Handbuch für Kapitalisten - Peter Werner Richter - E-Book

Handbuch für Kapitalisten E-Book

Peter Werner Richter

0,0

Beschreibung

Unternehmer Reinhard Güssregen ist noch vom alten Schlag - ein 'ehrbarer Kaufmann', Vertreter der 'Old School'. Immer sparen, alles flicken und reparieren, keine Schulden machen, stets ehrlich sein. Nun soll er ein wichtiges Amt in seinem Branchenverband übernehmen und sich dazu in einen knallharten Lobbyisten verwandeln. In aller Naivität beginnt er, sich in die Methoden und Tricks des Kapitalismus einzuarbeiten. Hilfestellung leisten ein etwas sonderbarer 'Coach', ein Kursus in zehn Lektionen und ein 'schwarzes Buch' mit dem Titel 'Handbuch für Kapitalisten'. Und natürlich auch Carola, seine akademisch geschulte Gattin - allerdings im entgegengesetzten Sinne.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 179

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kapitalismuskritik hat spätestestens seit Marx Konjunktur. In den Staaten des „Westens“ zuletzt wärend der 68er-Zeit, in denen des „Ostens“ bis zu deren Niedergang Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Heute scheint sie nur noch in versprengten Intellektuellenkreisen ein Thema zu sein. Nicht, dass es keine Kritik am Staat gäbe. Doch sie beschränkt sich meist auf Einzelfälle und geht in einem Wust wohlfeiler - meist moralisierender - Argumente unter. In Anlehnung an Churchill könnte man sagen: „Der Kapitalismus ist die schlechteste Wirtschafts- bzw. Gesellschaftsform - außer all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind“. Das wäre allerdings zu kurz gedacht, denn der Kapitalismus tritt in verschiedenen Versionen auf, die in unterschiedlichem Maße toxisch wirken. Das gibt der Hoffnung Raum, dass eine Version entwickelt werden könnte, die den Ansprüchen eines humanen Miteinanders gerecht werden kann.

In diesem Sinne ist der vorliegende Text zu verstehen.

Peter Werner Richter, geboren 1946 in Schleswig-Holstein, wuchs in Freiburg im Breisgau auf. Er studierte Volkswirtschaft und Regionalplanung und siedelte nach der Wende in den Osten Deutschlands über, wo er in einer mittelgroßen Stadt als Stadtplaner arbeitete. Nicht zuletzt diese Tätigkeit, die oft Züge einer Realsatire trägt, regte ihn an, seine insgeheim gehegten literarischen Ambitionen umzusetzen und zu schreiben - zunächst Romane und Kurzgeschichten, dann aber vermehrt philosophische und politische Essays (siehe letzte Seiten). Die offensichtlich eingeschränkte Fähigkeit der Gesellschaft, ihre Angelegenheiten sachlich und einvernehmlich zu regeln, bildet das große Thema seiner Arbeit.

Heute lebt P.W. Richter in einem kleinen Dorf in Brandenburg und widmet sich ganz dem Schreiben.

Inhalt:

Erste Vorgeschichte

Zweite Vorgeschichte

Lektion: Der ehrbare Kaufmann

Lektion: Klassenbewusstsein

Lektion: Kleine Wirtschaftstheorie

Lektion: Stabilität

Lektion: Bullshit

Lektion: Wie tickt der Mensch?

Lektion: Des Menschen Wille

Lektion: Flechtwerk

Lektion: Megatrends

Lektion: Die glückliche Gesellschaft

Nachwort

„Rara temporum felicitas,

ubi sentire, quae velis;

et quae sentias, dicere licet“

Tacitus (ca. 58 – 120 n.Chr.)

„Seltenes Glück der Zeiten,

in denen es erlaubt ist,

zu meinen, was du willst,

und zu sagen, was du meinst.“

Erste Vorgeschichte

„Hast du den Brief schon gesehen?“, fragt meine Frau, als ich erschöpft vom Joggen zurückkomme.

„Welchen Brief?“

„Er liegt auf deinem Schreibtisch.“

Verschwitzt gehe ich in mein Arbeitszimmer. Da liegt er – längliches Format, Adressfenster. Ganz harmlos. Allerdings ohne Absender. Reklame? Ich will ihn schon wegwerfen, aber von Natur aus neugierig, öffne ich ihn doch.

Das Schreiben ist vom „Verband der IT-Unternehmen e.V.“, in dem ich einer von mehreren Vorständen bin. Ich überfliege die wenigen Zeilen. Sie enden mit: „… ist die Wahl auf Dich gefallen. Herzlichen Glückwunsch!“

Ich muss mich setzen. Ich wusste schon längere Zeit, dass etwas im Busch war. Aber dass es jetzt so eskalieren würde, überrascht mich doch. Meine Erschöpfung ist wie weggeblasen. Ich merke, wie sich gute Laune in meine anfängliche Verwirrung mischt. Eine sehr gute Laune, ehrlich gesagt.

„Ist es etwas Wichtiges?“, höre ich meine Frau rufen.

„Ach … naja. Das kommt vom Verband.“

Ich tappe zu ihr. Sie sitzt in ihrem Arbeitszimmer und beschäftigt sich mit ihren Mosaiken. Ganz hübsche Sachen, die sie macht. Damit gibt sie auch Kurse im hiesigen Kunstverein. In der Türe bleibe ich stehen.

„Welcher Verband?“, fragt sie, die das doch wissen müsste.

„Na, meiner. Der ‚Verband der IT-Unternehmen‘. Die ‚VITU‘. Sie wollen mich als Ersten Vorstand.“

Endlich wird sie aufmerksam. „Ach du …“

„Ja.“

Meine Frau, Carola heißt sie, hat eine Assistentenstelle an der Uni. Wenn Sie mich nach dem Fachgebiet fragen – „Kulturanthropologie“ oder so ähnlich. Genau durchgeblickt habe ich da noch nicht. Wenn sie zu Hause nicht mit ihren Steinen bastelt oder sich um unsere beiden kleinen Töchter und den Haushalt kümmert, schreibt sie an ihrer Promotion. Frau Doktor wird sie dann! Oder Frau Doktorin? In ihren Texten ist sie dem Gendern verfallen; das macht die für mich noch schwerer lesbar als ohnehin schon. Meins ist das nicht, wie Sie vielleicht schon gemerkt haben. Also Frau Doktor! Sie Doktor, ich wenigstens Erster Vorstand. Erschwerend kommt hinzu, dass Carola einige Zentimeter größer ist als ich. So sehr ich für große Frauen schwärme (habe ich einen Mutterkomplex?), so sehr halte ich das in diesem Zusammenhang für wenig aufbauend.

„Wie kommt das denn so plötzlich“, fragt sie von oben herab.

„Sie wollen Riedinger wohl absägen.“

„Wie – sie wollen? Ist das noch gar nicht beschlossen?“

„Wohl nicht. Das ist alles noch informell. Ein Beschluss aus dem Hinterstübchen sozusagen. Aber wenn ich mein Okay gebe, wird das Formale nachgeholt. Abwahl und Neuwahl. So läuft das immer, ganz normal.“

Sie schaut mich nachdenklich an. „Und was ist mit Riedinger? Weiß er schon was?“

„Na, er wird was ahnen. Da gab es letztens einen peinlichen Vorfall. Er sollte auf einem Kongress unseren Verband vertreten und wollte einen seiner Mitarbeiter für das Fachliche mitnehmen. Als der sich im letzten Moment krank meldete, stand Riedinger da wie der Ochs vorm Berg. Auf keine Frage hatte er eine Antwort parat. Peinlich, peinlich!“

„Und das hat ihm das Genick gebrochen?“

„So sieht es aus.“

Sie kommt noch einen Schritt näher, und fast reflexartig lege ich meine Arme um ihre Taille. „Weißt du, er ist grundsolide und ein wenig konservativ. Er würde gut in ein Straßenbau-Unternehmen passen. Aber in einen Elektronik-Verband? Als Erster Vorstand? Wo sich die Entwicklungen in der Branche alle paar Wochen überschlagen? Kaum gekauft – schon veraltet! Er hat – man muss es so sagen – vollkommen den Anschluss verpasst. Er soll Politik für uns machen, aber wenn es konkret wird, kennt er sich nicht mehr aus. Das ist nicht tragbar.“

„Hm.“

„Was – hm?“

„Und du traust dir den Posten zu?“

Was soll das denn heißen? Ebenso reflexhaft wie vorhin lasse ich sie los und trete zurück. Hat sie da etwa Zweifel? Sie kann das doch gar nicht beurteilen mit ihrem Anthropodingsbums-Wissen! Gut, sie hat einiges in Gesprächen mit mir mitbekommen. Und ihre Doktorarbeit geht, glaube ich, irgendwie über die Unternehmensgründerszene. War naheliegend, bei einem Unternehmer als Gatten. Aber reicht das aus?

„Glaubst du das etwa nicht?“

„Na ja …“

„Wie – na ja?“

„Na ja … so wie ich dich kenne … also du kennst dich in technischen Fragen sehr gut aus …“

„Und auch in Marketing-Fragen. Und in Fragen der Produktionsabläufe. Und in Fragen der Personalführung … und … und. Ich bin immerhin als ‚Unternehmer des Jahres‘ ausgezeichnet worden!“

„Von einem fachlichen Käsblättchen …“

„Nun lass aber gut sein!“

Das Gespräch nimmt offensichtlich eine ungute Wendung. Besser, hier abzubrechen und endlich zu duschen.

„Ich meine“, räumt sie beschwichtigend ein, „natürlich bist du ein hervorragender Kaufmann [‚Kaufmann‘ nennt sie mich!]. Daran gibt es gar keinen Zweifel. Deine Spiegel sind der Hit! Aber als Vorstand eines Verbandes – da geht es um Politik. Das hast du ja selbst gesagt! Oder gar um Lobbyarbeit! Tagtäglich den Politikern auf den Fersen! Sagen, was du selbst nicht glaubst. Befürworten, was dir selbst zuwider ist! Das wäre dann wohl nicht mehr mein Reinhard.“

Ich sehe zu ihr hoch, in ihre schönen grün-grauen Augen.

„Du bist zu redlich dafür. Ein redlicher Kaufmann, wie man so schön sagt. Zu gutmütig.“ Jetzt umfasst sie mich und küsst mich auf die Stirn. „Und dafür liebe ich dich!“, sagt sie sanft.

„Du solltest ablehnen“, fügt sie hinzu.

Zweite Vorgeschichte

Zwei Tage später, in der Firma, bekomme ich seltsamen Besuch. Ein etwas korpulenter Herr in dunkelgrauem Anzug und dickrandiger Brille stapft in mein Büro – ohne Termin und offenbar ohne Manieren. Seine Erscheinung entspricht ziemlich genau dem, was sich Lieschen Müller unter einem Kapitalisten vorstellt – fehlt nur noch der Bowler-Hut. Beiläufig nickt er mir zu und steuert ohne Zögern einen Sessel in der Besprechungsecke an. Ich weiß nicht, was ich von so viel Selbstbewusstsein halten soll, und sage erst einmal nichts. Meiner Assistentin, die mit einer entschuldigenden Geste in der Türe erscheint, bedeute ich zu warten.

Der Mann lächelt freundlich, als würde er gleich Süßigkeiten verteilen.

„Sie sind?“, frage ich endlich.

„Tänzer.“

Also so sieht er gerade nicht aus. „Herr Tänzer, was führt Sie zu mir?“

Mein seltsamer Besucher, der Herr Tänzer, setzt sich leise ächzend im Sessel zurecht und mustert mich scharf. „Sie haben in den letzten Tagen Post bekommen?“, fragt er.

„Ich bekomme immer viel Post.“

„Ich meine den Brief von Ihren Kollegen.“

Nanu? Woher weiß er davon? „Der war eigentlich vertraulich“, sage ich. „Aber – was hat es damit auf sich?“

„Sie haben noch nicht geantwortet.“

Jetzt wird es aber endgültig seltsam. Hat da wieder jemand geplaudert? Das wäre ja nicht überraschend. Aber wie dem auch sei – das Gespräch nimmt langsam Formen an.

„Äh … Yvonne? Wärst du so freundlich und machst uns einen Kaffee? Sie trinken doch Kaffee?“

„Fencheltee, wenn Sie haben. Oder einfach Kräutertee. Wegen dem Magen.“

Wir haben nur Kräutertee, zwar uralt, dafür aber bio. Yvonne geht ab, und Herr Tänzer und ich blicken uns schweigend an.

„Ich habe mich noch nicht vorgestellt“, bemerkt mein Besucher und reicht mir umständlich seine Visitenkarte herüber. ‚BBB – Birnbaum, Broome, Breyer Consultants‘ lese ich und nehme, soweit das im Sitzen geht, Haltung an. BBB! Eine große Nummer in der Berater-Szene! Und er: Wolfram Taenzer, CIO. Also Taenzer mit a-e. Was heißt jetzt wieder C-I-O?

„Tja“, fährt er fort, „es geht um Ihren Posten im Vorstand des IT-Verbandes. Nebenbei bemerkt: Der Vorschlag kam von uns. Haben Sie sich schon Gedanken gemacht, Herr Güssregen?“

Was soll ich sagen? Das wäre ein ganz natürlicher Schritt auf der Karriereleiter. Zum einen bin ich ein vorwärtsstrebender Mensch. Zum anderen halte ich meine Vorstandskollegen – bei aller Bescheidenheit – nur bedingt für den Posten geeignet. Bestenfalls. Aber Carolas Bedenken haben mich tatsächlich unsicher gemacht.

„Darf ich fragen, wie Sie auf mich gekommen sind?“, weiche ich aus.

„Das will ich Ihnen gerne sagen. Sie haben nicht nur ein innovatives Produkt – den elektronischen Spiegel – entwickelt. Sie haben es auch marktreif gemacht, erfolgreich eingeführt und sind mit Folgeartikeln nach wie vor auf Wachstumskurs. Ihr bisheriges Agieren im IT-Verband war schlüssig und zielführend. Wir waren der Meinung, dass Sie das Potenzial haben, den Verband auch politisch nach vorne zu bringen.“

Wo bleibt Yvonne mit dem Tee? Jetzt wäre eine kleine Unterbrechung äußerst hilfreich.

„Und Unternehmer des Jahres …“, bemerke ich.

„… ist das Sahnehäubchen obendrauf.“

Endlich! Die Türe geht auf, Yvonne erscheint mit Tee und Kaffee. „Wenn Sie ihn noch etwas ziehen lassen …“, sagt sie. Der Tee muss wirklich sehr alt sein. Sie hat drei Beutel in das Kännchen getan.

„Die Entscheidung ist nicht so einfach, verstehen Sie …“, beginne ich. „Der Job verlangt einen großen Einsatz! Ich wäre viel unterwegs … Zeit, die meiner Familie verloren geht. Wissen Sie, ich lege großen Wert auf ein intaktes Familienleben. Ich weiß immer noch, wie meine Töchter heißen und auf welche Schule sie gehen – sozusagen.“

Taenzer blitzt mich mit kleinen Äuglein an. Äuglein, die hinter dicken Brillengläsern hausen. Obwohl er mir lächelnd beipflichtet, meine ich einen Anflug von Bedauern in seinen Zügen wahrzunehmen.

„Gerade das werten wir als weiteren Pluspunkt für Sie.“

Wenn man Taenzer zuhört, könnte man meinen, außer mir gebe es überhaupt niemanden, der dieses verantwortungsvolle Amt wahrnehmen könnte. So anspruchsvoll ist dieser Job doch auch wieder nicht. Erster geschäftsführender Vorstand im ‚Verband der IT-Unternehmen e.V.‘ – ehrlich gesagt, wenn ich’s bedenke, muss ich Taenzer Recht geben. Ich wäre genau der Richtige für diesen Posten. Und meine Karriere läuft mehr oder weniger genau darauf zu. Außerdem: Man soll sich nicht allzu sehr gegen den Lauf der Zeit stemmen, sonst geht einem schnell die Puste aus. Und Carola wird es auch verstehen, wenn sie sieht, wie harmonisch sich alles fügt.

Ja, ich mach’s.

Das wird mir immer klarer.

Taenzer hat sich inzwischen doch tatsächlich die Kaffeesahne, die eigentlich für mich gedacht war, in seinen Tee geschüttet. In den Kräutertee! Hat der Mensch keinen Geschmack? Verliert man den, wenn man als CIO unterwegs ist? Nachdem er vorsichtig von seinem Gebräu geschlürft hat, fährt er fort: „Also wenn sie ‚ja‘ sagen – und das möglichst bald –, dann läuft das so: Bis Sie formell bestätigt sind, vergehen ein paar Wochen. Da müssen Fristen eingehalten werden, und Riedinger könnte auf die Idee kommen, Rechtsmittel einzulegen. Das dauert zu lange. Wir können die Zeit nutzen, indem wir uns ein wenig auf die kommenden Aufgaben vorbereiten.“

Wieso wir? Er redet schon wie eine Krankenschwester. ‚Haben wir heute schon gemanaget?‘ Und wieso er? Was hat er mit dem Job zu tun? Wer hat ihn überhaupt beauftragt? Das würde ich wirklich gern wissen!

„Ihre Kollegen waren so frei, uns – die BBB – in dieser Sache um unsere Dienste anzugehen. Keine Sorge, die Kosten trägt der Verband. Es geht darum, den personellen Übergang so glatt wie möglich zu gestalten und sicherzustellen, dass Sie sofort in die richtige Spur kommen. Es stehen wichtige Gesetzesvorhaben an – Datenschutz, Hacking, Urheberrechte, Hassposts, Werbung – aber Ihnen muss ich das ja nicht erklären, Sie kennen das ja. Da sind Sie von Anfang an gefragt. Sie mit Ihrer fachlichen Kompetenz, die sie ja bisher eindrucksvoll bewiesen haben!“

Honig um’s Maul schmieren, nennt man das wohl. Das macht mich stutzig. Hat die Sache gar keinen Haken? Wenn doch, werde ich es wohl gleich wissen.

Taenzer schlürft sein weiß-grünliches Gebräu, als ob es noch heiß wäre. Er scheint es tatsächlich zu genießen!

Ich werfe ein: „Wir werden uns gemeinsam auf die Aufgaben vorbereiten, sagen Sie. Ich müsse in die richtige Spur kommen. Was meinen Sie damit?“

Taenzer nickt und lächelt sibyllinisch. Unendlich langsam setzt er sein Teeglas ab. „Nichts, was Sie belasten könnte. Lockere Gespräche über Ihren neuen Aufgabenbereich. Und der geht ja, wie jedem unschwer einleuchtet, weit über Ihr bisheriges Wirkungsfeld hinaus. Was an sich erfreulich ist, denn er bringt ja eine beträchtliche Erweiterung des persönlichen Horizontes mit sich. Andererseit zeigt die Erfahrung, dass dabei gelegentlich auch mentale Probleme auftreten können. Selbst vereinzelte Ausfälle hat es gegeben. Aber bei Ihnen, lieber Freund, kann ich mir das nicht vorstellen!“

Hm. Das hört sich ja alles ganz nett an. Aber vereinzelte Ausfälle? Wie das? Und Horizonterweiterung? Das kann ja alles und jedes bedeuten. Und wozu brauche ich dazu einen Berater? Jetzt schon, bevor ich überhaupt angefangen habe! Vertraut man mir nicht? Weshalb hat man mich dann ausgewählt? Alles sehr verwirrend, finde ich, um nicht zu sagen: ärgerlich! Ich mag klare Ansagen.

Taenzer scheint meinen Argwohn zu spüren und legt nach: „Ich verstehe, wenn Sie etwas verwundert sind. Da wählt man Sie wegen Ihrer außerordentlichen Leistungen zum Ersten Vorstand, und dann stellt man Ihnen einen Babysitter zur Seite. Einen ‚Coach‘. Das muss Sie ja irritieren. Aber keine Sorge, es geht wirklich nur um Effizienz. Sie betreten ja sozusagen eine neue Welt, da sind Fehler vorprogrammiert. Das ist ganz normal. Es handelt sich ja auch nur um zehn Sitzungen.“

Zehn Sitzungen! Langsam wird mir einiges klar. Das Theater hier war gar nicht die Idee meiner Vorstandskollegen, das war die Idee der BBB! Natürlich. Die haben ihre Finger ja überall drin. Es geht vor allem um Aufträge für ihren eigenen Laden! Und die Jungs vom Verband haben sich über den Tisch ziehen lassen. Schon allein aus diesem Grund sollte ich meine Teilnahme an diesen Gesprächen ablehnen.

„Im Grunde geht es um neue Tugenden“, fährt Taenzer unbeirrt fort. „Um eine neue Moral. Erweiterter Horizont – erweiterte Moral. Eine ganz einfache Gleichung. Machiavelli, Sie verstehen? Was für Sie als Unternehmensleiter richtig ist, kann für Sie als Lobbyist des Verbandes falsch sein. Und umgekehrt. Und letztlich müssen Sie noch weiter denken, über den Verband hinaus. Sie wissen nicht, was noch auf Sie zukommt. Wie gesagt, Sie fahren jetzt auf einem neuen Gleis!“

Machiavelli? Da war doch was. Hat der nicht etwas über die Kunst der Staatslenkung gesagt? Ziemlich Bösartiges, dämmert es undeutlich aus meiner Schulzeit herüber.

„Hier habe ich noch etwas für Sie.“ Taenzer bückt sich umständlich und schnaufend zu seiner Aktenmappe, die am Boden steht. Er fördert ein Buch zu Tage, schwarz, klein und nicht sehr dick. Dafür in festem Einband und mit Lesebändel. Er schiebt es zu mir herüber. ‚HANDBUCH FÜR KAPITALISTEN‘ steht in goldenen Buchstaben darauf.

Als Verfasser nur: BBB.

„Sie müssen das nicht gleich durcharbeiten“, bemerkt Taenzer. „Sie sind ja jetzt zeitlich sehr beansprucht. Aber zum Nachlesen einzelner Punkte ist es ganz nützlich. Ich habe auch ein paar Kapitelchen darin verfasst.“

„Na, das ist ja interessant“, bemerke ich anerkennend.

Taenzer nimmt den letzten Schluck aus seinem Glas. „Also dann – nächsten Dienstagvormittag in unserer Filiale? Sagen wir um elf? Dann ließe sich unser Gespräch mit einem schmackhaften Mittagsmahl abrunden.“

*

Auf dem Weg hinaus machen wir einen Abstecher in das „Spiegelkabinett“, also den ‚Showroom‘, in dem man die Produkte meiner Firma ansehen und ausprobieren kann. Taenzer ist von den smarten Spiegeln begeistert. Jedenfalls sagt er das. Ich hatte allerdings den Eindruck, dass er leicht zusammengezuckt ist, als ich auf ‚Rückenansicht‘ umgeschaltet habe. Glatze, Altersflecken, Fettrolle über dem Kragen, dickliche Rückenpartie – da hatte er sich wohl Illusionen gemacht. Tja, Spiegel mit ‚Surround Vision‘ sind da gnadenlos. Die gepflegte Frontfassade ist eben nicht alles. Wenn man die Rückseite betrachtet, kann man so manche Überraschung erleben. Das gilt übrigens auch – wenn ich das als anthropologisch Angekränkelter einmal sagen darf – für einen selbst.

*

„Und? Was ist dabei rausgekommen?“, fragt mich Carola. Wie üblich sitzen wir am späteren Abend noch zusammen und schwitzen gemeinsam den Tag aus. Ein Gläschen Wein ist auch dabei. Diese gemütlichen Sitzungen sind Gold wert, wenn ich das mal anmerken darf. Man muss seine Ehe pflegen, sonst lebt man sich auseinander. Bei uns funktioniert es im Prinzip ganz gut; gelegentliche Meinungsverschiedenheiten sind ja normal. Es geht ja auch nicht darum, gleicher Meinung zu sein. Es geht darum, den Standpunkt des anderen zu kennen und zu respektieren.

„Also was?“, insistiert sie.

„Rausgekommen ist noch nichts. Außer, dass ich demnächst zehnmal ‚gecoacht‘ werde. Was immer das sein soll.“

„Na, sie werden dir die Korsettstäbe für deine künftige Rolle als Lobbyist einziehen wollen. Sie wollen nicht, dass du so versagst wie der Riedinger.“

Ich lege eine Denkpause ein und lasse den Wein im Glas kreisen. „Mag sein, dass sie das wollen“, meine ich. „Aber da werden sie sich die Zähne ausbeißen. Ich bin ‚ich‘, und ich bleibe ‚ich‘. Oder siehst du das anders?“

„… Hmm … Schatz … das ‚Ich‘ ist ein weites Feld. Manchmal ist es hart wie Stein. Manchmal elastisch wie Gummi. Da hat sich schon mancher gewundert. Auch über sich selbst. Einige glauben auch, es gebe gar kein ‚Ich‘.“

Da kommt wieder die Anthropologin zum Vorschein. Einige glauben auch, es gebe gar keine Anthropologie.

„Was gibt es dann? Ein einziges inneres Kuddelmuddel?“

„Viele sind der Meinung, der Mensch werde vor allem von Begriffen und vom Diskurs gesteuert. Also von der Meinung der anderen.“

„Haha. Und das sagst du demjenigen, den du sonst einen Sturkopf nennst!“ Ja, was täte ich, wenn sie sich nicht so oft selbst widersprechen würde! Im Sitzen wirkt sie übrigens kleiner als ich. Es sind nur ihre langen Beine, die sie so groß machen.

„Warten wir’s ab!“, bemerkt sie. „Hoffen wir, dass du Recht behältst, Reini. Und dass wir uns nicht auseinanderleben. Weil – ich liebe dich so, wie du bist.“

Sie reicht mir ihr Glas, wir stoßen an. Der Kuss übertüncht die kleine Drohung in ihren Worten.

1. Lektion: Der ehrbare Kaufmann

Ich stehe vor dem Wolkenkratzer, in dem die BBB ihr Büro hat, und blicke hinauf. Mindestens 20 Stockwerke, schätze ich. Nur Büros, angefüllt mit geballtem ökonomischen Wissen. Zig Firmen, weltweit aktiv. Darum herum noch mehr Bürotürme, die sich gegenseitig in ihren glatten Fassaden spiegeln. Beeindruckend! Ich komme mir fast klein vor zwischen all dieser Power.

Den Haupteingang umrahmen dicke Säulen mit Vordach. Die getönten Glastüren schieben automatisch zur Seite, als ich eintrete. Die weitläufige Eingangshalle wirkt dezent luxuriös auf mich, fast feierlich. Niemand ist zu sehen, nur der Empfangschef und eine etwas mollige Dame, die vor ihm am Tresen lehnt. Von Weitem sieht sie aus wie eine jüngere weibliche Ausgabe von Taenzer, ein Eindruck, der sich verstärkt, je mehr ich mich nähere.

„Herr Güssregen, nehme ich an.“ Sie lächelt versiert und streckt mir die Hand entgegen. „Haben Sie gut hergefunden?“

Ohne die Antwort abzuwarten, bedeutet sie mir, ihr zu einem der Fahrstühle zu folgen. Sie ähnelt tatsächlich ihrem mutmaßlichen Chef, nur die Brillengläser sind dünner. Seine Tochter vielleicht? Während der Fahrt nach oben kann man durch eine große Glas-Seitenwand nach außen gucken und zusehen, wie die Stadt langsam in die Tiefe sinkt. Ich gerate ins Grübeln.

Zum x-ten Mal frage ich mich, was dieser Taenzer eigentlich von mir will. Was weiß er, das ich nicht weiß? Schließlich führe ich ein Unternehmen (im Gegensatz zu ihm), und das auch noch sehr erfolgreich. Ich kenne diesen ganzen Betriebswirtschaftskram, ich kenne die Märkte, ich kenne die Zukunftstrends. Die Banken. Und ich kenne die Politik, die Förderprogramme, die bürokratischen Hürden. Trauerspiel Letzteres, sage ich Ihnen! Was also, bitte schön, kann Taenzer mir beibringen? Vermutlich kann mein Coach mehr von mir lernen als ich von ihm.

Kling, der Fahrstuhl hält.

*

Die Geschäftsräume der BBB ziehen sich über ein ganzes Stockwerk hin und sehen ziemlich gewöhnlich aus, komplett auf Zweckmäßigkeit getrimmt. Ganz im Gegensatz zum edlen Understatement-Design des Foyers und des Fahrstuhls. Immerhin wird der schlichte Eindruck durch einige großformatige Gemälde an den Wänden aufgehübscht, die wohl Kunst darstellen sollen. Recht erfolglos allerdings, finde ich.