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Nachkriegszeit auf einer kleinen Fischerinsel im Norden Norwegens. Tora wächst mit dem Stigma heran, Kind eines Soldaten der verhassten Besatzungsmacht zu sein. Das macht aus ihr praktisch Freiwild … Deutschenkind ist Band 1 der berühmten Tora-Trilogie, einer Romanfolge, die für das kaum zu Ertragende eine großartige Sprache findet. Herbjørg Wassmo schildert einen historischen sozialen Kosmos – den Alltag der auf den Fischfang angewiesenen Inselbewohner Nordnorwegens in den 1950er Jahren. Mal drastisch, mal komisch, mal erschütternd und verblüffend unverfälscht entfaltet sich die Erlebniswelt eines Kindes an der Schwelle zur jungen Frau. Mit ihrer bildstarken, ungeheuer direkten Erzählsprache zieht die Schriftstellerin uns völlig in Toras Welt hinein: das karge Leben auf der Insel, der Wechsel der Jahreszeiten. Die atmosphärischen Echos der Nachkriegszeit, der Alltag zwischen argloser Neugier, Gewalt und Vorurteil – all das übt einen unwiderstehlichen Sog aus. Trotz schwerer Themen ist das Buch kaum aus der Hand zu legen – eine mitreißende, kraftvolle, poetische und wichtige Lektüre. Ein zeitlos großer Roman, für den Herbjørg Wassmo mit dem norwegischen Kritikerpreis geehrt wurde.
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Seitenzahl: 334
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Herbjørg Wassmo
Deutschenkind
Tora-Trilogie Band 1
Titel der norwegischen Originalausgabe:
Huset med den blinde glassveranda
© Gyldendal Norsk Forlag AS 1981. All rigths reserved
Vollständig überarbeitete deutsche Fassung von Gabriele Haefs auf Grundlage der Übersetzung von Ingrid Sack
Alle Rechte vorbehalten
© Argument Verlag 2012
Umschlaggestaltung: Martin Grundmann
Foto: © Dorothea Lange 1935
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018
ISBN 978-3-86754-866-3
Erste Auflage 2012
Herbjørg Wassmo
Tora-Trilogie Band 1
Deutsche Neufassung von Gabriele Haefs
Literaturbibliothek
Argument · Ariadne
Sie erinnerte sich nicht, wann sie ihr zum ersten Mal bewusst geworden war: die Gefahr. Sie war damals schon längst in die kleine Speisekammer hinter der Küche umgezogen, weil ihre Mutter meinte, sie brauche ein Zimmer für sich. Sie hatte schon längst angefangen, nachts von den lauten Stimmen in der Stube, in der Henrik und die Mutter schliefen, aufzuwachen. Sie wachte nachts auf und war in Schweiß gebadet. Als ob sie Fieber bekäme. Und sie wollte nach der Mutter rufen, sie nahe bei sich haben. Aber sie brachte keinen Laut heraus. Es war alles zusammen unmöglich und fremd, und die Dunkelheit war gefährlich. Das war sie immer häufiger. Besonders, wenn die Mutter Abendschicht in der Fabrik hatte und erst spät nach Hause kam.
Dann musste sie ganz richtig wach werden, obwohl sie es nicht wollte. Sie setzte sich im Bett auf und war wie eine leere Schale. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Kopf angeschwollen war und über der leeren Schale im Raum schwamm. Die Ohren waren wie die Türen von Almars Bootsschuppen in Hestvika: die Angeln zerbrochen, so dass der Sturm an ihnen riss und zerrte.
Sie war einmal oben auf dem Hesthammeren gewesen. Ganz oben auf dem Gipfel. Dort gab es nichts anderes als Stein und Heidekraut. Henrik hatte sie an der Schulter gefasst und sie an den Abgrund geführt. Der Abhang fiel steil zum Meer ab und war bedeckt mit Steinen und Geröll.
Während sie dastand, hatte in ihrem Kopf ein Rauschen eingesetzt, wie dann, wenn der Wind durch die Türen von Almars Bootsschuppen fuhr. Sie konnte sich nicht rühren. Mutters Stimme klang ängstlich, als sie Henrik bat, zurückzukommen. An ihre Worte konnte Tora sich nicht mehr erinnern.
Damals hatte sie begriffen, dass Henrik sehr stark war. Denn er lachte. Wenn er die Luft einzog und eine Lachsalve in die Tiefe schickte, hallte es Schlag auf Schlag unten im Geröll wider.
Die Kinder in der Schule riefen ihr ab und zu nach, dass man ihr den Arbeitsplatz ihrer Mutter anriechen könne.
Aber nach Fisch rochen doch alle, meinte Tora. Sie kümmerte sich nicht weiter darum. Wenn sie nur sonst in Ruhe gelassen wurde.
Hände. Hände, die in der Dunkelheit kamen. Das war die Gefahr. Große, harte Hände, die zupackten und drückten. Nachher schaffte sie es kaum, noch rechtzeitig aufs Klo zu kommen. Manchmal wusste sie nicht, ob sie es wagen könnte, ihr Pipi in der Küche zu machen, wo der Eimer stand.
Da schlüpfte sie lieber in die Stiefel, zog den Mantel über das Nachthemd und lief auf den Hof hinaus, ob es nun Sommer oder Winter war. Der Hof war groß und sicher, und es gab einen Haken an der Klotür. Dort konnte sie dann lange sitzen bleiben. Manchmal, bis sie vor Kälte ganz steif war oder Mutters Schritte auf dem Schotterweg hörte.
An den Abenden, an denen die Mutter arbeitete, war auch Henrik nur selten zu Hause. Tora wachte auf, wenn die Tür ging und jemand zurückkam. Die Mutter hatte müde, aber leichte Schritte. Sie öffnete die Tür vorsichtig, als ob sie Angst hätte, die könnte zerbrechen. Henrik dachte weder an den Türrahmen noch an die Tür. Er machte keine richtigen Schritte, er schlurfte nur herein. Aber in der Wohnung war das anders, wenn Henrik wollte. Da machte er Schritte, die man fast nicht hörte. Lautlose, mit einem rauen Atem verbundene Schritte.
Ingrid begann plötzlich eines Tages, Tora auszufragen. Fragte, wann Henrik nach Hause komme. Wie er dann sei. Tora atmete den ekelhaften Geruch von Nelken ein und ihre Hände wurden ganz feucht. Von da an stand sie auf und half ihm ins Bett, wenn er kam, die Mutter sollte ihn nicht auf dem Sofa in der Küche finden. Er sonderte einen beißenden Geruch ab, und manchmal war er wirklich schwer. Aber er berührte sie niemals, wenn sie ihm half. Fuhr sich nur ab und zu mit dem Handrücken unter der Nase entlang. Er sah Tora nicht einmal an, starrte nur angestrengt in den dunklen Raum. Und alles war ruhig und ordentlich, bis die Mutter kam.
Eines Abends ging es aber trotzdem schief.
Henrik machte kein Licht, als er um elf Uhr nach Hause kam. In der Dunkelheit stieß er an die Gläser und Tassen, die umgedreht neben dem Spülstein zum Trocknen standen. Mehrere davon zerbrachen auf dem Schrank und auf dem Fußboden. Tora wurde vom Poltern und Klirren geweckt. Sie hörte, wie Henrik hinfiel und fluchte. Sie wagte nicht sofort, hinauszugehen. Ihr Herz schlug gleichsam außerhalb ihres Körpers. Sie brauchte eine gewisse Zeit, um es wieder hereinzuholen. Aber dann rief er leise und röchelnd, und Tora bekam Angst, dass Elisif vom Dachgeschoss heruntersteigen und den ganzen sündigen Raum entdecken könnte. Da würde ihre Mutter vor Scham sterben. Sie spürte, wie die feinen, kleinen Glassplitter sich in ihre Fußsohle hineinfraßen, als sie durch die Küche ging. Sie musste durch die ganze Küche, um an den Schalter neben der Flurtür zu gelangen.
Er saß mitten auf dem Boden und weinte.
Eine fremde Gestalt, umhüllt von Henriks Haut.
Tora nahm Kehrblech und Handfeger und fegte eine Art Weg bis zum Ausguss. Sie konnte die Blutspur ihres Fußes sehen, als sie zurückging. Sie holte einen Küchenstuhl und zog Henrik hinauf. Seine verstümmelte Schulter hing noch mehr herunter als sonst. Es sah so aus, als ob jemand den Jackenärmel mit Wolle ausgestopft hätte und nicht sehr sorgfältig dabei gewesen wäre. Den verkrüppelten Arm hielt er dicht an seinen Körper, wie einen Schatz, der vor Stößen und Gefahren geschützt werden musste. Die gesunde Hand blutete, aber darum kümmerte er sich nicht.
Er weinte nicht mehr. Sein Kopf war auf die Brust gesunken. Er schien Tora gar nicht zu bemerken.
Sie wusch das Blut ab, das ihm aus der Stirn lief. Über seiner rechten Augenbraue saß eine klaffende Wunde. Das Rieseln des Wasserhahns und die Reste seines heiseren Schluchzens waren die einzigen Geräusche, die Tora hören konnte.
Plötzlich wurde die Flurtür geöffnet, und Ingrid stand da. Die Augen waren wie zwei Löcher in grauweißem Fjordeis. Tora hatte das Gefühl, unter diesem Blick zusammenzuschrumpfen. Der ganze Raum schwankte leicht.
Sie begriff, dass ihre Mutter sie beide sah: Henrik und sie. Tora sah sich selbst und Henrik, vor Mutters Augen in Auflösung begriffen. Wie geplatzte Seifenblasen, die zum Küchenfenster hinausschweben. In tiefem Fall, schwerelos und ohne Wert.
Mama war Gott, der sie sah. Mama war der Pastor oder die Lehrerin. Mama war Mama – die sah! Tora war schuldig. Sie war in Henriks Bild. Sie war gefangen in Henriks Stärke. Sie war verloren. Ingrid setzte sich auf den alten, ständig quietschenden Küchenhocker. Dieses Geräusch ging ihr durch Mark und Bein.
Da überwand sich Tora, zerrte Henrik vom Stuhl hoch, schwankte einen Augenblick leicht, zusammen mit ihm. Sie gab ihm einen energischen Ruck, hielt sie beide mühsam auf den Beinen und bewegte sich langsam mit ihm in die Stube. Als sie wieder zurückkam, saß Ingrid immer noch da. Sie hatte die Augen auf den Boden gerichtet, und das war beinahe noch schlimmer, als wenn sie sie angesehen hätte, so schien es Tora. »So geht’s hier also zu, wenn so ein armes Wesen wie ich auf Arbeit ist?« Die Stimme klang plötzlich fremd und schien von unten aus dem Mantelkragen zu kommen.
»Das ist doch nur heut Abend so«, antwortete Tora. Sie war schrecklich froh, dass die Mutter redete. Aber Ingrid sagte nichts mehr. Sie hängte ihren Mantel in den Flur und schloss sorgsam die Tür hinter sich, wie sie es immer tat.
Den Kaffee, den Tora für sie in die Thermosflasche gefüllt hatte, rührte sie nicht an, und die Brote auf dem Teller würdigte sie keines Blickes. Sie schüttelte den Kopf, als Tora die Scherben aufkehren wollte, und nickte nur stumm zur Kammertür hin. Da erst bemerkte Tora, dass sie innerlich weinte. Dumpf und gequält wie von einer zerstörten Hoffnung.
Sie schlich sich in die Kammer, zog eine benutzte Socke über den verletzten Fuß, um die Bettwäsche nicht mit Blut zu verschmieren, und dann rollte sie sich unter der Decke in sich zusammen. Zitternd strich sie mit klammen, kalten Händen über ihren Körper. Diese Nacht war so merkwürdig still. Wie eine böse Warnung. Dann war sie allein auf der Welt. Nur sie, Tora, existierte.
Geruch von dunkler Nacht, Staub und Bett. Es war, wie nach einem langen Tag draußen im Regen hereinzukommen und Fleischsuppe zu essen. Der Schlaf wollte sich nicht einstellen, und der Fuß tat ein bisschen weh. Sie spürte, dass noch eine kleine Glasscherbe drinsteckte. Erst viele Stunden später kroch endlich die Wärme in sie hinein, sie wandte das tränennasse Gesicht dem blauen Licht zu. In ihrem Kopf rauschte und sauste es – wie in der großen Espe im Garten des Pfarrhauses.
Tora konnte sich noch gut daran erinnern, dass sie einmal auf einen Hocker geklettert war und einen schwarzen Knopf neben dem Türrahmen angefasst hatte. Eine ungeduldige Stimme hatte gesagt: »Nein, du musst drehen. Du musst drehen – so!« Die Stimme war tief und hart und machte alles um sie herum so merkwürdig leer, machte die ganze Welt tot. Die große Hand presste sich um ihren Handrücken.
Die Finger taten weh, als die große Hand drehte und sowohl ihre Hand als auch der Schalter gehorchen mussten.
Dann flammte grelles Licht im Raum auf. Füllte alle Ecken aus, schmerzte hinter den Augen, schmerzte so, dass es im Kopf rauschte. Da dachte sie an die große Muschel, die sie so oft ans Ohr gehalten hatte, um das Meeresrauschen aus dem Märchen zu hören, so wie die Großmutter es ihr gezeigt hatte, bevor sie starb. Es war aber nur eine Art Pfeifen in der Muschel, ein klagender, schmerzlicher Laut, ganz anders als das, was sie sich vorgestellt hatte. Das Märchen war weit entfernt von dem pfeifenden Geräusch, das sie in der Muschel hörte.
Ähnlich war es mit dem Licht, das von dem Schalter und der großen Faust beherrscht wurde. Es war auf keinen Fall so warm und nah wie das Licht der Petroleumlampe, die auf einer Kuchendose hoch oben auf dem Tisch stand. Tora wusste nicht, ob sie nach der Geschichte mit dem Schalter das Licht, das aus der Birne an der Decke kam, leiden konnte oder ob sie es nur hinnahm, weil es für manche Dinge nötig war. Die Mutter packte die Petroleumlampe weg.
Licht! Sie fühlte es im Frühling auf den Augenlidern, wenn noch Schnee lag. Es funkelte und flimmerte. Und sie schien noch auf dem Hocker zu stehen, mit der kleinen Hand an dem Knopf, ohne zu wissen, dass man alle Kraft einsetzen musste, wenn man klein war und doch Licht haben wollte. Sonst kam die große Faust und nahm einem alles weg. Machte es fremd und unangenehm wie der Sonnenschein im April, nachdem man eine ganze Woche mit Fieber im Bett gelegen hatte und plötzlich wieder kräftig genug sein sollte, um hinauszugehen.
Wenn die uralten Vogelbeerbäume vor dem Küchenfenster rot wurden und voller Beeren hingen, so dass sie nur die Hand durch das Ausstellfenster zu strecken brauchte, um sich eine Dolde zu holen, war die Zeit für die Fleischsuppe gekommen. Jedes Jahr lag dann eine Zinkbütte umgedreht auf dem Schrank im Flur. Darin holte die Mutter Kartoffeln und Gemüse. Sie ging in abgeschnittenen Gummistiefeln die Treppe hinunter, zur Haustür hinaus und hinter das Haus, von wo der Pfad zu den Fischtrockengestellen und zum Gemeinschaftsacker führte.
Manchmal ging Tora mit. Sie sah die Hacke zwischen Mutters Beinen. Die Hacke ragte deutlich heraus und war doch auf sonderbare Weise ein Teil der Mutter. Der Schaft bewegte den Rocksaum und grub seine Eisennase tief in die Erde. Hier und da traf die Hacke unerwartet eine Kartoffel und spaltete sie in zwei Teile. Dann seufzte die Kartoffel, und die Hacke hielt einen Augenblick inne, als ob sie sich ärgerte. Und die Mutter sagte: »Ach, haste das gesehn!« Dann machte sie weiter.
Die Möhren waren nach Toras Geschmack, wenn die Zähne sie zermahlen hatten und sie als ein süßlicher, grober Brei in der Mundhöhle lagen.
Sie hatte auch an den Kartoffeln genagt. Trotz Schale und Sand. Da musste sie wohl schrecklich klein und dumm gewesen sein. Aber sie konnte sich deutlich daran erinnern.
Der Suppentopf auf dem Tisch. Das Fett, das in Ringen und Blasen herumschwamm. Die Farben waren schön.
Am liebsten sah sie das gekochte Gemüse, denn es schmeckte abscheulich. Die tiefe Stimme drohte trotzdem etliche Löffel gekochte Möhren und wenigstens ein Kohlblatt in sie hinein. Mit den Kartoffeln ging es, die war sie gewohnt.
Mit dem Fleisch ging es auch. Aber es war ekelhaft anzusehen. Es stülpte sich beim Kochen vor ihren Augen gleichsam um und verdarb alles. Und im Mund war es zäh. Aber bevor es in den Topf kam, war es braunrot, mit einem Häutchen in allen Regenbogenfarben. Nichts anderes hatte eine so schöne rote Farbe wie das rohe Fleisch auf dem Brett.
Manchmal war noch Blut daran. Die Mutter schnitt das Fleisch vorsichtig in mäßig große Stücke. Und die Farben wechselten mit ihren Handbewegungen und den Schatten.
Das Messer blinkte immer so schön und gefährlich, wenn die Mutter damit schnitt.
Anschließend ging sie mit dem Brett zum Herd hinüber und schob die Fleischstücke schnell und geschickt in den Topf. Dann war Schluss. Tora wusste, dass die Fleischstücke bald grau und ausgelaugt und unansehnlich aussehen würden.
Möhren, Kohl und Kohlrüben indessen würden in der Fleischbrühe aufglühen und sich gegenseitig die Farben erhalten, so dass eine schöne Verwandtschaft daraus wurde.
Sie durfte eine Weile still bei Tisch sitzen und nur schauen und riechen, während sie darauf wartete, dass die Suppe abkühlte. Dann würde ihr die Stimme befehlen, alles aufzuessen, und sie würde das verhasste Kohlblatt Löffel für Löffel vorbeisegeln lassen, bis sie es endlich hinunterwürgen könnte.
Die Tobiashütte hatte schon immer da gestanden, das wusste Tora. Sie war alt und kalt, mit Säcken in den Fensterlöchern und einer schiefen Tür, die grauenhaft jammerte, wenn jemand kam oder ging. Die Hütte wurde nur benutzt, um Kisten und Gerümpel zu lagern oder um sich samstags zu einem Kartenspiel zu treffen, falls es warm genug und man ein Mann war.
Die Hütte stand für sich allein, hatte ein niedriges Dach und keine so steile Treppe wie andere Fischerhütten. Es war leicht, hineinzukommen und auch wieder hinauszutorkeln.
Einmal hatte Henrik sie in die Tobiashütte mitgenommen, weil die Mutter irgendwo gegen Bezahlung waschen musste. Das war vor langer Zeit, als man Tora noch nicht allein lassen konnte und die Mutter noch nicht in die Fabrik arbeiten ging.
Henrik hatte mit einem Glas dagesessen und Geschichten erzählt. Der Schweiß perlte auf seiner Stirn, wie immer, wenn er etwas zu trinken und zu erzählen hatte.
Er war in der Welt draußen gewesen, der Henrik – da, wo so allerlei geschah. Wenn er davon erzählte, schien er seine schiefe Schulter zu vergessen, die er gewöhnlich unter der Jacke zu verbergen suchte. Die anderen Männer saßen breitbeinig da, den Oberkörper hoch aufgerichtet. Henrik saß immer vornübergebeugt und ließ die verkrüppelte Schulter herunterhängen wie ein flügellahmer Kormoran.
Aber erzählen konnte er.
Manchmal schien er aus den erwartungsvollen Gesichtern um ihn herum Kraft zu schöpfen, so dass er die Schulter plötzlich hochzog und sie für einen Augenblick auf den kraftlosen Ellenbogen stützte. Das Sonderbare und Erschreckende an Henriks Oberkörper war jedoch nicht die verstümmelte Schulter. Es war die gesunde! Sie quoll gewaltig unter seinen Kleidern hervor. Die Hand und der Arm waren ein einziges Bündel trotziger Muskeln, in ruheloser Bewegung. Aber auf der linken Seite hingen Arm und Hand völlig unterentwickelt und passiv herunter und sprachen Henriks ganzem Wesen Hohn.
Dichter Rauch aus den Pfeifen und den selbstgedrehten Zigaretten hatte damals in der Tobiashütte um die Petroleumfunzel gelegen, die wie ein müdes, gereiztes Tier oben zwischen den Balken zischte. Der Glühstrumpf leuchtete bösartig in dem Glas und warf Blitze auf den blanken Metallgriff.
Tora merkte, dass sie aufs Klo musste, und zupfte an Henriks Ärmel, um es ihm zu sagen. Aber sein Gesicht war so weit da oben, und sie war so klein und ganz unten auf dem Fußboden. Er hob mit der gesunden, großen Hand das Glas und erzählte. Er war Samson und sah sie nicht. Da fing es an zu laufen. Erst war es warm und gut auszuhalten, aber es war fürchterlich schlimm. Einer von den Männern sah, was los war, und sagte es Henrik. Die anderen lachten. Sie zeigten auf Tora und schlugen sich auf die Knie und nannten Henrik ein unbegabtes Kindermädchen. Das Gelächter schwoll immer mehr an, bis es ihren ganzen Kopf ausfüllte und nicht von dieser Welt war. Sie kroch in ihre Schande hinein und war allein gegen alle. Aber das war nicht das Schlimmste.
Sie musste auch ein großes Geschäft machen. Es kam einfach. Sie konnte es nicht zurückhalten. Sie merkte, wie es drückte und herausfloss. Die Männer lachten noch mehr, schnupperten und rümpften die Nase und trieben ihre Scherze mit Henrik, weil er so schlecht auf Ingrids Kind aufpasste.
Innerlich zitterte sie. Aber nach außen war sie ganz ruhig. Es lief an den weißen Wollstrümpfen hinunter bis auf den Boden. Dünner, dünner Kot.
Sie hatte in der Tobiashütte ihr Gesicht verloren, deshalb ging sie nicht mehr gern dorthin. Es kam allerdings vor, dass sie dazu gezwungen war, wenn jemand sie mit einem Auftrag hinschickte. Da konnte sie spüren, wie es knackte, als ob sie etwas in sich hätte, was immer wieder zerbrechen würde. Sie hatte noch den Geruch in der Nase und sah die braunen Flecken auf den Strümpfen. Und die Erinnerung an das derbe Lachen aus den weit aufgerissenen Mäulern erfüllte sie immer noch mit Scham.
Elisif, die im Dachgeschoss wohnte, war sehr fromm, und sie hatte Tora erklärt, dass die Scham von Gott erfunden sei. Das machte das Ganze so hoffnungslos, denn unter diesen Umständen war es ja unmöglich, von der Scham loszukommen. Gott hatte es so eingerichtet, dass man sich schämen sollte, das tat den Menschen gut, sündig, wie sie nun einmal waren. Und Tora hatte begriffen, dass sie solch ein Mensch war. Sie log, wenn sie glaubte, dass es so einfacher wäre, und sie nahm ohne zu fragen mehr Pflaumen, als die Mutter erlaubt hatte. Aber es wunderte sie trotzdem, dass einige Menschen so aussahen, als ob sie sich wegen nichts in der ganzen Welt schämten, obwohl sie sich unerträglich aufführten.
Tora stand mit bloßen Füßen am Kammerfenster und sah, dass das Heidekraut braun und verblüht war. Die Überreste einer regenreichen Nacht hingen wie ein ausgewaschenes Gespenst über dem Veten und dem Hesthammeren. Weit draußen an der Fjordmündung, hinter Dahls Kai, lag dichter Nebel, leblos und ewig. Die kleinen Boote in der Bucht waren wie mit einem weichen Bleistift skizziert, und Tora wusste, dass an den dicken Johannisbeeren im Pfarrhausgarten große Tropfen hingen. In der Dachrinne gluckerte es.
Sie sah die scharfe Kurve, die der Weg unterhalb des Veten um die obersten Höfe machte, bevor er den Hang hinunterführte, um erst ganz draußen am Kai zu enden.
Eine Handvoll Häuser lag am Weg verstreut am Hang. Meist alte Häuschen mit niedrigem Dachstock und kleinen, verschämten Fenstern. Die Farbe blass wie bei verblassten Papierblumen und zum Teil auch abgeblättert. Ein paar moderne Klötze mit grellem Anstrich hocherhobenen Hauptes dazwischen. Einige hatten unverputzte Mauern, die sich mit bewundernswerter Sturheit im Lehmboden festkrallten.
Wie eine Verkündigung und wie eine Erinnerung an den Quell alles Guten brach plötzlich ein Strahl durch einen Spalt in der Wolkendecke. Die Sonne. Sie ließ die Zweige der Birkenallee, die zum Hof des Lensmanns hinaufführte, golden aufleuchten. Tora verfolgte den Schotterweg mit den Augen. Fing ganz oben in Bekkejordet an und wanderte dann vorbei an den Feldern und dem fröhlichen herbstbunten Heidekraut, vorbei an den Mooren und dem Birkenwäldchen, vorbei an den Trockengestellen und dem großen Stall, der nicht mehr benutzt wurde – wo verwahrloster, brachliegender Boden überging in kleine kahle Felsen und Tang und lebendiges, nasses Meer. Links, dort wo der Weg sich zu den Kais hin teilte, flog ihr Blick zurück in ihr eigenes Kammerfenster und war daheim. Im Tausendheim. Noch war es für einen Augenblick still im Haus. Dann brach es über ihrem Kopf los. Das waren Elisifs Kinder, die aufstanden und über den Boden polterten.
Die Geräusche waren weder angenehm noch unangenehm. Scharren, Trippeln, Elisifs gottesfürchtige Stimme, von der Tora wusste, dass sie kein bisschen böse war, auch wenn sie noch so sehr vom Jüngsten Gericht redete.
Sie hörte, wie die Mutter draußen in der Küche den Kaffeekessel mit Wasser füllte. Henrik würde noch nicht aufstehen. Bevor Tora in die Schule ging, gab es nur die Mutter und sie. Wenn Ingrid in der Fabrik war, dann war Tora mit den Brotscheiben und der Wanduhr allein.
Tora wusste, dass der Stärkste bestimmte und in allen Dingen recht hatte.
Es war wichtig zu wissen, wer der Stärkste war. Henrik war der Stärkste.
Denn er hatte zwar eine Schulter, über die die Leute ein wenig lachten und die keine richtige Schulter war, aber die andere war eben furchtbar stark. Und er sprach hastig und stoßweise, mit großem, offenem Mund.
Wenn er lachte, war es kein richtiges Lachen. Es hörte sich so an, als ob er traurig wäre. Wie eine Art Blubbern oder wie ein Unwetter in den Bergen. Henrik hatte oft schlechte Tage. Dann ging er nicht zu Dahl aufs Lager.
Mamas Tage waren weder gut noch schlecht, glaubte Tora. Sie sah immer gleich aus, nur manchmal etwas blasser. Gewöhnlich waren Mamas Augen groß und grünlich, mit einem dünnen Schleier davor, genau wie die Sommergardinen bei Tante Rakel. Aber plötzlich konnten sie die Farbe wechseln, die Gardinen wegziehen und Tora hineinsehen lassen.
Sie füllten sich mit Leben. Glichen Laubbäumen im Sommer, mit vielen kleinen Vögeln und schnell wechselnden Schatten. Es flatterte und lebte da drinnen in dem Grün. So war es fast immer, wenn Tora und die Mutter allein waren.
Henrik schlug härter als jeder andere, den Tora kannte. Mit der gesunden Hand. Es kam schon mal vor, dass Mama ihr eins mit der flachen Hand hintendrauf gab. Einen kleinen Klaps. Sie wollte Tora zu verstehen geben, dass sie traurig war. Die Klapse taten nicht weh. Mama schlug auch nicht oft. Nur wenn es sein musste. Tora durfte weinen, wenn die Mama schlug.
Wenn Henrik schlug, schrumpfte Tora ein. Wand sich gleichsam wie ein Lappen um seine Hand.
Sie hatte das Gefühl, keine Füße mehr zu haben, und es drückte so, dass sie beinahe Pipi gemacht hätte. Bis jetzt war es immer gut gegangen, denn sie erinnerte sich ja an die Tobiashütte.
Sie war wie die zerrupfte Katze, die die Jungen von Været zu Tode gequält hatten, weil sie niemandem gehörte. Sie hatten sie an einem Zaun gekreuzigt. Die Katze schrumpfte ein. War zum Schluss nur noch Fell und Pfoten.
Die Krähen hackten ihr schon am ersten Tag die Augen aus. Tora überlegte oft, ob die Katze genauso gefühlt hatte wie sie, dass sozusagen kein Platz zum Weinen da war. Es war alles zum Zerplatzen gespannt, aber es kam nichts heraus. Es war alles zu eng. Die Mutter sagte immer wieder, dass Henrik nicht böse sei. Tora hatte niemals gedacht oder gesagt, dass Henrik böse sei, deshalb verstand sie nicht, wieso die Mutter das sagte.
Es war, als ob sie Tora streng ansah und ihr in Erinnerung rief: »Henrik ist nicht böse!« Aber für Tora war Henrik weder böse noch gut, er war Henrik.
Tora zog Rock und Strümpfe an. Es war kalt in der Kammer, obwohl die Herbstsonne tat, was sie konnte. Aber es war noch früh am Morgen. Tora musste das Gesicht unter den kalten Wasserstrahl halten. Sie passte den Augenblick ab, da die Mutter mit irgendetwas draußen auf dem Gang beschäftigt war, dann brauchte sie nicht die Blechschüssel zu füllen. Ingrid war damit so genau. Sie sprachen beim Frühstück nicht viel. Aber die Stille war nicht bedrohlich, wie sie es wurde, wenn er dabei war. Wenn Henrik mit ihnen zusammen frühstückte, dann hielt Tora immer die Augen auf den Tisch gesenkt. Sie wusste, dass er sie beobachtete. Darauf wartete, dass sie etwas umstieß oder sonst etwas falsch machte. Sie hatte sich angewöhnt, nur das Allernötigste zu essen, wenn er dabei war. Und sie gab niemals Zucker oder Marmelade auf ihr Brot. Damit könnte sie doch kleckern. Käse war gut. Der klebte an der Butter fest, auf den war Verlass.
Das Milchglas war eine Heimsuchung. Sie hatte das Gefühl, dass es schon umkippte, wenn sie nur daran dachte. Als ob Henriks Augen ihre Hand dazu bringen konnten, alles Mögliche umzuwerfen.
Aber heute waren die Mutter und sie allein, und da nahm Tora sich Zeit und ließ ihre Augen wandern, wohin sie wollten. An einem solchen Morgen konnte Ingrid ihre Hand behutsam über Toras Schulter gleiten lassen, wenn sie mit dem Pappranzen fertig für den Schulweg dastand. Später sah Ingrid vom Fenster aus das magere kleine Mädchen mit den roten Zöpfen, die hinter ihr herwippten, an der Wegkreuzung verschwinden, zusammen mit den Kindern von Elisif und mit Rita vom ersten Treppenaufgang. Und Ingrid fühlte etwas wie Ohnmacht gegenüber allen Dingen.
Tora und Sol saßen im Laufe des Nachmittags in dem blau gestrichenen Klo, wenn die Erwachsenen Mittagsschlaf hielten oder mit ihren Dingen beschäftigt waren, so dass die Klobesuche nachließen. Die Mädchen schwatzten oder lasen Zeitung.
Das Phantom reitet auf seinem weißen Pferd durch den Dschungel, um Sala zu suchen. Die Trommeln haben gesagt, wo sie ist. Sol murmelt halblaut, während sie den gestreckten Zeigefinger gegen das Zeitungspapier und die Natur direkt unter dem molligen Hintern drückt. Es bläst oft sehr frisch dort unten. Bei Flut kommen kleine Wellen schmatzend den Hang hinauf, und der Kot fällt direkt ins Meer.
Bei Ebbe hört man beim Lesen kleine Plumpse und das Papier flattert heimatlos herum, bis es sich besinnt und seewärts zieht. Tora kann es nicht über sich bringen, sich mit Zeitungen abzuwischen, die nicht mehr als eine Woche alt sind. Sie können bei vielen Klobesuchen gelesen werden. Es gibt allerlei Sphären und Welten in den Zeitungen, die noch ergründet werden müssen, bevor die Zeitungen kassiert werden.
Hygieneartikel in geheimnisvollen Annoncen. Gabardinemäntel zu herabgesetzten Preisen.
Aber vor allem sind da das Phantom und Sala. Und Tora faltet die Zeitungen sorgfältig zusammen und legt sie zuunterst in den Stoß der Ablage. Unter die uralten Illustrierten, die zu steif sind, um sich damit abzuwischen. Unter die glitzernden Sommertitelseiten und eine Nummer von Allers von vorigem Ostern, wo das Küken auf dem Titel in zwei Teile zerrissen ist. Ab und zu reißen sie ein Bild heraus und befestigen es an der Wand. Aber es gibt nicht genug Reißnägel.
Das Klo war in grauer Vorzeit einmal weiß gewesen. Es hatte zwei Türen mit dreieckigen Fenstern, um Licht und Luft hereinzulassen, aber die Fenster waren in züchtiger Höhe angebracht, die einen Einblick unmöglich machte.
Ursprünglich waren das Pfarrhausklo und das Tausendheimklo beide weiß gestrichen und majestätisch gewesen. Nun lag über Letzterem eine wehmütige, abgeblätterte Größe – wie jemand, der schon auf bessere Klos gegangen war, schnell feststellen konnte. Die eine Klotür war für Männer, die andere für Frauen und kleine Kinder.
Das Männerklo wurde gelegentlich mit dem Schlauch vom Fischereibetrieb abgespritzt. Er wurde mit großer Aufregung und viel Geschrei den leicht geneigten Hang von der Anlegestelle bis zum Tausendheim hinaufgezogen. Das geschah nicht oft. Erst wenn es so fürchterlich war, dass die Männer freiwillig nicht mehr hingingen.
Die Frauen hatten ein Stück von einer alten Gardine vor dem Dreiecksfenster und einen Sack auf dem Boden. Im Sommer standen manchmal Glockenblumen und Margeriten in einer Blechbüchse auf dem Brett über den Sitzen. Es gab ein kleines Loch und zwei große. Ab und zu waren alle drei gleichzeitig besetzt. Besonders an späten Herbstabenden und wenn die Winterstürme und die Polarnacht Körper und Seele am schlimmsten belasteten.
Es war, als ob die Kälte weniger zubiss, wenn man in der Dunkelheit ein entblößtes Hinterteil und eine Stimme neben sich hatte. Es war der gleiche menschliche Geruch und der gleiche warme Dampf aus dem Inneren und Versteckten; das tröstete und schuf eine gewisse Gemeinschaft, über die man nicht zu reden und von der man kein Wesen zu machen brauchte.
Man klopfte diskret an die Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs, flüsterte ein paar Worte durch den Türspalt zu der einen oder anderen. Und schon war die schwesterliche Gemeinschaft besiegelt, und der Gang zum Klo war klar. Geflüsterte Weltanschauungen, vertrauliche Mitteilungen aus dem Reich der Absonderungen oder über die unbändige Bosheit des Herzens gehörten dazu. Da wurden nicht nur die Abfallstoffe der Natur ausgeschieden. Auch Seelsorge und Trost wurden während der Dunkelzeit in dem kalten Kloraum gespendet. Die Menschen spürten den Wind, der vom Meer her in die offenen Löcher wehte, nicht so sehr, wenn sich mehrere Hinterteile dort niederließen.
Die Männer dagegen hatten einen einsamen Klogang. Aber sie hatten eine andere Gemeinschaft, von der die Frauen ausgeschlossen waren. Nämlich den Schwatz und das Schnäpschen auf den Dachböden der Fischerhütten und den Spaziergang in Været an Sonn- und Feiertagen.
Sie zeigten ihre Angst vor der Dunkelheit nicht so offen, die Kerle.
An dem Tag, als Einar in die Dachstube über der Veranda gezogen war, hatte er kritisch nacheinander beide Klotüren geöffnet. Und nachdem er festgestellt hatte, dass das Frauenklo gemütlicher und einladender war, ging er dort hinein und verriegelte vorsichtshalber die Tür. Das war ein großer Fehler, den Einar da im Tausendheim machte. Er wurde ihm nie richtig verziehen.
Als er wieder auf die Klotreppe hinaustrat, ohne sich die Hose anständig zugeknöpft zu haben, waren bereits drei Fenster zum Hof hin aufgerissen worden.
Drei Frauengesichter kamen zum Vorschein. Das eine erboster als das andere. Elisif war die Erste gewesen. Sie hielt die Strickjacke mit festem Griff über der üppigen Brust zusammen und öffnete den Mund zu einem spitzen Trichter. Ihr weißes Gebiss funkelte bedrohlich, und die Worte kamen wie Peitschenhiebe an diesem lichtblauen Tag.
»Was machste aufm Frauenklo, wenn ich fragen darf?«
Einar stand halb abgewendet auf der schiefen Holztreppe, die rechte Hand am Hosenlatz und die linke am Türhaken. Sein Unterkiefer klappte einen Augenblick herunter, als er den Kopf drehte und die drei Frauenköpfe an der unsauberen Hauswand entdeckte. Drei unversöhnliche, weiß gemeißelte Gesichter vor dem gespenstisch grauen Hintergrund.
Einar schluckte. Dann fasste er sich, zog blitzschnell die rechte Hand aus dem Hosenlatz und versteckte sie hinter dem Rücken. Er wagte nicht einmal, sie in die Tasche zu stecken, so verdutzt war er über diese enorme Kuckucksuhr von Haus, wo gleichzeitig drei Köpfe mit weit aufgerissenen Schnäbeln draußen waren und schrien. Einar schluckte noch einmal, bevor ihn der Zorn wie ein stechender Frostschmerz überfiel und er schwer atmend und mit rauer Stimme rief: »Was zum Teufel krähste da oben? Darf man hier nicht mal mehr scheißen?«
»Du warst aufm Frauenklo! Ich hab dich gesehn!« Elisif kannte keine Gnade. Eine strafende Donnerstimme in hoher Tonlage.
Aber Einar hatte sein Selbstvertrauen wiedergewonnen. »Ist da ein Unterschied zwischen Männer- und Frauenklo? So fein wie hier in Stranda war’s nicht mal beim Pastor, wo ich herkomm. Dem Pastor seine hatte keinen so piekfeinen Arsch, dass sie ein Klo für sich haben musste wie die Weiber hier im Tausendheim.« Und ohne sich weiter um Elisifs Gekeife zu kümmern, schritt er über den Hof und betrat den mittleren Eingang. Er schloss die Verandatür mit einem Knall und stapfte wütend die alte Holztreppe hinauf, so dass die Messingbeschläge ganz außen an jeder Stufe leicht zitterten.
Kurz darauf saß Einar auf seinem Sofa und blinzelte unfreundlich die Wand an. Der Teufel sollte die Weiber holen. Er wollte sich selbst nicht eingestehen, dass er immer noch Herzklopfen hatte.
Er benutzt das Frauenklo nie mehr. Trotzdem guckt er jedes Mal böse auf Elisifs Fenster, wenn er über den Hof geht, um seine Notdurft zu verrichten. Und wenn er irgendwo im Haus ihre hohe, dünne Stimme hört, bekommt er ab und zu ein ganz unangebrachtes Herzklopfen, dessen er nicht Herr wird. Das macht ihn rasend. Denn Einar ist ein Mensch, der in jeder Beziehung allein im Leben zurechtkommt. Er fürchtet weder Pastor noch Weiber.
Das Tausendheim! Der große Holzbau aus der Zeit der Jahrhundertwende zeigte Reste aus stolzer Vorzeit und Spuren menschlicher Dummheit.
Man konnte beides deutlich an den alten, verwitterten Dachvorsprüngen sehen. Von dem mit Steinen beschwerten Dach mit Moos und Möwendreck bis zu den dicken Grundmauern aus handbehauenen Steinen und bis zu einem Meter tief in die Erde hinein roch es nach einem Fischereibesitzer alten Stils und nach Großkapital. Das Haus hatte drei Etagen und einen Keller und eine Menge hohe, zugige Fenster.
Das Gartenhaus war eine vermooste Fallgrube geworden, in die Elisifs Fünfter eines Sommers hineinfiel und sich den Fuß brach. Aber an klaren, kalten Tagen lag der Rauch noch wie in alten Zeiten über dem geflickten Dach und kam aus drei Schornsteinen gleichzeitig. So flößte das Haus noch immer Respekt ein.
Aber Großverdiener gab es keine mehr. Sie waren bereits in den schwierigen dreißiger Jahren verschwunden. Und danach wurde das Haus dem Verfall und den Wunden überlassen, die das gemeine Volk ihm zufügte.
Denn in das Tausendheim kamen die Armen. Die, welche schwer zu tragen hatten und arm waren an irdischen Gütern. Und einige waren auch arm an Geist.
Sie drängten sich um die drei Treppenaufgänge zusammen, und manchmal brauchte man sie noch, wenn im Ort eine Lücke entstanden war. Ob das nun an den Kais war, bei den Hausbesitzern oder unter den verschmutzten Zimmerdecken bei anständigen Leuten zum Hausputz.
Die Leute im Tausendheim dachten nicht daran, dass sie das Erdenreich wegen ihrer Sanftmütigkeit besitzen sollten. Daran dachten sie am allerwenigsten.
Aber wenn im Spätherbst der Mond über Veten und Hesthammeren stand und die Mütter ihre Ältesten beauftragt hatten, die kärglichen Kartoffeln vom Gemeinschaftsacker zu ernten, mit dem jährlichen Streit, wo Elisifs Grenzen aufhörten und Arnas und Peders Grenzen begannen, beruhigten sie sich auf ihre Weise unter den Lampen. Wenn sie jung waren, lungerten sie in Været herum, und wenn sie noch jünger waren, spielten sie in dem dunklen Keller Verstecken.
Der Mond streute sein prächtiges Silber über den alten Drachenkopf am Südfirst (am Nordfirst war er bereits vor dem Krieg heruntergefallen), und die Gemüter im Tausendheim erhoben sich über ihre eigene graue Sanftmut.
Wenn die Sonne endlich wiederkehrte und auf das schneebedeckte alte Dach schien, kamen die Männer mit Kabeljau und Rogen heim. Die Mandelkartoffeln wurden aus dem Keller geholt, und der schwere, friedliche Dunst von gekochter Leber durchzog das Haus.
Da riefen sie sich durch die offenen Fenster zu, dass die dunkle Zeit vorbei sei, und die Frauen halfen einander mit den Schubkarren bis zur Flussmündung, wo sie die wintergelben Laken zum Bleichen auf den Felsen und den alten Schneewehen ausbreiteten.
Die Poesie lag in den Details. In den segensreichen Tropfen aus der abgebrochenen Dachrinne zum Beispiel. Aber sie war scheu, und sie wurde kaum beachtet, wie ein armes Kind, das keine stillen und dem niemand Liebe geben will.
Das Magische daran, überhaupt am Leben zu sein, ging einem armen Teufel selten auf. Das begriff er höchstens bei Sturm und Schiffbruch.
Es konnte passieren.
In der Dachstube über der Veranda im Tausendheim wohnte viele Jahre eine alte Witwe. Sie strickte für die Kinder im Haus und verprügelte sie der Reihe nach, wenn sie Unfug trieben. Sie warf Steine auf streunende Hunde und putzte die Treppen, ob sie dran war oder nicht. Da hatten die im mittleren Treppenhaus Glück. Aber dann fing sie an, die Küchentücher im Nachttopf zu waschen, und vergaß sich selbst und die Treppe. Schließlich musste sie ins Altersheim nach Breiland gebracht werden. Da war sie genau einen Tag und eine Nacht. Dann war es aus mit ihr.
So wurde die Dachstube frei für Einar, der von dem neuen Pastor vom Pfarrhof gejagt wurde, weil er die Eier unter den Hühnern und den Speck aus dem Vorratsspeicher stahl. Die Dachkammer befand sich oberhalb der alten Glasveranda. Da war übrigens nicht mehr viel Glas. Der Südwestwind hatte gewütet und die kleinen Glasscheiben eine nach der anderen zerbrochen. Die Männer hatten an der Südwestseite Holzteile und Platten davorgenagelt, um Wind und Wetter abzuhalten.
Wenn die Außenlampe eingeschaltet war und in dem schaumgekrönten, jähzornigen Meer glitzerte, sah die ganze Glasveranda wie ein blindes Auge aus. Nur zwei kleine Scheiben hatten überlebt. Sie schielten trotzig und verwundert in den Himmel.
Die Dachstube war ziemlich fußkalt.
Dagegen zog es kaum durch das Fenster. Das kleine Dachfenster ließ nämlich nicht den Wind durch, sondern weinte. Es tropfte und rann, wenn Schnee und Regen das Fenster blind machten.
Einar hatte schnell denselben Trick entdeckt, den auch die Kalla-Witwe angewandt hatte. Er stellte eine Waschschüssel darunter. Auf dem Boden unter dem Fenster war ein verschwommener, rostiger Kreis von der Witwenschüssel. Einar begriff den Sinn dieses Kreises sofort und setzte beim ersten Unwetter seine Schüssel dorthin. Durch das segensreiche Guckloch im Dach schaute Gottes uralter und launischer Himmel herein – falls das Wetter es zuließ. Man brauchte keine Vorhänge gegen neugierige Blicke, und es gab kein Fensterbrett für Topfpflanzen. Das war Einar nur recht.
Tobias A. Brinch und Waldemar E. Brinch hatten einstmals jedes Lebewesen und jede Bewegung auf Øya besessen. Sie steuerten aus der Ferne jedes Fischerboot südlich von Vagen und steuerten den Überschuss in die eigene Tasche.
Von zwei Herrschaftshäusern mit Dienstboten, Gesellschaften und Festlichkeiten aller Art gingen die Befehle über Leben oder Verhungern in fernen Zeiten aus. Der Pfarrhof war der dritte Machtfaktor, und der konnte wohl mithalten, auch wenn hier nicht von Kronen und Öre die Rede war.
Gegen Ende der dreißiger Jahre geschah das Unbegreifliche: Die Dorfbesitzer Brinch gingen in Konkurs. Die Kais, der Laden, der Grund und Boden, alles war beliehen und gepfändet. Schlechte Zeiten und Spekulation, sagten die, die mit so etwas Bescheid wussten.
Das Haupthaus war das größere und gehörte dem älteren der beiden Brüder, Herrn T.A. Brinch. Mit seinen geschnitzten Dachfirsten und der Glasveranda bot es unten in Stranda einen prächtigen Anblick. Zuerst war ein Herr aus Bergen gekommen und hatte einen Winter und einen Sommer lang die Konkursmasse verwaltet. Er wurde von einer Firma in Bergen bezahlt, um die Räder in Gang zu halten, aber es schien dem wohlhabenden Mann und Junggesellen da oben unter dem Nordlicht und bei Möwengeschrei allmählich zu einsam zu werden. Jedenfalls verschwand er an einem schönen Frühlingstag und ward nie mehr gesehen.
Jetzt beherbergte das Hauptgebäude so viel Menschengewürm und Dreck, dass es wohl zu Recht Tausendheim hieß.
Weiter oben am Hang stand der »Hof«, etwas kleiner zwar im Umfang als das Tausendheim, aber höher angesehen, nachdem die Fassade zweimal weiß angestrichen worden war. Er diente als Schule und wurde beheizt und instand gehalten von dem alten Almar aus Hestvika.
Während des Krieges entdeckten die Deutschen den Hof. Die zerbrochenen Tür- und Fensterangeln wurden in Ordnung gebracht, und die verblichene Seidentapete wurde übermalt. Derbes Gelächter und Gegröle erscholl unter dem Dachgebälk, und es setzte sich ein unausrottbarer Geruch nach Leder und Uniformjacken in den Räumen fest.
Es verging ein Friedensjahr, bis man es für moralisch vertretbar hielt, unschuldige Kinder in dieses Haus hinaufzuschicken, aber die Leute vermehrten sich wie verrückt, und das alte Schulhaus unten auf der Landspitze wurde zu klein. So kamen die Kinder und Almar und nahmen den Hof in Besitz. Aber für die alten Leute mit großem Respekt vor den Mächtigen früherer Zeiten war es ein schlimmes Zeichen, dass der Hof von Hand zu Hand ging. Und sie nahmen in Verbindung mit dem Hof auch niemals das Wort »Schule« in den Mund, ebenso wenig wie sie »Kaserne« oder »Deutschenlager« gesagt hatten.
Aber Almar war nicht von der Nostalgie ergriffen. Endlich hatte er einen sicheren Lebensunterhalt. Kinder produzierten die Leute bereitwillig drauflos, und geheizt werden musste, wenn die Rasselbande sich im Winter nicht zu Tode frieren sollte.
In den wunderbaren Sommermonaten hatte er dann seine Ruhe draußen im Fjord und konnte fischen.
Während der Schulmonate heizte Almar den meterhohen Ofen, leerte die Aborte und sammelte Abfall auf.