Goethe schrieb in einer seiner Maximen: «Jede große Idee, die als ein Evangelium in die Welt tritt, wird dem stockenden pedantischen Volke ein Ärgernis und einem Vielaber Leichtgebildeten eine Torheit.»3 Rückblickend hat Goethe damit auch Glanz und Elend des Sozialismus in wenigen Worten ausgedrückt.
Glanz und Elend des Oscar Wilde sind nicht nur, aber auch in den fünf Monaten des Jahres 1895 zusammengefaßt, als er zunächst als Komödienautor im Januar/Februar den Gipfel seines literarischen Ruhms erklomm, um dann von März bis Ende Mai vor Gericht den immer rasanteren Absturz zum Paria zu erleben. Diese Tragödie wurzelt jedoch in den Ereignissen von 1891. Wer sich in diesem Jahr in Leben und Werk Oscar Wildes orientieren will, tut gut daran, die vier damals veröffentlichten Bücher zur Kenntnis zu nehmen:4 im April The Picture of Dorian Gray in Buchform und aus zwanzig Kapiteln bestehend, von Wilde durchgesehen, ergänzt und der Selbstzensur unterzogen, nachdem im Juni 1890 die amerikanische Zeitschrift Lippincott’s Monthly Magazine den Roman in dreizehn Kapiteln publiziert hatte; im Mai Intentions, ein Band mit vier literarischen Essays; im Juli Lord Arthur Savile’s Crime and other Stories; sowie im November The House of Pomegranates. Die letztgenannten Bände vereinen jeweils Geschichten oder Erzählungen, die wie die theoretischen Schriften der Essays zuvor in Zeitschriften erschienen waren. Im Jahr 1891 etabliert sich Wilde endgültig, so scheint es, auch als Buchautor.
Tatsächlich ist er damit höchstens als Name auf dem Buchmarkt seiner Zeit eine Art Marke, nicht jedoch bezogen auf den finanziellen Erlös. Weiterhin bleibt er auf andere Quellen angewiesen, etwa Honorare für Zeitschriftenbeiträge und, noch wichtiger, Bühnentantiemen, die ihm jedoch erst mit der Komödie Lady Windermere’s Fan zufließen werden, die 1892 Premiere hat. In solch einer Zeitschrift, nämlich The Fortnightly Review, herausgegeben von Frank Harris, einem Freund und späteren Biographen Wildes, erscheinen im Februar/März 1891 zwei wesentliche Beiträge: als zweites das The Picture of Dorian Gray in Buchform beigegebene Vorwort, das nur aus Aphorismen besteht und das diesen Band beschließt. Zuvor jedoch war schon ein Essay erschienen mit dem vielsagenden Titel «The Soul of Man under Socialism».5 Auch dieser enthält zahllose Aphorismen, die zeigen, wie sehr Wilde, der Plauderer und Causeur, danach strebte, sich den Ruf des professionellen Wortschmieds auch in der Schriftform zu erarbeiten und zu erhalten. Nur mochte er wohl, wie schon als Student in Dublin und Oxford, nicht öffentlich preisgeben, wie lange und ausgiebig er an den Werken feilte.
Zweifellos gilt dieser Umstand für diesen, den einzigen ausdrücklich politisch sich verstehenden Essay Wildes. Daher ist dessen Übersetzung in heute verständliches Deutsch, das zugleich ein Fenster in Wildes Gegenwart öffnet, alles andere als ein Kinderspiel. Die Auswahl einiger Aphorismen für den Oscar Wilde Kalender 2018/oscar wilde calendar 2018 war ein erster Schritt. Die dort dann im Kontext von Ulrich Hoepfners Collagenwerk zur Wirkung kommen sollenden Kurztexte jeweils passend zum englischen Original möglichst kurz und prägnant zu gestalten, war eine weitere ganz anders geartete Übung. Etliche Male galt es, die dort endlich in Form gebrachte Sentenz in die längst vorher für abgeschlossen gehaltene Übersetzung des gesamten Textes zurückzuführen.
Auf diese Weise erlebt der Übersetzer in zweiter Reihe mit, was bei einem Werk wie The Picture of Dorian Gray auf Grund der erhaltenen Dokumentation durch Handschrift und Typoskript eine Reihe von Herausgebern haben augenfällig machen können: Wilde hatte sehr wohl recht, wenn er einräumte, das Schreiben bereite ihm Mühe. Sofern Papiere erhalten sind, läßt sich dies minuziös nachweisen. Sofern dies nicht der Fall ist, können die Mühen, die es den Übersetzer kostet, einen Prosatext im Deutschen annähernd so lang zu gestalten wie das englische Original, um auch dessen Duktus zu erhalten, ein Hinweis auf den von Wilde selbst geleisteten Einsatz sein. Dies ist um so bedeutsamer, als mit «The Soul of Man under Socialism» kein historisches Relikt aus dem 19. Jahrhundert in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts gerettet wird. Vielmehr ist der Text von beispielloser Aktualität und das sowohl bezogen auf die Ursprungskultur – ein Vereinigtes Königreich, das damals wie heute vor kaum vorhersagbaren soziopolitischen Umwälzungen steht – als auch bezogen auf die empfangende Kultur, deren Sicherheit ökonomisch wie politisch ebenso in Frage gestellt ist wie zu Wildes Lebzeiten.6 Im Zweiten Deutschen Kaiserreich wiederum hat Wildes Schreiben unmittelbar nach seiner Verurteilung und Ächtung im Vereinigten Königreich sowie nach seinem Tod 1900 zu einer sehr lebendigen Rezeption geführt, die um so erstaunlicher erscheint, als dies in einem Land geschah, das Homosexualität unter Strafe stellte, was nach der Entschärfung des Paragraphen 175 des Strafgesetzbuches im Jahr 1969 bis zu dessen endgültiger Aufhebung 1994 noch lange Jahrzehnte so blieb.7
Da Oscar Wilde ja auch in den Vereinigten Staaten große Wirkung entfaltet hat, blickte er ohnehin mit einem Auge stets über den Atlantik. Dies erlaubt es uns heute, geschult durch Wildes Scharfblick, auch dort auszumachen, wie treffend er die Situation erkannt und benannt hatte. Zu Lebzeiten Wildes entfaltete dieser Essay zunächst keine Wirkung, und als er am 30. Mai 1895, mithin fünf Tage nach Wildes Verurteilung zu zwei Jahren Haft mit Zwangsarbeit, als Privatdruck «und nicht zum Verkauf bestimmt» erschien, geschah dies unter dem gekürzten Titel The Soul of Man, der erst in der Ausgabe von 1912, versehen mit einem Vorwort von Robert Ross, dem Freund und Nachlaßverwalter Wildes, wieder um den Zusatz Under Socialism erweitert wurde.8
Im 19. Jahrhundert war Wilde allerorten eher ein Rufer in der Wüste und ist als solcher sogar zu eigenem Schaden prophetisch wirksam geworden. Heute könnte kluges Denken in Analogien mit Hilfe von Phantasie à la Oscar Wilde helfen, ähnliche Fehlschlüsse wie vor gut hundert Jahren zu vermeiden.9
Jörg W. Rademacher, Leer, Ostfriesland,November 2017 – Februar 2018
«Die Kunst ist die intensivste Form des Individualismus, welche die Welt kennt.» (Seite 39)
Etablierte sich der Sozialismus, wäre der Hauptvorteil zweifellos die Tatsache, daß er uns der schmutzigen Notwendigkeit, für andere zu leben, enthöbe, die bei der gegenwärtigen Lage der Dinge fast jeden derartigen Pressionen aussetzt. Tatsächlich entkommt ihr fast niemand.
Dann und wann ist es im Jahrhundertlauf einem großen Naturwissenschaftler wie Darwin10, einem großem Dichter wie Keats11, einem feinfühligen kritischen Geist wie M. Renan12, einem unüberbietbaren Künstler wie Flaubert13 gelungen, sich zu vereinzeln, sich außer Reichweite der lautstarken Ansprüche anderer zu halten, «im Schutze der Wand» zu stehen, wie es Platon14 sagt, und so die Vollkommenheit dessen zu erreichen, was in ihm steckte, zum eigenen unvergleichlichen Gewinn wie zum unvergleichlichen und dauerhaften Gewinn der ganzen Welt. Diese jedoch sind Ausnahmen. Die meisten Menschen verderben sich ihr Leben durch ungesunde, übertriebene Selbstlosigkeit – sind gar dazu gezwungen, es so zu verderben. Sie finden sich umgeben von ebenso scheußlicher Armut wie Häßlichkeit und entsprechendem Hunger. Unweigerlich werden sie dadurch stark bewegt. Des Menschen Gefühle werden rascher erhitzt als sein Hirn; und wie ich vor einiger Zeit in einem Artikel über die Funktion der Kritik ausführte, ist es viel leichter, die Leiden mitzufühlen als die Gedanken.15 Passenderweise machen die Menschen sich mit bewundernswerten, jedoch fehlgeleiteten Absichten so ernsthaft wie sentimental die Aufgabe zu eigen, den Übeln abzuhelfen, welche sie sehen. Diese Abhilfe jedoch kuriert nicht die Krankheit: sie verlängert sie nur. Tatsächlich ist ihre Abhilfe Teil der Krankheit.
So suchen sie etwa das Problem der Armut zu lösen, indem sie die Armen am Leben halten, oder auch, sehr fortschrittlich gedacht, indem sie diese unterhalten.
Doch das ist keine Lösung: Die Lage wird vielmehr erschwert. Indes sollte es das rechte Ziel sein, die Gesellschaft dergestalt umzubauen, daß Armut unmöglich wird. Und in Wirklichkeit haben die selbstlosen Tugenden bislang die Umsetzung dieses Zieles verhindert. Ganz wie die schlimmsten Sklavenhalter ihre Sklaven nett behandelten und so verhinderten, daß das Grauen des Systems von den Leidtragenden begriffen und verstanden wurde von denen, die darüber nachdachten, so schaden bei der gegenwärtigen Lage der Dinge in England jene Leute am meisten, die am meisten Gutes tun wollen. In jüngster Zeit konnte man den Auftritt derer beobachten, die das Problem wirklich studiert haben und das Leben kennen – Gebildete, im East End16 wohnhaft –, die öffentlich die Gemeinschaft anflehen, ihre selbstlosen Impulse wie Wohltätigkeit, Gutwilligkeit und dergleichen zu zügeln. Das tun sie deshalb, weil solche Wohltätigkeit degradiert und demoralisiert. Sie haben vollkommen recht. Wohltätigkeit schafft eine Vielzahl an Sünden.
Auch das muß gesagt werden. Es ist so unmoralisch wie unfair, mit dem Privateigentum die grauenhaften Übel abzumildern, die aus der Institution des Privateigentums resultieren.
Im Sozialismus wird all das natürlich geändert. Niemand wird mehr in stinkenden Hütten und Lumpen leben und ungesunde, von Hunger geplagte Kinder in einem unmöglichen und absolut abstoßenden Umfeld aufziehen. Die Sicherheit der Gesellschaft wird nicht wie heute vom Wetter abhängen. Im Frostfall werden wir nicht hunderttausend Beschäftigungslose haben, die in einem Zustand abscheulichen Elends die Straßen durchstreifen oder bei den Nachbarn um Almosen wimmern oder sich an den Türen widerlicher Unterkünfte drängen, um einen Kanten Brot und ein unsauberes Nachtquartier zu ergattern. Jedes einzelne Gesellschaftsglied wird am allgemeinen Wohlstand und der Glückseligkeit teilhaben, und im Frostfall wird praktisch niemand schlechter dran sein.
Andererseits wird der Sozialismus allein deshalb wertvoll sein, weil er zum Individualismus führt.
Ob er Sozialismus oder Kommunismus heißt, er wird durch die Verwandlung von Privateigentum in öffentlichen Wohlstand und durch Zusammenarbeit statt Wettstreit die Gesellschaft in den rechtmäßigen Zustand eines ganz gesunden Organismus zurückführen und jedem in der Gemeinschaft das materielle Wohlergehen sichern. Tatsächlich wird er dem Leben seinen rechtmäßigen Grund und eine ebensolche Umwelt verschaffen. Doch für die volle Entwicklung des Lebens bis zum höchsten Grad an Vollkommenheit ist noch mehr vonnöten. Vonnöten ist der Individualismus. Falls der Sozialismus autoritär ist; falls Regierungen wirtschaftlich gerüstet sind, wie sie heute mit politischer Macht gerüstet sind; falls wir, in einem Wort, Beispiele industrieller Tyrannei erleben sollten, dann wird der letzte Zustand des Menschen schlimmer sein als sein erster. Gegenwärtig können viele Menschen infolge des Privateigentums eine gewisse begrenzte Form des Individualismus entwickeln. Entweder müssen sie nicht arbeiten, um zu leben, oder sie können den Bereich wählen, der ihnen wirklich gemäß ist und ihnen Vergnügen bereitet. Diese Menschen sind Dichter, Philosophen, Naturwissenschaftler, kultivierte Menschen – in einem Wort die echten Menschen, die sich selbst verwirklicht haben und in denen die gesamte Menschheit teilweise Verwirklichung findet. Andererseits gibt es eine sehr große Anzahl Menschen, die ohne Privateigentum stets am Rande des Hungertods leben und daher genötigt sind, als Lasttiere zu arbeiten, ein ganz unangemessenes Los, wozu sie gezwungen sind durch die gebieterische, unvernünftige, degradierende Tyrannei der Not. Diese Menschen sind die Armen, und unter ihnen gibt es keine anmutigen Manieren, keine reizvolle Rede, weder Zivilisation noch Kultur oder Verfeinerung der Vergnügungen oder Lebensfreude. Aus ihrer kollektiven Kraft gewinnt die Menschheit viel an materiellem Wohlstand. Doch gewinnt sie nur materiell, und der arme Mensch ist in und an sich bedeutungslos. Vielmehr ist er das infinitesimale Atom einer Kraft, die ihn zermalmt, statt ihn zu beachten: tatsächlich sieht sie ihn lieber zermalmt, da er in diesem Falle weit gehorsamer ist.
Natürlich könnte man einwenden, der unter den Bedingungen des Privateigentums erzeugte Individualismus sei nicht immer oder gar in der Regel von schönem oder wunderbarem Typus und die Armen, wenn sie schon weder Kultur noch Charme haben, besäßen dennoch viele Tugenden. Beide Aussagen wären recht zutreffend. Der Besitz von Privateigentum ist sehr oft extrem demoralisierend, und das ist natürlich einer der Gründe, warum der Sozialismus diese Institution loswerden will. Tatsächlich ist das Eigentum wirklich eine Plage. Vor einigen Jahren zogen Leute mit der Botschaft, Eigentum verpflichte, durch das Land. Sie wiederholten sie so oft und so ermüdend, daß am Ende die Kirche ebenfalls davon anfing. Jetzt hört man es von jeder Kanzel. Es ist vollkommen wahr. Eigentum verpflichtet nicht nur, sondern es verpflichtet sogar so sehr, daß sein Besitz in größerem Umfang sehr lästig ist. Es verwickelt einen in endlose Ansprüche, endlose Aufmerksamkeit gegen das Geschäft, endlosen Ärger. Als Quell reinen Vergnügens könnten wir Eigentum aushalten; durch seine Verpflichtungen wird es untragbar. Im Interesse der Reichen müssen wir es loswerden. Die Tugenden der Armen können ohne weiteres zugestanden werden und sind auch sehr zu beklagen. Man sagt oft, die Armen seien für Wohltätigkeit dankbar. Manche sind es ohne Zweifel, doch die besten unter den Armen sind niemals dankbar. Sie sind undankbar, unzufrieden, ungehorsam und rebellisch. Sie haben jedes Recht dazu. Sie empfinden Wohltätigkeit als lächerlich unangemessene anteilige Rückerstattung oder als sentimentales Arbeitslosengeld, gewöhnlich begleitet von so manch impertinentem Versuch des Sentimentalen, ihr Privatleben zu tyrannisieren. Warum sollten sie für die Krümel danken, die von des reichen Mannes Tisch abfallen? Sie sollten selbst