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Nie wieder ist jetzt Thomas Mann war nicht unbedingt dafür bekannt, sich politisch eindeutig zu positionieren – bis die NSDAP bei den Reichstagswahlen im September 1930 mit knapp 20 Prozent der Stimmen zweitstärkste Kraft wurde. Einen Monat später hielt er seine mutige Ansprache als »Appell an die Vernunft«, in der Hoffnung, dass sich alles doch noch zum Guten wenden ließe. In seinem Nachwort stellt Jens Bisky heraus, in welcher Situation Mann sprach, wie auf die Ansprache reagiert wurde, und zieht Parallelen zu Bürgerlichkeit und Vernunft heute.
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Seitenzahl: 91
Veröffentlichungsjahr: 2025
Thomas Mann
Ein Appell an die Vernunft
Reclam
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RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 962325
2025 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1994
Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2025
RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-962325-2
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014593-7
reclam.de | [email protected]
Deutsche Ansprache – Ein Appell an die Vernunft
Zu dieser Ausgabe
Nachwort: Deutscher Geist und republikanisches Ethos
Meine geehrten Zuhörer, – ich weiß nicht, ob ich auf Ihr Verständnis rechnen darf für den vielleicht phantastisch anmutenden Schritt, den ich unternahm, indem ich bitten ließ, mich heute Abend anzuhören. Dieser Schritt könnte als Anmaßung und Narretei aufgefasst werden, er könnte – ich mag es kaum aussprechen – dahin verstanden werden, als gäbe es hier jemanden, der nach der Rolle des praeceptor patriae1 griffe und den neuen Fichte2 spielen möchte … Wir wollen solche lächerlichen Vermutungen ausscheiden. Aber, sehen Sie, ich soll morgen in der Singakademie, als Gast des Verbandes Deutscher Erzähler, eine Vorlesung halten3, etwas aus einem neuen Roman zum Besten geben, der mich beschäftigt, und das kann vielleicht künstlerisch lustig werden, es kann die Leute interessieren und zerstreuen und mir Ermunterung eintragen, in meinem heiter-eigensinnigen poetischen Unternehmen fortzufahren, – gut. Und doch fragte ich mich, ob es sich lohne, ob es auch nur anständig und irgendwie vertretbar sei, unter den heutigen Umständen nach Berlin zu kommen, um ein Romankapitel vorzulesen und, etwas Lob und Kritik in der Tasche, die beide, wie alles steht, doch nur das Produkt einer recht geteilten Aufmerksamkeit sein können, wieder nach Hause zu fahren.
Ich bin kein Anhänger des unerbittlich sozialen Aktivismus, möchte nicht mit diesem in der Kunst, im Nutzlos-Schönen einen individualistischen Müßiggang erblicken, dessen Unzeitgemäßheit ihn fast der Kategorie des Verbrecherischen zuordnet. Auch wenn man wohl weiß, dass die Epoche, da Schiller das »reine Spiel« als den höchsten Zustand des Menschen4 feiern konnte, die Epoche des ästhetischen Idealismus, eben als Epoche vorüber ist, braucht man der aktivistischen Gleichung von Idealismus und Frivolität nicht zuzustimmen. Form, gebe sie sich noch so spielerisch, ist dem Geiste verwandt, dem Führer des Menschen auch zum gesellschaftlich Besseren; und Kunst die Sphäre, in der der Gegensatz von Idealismus und Sozialismus sich aufhebt.
Dennoch gibt es Stunden, Augenblicke des Gemeinschaftslebens, wo solche Rechtfertigung der Kunst praktisch versagt; wo der Künstler von innen her nicht weiter kann, weil unmittelbarere Notgedanken des Lebens den Kunstgedanken zurückdrängen, krisenhafte Bedrängnis der Allgemeinheit auch ihn auf eine Weise erschüttert, dass die spielend leidenschaftliche Vertiefung ins Ewig-Menschliche, die man Kunst nennt, wirklich das zeitliche Gepräge des Luxuriösen und Müßigen gewinnt und zur seelischen Unmöglichkeit wird. So war es vor sechzehn Jahren5, als der Krieg ausbrach, mit dem für alle Wissenden so viel mehr begann, als ein Feldzug; so war es in den Friedensjahren danach und dann vor zwölfen6, als Deutschland nach verbrecherischem Dauermissbrauch aller seiner Kräfte durch die, die sich seine Führer nannten, zusammenbrach und mit Müh und Not von Männern, die sich die Aufgabe nicht erträumt hatten und ihrer gerne überhoben7 gewesen wären, das Reich, die deutsche Einheit in der Form gerettet wurde, wie wir sie von unseren Vätern ererbt haben. So ist es heute wieder, nach Jahren, in denen Gutmütige an Erholung, an die langsame Rückkehr gemächlicherer und gesicherterer Zustände glauben mochten, während doch das durch den Krieg zerschlagene und mit Füßen getretene Wirtschaftssystem der Welt keineswegs geheilt war, noch seiner Heilung entgegensah, sondern in einer Unordnung zurückgeblieben war, die durch eine archaische und blinde Tributpolitik8 der den Frieden diktierenden Staaten verschärft wurde. Nun geht eine neue Welle wirtschaftlicher Krisis9 über uns hin und wühlt die politischen Leidenschaften auf; denn man braucht nicht materialistischer Marxist zu sein, um zu begreifen, dass das politische Fühlen und Denken der Massen weitgehend von ihrem wirtschaftlichen Befinden bestimmt wird, dass sie diese in politische Kritik umsetzen, wie wenn ein kranker Philosoph seine physiologischen Hemmungen ohne ideelle Korrektur in Lebenskritik umsetzte. Es heißt wohl zu viel verlangen, wenn man von einem wirtschaftlich kranken Volk ein gesundes politisches Denken fordert.
Die Reichsregierung hat einen Finanzreformplan10 aufgestellt, der Ersparnisse am Verwaltungsapparat vorsieht und im Auslande mutig und wirksam, ja vorbildlich genannt wird, geeignet, die Kreditwürdigkeit des Reiches zu heben. Das mag tröstlich sein. In Deutschland aber findet man, dass ein Staats-Finanzprogramm noch kein Wirtschaftsprogramm ist und dass diese »Vorlage zur Sanierung der Reichsfinanzen und zur Gesundung der deutschen Wirtschaft« nur allenfalls zur Hälfte ihren Namen mit Recht trägt. Was haben Vorschläge zur notdürftigen Ordnung des Reichshaushaltes für kommende Budgetjahre denen zu geben, die mit Augen voller Grauen den nächsten Monaten, diesem Winter der Arbeitslosigkeit, der Aussperrung, des Hungers und des Unterganges entgegenstarren, einem Winter, der droht, die Verzweiflung von Millionen zu vollenden und alle politischen Folgerungen und Folgen der Verzweiflung eines Volkes zu zeitigen11? Wie es steht, spürt jeder irgend Empfindliche. Steinschwer wie in den dunkelsten Jahren der Kriegs- und Nachkriegszeit liegt der Druck auf jeder Brust und verhindert das heitere Atmen. Die Kraft der Gemeinschaft und Schicksalsverbundenheit bewährt sich; es gibt kein Einzelglück, wenn das Elend die Stunde regiert. Wir alle sind hineingezogen in den Wirbel aus Not und leidvoller Erbitterung, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint. Wessen Teil in helleren Tagen die freie Pflege des Übernützlichen war, sieht sich verstört und gelähmt; denn wie soll er freimütig und menschlich vertrauensvoll wirken in einem zerrissenen und zerspaltenen Volk, dem der Hass, das kranke Erzeugnis der Not, jede Unbefangenheit des Blickes raubt? Kein Wunder vielleicht und keine unbegreifliche Regung, wenn es ihn unter solchen Umständen treibt, über Dinge, von denen man nicht mehr sagen kann, dass sie irgendjemandem »fern liegen« – denn sie brennen uns allen auf den Nägeln –, zur Gemeinschaft, oder doch zu der Gemeinschaftsschicht, die ihn hervorgebracht hat, der er sich gesellschaftlich zugehörig und geistig verbunden fühlt, zu sprechen, als führe er ein Selbstgespräch. Ich bin ein Kind des deutschen Bürgertums, und nie habe ich die seelischen Überlieferungen verleugnet, die mit einer solchen Herkunft gegeben sind; von der Sympathie breiter deutscher bürgerlicher Gesittung war meine Arbeit getragen, von dem sittlichen Vertrauen jenes Deutschland also, das immer noch für die innere Haltung, das geistige Gesamtbild Deutschlands entscheidend ist; und es heißt nur Vertrauen gegen Vertrauen setzen, wenn ich mich mit meinem bedrängten Selbstgespräch an das deutsche Bürgertum wende, nicht als Klassenmensch – das bin ich nicht –, auch nicht als Parteigänger irgendeines politisch-wirtschaftlichen Interessenbundes – ich gehöre keinem an. Sondern auf jener geistigen Ebene möchte ich mich mit Ihnen finden, auf welcher selbst der Begriff deutscher Bürgerlichkeit eigentlich angesiedelt ist und die deutsch-bürgerlicher Denkungsart wenigstens bis gestern noch natürlich war. Wie wenig hätte ich mich der Exzentrizität meines Schrittes zu schämen, wenn diese Begegnung im Geringsten, mit irgendeinem Wort beitragen könnte zu jener Besinnung, die mir noch immer als etwas Deutscheres erscheint als die schrille Parole, die heute zur Rettung und Wiedererhebung des Vaterlandes ausgegeben wird: als die Parole des Fanatismus. –
Der Ausgang der Reichstagswahlen12, meine geehrten Zuhörer, kann nicht rein wirtschaftlich erklärt werden. Wenn es nach dem bisher Gesagten den Anschein hatte, als wäre das meine Meinung, so bedarf das Gesagte der Korrektur. Auch vor dem Auslande wäre es weder klug, noch entspräche es den inneren Tatsachen, wenn man die Dinge so einseitig darstellte. Das deutsche Volk ist seiner natürlichen Anlage nach nicht radikalistisch, und wäre das Maß von Radikalisierung, das nun wenigstens für den Augenblick zutage getreten ist, nur eine Folge wirtschaftlicher Depression, so wäre damit allenfalls ein Anwachsen des Kommunismus, aber nicht der Massenzulauf zu einer Partei erklärt, die auf die militanteste und schreiend wirksamste Weise die nationale Idee mit der sozialen zu verbinden scheint. Es ist nicht richtig, das Politische als ein reines Produkt des Wirtschaftlichen hinzustellen; sondern um einen Seelenzustand zu deuten, wie den, den unser Volk jetzt auf eine die Welt verblüffende Weise an den Tag gelegt hat, ist es notwendig, die politische Leidenschaft, zutreffender gesagt, das politische Leiden heranzuziehen, und wenn es nicht klug und nicht würdig wäre, auf das Ergebnis vom 14. September stolz zu sein und vor dem Auslande darauf zu trumpfen, so mag man es immerhin schweigend seine Wirkung nach außen tun lassen als eine Warnung, ein Sturmzeichen, eine Mahnung, dass einem Volke, welches zum Selbstgefühl so viel Anlass hat wie irgendeines, nicht auf beliebige Zeit das zugemutet werden kann, was dem deutschen in der Tat zugemutet worden ist, – ohne aus seinem Seelenzustand eine Weltgefahr zu machen.
Auf den materiellen und geistigen Riesenkomplex von Ursachen einzugehen, aus denen die Kriegskatastrophe erwuchs, ist dies nicht der Augenblick. Geführt wurde Deutschland in diesem Krieg von einem Herrschaftssystem, das auf die historisch naivste Weise sein eignes Lebensinteresse mit dem des Volkes gleichsetzte und in dem Kampf um sein Fortbestehen es mit dem Volke, dem Lande zum Äußersten kommen ließ. Gegen dies Herrschaftssystem, das sich in der Welt verhasst gemacht hatte, richtete sich angeblich und nach der Überzeugung der Völker in der Tat der kriegerische Tugendmut unserer Gegner, ein demokratischer Tugendmut, dessen Propagandamittel überwältigend waren und der, von aller materiellen Überlegenheit abgesehen, die deutsche Widerstandskraft im Laufe der Jahre erdrückte. Diese demokratische Moralität, die während des Krieges den Mund so voll genommen hatte und den Krieg als Mittel zu betrachten schien, eine neue, bessere Welt zu schaffen, hat bei Friedensschluss nur sehr bruchstückweise Wort gehalten und sich durch die Wirklichkeit, die psychischen Nachwirkungen der Kriegswut und durch den Machtrausch des Sieges in einem Grade verderben lassen, dass es dem deutschen Volke aufs äußerste erschwert war, an den moralischen und historischen Sinn seines Unterliegens und an die höhere Berufung der anderen zum Siege zu glauben. Der Versailler Vertrag13 war ein Instrument, dessen Absichten dahin gingen, die Lebenskraft eines europäischen Hauptvolkes auf die Dauer der Geschichte niederzuhalten, und dieses Instrument als die Magna Charta14