Deutsche immer Kartoffeln - Peter Werner Richter - E-Book

Deutsche immer Kartoffeln E-Book

Peter Werner Richter

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Beschreibung

Helmut Wiese, ein "Senior im besten Alter", verbringt einen Kurzurlaub auf der maltesischen Insel Gozo, um sich über sein "Unbehagen in dieser Zeit" klar zu werden. Beseelt vom Wunsch nach möglichst objektiver Erkenntnis stützt er sich auf die Ausführungen bei Wikipedia, beispielsweise zu politischer Korrektheit, Globalisierung, Multikulturalismus, Positivismus - kurz, er unternimmt einen Streifzug durch die heute gängigen Floskeln und Phrasen in Politik und Medien. Dass er dabei nicht das Maß verliert, dafür sorgt seine angebetete, aber unerreichbare Freundin Paula. Und ebenso wirken seine Wanderungen über die schöne Insel befreiend und ausgleichend. Letztlich ist er überzeugt, tatsächlich einen Zipfel des heutigen Zeitgeistes erfasst zu haben.

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Helmut Wiese, ein „Senior im besten Alter“, verbringt einen Kurzurlaub auf der maltesischen Insel Gozo, um sich über sein „Unbehagen in dieser Zeit“ klar zu werden. Beseelt vom Wunsch nach möglichst objektiver Erkenntnis stützt er sich auf die Ausführungen bei Wikipedia, beispielsweise zu politischer Korrektheit, Globalisierung, Multikulturalismus, Positivismus – kurz, er unternimmt einen Streifzug durch die heute gängigen Floskeln und Phrasen in Politik und Medien. Dass er dabei nicht das Maß verliert, dafür sorgt seine angebetete, aber unerreichbare Freundin Paula. Und ebenso wirken seine Wanderungen über die schöne Insel befreiend und ausgleichend. Letztlich ist er überzeugt, tatsächlich einen Zipfel des heutigen Zeitgeistes erfasst zu haben.

Peter Werner Richter, geboren 1946 in Schleswig-Holstein, wuchs in Freiburg auf. Er studierte Volkswirtschaft und Regionalplanung und siedelte nach der Wende in den Osten Deutschlands über, wo er in einer mittelgroßen Stadt als Stadtplaner arbeitete. Nicht zuletzt diese Tätigkeit, die oft Züge einer Realsatire trägt, regte ihn an, seine insgeheim gehegten literarischen Ambitionen umzusetzen und zu schreiben. Die eingeschränkte Fähigkeit der Gesellschaft, ihre Angelegenheiten sachlich und einvernehmlich zu regeln, bildet das große Thema seiner Arbeit.

Heute lebt P.W. Richter in einem kleinen Dorf in Brandenburg und widmet sich nur noch dem Schreiben.

Inhalt

Vorwort

Schöne Insel Gozo

Ankunft

Weg von Mgarr nach Osten

um was geht es?

Der Geist der Zeit

Moderne, Postmoderne, Zweite Moderne

Politische Korrektheit

Sturm

Globalisierung

Gescheiterter Staat

Weg von Marsalforn nach Westen

Kulturgeschehen

Kultur

Multikulturalismus

Rasse

Mbunas im Aquarium

Rudel

Sublimierung

Kultur auf verschiedenen Ebenen

Rytcheu und die Tschuktschen

Abendländische Werte

Aufbruch nach Ramla

Der Mensch im Gleichgewicht

Freudsches Strukturmodell der Psyche

Dekadenz

Wanderung an der Fougasse

Malta-Fakten

Schlechtes und gutes Verhalten

Positivismus

Behaviorismus

Vulgär-Behaviorismus

Verhaltensbiologie

Spaziergang in Xlendi

Einkäufe in Victoria/Rabat

Vom Fortschritt überrollt

Technischer Fortschritt

Transhumanismus

Besuch des „azurnen Fensters“ in Dwejra

Deutsche immer Kartoffeln

Was läuft falsch?

Bürgerbeteiligung

Moralische Indoktrination

politisches Missverstehen

Verschleierung der Macht

Auflösung des Menschenbildes und traditioneller Werte

Tabubruch

Männlichkeit

Verkopfung

Schuldkomplex

Gedicht vom Mörder

Desorientierung

zügelloser Fortschritt

Beginn des transhumanistischen Zeitalters

Parabeln

deutsche Verfassung

Nachwort

Vorwort

Dies ist weder eine Erzählung noch ein Essay noch eine Beschreibung von Wanderwegen. Es ist alles in einem, ein Mischmasch; neudeutsch würde man vielleicht von Cross-over-Narrativ sprechen. Aber so neuartig ist diese literarische Form gar nicht – bereits vor zweieinhalbtausend Jahren hat sich Plato einer ähnlichen Methode bedient – der Erörterung in der Gruppe –, um seine teilweise recht trockenen Überlegungen einem nichtakademischen Publikum schmackhaft zu machen. Allerdings soll hier kein Vergleich zu jenem überragenden Philosophen gezogen werden – es handelt sich in „Deutsche immer Kartoffeln“ ja nur um zwei schlichte Zeitgenossen: Helmut Wiese und Paula (Nachname unbekannt). Während Helmut der Frage nach seinem „Unbehagen in der heutigen Zeit“ nachgeht und dabei verschiedene Muster und Zusammenhänge findet – kurz: während er dem Zeitgeist auf die Spur zu kommen glaubt, bildet Paula seinen Widerpart: Sie möchte sich ihr angenehmes Leben nicht durch Unkenrufe und Verfallstheorien vermiesen lassen.

Die Ausführungen stützen sich vor allem auf Auszüge aus Wikipedia, was für diesen Zweck ausreichend erscheint, denn es sollen ja keine neuen Forschungsergebnisse berichtet werden. Vielmehr geht es darum, Muster im bereits Bekannten, für jeden leicht Beobachtbaren zu erkennen und zwei und zwei zusammenzuzählen. Zwar ist auch diese Quelle nicht immer unparteilich, doch lässt sich dies durch die Redundanz vieler Beiträge bis zu einem gewissen Grad erfassen und zurechtrücken.

Einen Ausgleich zu seiner Geistesarbeit erfährt Helmut Wiese durch seine Wanderungen auf Gozo, der zweitgrößten Insel des maltesischen Archipels. Was die graue Theorie vermissen lässt, findet er hier: Sonne, Sturm, nette Menschen, milde Luft, strahlend gelbe Felsen, azurblaues Meer.

Und er findet es in seiner stillen Liebe zu diesem unfasslichen (Vorsicht! Inkorrekter Ausdruck!) Weib Paula.

TEIL I

Schöne Insel Gozo

1.

Der Bus klappert durch Xaghra, als sei sein Tempo unabänder­lich vorgegeben. Die holprigen Gassen sind schmal, dicht fliegen die Fassaden der Häuser vorbei, man könnte sie fast berühren, wenn man den Arm ausstrecken würde. Mit der rechten Hand den großen Rollkoffer auf dem Nebensitz sichernd, klammert sich Helmut Wiese an der Haltestange fest und blickt angestrengt nach vorne. Gibt es hier keine Kinder auf der Straße?, denkt er. Kann hier denn kein Auto aus der Seitengasse kommen? Doch, es geschieht ab und an, und jedesmal passiert nichts. Im schlimmsten Fall muss der Entgegenkommende einige Meter zurücksetzen, und der klotzige Bus schlängelt sich behände durch den Engpass.

Die andern beiden Fahrgäste scheinen nicht sonderlich berührt zu sein von dieser ungestümen Hetzjagd. Der dürre Afrikaner mit dem Ziegenbärtchen ist ganz auf sein Handy konzentriert, in das er unentwegt hineinbrüllt, als wolle er die Distanz zu seinem Kontinent auch ohne Gerätschaft überbrücken. Der ältere Herr vor ihm blickt mit halb geschlossenen Augen in die Ferne, verklärt, als ginge ihn das alles nichts an.

Helmut ärgert sich über die Rücksichtslosigkeit des Telefonierenden. Soll er eine passende Bemerkung machen? Andere hätten schon längst lautstark dazwischengefunkt, sagt er sich. „Why do you use a mobile? Your folks can hear you without it!“ zum Beispiel. Aber das würde dem Afrikaner vermutlich nur ein mitleidiges Lächeln entlocken. Rassist! zu denken wäre vielleicht seine einzige Reaktion. Nein, bevor er sich blamiert, erträgt Helmut es lieber. Letztlich sind es ja nur noch ein paar Kilometer bis Marsalforn, beschwichtigt er sich – keine drei Minuten bei dieser irren Fahrweise.

Es ist schon ziemlich dunkel, als er den Bus verlässt und den Koffer zum Hotel rollt. Die junge Dame an der Rezeption ist dieselbe wie im Frühjahr, sie erinnert sich an ihn und begrüßt ihn herzlich, als habe alles nur auf ihn gewartet. Helmut freut sich, er ist dazu noch in der Lage nach all den Strapazen der Reise, und möchte einen Scherz machen, doch es fällt ihm keiner ein. Er zahlt die zwölf Tage Aufenthalt mit seiner Kreditkarte im Voraus, nimmt von der strahlenden Dame den Türchip entgegen und macht sich auf zum Lift.

Im Raum 321 ist es finster. Helmut zieht die schweren Vorhänge auf und setzt sich erst einmal auf die Bettkante. Er atmet schwer, als wäre er nicht mit dem Fahrstuhl, sondern auf der Treppe gekommen. Vor einem halben Jahr war es nicht so anstrengend, erinnert er sich. Aber jetzt ist er völlig außer Atem, seine Lendengegend schmerzt, vom rechten Hüftgelenk gar nicht zu reden. Ein wenig übel ist ihm auch.

Aus dem Nachbarzimmer ertönt ein Knall, sonst hört man nichts. Ha, denkt er grinsend, der Klodeckel! Helmut weiß es sofort, er kennt das Geräusch, er ist ihm ja auch schon einige Male aus der Hand gerutscht. Das Ding ist so stabil, es klappt nicht nur, es knallt richtig!

Das Geräusch durchtrennt seinen Leidensfaden; er vergisst seine Schmerzen und wendet den Blick in die Zukunft. Jetzt also wieder auf Gozo! Wie vor einem halben Jahr. Und wie vor einem Jahr. Und, denkt er, wie hoffentlich noch viele Male. Er ist plötzlich ganz optimistisch, dass es auch diesmal ein schöner Urlaub wird. Nein, korrigiert er sich, kein Urlaub, er will ja arbeiten. Er hat ja extra deswegen sein Laptop mitgenommen. Aber dennoch: Schon am Flughafen auf Malta, befreit von der Enge im Flugzeug, hatten ihn Feriengefühle überkommen. Die milde warme Luft! Er hatte seine dicke Winterkleidung, die bei Antritt der Reise in Deutschand angebracht war, so gut es ging geöffnet und in vollen Zügen durchgeatmet. Die Luft, es musste wohl an der Nähe des Meeres liegen, sie tat so wohl. Man holt mehrmals kräftig Luft und – voilà: Urlaub!

Und nun? Was wird er in den nächsten achtzehn Tagen tun?

Er schiebt den Gedanken beiseite und beginnt, sich im Zimmer einzurichten. Es ist ein Doppelzimmer, das ihm allein überlassen wurde. Für deutsche Verhältnisse ist es nicht teuer, bietet aber allen Komfort, den er sich wünschen kann. Besonders freuen ihn die zwei Tischchen, auf denen er sein Laptop und andere Gerätschaften aufstellen kann. Und im Kleiderschrank unten rechts findet er natürlich wieder die Mikrowelle, die er allerdings noch nie benutzt hat. Und die Klimaanlage faucht wie bei jeder seiner Ankünfte. Sie abzustellen ist die erste seiner Handlungen.

Draußen ist es nun fast Nacht. Auch hier, wieder zurückgeschaltet in die mitteleuropäische Zeit, fängt es um diese Jahreszeit bereits früh zu dämmern an, und um halb sechs ist es schon Nacht. Helmut tritt auf den kleinen Balkon hinaus, der nur Platz für zwei Stühle oder eine Wäscheleine bietet, und blickt die enge, von einer am Haus gegenüber angebrachten Bogenlampe spärlich beleuchteten Gasse hinauf und hinab. Alles wirkt ungepflegt, um nicht zu sagen: marode, als sei hier vor Wochen einmal ein Tsunami hindurchgefegt. Er wird es sich bei Tage noch einmal genauer anschauen, vielleicht wirkt es dann nicht ganz so schlimm. Vielleicht kommt es nur von den schwarzen Schatten. Immerhin, zur Linken lässt sich das offene Meer erkennen – ein kleiner Ausschnitt zwar nur, aber er reicht, um zu sehen, ob das Wasser glatt oder aufgewühlt ist.

Auf einen Raum mit Panorama-Meerblick hat Helmut verzichtet. Einmal aus Kostengründen, zweitens, weil auch der schönste Anblick auf die Dauer seinen Reiz verliert, und drittens, weil er sich nicht von der Arbeit am Computer ablenken lassen will. Diesmal soll sein Ambiente anspruchslos sein, ein wenig dämmrig vielleicht, eine gemütliche Höhle, in der nichts den Flug seiner Gedanken stören wird.

Er betritt wieder sein Zimmer und schließt die Türe bis auf einen kleinen Spalt. Es wird die Wäscheleine werden, denkt er. Nicht die Stühle. Aber sehen wir weiter bei Tageslicht. Soll er jetzt endlich den Koffer auspacken? Oder ein paar E-Mails schreiben und seine heile Ankunft vermelden? Sein Magen macht sich bemerkbar, so weit ist er schon wieder hergestellt, dass sich einzelne Gefühle unterscheiden lassen. Genau. Er wird essen gehen. Am liebsten ins Qbajjar. Er hat es in guter Erinnerung. Da muss er zwar fast zwei Kilometer laufen, aber der Weg ist immerhin beleuchtet. Und er führt immer am Meer entlang. Von wegen Luft!

An Paula wird er erst morgen schreiben. Paula – für sie ist ihm eine Zeile zu wenig, und zu mehr wird es heute nicht mehr reichen. Zumindest nicht in einem halbwegs zurechnungsfähigen Zustand.

2.

Liebe Paula,

bin gestern gut gelandet. War gleich im Lieblingslokal essen. Das ist etwas außerhalb, direkt am Meer. Sie geben sich richtig Mühe hier. Müssen sie auch, so weit ab vom Schuss. Ich habe ein einfaches Fisch-Risotto bestellt und einen örtlichen Weißwein. Chardonnay, soweit ich das gebrochene Englisch der Bedienung verstanden habe. Es war einfach, aber traumhaft.

Es ist ganz schön warm hier, jetzt um zehn Uhr schon über zwanzig Grad. Ich komme gerade vom Schwimmen – auch das Wasser ist warm. Jedenfalls wärmer als die Ostsee im Sommer. Lustig: Es waren wieder die drei Frauen im Wasser, die bewussten Zauseln vom letzten Mal (ich weiß, wenn ich alte Zauseln sage, sind sie meist jünger als ich). Sie tratschten da mindestens eine Stunde lang, vielleicht auch zwei (ich habe da keinen Überblick) und taten so, als würden sie schwimmen. Aber sie standen auf dem Grund. Da würde ich auf die Dauer doch frieren! Aber sie offenbar nicht. Ein weiterer Beweis – Frauen haben keine Gefühle.

(Das war ein Scherz!)

Schade, dass Du nicht da bist. Dir würde es gefallen, da bin ich mir sicher. Aber, naja, das Thema haben wir durch, denke ich. Oder?

Einen Weg habe ich mir noch nicht ausgesucht. Vielleicht versuche ich es mal von Mgarr aus. Oder probiere es noch einmal von Marsalforn nach Ramla, zum schönen Strand. Und gegugelt habe ich auch noch nicht. Erst einmal ankommen, erst einmal nichts machen, einfach nur gucken. Und an das kalte Brandenburg denken, wo du jetzt sitzt und frierst.

Hähä.

Dein Helmi

Er blickt einen kurzen Moment an die Wand, als müsse er sich noch einmal vergewissern, dass er auch meine, was er geschrieben hat. Dann drückt er auf „senden“.

Zufrieden lehnt er sich zurück und betrachtet den Monitor mit der Bestätigung, dass die Nachricht abgegangen ist. Ob sie heute noch antworten wird? Obwohl es ja groß nichts zu antworten gibt – außer „schön, freut mich“ vielleicht. Doch, sie wird, ist er sich plötzlich sicher. Sie ist zuverlässig. Wenn auch sonst nichts ist – verlassen kann man sich auf sie.

Er überlegt, was er heute noch tun wird. Er macht einen Plan. Kopflastig, wie er ist, braucht er immer einen Plan. Also: Rumlaufen und gucken, ob alles noch so ist wie beim letzten Mal. Einkaufen für seine Wanderungen. Ein Teil davon irgendwo im Freien als Mittagessen verzehren (das aus Deutschland mitgebrachte Knäckebrot nicht vergessen!). Bei der Rezeption des Hotels beschweren, dass die Dusche nicht geht. Vielleicht noch ein Nickerchen machen? Irgendwie spürt er immer noch die Nachwirkungen der Reise, da kommt selbst die beste Meeresbrise nicht gegen an … Oder, anders herum, noch irgendwo ein anregendes Käffchen trinken? Einen Cappu, respektive? Und dabei einen Blick in die „Times of Malta“ werfen, die noch käuflich zu erwerben wäre? Und – last but not least – sich Gedanken über das große Thema machen, über das er sich hier, auf seiner Insel der Seligen, Klarheit verschaffen möchte.

Also, denkt er, gehen wir‘s an.

3.

Sie hat nicht geschrieben. Gestern nicht, und heute früh war auch keine E-Mail von ihr da. Das ist ungewöhnlich. Beunruhigend. Ist was passiert? Blödsinn, nun gerate mal nicht gleich in Panik! Das ist doch ganz normal, sie hat ja noch andere Dinge zu tun, verbringt nicht den ganzen Tag am Computer, nur um ihm zu antworten. Schließlich haben sie keine feste Beziehung. Keine richtige jedenfalls. Aber irgendetwas ist zwischen ihnen, aus dem vielleicht noch etwas werden könnte …

Er bemüht sich, seine Gedanken in Richtung Tagesplanung (sic!) zu biegen. Heute nämlich steht die erste kleine Wanderung an. Er hat sich vorgenommen, als Gegengewicht zu dieser ganzen verkopften Angelegenheit die Insel genauer zu erkunden. Zu Fuß. Um vielleicht auch ein paar Tips für andere beizutragen. Soweit er gesehen hat, handelt es sich bei den Beiträgen im Internet unter dem Stichwort „Trekking Gozo“ meist um kommerzielle Angebote, zum Beispiel um Quad-Karavanen. Mit diesen knatternden Stinkedingern hat er allerdings gar nichts am Hut. Vielmehr will er die Stille der Natur genießen, möglichst allein, Naturgeräusche sind zulässig, und seine Seele in ihr finden. Und höchstens ab und zu mal einen (oder eine?) Gleichgesinnten treffen, mit dem man ein wenig plaudern kann …

Also nimmt er den Bus um 11:10 Uhr von Marsalforn nach Mgarr, wo auch die Fähre nach Malta abfährt. Er muss sich sputen, er hat sich beim Packen seines Rucksäckchens zu viel Zeit gelassen und erwischt den Bus gerade so eben. Der ist voll, Helmut nimmt auf einem Klappsitz für „besondere Fahrgäste“ Platz. Bin ich das etwa nicht?, denkt er und grinst in sich hinein. Rechts vom Gang sitzt eine unglaublich dicke, nicht unsympatisch wirkende Frau in mittlerem Alter. Ihr kleiner Sohn spielt mit einer Sonnenbrille, die er offenbar gerade erst bekommen hat. Die Dicke führt ein Gespräch mit dem Ehepaar hinter ihr. Da sie sich nur begrenzt umdrehen kann, muss es die Lautstärke bringen. Ihr Maltesisch dröhnt durch den ganzen Bus und übertönt sogar dessen unentwegtes Klappern und Scheppern, das bei der Raserei … wir kennen es schon.

Seine Wanderroute hat er noch im Hotel mit einem Surrogat von Google Earth festgelegt (er hat immer noch nicht herausgefunden, wie man GE mit Linux Mint zum Laufen bringt) und die Luftbilder mit dem Handy vom Monitor abfotografiert. Er hofft, dass er im Sonnenlicht überhaupt etwas erkennen wird.

In Mgarr (er hat inzwischen mitbekommen, dass man es Imdschaar ausspricht, das „I“ am Anfang kaum vernehmbar) scheint die Sonne. Die Bushaltestelle befindet sich direkt am Fährhafen. Beim Aussteigen rennt er fast gegen das Empfangsgebäude mit dem riesig erscheinenden Fährschiff dahinter. Es wartet mit aufgerissenem Maul auf Autos. Helmut wird es zu warm; er zieht seinen Anorak aus und klemmt ihn unter den Latz seines Rucksacks. Fürs Erste hat er sich die Route nach Osten vorgenommen, vielleicht bis zum östlichen Kap von Gozo. Auf der Landkarte steht dort „Ras il-Qala“, was laut seinem Sprachführer auf dem Handy soviel bedeutet wie „Kopf des Baches“. Also „Kap mit Bach“? Oder „Bachmündung“? Letzteres wäre einleuchtend, denkt er und lässt seinen Blick über den Hafen von Mgarr mit den kleinen Fischer- und Touristenbooten schweifen. Den muss er erst einmal umrunden. Er trabt los, vorbei an den Kneipen, an den Tauen und abgestellten Wracks. Er vermisst den Geruch von frisch gefangenem Fisch. Bald kommt er auf eine nett angelegte Promenade, die am Rand des Hafens endet. Hier gibt es einen kleinen Durchlass durch die Mauer.

Natur! Endlich! Wie ersehnt.

Rechts gibt es einen lächerlich winzigen Strand, der den Namen kaum verdient, weil er zur Hälfte mit abgestorbenem Seegras überdeckt ist. Trotzdem ist er gut besucht. Doch sein Weg – es ist nicht mehr als ein Pfad, eine Ziegenspur, führt ihn zunächst nach links, ein paar Schritte den Hang hoch. Ab hier geht es mehr oder weniger parallel zum Ufer entlang. Nun ja, mehr oder weniger. Helmut muss sich erst einmal durch einige Felsspalten hindurchwinden, es geht auf und ab, gerade an der engsten Stelle kommt ihm ein Trüpplein fröhlicher Engländer entgegen (der Name passt hier wirklich, denkt er). Ihre gute Laune färbt in Sekunden auf ihn ab. Wieso sind die immer so fröhlich?, wundert er sich. Ist es vielleicht die Nähe zu den Rheinländern? Genau genommen ist ja auch die Themse ein Nebenfluss des Rheins. Oder umgekehrt? NO WAY! Aber vor ein paar Tausend Jahren, als es die Nordsee noch nicht gab, da war es doch wirklich so! Da konnte man zu Fuß rüberlaufen. Also – was soll‘s?

Er schaut sich um. Herrlich! Der Pfad schlängelt sich durch spärliches Gebüsch, das immer wieder das nackte, gelbbraune Gestein durchblicken lässt, den sanften Hang entlang. Oben im blauen Himmel einzelne mächtige Wolkenberge, unten im silbrig schimmernden Sund emsige Schiffchen. Er blickt auf Comino, die kleine Nachbarinsel mit der „Blauen Lagune“, und „Cominöchen“, wie er „Cominotto“, die kleinste des Archipels, scherzhaft nennt. Dahinter die grauen Felsen von Malta. Eine Stimmung, als spüre man den Atem des Globus.

Helmut merkt, wie alle Verspannung sich auflöst. Er bemüht sich, seine Gefühle nicht zu analysieren, was ihm schwerfällt. Aber er weiß, wenn er das tut, ist das schöne Erlebnis zu Ende. Er geht weiter, um nicht zu denken. Gut, dass ich feste Turnschuhe anhabe, denkt er. Er hat auf früheren Urlauben herausgefunden, dass dieses Schuhwerk für Kraxeleien noch am besten geeignet ist, wenn man sich keine ganz teueren Wanderschuhe leisten will. Aber die sind ihm für dieses scharfkantige Felsgestein zu schade. Und in billigen schwitzt er wie ein Tsunami.

Er versucht zu ergründen, was für Pflanzen das sind, die den ganzen Hang überziehen. Im Zweifel ist es immer Wolfsmilch, hat er sich zurechtgelegt. Das scheint auch hier zu passen, zumindest für die blaugrauen Wuschel, die wie große Pilzköpfe den steinigen Boden bevölkern. Wo sich etwas Humus angesammelt hat, treiben selleriegroße Knollen ihre lanzettförmigen Blätter aus dem Boden. Er überlegt. Eine Bromelien-Art? Die Gewächse sehen aus wie die bunten Pflanzen im Baumarkt, die man mit Regenwasser in der Mitte gießen muss. Diese hier sind grasgrün. Daneben gibt es auch noch andere, deren Blätter ganz schlank, aber doch kräftiger als Gras sind. In den vertrockneten Blütenständen findet er noch ein paar schwarze Samen. Er lässt sie in seine Hemdtasche fallen, wo er sie wohl nach der dritten Wäsche wiederfinden wird. Er braucht ein extra Tütchen! Eine echte Gozo-Pflanze wäre ein schönes Andenken, findet er.

Für Paula?

Warum ist sie nicht hier? Bei ihm? Und könnte das alles mit ihm erleben?

Sch… Mist.

Vor ihm ist der Pfad zu Ende. Der Hang ist hier so steil, dass ein Ausrutscher nicht nur das Ende des Pfades markieren würde, sondern auch seines. Was tun? Er blickt sich um und sieht hinter sich eine Spur, die zum höher gelegenen Mäuerchen führt. Dort ist eine Lücke. Oben angelangt findet er den Trampelpfad wieder. Und nach zehn oder zwanzig Metern ist er wieder in der Spur. Ab hier geht es relativ problemlos geradeaus, wenn der Hang auch immer steiler wird und es sich immer weniger empfielt, nach rechts zu gucken.

Paula würde es hier gefallen. Sie ist gut zu Fuß, sie ist überhaupt für‘s Natürliche, das passt zu ihr. Sie schminkt sich kaum, jedenfalls so wenig, dass es ihm nicht auffällt. Auch kein Piercing oder hohe Absätze. So muss es sein, denkt er, wie ein Gewürz in der Speise. Man möchte ja auch nicht, dass die Suppe versalzen oder das Reisfleisch verpfeffert ist. Und die meisten Frauen, findet er, sind versalzen und verpfeffert. Paula nicht.

Ob er jetzt schon eine Rast einlegen soll? Und sich ein wenig seinem E-Book widmen soll? Er liest gerade Geschichten aus der Arktis, ein in diesem Klima erfrischendes Thema. Nein, sagt er sich, noch hat er nichts geleistet, er hat ja nicht einmal die Hälfte dessen zurückgelegt, was er sich vorgenommen hat. Energisch schreitet er weiter, sein leichtes Mucken im rechten Hüftgelenk nicht beachtend. Erfreut stellt er fest, dass die Sonne nicht mehr so brennt, weil sich der Himmel bewölkt hat.

Ein paar Hundert Meter weiter scheint der Weg wirklich zu Ende zu sein. Als ob er es geahnt hätte! Als ob er es nicht schon mehrmals an anderer Stelle so erlebt hätte! Vorsichtig tastet er sich weiter, quer durch das buschbewachsene Geröll am Steilhang, unten die erwartungsvollen Wellen, bis er wieder auf ein Mäuerchen stößt, diesmal ohne Spur hindurch. Soll er? Nein, noch geht es mühsam geradeaus, unten am Mäuerchen entlang, wenn auch nur mit dem Mut der Verzweiflung. Sich mit den Händen an lächerlich dünne Halme klammernd, stapft er vorsichtig voran, bis – oh Wunder – der Pfad plötzlich wieder Konturen annimmt. Nach und nach verläuft auch der Hang weniger steil. Jetzt läuft sich‘s wieder leichter, er atmet auf, nun muss er nicht mehr vor sich auf die Erde starren, kann seinen Blick wieder auf die weitere Umgebung richten.

Rechts vor sich sieht er so etwas wie eine kleine Landzunge. Oder eine kleine Insel, die durch die Relikte einer Gerölllawine mit dem „Festland“, also Gozo, verbunden ist. Sein Schritt wird zögerlicher, schließlich bleibt er stehen. Hier wäre doch eine schöne Stelle für eine kleine Rast, findet er, hier, mit dem Blick auf das felsige Kap und den Sund von Gozo.

Er kramt seine Wegzehrung aus dem Rucksäckchen: Knäckebrot, Schmelzkäse in Scheiben, Bananen, Studentenfutter. Dazu ein Fläschchen Sprudel aus der Seitentasche des Rucksacks. Nach dieser Stärkung legt er sich rücklings auf den Boden, schließt die Augen und atmet tief durch. Er versucht, nicht an Paula zu denken. Es gelingt ihm nicht. Er verfällt in ein dämmriges Dösen. Wenig erfrischt richtet er sich nach einer Weile wieder auf. Er findet es immer noch schön hier, auch nach dieser kleinen seelischen Absence. Doch er beschließt, es für heute gut sein zu lassen und wieder zurückzugehen. Als er aufsteht, merkt er wieder das Greisentum in jedem Winkel seines Knochengerüstes. Ach! Es ist schon eine Last mit dem Altwerden.

Wieder im Hotel ist er rechtschaffen müde. Soll er jetzt noch den Computer anwerfen? Automatisch stellt er ihn an und sieht nach neuen E-Mails. Wieder nichts, und schon gar nichts von einer gewissen Person. Verdammte Technik!, schimpft er innerlich. Wozu ist sie überhaupt nütze? Um sich mit personenoptimierter Werbung vollzudröhnen? Er ist aufgeregt, fast wütend, was selten vorkommt. Gut, sagt er sich, nun ist es eben so. Ich werde nicht nachhaken. Ich dränge mich nicht auf. Irgendeinen Vorteil muss das Alter doch haben, und wenn‘s nur die Würde ist.

Trotzdem, soll er jetzt an seinem Thema arbeiten? Draußen wird es schon wieder dunkel, bald wird er sich auf die Beine machen und eines der noch offenen Lokale zwecks Abendessen besuchen. Nein, es lohnt nicht. Dazu muss er sich konzentrieren können, braucht mindestens eine Stunde Zeit, Ende offen. Nein, nicht mehr heute.

Spät am Abend: Keine E-Mail. Keine E-Mail, das heißt: keine von Paula.

4.

Heute will er endlich mit seiner Kopfarbeit beginnen. Sich langsam an das Thema herantasten. Dazu braucht er das richtige Ambiente. Er steht im Hotelzimmer und nimmt die Atmosphäre in sich auf. Das Bett ist ungemacht; seine in Gebrauch befindlichen T-Shirts und Jeans hängen zum Lüften an Schränken, Spiegeln und an der Tür vom Bad. Seine technischen Geräte (Laptop, E-Book, Handy, Fotoapparat, Lade- und Verbindungskabel, Adapter) liegen verstreut auf den kleinen Tischchen. Das würde er alles noch aufräumen müssen, bevor der Zimmerservice kommt. Bis der nicht da war, wird er sich kaum konzentrieren können. Nein, er muss raus hier.

Nun sitzt er auf einem schönen runden Findling am Küstenhang östlich der Stadt und schaut über das Meer. Der schmale Pfad, er weiß es von einem früheren Urlaub hier, verläuft sich – wie gehabt – nach ein paar Hundert Metern im Gestrüpp der Klippen, hier wird so schnell niemand vorbeikommen. Die Sonne brennt, er ist froh, dass er seine Baskenmütze dabei hat. Er trägt sie als Erinnerung an seinen Großvater, den er sehr mochte. Der hatte im Freien stets eine Baskenmütze auf. Jetzt trägt auch Helmut eine. Er ist wohl der Einzige auf der ganzen Insel, der mit Baskenmütze herumläuft. Vor ihm, auf dem Pfad, taucht die erste der sonst so scheuen Eidechsen auf …

Also, denkt er endlich, um was geht es mir?

Es geht mir um … ein gewisses Unbehagen. Es fällt ihm gar nicht so leicht zu sagen, woran das liegt. Jedenfalls geht es ihm nicht um sich, soviel steht fest. Er ist für sein Alter relativ gesund, rüstig nennt man das wohl jetzt, und finanziell geht es ihm auch einigermaßen. Auch über sein persönliches Umfeld klagt er nicht, auch wenn er notgedrungen ein Single-Dasein führt (Paula will ja nicht). Aber dafür tauscht er viele intensive Eindrücke und Gefühle ein, die er in einer handelsüblichen Partnerschaft wohl nicht hätte. Nein, er ist nicht auf dem Ego-Trip, auch nicht unterwegs zu seinem Ashram, zur Erleuchtung. Er ist vielleicht eher auf seinem ganz speziellen Jakobsweg, hier auf dem Ziegenpfad auf Gozo, er möchte einfach ungestört nachdenken. Sich besinnen. Das, was er weiß, und was ihm vielleicht das Internet noch dazuspendiert, in eine Ordnung, ein Erklärungsmuster bringen. Und zwar aus einer inneren Mitte heraus, ganz konzentriert, nicht nebenbei und vollkommen ohne Stress. Nach einer Weile erscheint ihm die Frage, um die es ihm geht, ganz einfach:

Was ist los mit dieser Welt?

Nein, das kommt ihm doch zu banal vor. Vielleicht eher so: Was bestimmt die politischen Vorgänge? Was die Medien? Wie verändert sich die Gesellschaft? Warum gilt heute nicht mehr, was noch vor zwanzig Jahren feststand? Warum verstehen ihn seine Kinder nicht mehr? Und er nicht seine Kinder?

Er hat es oft seinen Freunden gegenüber erwähnt: Er komme sich von allen Meinungsmachern dermaßen getäuscht, um nicht zu sagen: für dumm verkauft, vor, dass ihm manchmal der Kragen platze und er Fernseher oder Radio abrupt ausschalte. Er habe ja schließlich Volkswirtschaft und Stadtplanung studiert und wisse ein wenig in der Welt Bescheid. Von der Soziologie zum Beispiel habe er noch nie etwas gehalten, sie sei die Hure der Kapitalisten respektive ihrer Gegner. Aber jetzt? Jetzt scheine ihm alles völlig in dieser Richtung entgleist, er fühle sich schon so sehr von ideologischen Phrasen umzingelt, dass er sich fragen müsse, ob wirklich alle anderen verrückt seien und er als Einziger normal.

Zu seiner Überraschung pflichteten ihm die meisten bei, selbst die, von denen er es kaum erwartet hatte. Auch sie fühlten sich in diesem Land unwohl, erkannten zwar an, dass Deutschland lebenswert sei, ja vielleicht am lebenswertesten in der ganzen Welt, nahmen auch alle materiellen und kulturellen Vorzüge gerne in Anspruch. Aber auch sie spürten das Rumpeln eines Vulkans unter ihren Füßen. Und zweite erstaunliche Feststellung: Ihre Meinung fand und findet sich in den Medien kaum wieder. Oder in völlig entstellter Form: Gegeißelt als irrationale Emotionen ungebildeter Proleten, denen der Anschluss an die Gesellschaft abhanden gekommen sei, die die neuen Zeiten nicht verstünden und die guten alten zurücksehnten. Vor denen man sich in Acht nehmen müsse, einige von ihnen seien durchaus gefährlich, die erzogen werden müssten. Mildernde Umstände könne man nur dem wohlmeinenden Teil dieser „Wutbürger“ zubilligen, der von Demagogen irregeleitet worden sei, mit dem man reden müsse. Dem man die Vorzüge der Demokratie und der europäischen Werte allgemein verdeutlichen müsse.

Es ist abartig! Dem plötzlichen Schwall seiner Gedanken ausgeliefert, spürt er ein Pochen in seinem Kopf, als ob ihm demnächst der Schädel platzen wird. Abrupt steht er auf und sieht gerade noch, wie die eben noch hoffnungsvolle Eidechse blitzartig im Gesträuch verschwindet. Was sind das eigentlich für Pflanzen? Sie wachsen hoch und niedrig …

Nach einer Weile geht es wieder einigermaßen. Er ist nicht umgefallen. Besser jetzt nicht weiterdenken, denkt er. Er sollte gehen, marschieren, seinen Kreislauf in Schwung bringen!

Während er den Ziegenpfad weiter in Richtung seines unbestimmten Endes verfolgt, muss er zwangsläufig auf den Weg achten. Wie immer geht es über Stock und Stein, auf und ab, zwischen Felsen und Schilfgebüsch. Das lenkt ab, er merkt es und merkt es nicht. Rechts der rote Punkt – er ist noch auf dem richtigen Weg. Am Himmel ein Glitzern: Ein Taubenschwarm, der in großem Bogen an ihm vorbeizieht. Es sind Haustauben, das weiß er, man sieht hier viele Taubenschläge. Ein schönes Bild, diese Eintracht im Schwarm. Die Augen mit der Hand beschattend ist er stehen geblieben.

Jetzt fällt ihm sein Thema wieder ein. Der eben noch verspürte Weltekel ist wie weggeblasen, weggewedelt von Taubenflügeln. Er kann wieder klar denken. Klar denken und weiß doch dabei: Er muss sein Thema diffus halten. Es jetzt auf den Punkt bringen zu wollen, wäre vorschnell, würde das Ergebnis vorwegnehmen. Es geht ja auch erst mal nur um einen Arbeitstitel.

Also doch: Was ist los mit dieser Welt? Was geht hier eigentlich vor?

5.

Am Nachmittag steht er in seinem Hotelzimmer, macht sich einen Tee und fährt sein Laptop hoch. Aktiviert Thunderbird. Da! Mehrere E-Mails. Und eine … eine, jawohl! Sie ist es. Öffnen!

Lieber Helmi,

schön, dass Du gut angekommen bist. So, wie Du schreibst, hat man fast den Eindruck, Du seist nur mal kurz aus Gozo weg gewesen. Selbst die drei Ladies plätschern noch an derselben Stelle im Meer! Waren die denn zwischendurch mal im Trockenen? Wenn das Wasser dort so warm ist, würde ich möglicherweise auch in Betracht ziehen, hineinzugehen. Du weißt ja: In die Ostsee kriegen mich keine zehn Pferde. Auch nicht im Hochsommer. Was beweist, dass ich doch – unter all den vielen Frauen – das eine oder andere Gefühl aufbringe. Wie kommst Du bloß darauf, Frauen hätten keine Gefühle?

Ich hoffe, Du warst nicht enttäuscht, dass ich Dir nicht gleich geantwortet habe. Aber ich habe Dir ja am Telefon gesagt, dass ich mich wegen einer Fastenkur für eine Woche in ein Hotel in Bayern zurückziehen werde. Und das bedeutet auch: Fasten bei der Kommunikation. Kein Handy, kein Computer. Ich wette, Du hattest das vergessen. Na, jedenfalls fühle ich mich jetzt unglaublich wohl und habe überhaupt keine Lust mehr zu essen. Und zu kommunizieren. Außer jetzt mir Dir natürlich.

Wie geht es Dir sonst? Wie geht es Deiner Hüfte bei der vielen Lauferei? Und was ist das für ein Projekt, das Du vor Deiner Abreise erwähnt hast? Willst Du ein Buch schreiben? Wenn ja: Das wäre wirklich an der Zeit, dass Du mal alle Deine Gedanken niederschreibst. Ich finde Deine Ideen zwar manchmal etwas abgehoben, aber vieles ist gut. Mach es!

Und falle nicht ins Meer!

Liebe Grüße

Paula.

Na also! Sie hat ihn nicht vergessen! Natürlich, er hätte doch daran denken können, sie hatte es ihm irgendwann gesagt, das mit dem Fasten. Allerdings – so genau kann er sich nicht daran erinnern. Wahrscheinlich hat sie es wieder nur so nebenbei erwähnt, nach dem Motto: Du weißt es ja, ich mache es doch jedes Jahr. Wie dem auch sei – eine schöne Mail. Sie interessiert sich für ihn. Das ist doch ganz deutlich.

Er lehnt sich zurück und stützt seinen Kopf auf seine Hand, wie er es öfter tut, wenn er einen Text kritisch betrachtet: das Kinn auf dem Daumen, die Nase auf der Faust, der Ellenbogen mit der anderen Hand über dem Bauch gehalten. Die Brille ist ihm leicht verrutscht. Er fühlt sich seltsam matt. Als wäre gerade etwas Appetitliches an ihm vorbeigekommen und beim Nachbarn gelandet. Frustriert. Ist die Mail wirklich so schön? Enthält sie etwas Persönliches? Etwas, das über normale Höflichkeitsfloskeln hinausgeht? Er liest sie noch einmal.

Naja. Das mit dem Buch, das wäre das Einzige, wo sie näher auf ihn eingeht. Wo ein besonderes Interesse an ihm zum Ausdruck kommt, wenn man so will. Der Rest hätte von jedem kommen können, von jedem privaten Mailkontakt. Von einer Brieffreundin in Australien vielleicht, die er noch nie in Natura gesehen hat.

„Ist doch ganz in Ordnung!“, sagt er laut zu sich und fährt sein Notebook runter. Er hat jetzt keine Lust mehr, weiter an dem Ding zu arbeiten. Bald wird es dunkel, dann wird es auch kühl und man kann nicht mehr draußen sitzen. Was er jetzt braucht, ist ein kleiner Spaziergang zu einem der noch offenen Lokale am Meer und einen Cappuccino.

Teil II

Der Geist der Zeit

6.

Diese Nacht schläft Helmut schlecht und traumlos. Beim Aufwachen weiß er noch, dass er an einem Problem herumgerackert hat, doch was es war, ist ihm schon entschwunden. Mürrisch geht er zur Frühstückstafel, die Menschen dort kommen ihm arrogant und eigenartig vor.

Dann wieder in seinem Hotelzimmer in Arbeitshaltung. Er will endlich vorankommen in Sachen „Was ist hier los?“. Aber wie soll er es anpacken? Das Thema hat er erfreulich einfach formuliert, was aber nicht bedeutet, er merkt es bald, dass die Antwort genauso einfach wäre. Je länger er darüber nachdenkt, desto mehr Stichworte fallen ihm ein, deren Erforschung jedes für sich schon eine Doktorarbeit ausfüllen könnte. Zum Beispiel „Zeitgeist“. Was ist damit eigentlich gemeint? Er beginnt, die Wörter in einer Liste zu notieren, wie zu Kinderzeiten bei einem Deutsch-Aufsatz. Beim Wort „Moderne“ bleibt er hängen. Er hat es in den letzten Jahren seiner Berufstätigkeit oft gehört, meist benutzt von Architekten. Ist „Moderne“ vielleicht die Bezeichnung, die er sucht? Leben wir jetzt im Zeitalter der „Moderne“?

https://de.wikipedia.org/wiki/Moderne

(11-2016, Auszug)

Der Begriff Moderne bezeichnet historisch einen Umbruch in zahlreichen Lebensbereichen gegenüber der Tradition, bedingt durch die Industrielle Revolution, Aufklärung und Säkularisierung.

Aha. Das könnte also jederzeit sein, denkt er scherzhaft. Schon als die Affen die Bäume verließen, in der Morgenröte der Menschheit, begann also eine Art Moderne! Und tatsächlich, während er weiterliest, findet er auch für beinahe jede Epoche seit der Antike die Bezeichnung „Moderne“. Schon im fünften Jahrhundert taucht das entsprechende Adjektiv auf. Weiter geht es mit der Reformation, der Aufklärung, der Industrialisierung. Und so weiter. Von der „Klassischen Moderne im landläufigen Sinne“ spricht man etwa ab Mitte des neunzehnten Jahrhunderts und meint damit vordergründig wohl Fabriken, Autos, Gaslicht, Strom. Als eigentliche Hochzeit der Moderne wird aber die spätere Phase um die und nach der Jahrhundertwende betrachtet. Also fällt seine Geburt noch in die Moderne, konstatiert Helmut, der 1946 geboren wurde. Klar, er erinnert sich, damals wollten alle modern sein. Straßenkreuzer aus Amerika, Kühlschränke, Telefone, Schwarzweißfernseher waren das Größte!

Aber was waren die Kennzeichen der Moderne? Außer dem Bruch mit dem Überkommenen? Dazu gibt der Wikipedia-Artikel wenig her. Außer, dass die Moderne zwar mit alten Traditionen bricht, dafür aber neue, verbunden mit allgemeingültigen Wertvorstellungen, begründen will. Unser Helmut will es genauer wissen. Er liest und liest, auch den Artikel zur „Postmoderne“, zur „Gegenmoderne“, zu Jean-Français Lyotard. Rechnet man Sartre noch dazu? Ihm schwirrt der Kopf, diese Moderne schein ein Irrlicht zu sein, ein Gespenst, kaum zu fassen für einen doch etwas gebildeten Geist. Schließlich kommt er zu folgendem Schluss:

Die „klassische Moderne“ ist in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zum Ende gekommen. Danach kam – logischerweise – die „Postmoderne“. Also eine noch modernere Moderne, sozusagen. Die hat auch mit den letzten allgemeinen Wertvorstellungen aufgeräumt und schon – passend zu den ersten „Gastarbeitern“ – ein wenig Multikultismus verbreitet. Doch auch sie blieb nicht von Dauer: Sie wurde abgelöst oder überlagert von der sogenannten „Zweiten Moderne“, auch „Welt-Moderne“ genannt. Dieser Begriff stellt sozusagen die globalisierte Form der klassischen Moderne dar und will auch die Situation in den aufstrebenden Ländern außerhalb der westlichen Welt in die Betrachtung einbeziehen. Eigentlich legitim, denkt Helmut, oder vielmehr überfällig: Nicht nur an sich zu denken, sondern auch die übrige Welt eines Blickes zu würdigen. Aber ist es möglich, den Zustand aller Länder und Völkerschaften mit einem Begriff zu fassen?

https://de.wikipedia.org/wiki/Zweite_Moderne

(11-2016, Auszug)

Die Theorie der Zweiten Moderne