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Auf der Flucht vor ihrem gewalttätigen Ehemann strandet Henrike in Swakopmund, weil sie den Dampfer nach Deutschland um ein paar Tage verpasst hat. Es ist Anfang des 20. Jahrhunderts im damaligen Deutsch-Südwestafrika. Verzweifelt schlägt sich Henrike nach Lüderitzbucht durch, reist einem Piano hinterher und landet in Kolmannskuppe, einer aufblühenden Wüstenstadt im Diamantenfieber. Dort lernt sie Ida kennen, die ein Gasthaus betreibt und eindeutiges Interesse an Henrike bekundet. Verwirrt von ihren Gefühlen lässt sich Henrike auf ein weiteres, ein Liebesabenteuer ein – was ein abruptes Ende findet, als Henrikes Ehemann auftaucht und sie schon wieder Hals über Kopf fliehen muss. Kann Ida sie retten?
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Seitenzahl: 332
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Historischer Liebesroman
© 2021édition el!es
www.elles.de [email protected]
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-95609-344-9
Coverfoto/-illustration: iStock.com/miroslav_1
»Das nächste Schiff fährt in drei Wochen, gnädige Frau.«
Henrike starrte den Mann an. Drei Wochen? Aber das musste doch ein Missverständnis sein. Die stickige Luft im Fahrkartenbüro raubte ihr plötzlich den Atem. Sie klammerte sich an die blankpolierte Mahagoniplatte des Schalters . . . Es so weit geschafft zu haben, nur um zu scheitern!
»Nein«, flüsterte sie.
»Ich befürchte doch, gnädige Frau.« Der junge Angestellte nickte nachsichtig. »Die Gertrud Woermann ist gerade vor drei Tagen ausgelaufen.«
»Vor drei Tagen! Aber ich war mir ganz sicher, dass . . .« Henrikes Knie wurden weich. Wie konnte sie sich nur im Datum getäuscht haben? Oder hatte die Woermann-Linie ihren Fahrplan geändert? Wäre sie bloß schon früher weggelaufen!
Hilfesuchend sah sie sich in dem kleinen Büro um, in dem ihr über der dunklen Wandverkleidung Bilder von Woermann-Dampfern und europäischen Städten entgegenstarrten, und versuchte, sich zu sammeln. Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als für mehr als ein paar Tage in Swakopmund zu bleiben.
»Aber es muss doch davor noch ein Schiff nach Deutschland gehen!«
Der massive Schnurrbart des Angestellten bebte, als er versuchte, ein Lächeln zu verbergen. »Nicht für Zivilisten, gnädige Frau, und die Schutztruppenschiffe werden Ihnen nichts nützen, befürchte ich.« Nach einer kurzen Pause hob er fragend die Augenbrauen. »Möchten Sie eine Kabine für die nächste Fahrt der Gertrud Woermann buchen?«
Zutiefst erschüttert blickte Henrike auf die staubige Palme im Tontopf, den einzigen Klecks Farbe im Schalterbüro. Sie hatte die vierhundert Mark für eine Fahrkarte zweiter Klasse nicht. Nicht im Entferntesten. Es lag außerhalb ihrer Möglichkeiten, für ihre Heimfahrt mit Geld zu bezahlen.
Deshalb hatte sie gehofft, nein, damit gerechnet, dass sie sich als Zimmermädchen oder Küchenhilfe verdingen konnte. Oder sich die Überfahrt mit sonst irgendeiner weiblichen Tätigkeit verdienen.
Wie von ganz weit her drang die Stimme des Angestellten durch die dicke Luft, irgendetwas über Fahrkarten und Kabinenreservierungen. Aber das nützte ihr alles nichts. Es nützte nichts.
»Nein. Nein, danke.« Es fiel ihr schwer, ihren Gesichtsausdruck zu beherrschen, aber sie nickte ihm dennoch zu.
»Vielleicht überlegen Sie es sich ja noch.« Er lächelte. »Bis in drei Wochen ist ja noch viel Zeit.«
Oh Gott! Fast wäre Henrike in Ohnmacht gefallen. Das Korsett war so eng und schnürte ihr schon normalerweise die Luft ab. Unter diesen Umständen jedoch, jetzt, wo ihr Herz raste . . .
Sie versuchte, flach zu atmen. Dieser Mann hatte keine Ahnung, dass er soeben ein Fallbeil über ihr ausgelöst hatte. Es war nur ein Zufall, dass ihr Kopf immer noch auf den Schultern saß.
Sich auf ihre Schritte konzentrierend ging sie langsam zur Tür zurück, ohne den freundlich lächelnden Angestellten, der nichts davon ahnte, was er angerichtet hatte, noch einmal anzusehen.
Sie trat auf die Straße hinaus, die nur aus Sand bestand, über den hier vor dem Haus eine Art Holzpodest als Bürgersteig gebaut worden war, und wurde fast von der Sonne erschlagen. Auch im Schalterbüro war es nicht unbedingt kühl gewesen, aber hier draußen merkte man wirklich, dass man in Afrika war. In Südwestafrika. Deutsch-Südwest.
Jetzt, wo sich der Morgennebel gelichtet hatte, sengte grelles Sonnenlicht auf die Ansammlung barackenartiger Holzhäuser an der Bucht herab. Hier, ein Stück vom Strand entfernt, gab es auch Steinhäuser, zum Teil recht groß und stattlich wie beispielsweise der Bahnhof, an dem sie angekommen war, und auch einige andere.
Solche Häuser hätte man fast auch in Berlin finden können. Oder in Hamburg, wie das Woermann-Haus mit seinem Turm und seinen zwei Giebeln. Sie hatte gehört, es wäre dem Woermann-Hauptsitz in Hamburg nachempfunden. Nur hätten all diese Häuser dort nicht so einsam am Straßenrand gestanden, ständig von kleinen Sandwirbeln in Dunst gehüllt.
Am östlichen Horizont erhoben sich die kargen Berge, durch die Henrike erst am vorherigen Tag gereist war, und pressten die Ausläufer an den Rand der leeren Namibwüste und des Atlantiks. Eine Reihe von Telefon- und Telegrafenmasten verlor sich in der Ferne.
War das alles, konnte sie nicht weiter flüchten? Und würde dies nicht der erste Ort sein, an dem er sie suchen kam?
Die Gedanken an Friedrich-Wilhelm trieben sie weiter. Sie zog sich Hut und Schleier tiefer über die Stirn und eilte den Bretterweg entlang, unsicher, wohin sie nun gehen sollte.
Der mühsam aufgeschichtete Steinhügel der Mole zeigte ins Meer hinaus, und der lange Holzfinger der Jetty mit dem Leuchtturm darüber lockte Schiffen, die zu spät für sie ankommen würden.
Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Drei Wochen! Das war wie eine Ewigkeit. Und sie saß hier fest wie im Gefängnis.
Auf jeden Fall brauchte sie jetzt eine Unterkunft. Das allein würde wahrscheinlich schon den Rest ihrer mageren Geldvorräte aufzehren.
Wie es danach weitergehen sollte, wusste sie nicht.
Der Wind vom Meer trieb ihr den Sand in die Augen.
Nur deshalb tränten sie wahrscheinlich.
Ida blickte in den Himmel. Blau wie immer. Kein Wölkchen zu sehen. Aber was hatte sie auch anderes erwartet?
Hier in Kolmannskuppe war der Himmel immer blau. Regen gab es nicht, nur heißen Wind, Sand und Staub.
»Na, was gibt’s denn heute zu essen, Ida?«, rief ihr ein bärtiger Mann zu, den man, abgerissen, wie er aussah, nicht für einen der einflussreichsten Honoratioren der Stadt gehalten hätte, als er nun durch den Sand stapfte.
»Austern, dachte ich«, rief Ida zurück. »Und Kaviar vielleicht? Möglicherweise fängt ja auch noch jemand einen Hummer.«
Er lachte. »Ja, ja, schon gut. Was frage ich auch so dumm?«
Ida lachte auch. Sie verstand ihn ja. Sie alle hier sehnten sich nach frischem Essen, nicht nur nach Konserven und Gepökeltem, garniert mit Sandfliegen. »Wenn demnächst der Treck aus Lüderitzbucht kommt, haben wir ja vielleicht Glück, und sie bringen so was mit, Konrad«, versuchte sie, ihn zu trösten.
»Der Hummer ist aber dann schon gekocht, wenn sie den auf der heißen Spur mitgebracht haben«, bemerkte Konrad mit trockenem Humor.
Sie winkte ihm zu. »Muss an die Arbeit. Sonst gibt’s gar nichts zu essen.«
Hurtig begab sie sich ins Haus hinein. Frisches Essen gab es in Lüderitzbucht vielleicht besseres, jeden Tag frischen Fisch aus dem Meer, aber so ein Haus wie dieses hier gab es dort auch nicht alle Tage. Auch wenn sie hier in Kolmannskuppe halb aus der Welt waren, aber hier war die erste Badewanne in ganz Südwest hergebracht worden, und die Häuser waren prächtiger als viele in Windhuk.
Zwar musste man ständig gegen den Sand ankämpfen, aber auf ihren eisernen Herd war sie genauso stolz, als hätte er in einem Palast gestanden. Ihr Haus war aus festen Ziegeln gemauert und trotzte jedem Sandsturm.
»Wie weit seid ihr, Mädchen?« Mit fragendem Blick trat sie in die Küche, in der einige schwarze Frauen mit den Vorbereitungen fürs Mittagessen beschäftigt waren.
Mit einer Kantine für die Diamantensucher in einem Zelt hatte sie angefangen, und nun hatte sie das hier. Sie konnte schon stolz auf sich sein. Ein solides Gebäude, in dem nicht mehr nur die Diamantensucher aßen, die immer noch den Hauptteil der Einwohner ausmachten.
Deshalb kamen sie her, und wenn sie keinen Erfolg hatten, zogen sie wieder ab. Aber dann kamen neue. Und einige Leute hatten sich mittlerweile auch fest hier angesiedelt. Geschäftsleute vor allen Dingen. Wie Ida.
Allerdings waren Frauen hier immer noch Mangelware. Weiße Frauen gab es so gut wie gar nicht, die meisten Diamantensucher waren nicht verheiratet, nur Geschäftsleute wie Konrad, und auch schwarze Frauen fanden nur selten den Weg hierher. Ihre Helferinnen für die Küche hatte Ida selbst aus dem Kral holen müssen, indem sie ihnen das Blaue vom Himmel herunter versprochen hatte.
Trotzdem waren nur wenige interessiert gewesen. Sich von ihrer Familie zu trennen war unvorstellbar für sie. Meistens war es nur gegangen, indem ein paar Männer sich dazu entschlossen, die auch hier in Kolmannskuppe Arbeit suchten. Die Männer waren oft neugieriger als die Frauen, und so waren einige Frauen mitgekommen.
»Suppe ist fertig«, erhielt sie nun Antwort auf ihre Frage, sogar auf Deutsch. Meistens war es ein Mischmasch, in dem sie sich verständigten. Mittlerweile konnte Ida ganz gut Nama, aber die jungen Frauen hier hatten auch viel von dem Deutsch aufgeschnappt, das überall herumschwirrte. Sie waren sehr sprachbegabt, wie Ida festgestellt hatte. Manche sprachen nicht nur ihre eigene Stammessprache, sondern auch noch andere.
»Kommt frisches Fleisch aus Luderitz?«, fragte eine junge Frau. »Ist alle.« Sie wies durch die Tür hinaus. »Sonst Johannes jagen gehen.«
Ida nickte. »Ich weiß noch nicht genau, was kommt. Bestellt habe ich einiges, aber ist ja immer mehr ein Überraschungspaket, was dann tatsächlich hier ankommt.«
Sie lachte leicht, aber sie merkte sofort, dass Ngunoue, die sich selbst Ernestine nannte, weil sie den Namen schicker fand als den, den ihr Vater ihr gegeben hatte, den Witz nicht verstand. Das war meistens der Fall, denn ironische Bemerkungen waren wohl eher eine weiße Eigenart und für die Schwarzen unverständlich.
»Ist gut«, fuhr Ida deshalb fort. »Wenn nichts kommt, schicken wir Johannes zu einer Antilope.«
»Warum überlegen Sie sich nicht, mit einem Dampfer in die Kapkolonie zu fahren und von dort nach Deutschland zurückzukehren, wenn Sie es so eilig haben?« Die Wirtschafterin des Hotels sah mitfühlend aus, als sie Henrikes verzweifeltes Gesicht betrachtete. »Es wäre vielleicht schneller. Dort gibt es mehr Dampfschiffverkehr, wissen Sie.«
»Ich befürchte, dass ich mir das nicht leisten kann«, sagte Henrike leise. So ungern sie auch log . . . immerhin war die erfundene Geschichte über ihre im Sterben liegende Mutter eine gute Erklärung für ihre Eile und Bedrückung.
Inzwischen musste ihr Mann alle ihre Freunde in Windhuk verständigt haben und vielleicht sogar die Polizei. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er herausfand, dass sie die kleine Eisenbahn an die Küste genommen hatte. So viele Möglichkeiten, aus Windhuk wegzukommen, gab es ja nicht. Sie konnte einen Schauder nicht unterdrücken.
»Aber nicht doch, beruhigen Sie sich«, rief die Wirtschafterin und schob sie in den Speisesaal. Die Tische waren leer, abgesehen von der Versammlung geradlehniger Stühle. Bis auf die leichte Staubschicht aus Wüstensand, die die Fensterbänke bedeckte, hätte es ein Zimmer in Deutschland sein können. »Ich bringe Ihnen etwas zu trinken.«
Glas klimperte, Flüssigkeit gurgelte, und eine Limonade erschien vor Henrike auf dem Tisch. Kostbare Stückchen Eis trieben im Glas, das bereits Wasserperlen schwitzte. Eis . . . Das erinnerte Henrike an den grauen Himmel Hamburgs und ans Schlittschuhfahren mit Friedrich-Wilhelm auf der zugefrorenen Alster, damals, als er um sie geworben hatte.
Ihre Hände verkrampften sich um das kühle Glas. Ein böiger Wind hatte angefangen, Sand gegen die hohen Fensterscheiben zu werfen, als ob tausend Geisterfinger um Einlass klopften.
»Haben Sie in Erwägung gezogen, bei der Schutztruppe nachzufragen?«, erkundigte sich die Wirtschafterin. »Vielleicht machen sie in so einem dringlichen Fall eine Ausnahme und erlauben Ihnen, auf einem Schiff in den Norden mitzureisen.«
Henrike hätte nach jedem Strohhalm gegriffen, wenn sie das gekonnt hätte. »Ich werde es versuchen«, sagte sie und nickte. Sie nahm einen Schluck Limonade. »Gibt es denn keine kleineren Schiffe, die die Küste zu irgendeinem Hafen hochfahren, wo ich auf einen Dampfer umsteigen könnte?«, fragte sie hoffnungsvoll.
Die stämmige Frau verzog das Gesicht. »Na, es gibt schon eine Menge Schiffe, aber da Sie ganz allein sind, bezweifle ich doch sehr, wie ratsam es für Sie wäre, auf einem Handelsschiff oder einem Fischerboot mitzufahren.« Sie lehnte sich mit verschwörerischem Blick zu Henrike vor. »Ihr Gatte konnte nicht mitkommen?«
Henrike biss sich auf die Lippe. »Sein Geschäft erlaubt es ihm nicht, für längere Zeit davon wegzubleiben.« Das war noch nicht einmal gelogen, denn war er nicht stark daran beteiligt gewesen, die Preußenadler-Bergbaugesellschaft zu ihrem heutigen Umfang aufzubauen?
»Ach, das ist das Problem hierzulande«, seufzte die Wirtschafterin. »Nicht genügend Männer für all die Arbeit. Und wir Frauen sind ja noch viel weniger.« Sie lächelte etwas verschmitzt. »Haben Sie Ihren Mann auch über eine Anzeige kennengelernt, in der Frauen für Südwest gesucht werden?«
Das wäre ja noch schlimmer! »Nein.« Henrike schüttelte den Kopf. »Wir sind zusammen hergekommen.«
»Seit wann sind Sie in Südwest?«, fragte die Wirtschafterin.
»Seit fast einem Jahr.« Henrike kam es viel länger vor. Nicht ein Jahr, sondern hundert Jahre. Jeder Tag hatte sich wie ein Jahr hingezogen, bis sie endlich im Schlaf ein paar Stunden Ruhe finden konnte. Vielleicht.
Ein Lächeln breitete sich langsam auf dem Gesicht der älteren Frau aus, als sie sich in ihrem Stuhl zurücklehnte. Ihre vollen Wangen glühten mit so etwas wie mütterlicher Überlegenheit. »Ach. So kurz erst. Na ja, Sie sind ja auch noch sehr jung.« Bedauernd verzog sie das Gesicht. »Und da müssen Sie jetzt schon wieder zurück. Den weiten Weg. Ganz allein.« Begütigend tätschelte sie Henrikes Hand. »Wird schon gutgehen, Sie werden sehen. Schicken Sie am besten ein Telegramm vom Telegrafenamt an Ihre Mutter. Damit sie sich keine Sorgen macht.«
»Ja, genau, das werde ich sofort tun.« Henrike schob ihr Glas weg und stand auf. »Vielen Dank für die Limonade«, lächelte sie. »Ich werde erst zum Telegrafenamt gehen und dann zur Kaserne, um mich wegen einer Beförderungsmöglichkeit zu erkundigen.« Sie zeigte auf ihren Koffer. »Aber übernachten werde ich sicherlich trotzdem müssen. Kann ich meinen Koffer hierlassen?«
»Aber natürlich!« Die Wirtschafterin schwang ihre stattliche Figur vom Stuhl hoch. »Ich lasse ihn sofort in Ihr Zimmer bringen. Dann können Sie sich gleich frischmachen, wenn Sie zurückkommen.«
Dankbar nickte Henrike ihr zu und verließ das Hotel.
Sand wehte durch den Zaun, der die Pionierkaserne umgab, wirbelte in die Höhe und warf sich gegen Henrike und den sauergesichtigen Wachtposten, der sich weigerte, sie auf das Gelände zu lassen. Ein Pelikan flog über sie hinweg, sein Schatten ein flüchtiges Kreuz im Staub.
»Ohne einen Termin kann ich Sie nicht hineinlassen, gnädige Frau.« Die wässrigen Augen des Postens fixierten starr einen Punkt hinter Henrike, irgendwo weit in der Ferne.
Sie warf einen Blick über ihre Schulter, um zu sehen, was der Mann anstarrte, aber da war nichts außer der kleinen Gruppe Häuser inmitten sandgelber Landschaft, über der sich der blaue Himmel spannte.
Henrike hätte sich ihm zu Füßen geworfen, wenn sie gedacht hätte, das würde etwas bringen. Konnte er denn nicht sehen, wie verzweifelt sie war? Sture Uniformträger! »Können Sie da gar nichts machen?«, fragte sie dennoch mit sittsam gesenktem Blick, wie es von einer wohlerzogenen jungen Frau wie ihr erwartet wurde. »Es ist äußerst dringend.«
Beinah bedauernd, soweit seine militärisch starre Miene das erlaubte, sah er sie an. »Der Oberbefehlshaber ist nicht hier, und ich bin nur dafür zuständig, das Tor zu bewachen. Sie müssen sich per Post oder Telefon mit dem Sekretär in Verbindung setzen.«
»Bitte!« Oh Gott, kümmerte denn niemanden hier ihr Schicksal? Die Bürokratie war schlimmer als in Deutschland. »Es geht um Leben und Tod«, beschwor sie ihn.
Der Blick des Wachtpostens flackerte für einen Moment. »Damit hat die Schutztruppe jeden Tag zu tun, und genau deswegen gibt es für alles einen Amtsweg. Wenn Sie jetzt bitte –«
»Auf Wiedersehen.« Eine dralle Frau in einem Korsettrock und einer altrosa Jacke kam vom Gelände hinter ihm, nickte dem Mann kurz zu und musterte Henrike von Kopf bis Fuß, bevor sie an ihr vorbeistolzierte.
»Wie hat sie denn Einlass erhalten?«, fragte Henrike ziemlich verdattert.
»Mit einem Termin.« Der gewachste Schnurrbart des Mannes zuckte, und er hielt sich kurz die Hand vor den Mund, bevor er wieder strammstand.
Henrike sah ihn an, dann die Frau, die auf dem sandigen Bretterweg schnell zwischen den Häusern verschwand. Jemand mit Beziehungen, vielleicht sogar Einfluss – die Frau eines Offiziers? Obwohl sie ehrlich gesagt nicht danach aussah. Aber hier in Südwest konnte man nie wissen. Da war alles anders.
Schnell raffte Henrike ihren Batistrock, hielt ihren Hut mit der anderen Hand fest und lief hinter der staubig-rosafarbenen Gestalt her, alle Schicklichkeit in den Wind werfend. »Gnädige Frau! Entschuldigung, gnädige Frau!« Ihre Schuhe klopften einen hohlen Rhythmus auf die Bretter. »Gnädige Frau!«
Die Figur vor ihr drehte sich um.
Außer Atem hielt Henrike an. Ihre Rippen taten wieder weh, und sie versuchte, flacher einzuatmen. »Bitte entschuldigen Sie vielmals, dass ich hinter Ihnen herlaufe, aber als ich Sie aus der Kaserne kommen sah . . .«
Sie bemerkte jetzt, dass das Rouge auf den Wangen der Frau noch mehr glühte, als sie es beim raschen Vorbeigehen gesehen hatte, und deren schockierend kurzen Rock. Mit ihrem breiten Mund, dem vollen Busen und dem hervorstehenden Hinterteil erinnerte sie Henrike fast an einen Strauß. Verwirrt zog sie ihren eigenen Rock gerade.
»Ja?« Eine hochgezogene Augenbraue wirkte nicht sehr einladend.
»Ich habe mich gefragt . . .« Henrike schluckte und legte ihre Hände vor sich zusammen, um sich ein wenig Halt zu verschaffen. »Meine Mutter ist ernsthaft krank, und ich muss nach Deutschland zurückkehren«, fuhr sie mühsam beherrscht fort, »aber es fährt diesen Monat kein Passagierdampfer mehr. Ich hatte gehofft, den Befehlshaber der Schutztruppe sprechen zu können«, sie warf kurz einen Blick hinter sich zur Kaserne, vor der immer noch der Wachtposten stand, als wäre nichts passiert, »um vielleicht auf einem Schutztruppenschiff heimfahren zu können. Und als der Wachtposten sagte, dass Sie einen Termin hatten –«
»Der Wachtposten hat das gesagt?« Die Augen der Frau wurden kugelrund vor Erstaunen.
Henrike bemerkte ein aufgeklebtes Schönheitsmal auf der einen roten Wange. Die Frauen an der Küste schienen eine sehr fremdländische Vorstellung von Anstand zu haben. Unbehaglich trat sie von einem Fuß auf den anderen. »Ja«, bestätigte sie hastig. »Ich frage mich, ob Sie mir vielleicht behilflich sein könnten, jemanden zu sehen, der in der Schutztruppe etwas zu sagen hat?« Sie warf einen bittenden Blick auf die Frau. »Ich meine, da Sie ja anscheinend jemanden in der Kaserne kennen. Bitte«, fügte sie noch fast schon flehend hinzu, weil sie das Gefühl hatte, die Frau nahm sie gar nicht richtig ernst.
Zwei Männer in gutgeschnittenen Jacken und hohen Hemdkragen kamen um die Ecke. Henrike drückte sich in den Türeingang des Krämerladens und zog ihren dunklen Schleier tiefer ins Gesicht.
Die Frau, der nicht viel zu entgehen schien, blickte von ihr zu den sich nähernden Gestalten, dann wieder zu Henrike. »Sie müssen aus Swakop verschwinden?«
»Ähm, ja«, flüsterte Henrike. »Meine Mutter . . .« Sie hatte schon jetzt den Eindruck, die Frau glaubte ihr nicht.
Sie warf dann auch einen sehr forschenden Blick auf Henrike. »Sie sind allein?«
Es war einfach immer furchtbar auffällig, wenn eine Frau allein unterwegs war. Schon deshalb würde Friedrich-Wilhelm keine großen Schwierigkeiten haben, sie zu finden. Eine Frau allein fiel auf. »Ja, mein Gatte . . . konnte nicht mitkommen«, stammelte sie so verlegen und unsicher, dass jeder die Lüge erkennen musste.
Vielleicht tat das die Frau auch, aber anscheinend störte es sie nicht. »Verstehe.« Eine Augenbraue schoss wieder in die Höhe, verschwand fast unter der Flut von braunen Ringellöckchen, die unter dem federgeschmückten Hut hervorquollen.
Henrike beobachtete die beiden Männer, als sie vorbeigingen – nicht ohne den Fußgelenken ihrer neuen Bekanntschaft einen langen Blick zu gönnen. Zu Henrikes Erleichterung sah keiner der beiden sie selbst genauer an.
Die Frau räusperte sich. »Ich werde tatsächlich bald mit einem Schiff abreisen, aber –«
Ja! Henrikes Herz hämmerte gegen ihren Brustkorb. Es sprang fast heraus. Ein Schiff! Es gab ein Schiff! »Bitte, denken Sie, es gäbe irgendeine Möglichkeit, dass ich mitfahren könnte?«, brachte sie gerade noch so fertig hervorzustoßen, bevor ihr die Luft ausging, weil das Korsett solche Atemexzesse nicht erlaubte.
»Nun ja, sicherlich«, sagte die Frau, wirkte jedoch einigermaßen irritiert, »aber –«
»Wann legt es denn ab?« Henrike wäre am liebsten in die Luft gesprungen und konnte sich nicht zurückhalten, die Frau zu unterbrechen, was sie normalerweise nie getan hätte.
Ein leises Zucken schien die Mundwinkel der Frau zu bewegen. »Morgen früh, allerdings –«
Morgen! Henrike schluckte und griff nach den behandschuhten Händen der Frau. »Bitte, wo muss ich mich einfinden?«
Nun endlich schüttelte die Frau den Kopf. »Sie missverstehen mich. Das Schiff fährt gen Süden nach Lüderitzbucht. Zu den Diamantenfeldern.«
»Nach Süden?« Die Worte hingen in der Luft und erstickten alle Hoffnung.
Vorsichtig zog die Frau ihre Hände aus Henrikes Umklammerung. »Sie werden es schwer haben, ein Schiff in die entgegengesetzte Richtung zu finden, abgesehen von den Woermanndampfern. Alle Welt ist auf dem Weg zu den Diamantenfeldern. Der beste Ort für eine Frau.« Sie warf schnell einen Blick über ihre Schulter und sprach leise weiter. »Wenn Sie so dringend von Swakopmund fortwollen, warum fahren Sie nicht nach Lüderitzbucht? Die Möglichkeiten sind unendlich. Ganz im Gegensatz zu dem, was Sie in Deutschland erwartet.«
Henrike suchte Halt an der Hauswand des Geschäfts und kämpfte gegen die Benommenheit an, die ihre Gedanken lähmte. Sie schüttelte den Kopf.
Diamanten . . . Natürlich hatte sie von dem Eisenbahnarbeiter gehört, der einen wertvollen Stein zu seinen Füßen gefunden hatte, als er den allgegenwärtigen Sand von den Schienen der Bahnstrecke fegte, die dort gerade gebaut wurde. Windhuk hatte sofort einen Exodus von Glücksrittern, Bergbauarbeitern, Geschäftsmännern und zweifelhaften Charakteren erlebt, die sich alle schnellen Reichtum durch Diamanten im Sand erhofften. Die Zeitschriften zogen Parallelen zum großen Goldrausch Kaliforniens und des Klondike und prophezeiten Unmengen afrikanischer Millionäre, wie die Welt es noch nie gesehen hatte.
Aber was bedeuteten ihr Diamanten? Ja, es wäre praktisch gewesen, jetzt einen zu haben, um ihn gegen eine Schiffsfahrkarte nach Deutschland eintauschen zu können, aber selbst das hätte sie nicht schneller dorthin gebracht, weil sie trotzdem auf die Gertrud Woermann hätte warten müssen. Nun ja, sie hätte zum Kap hinunterfahren können, wie die Wirtschafterin des Hotels es ihr empfohlen hatte. Aber sie hatte ja gar keinen Diamanten.
»Meine Mädchen und ich gehen morgen früh um sechs an Bord der Kunigunde, das ist ein Fischereikutter«, sagte die Frau zögernd. »Wenn Sie es sich nicht leisten können, aber mitkommen wollen, können Sie die Fahrt bei mir in Lüderitzbucht abarbeiten. Sie wären bestimmt sehr beliebt, könnte ich mir denken.«
Beliebt? Henrike starrte sie an. Sie war noch nie in ihrem Leben beliebt gewesen – immer zu beschäftigt damit, Lieder zu komponieren und Klavier zu spielen, und zu impulsiv, wie ihr Vater ihr oft vorgeworfen hatte.
Trotzdem hatte Friedrich-Wilhelm sich daran nicht gestört. Er hatte auch nicht über ihre unmoderne drahtige Figur oder kleine Körpergröße geklagt. Allerdings fand er dann vieles zu missbilligen, kaum dass sie verheiratet waren. Und kurz darauf waren sie nach Südwest gefahren, weit außer Reichweite von Henrikes Familie und allem, was sie kannte. Allem, wohin sie sich hätte flüchten können.
»Ich danke Ihnen sehr, aber ich habe nicht vor, die Diamantenfelder zu besuchen.« Entschuldigend schaute Henrike die Frau an. »Ich muss nach Deutschland zurück. Meine Mutter . . .«
»Ach ja. Ihre Mutter.« Die Frau wirkte auf einmal desinteressiert. »Ich fürchte, in der Beziehung kann ich Ihnen nicht helfen. Mein Einfluss erstreckt sich nicht so weit.« Sie hielt Henrike die Hand hin. »Frau Vogt ist mein Name. Falls Sie es sich doch noch anders überlegen, können Sie mich morgen am Fischereidock finden – und sorgen Sie sich nicht um Geld. Ihr Name war . . .?«
»Henrike Störtebeker.« Bloß nicht an ihren verheirateten Namen denken. Der Mädchenname ihrer Mutter, die gestorben war, kurz bevor sie mit Friedrich-Wilhelm Hamburg verlassen hatte, schien deren sanfte und starke Persönlichkeit in sich zu tragen. Und würde es auch schwieriger für Friedrich-Wilhelm machen, sie zu finden. »Aber ich habe wirklich nicht vor, gen Süden zu reisen. Vielen Dank nochmals.«
Sie nickte Frau Vogt zu und eilte zum Hafen, wo schaumgekrönte Wellen vom Meer hereinrollten und sich an der Mole brachen.
Kormorane und Möwen tauchten ins Wasser, als es an die unwirtliche Wüstenküste spülte.
Nebel verschleierte den Himmel, die Küste und selbst die Sonne, ließ nur einen Schmutzfleck grauen Wassers um die Kunigunde sichtbar. Das rhythmische Knarzen des Schiffs im Auf und Ab der Dünung ertrank fast unter den Ausrufen, Gesängen und der Zecherei der Glücksritter an Bord. Die beiden Ochsen, an Deck zwischen die Essenskisten, Besitztümer und ein wildes Durcheinander von Versorgungsmitteln gesperrt, starrten Henrike trübsinnig an. Eine Unterströmung von Stallgeruch vermischte sich mit der Salzluft und dem Fischgestank, der dem Boot anhaftete.
Henrike zog ihre Strickjacke enger um ihre Schultern und versuchte, so auszusehen, als ob sie ständig allein auf Schiffsreisen ginge. Frau Vogts Mädchen, die unmöglich alle ihre Töchter sein konnten, benahmen sich mit den Männern an Bord auf eine Art, die Henrike Sorgen bereitete.
Seitdem es ihr gelungen war, Swakopmund zu verlassen und sie Zeit zum Nachdenken gehabt hatte, wollte die schockierende Möglichkeit nicht mehr aus ihrem Kopf gehen, dass sie sich von einer Prostituierten auf das Schiff hatte locken lassen. Fieberhaft versuchte sie zu kalkulieren, ob nicht ihre restlichen Mark und Pfennige für die Schiffsfahrt nach Lüderitzbucht reichen und sie davor retten würden, bei Frau Vogt in der Schuld zu stehen.
»Sie sind sehr still.«
Henrike drehte sich rasch um. Ein blonder Mann mit einem schwer zu platzierenden Akzent lehnte neben ihr an der Reling und schob sich einen Pfropfen Kautabak in den Mund. Der breite Rand seines Huts warf einen Schatten über sein Gesicht.
Sie zuckte die Schultern und hoffte, dass sie zu verstehen gab, weder an einer Unterhaltung interessiert zu sein noch zu Frau Vogts Mädchen zu gehören. Verzweifelt starrte sie in den Nebel, der die kahle, braune Wüstenküste verdeckte.
»Wollen Sie nach Kolmannskuppe oder bleiben Sie in Lüderitzbucht?«, wollte der Mann wissen.
»Ich habe mich noch nicht entschieden«, wagte Henrike zu sagen und sah sich nach jemandem um, der sie vor seiner unerwünschten Aufmerksamkeit retten konnte. Wenn doch nur ein Missionar, Lehrer oder Ehepaar an Bord wären! Aber außer den sechs Frauen waren da nur die raubeinigen Diamantensucher und die Schiffsbesatzung.
»Kolmannskuppe ist der beste Ort«, sagte er. »Können Sie sich das vorstellen, Diamanten aus dem Sand zu fischen? Man kann innerhalb von Tagen reich sein!«
Sie nickte und bemerkte die Straußenfeder von Frau Vogts Hut, die in der Brise zuckend hinter den Ochsen entlangwackelte. Sie musste ihre Situation mit der Frau klären. »Ich wünsche Ihnen viel Glück.« Ihre Füße weit auseinander setzend schwankte sie über Deck.
»Sie können mit mir kommen, wenn Sie möchten!«, rief der Mann ihr hinterher.
Mit ihm kommen. Das fehlte mir noch! Henrike stützte sich an einem hohen Stapel Holzkisten ab und stolperte auf Frau Vogt zu. »Entschuldigen Sie!«
Die braunen Ringellöckchen waren von Nebel und Gischt an die Stirn der Frau geklebt. Sie sah unter den beiden Rougeflecken wirklich blass aus. »Henrike.« Frau Vogt nahm ihren Arm und zog sie an ihre Seite. »Ich hoffe, ich darf Sie mit Ihrem Vornamen ansprechen?«
Erschrocken zog Henrike ihren Arm weg. Sie würde nicht eins der Mädchen werden! »Entschuldigung, aber ich ziehe meinen Nachnamen vor«, wies sie Frau Vogt zurück. Dann sog sie die Meeresluft tief in ihren Busen ein. »Ich wollte mit Ihnen darüber sprechen, wie ich meine Fahrt bezahlen kann.«
»Ah ja.« Die schlauen Augen blickten in alle Richtungen über Deck. »Wann möchten Sie denn für mich zu arbeiten beginnen?«
Henrike nahm allen Mut zusammen. »Was für eine Arbeit würden Sie mir denn anbieten?«
Wenn Frau Vogt nicht übel gewesen wäre – was ihr deutlich anzusehen war –, hätte sie wahrscheinlich gelacht. »Haben Sie das noch nicht mitbekommen?«, fragte sie.
Fast hätte Henrike geschluckt, aber sie unterdrückte es. »Ich bin nicht sehr bewandert in diesen Dingen«, antwortete sie, »aber ich glaube, das wäre keine Arbeit für mich.«
Es fiel ihr sehr schwer, überhaupt über ein solches Thema zu reden – keine anständige Frau tat das, würde auch nur daran denken, höchstens Männer konnten sich das erlauben, und das auch nur in Gegenwart anderer Männer oder eben solcher . . . Damen wie dieser hier –, aber es musste wohl sein.
Nachdem sie in diese Situation geraten war, ohne richtig zu wissen, wie. Während der Nacht war sie noch gar nicht sicher gewesen, was sie tun sollte, aber als dann der Morgen graute, hatte sie auf einmal die Angst überfallen, dass sie in Swakopmund viel zu leicht gefunden werden konnte. Also hatte sie sich angezogen und war zum Hafen gegangen.
»Und wie wollen Sie die Fahrt dann bezahlen?«, fragte Frau Vogt mit dem hinterhältigsten Gesichtsausdruck, den sie sich in diesem Augenblick ihrer Seekrankheit abringen konnte.
Henrike hielt sich an der Reling fest. Sie brauchte ein stabiles Gleichgewicht, um solch ein Gespräch zu führen. »Etwas Geld habe ich noch. Fünfzehn Mark sollten alles begleichen, denke ich.«
Sie zwang sich, eine Ruhe und Überzeugung auszustrahlen, die sie nicht fühlte. Aber was konnte diese Frau ihr eigentlich anhaben? Sie würde sie wohl kaum zum Bezirksamtsmann in Lüderitzbucht zerren und verlangen, dass sie in dem – sie musste darüber nachdenken, wie man so etwas überhaupt nannte – Freudenhaus war wohl der Ausdruck, das hatte sie jedenfalls schon mal hinter vorgehaltener Hand gehört, arbeitete, und das war vermutlich das, was Frau Vogt dort aufmachen wollte.
Die beiden Rougeflecken schossen in die Höhe, als Frau Vogt nun doch die niederdrückenden Nebenwirkungen ihrer Seekrankheit überwand und lachte. »Meine Liebe, selbst vor dem Diamantenrausch hätte das kaum für die Hälfte der Strecke gereicht! Und jetzt, wo auch noch der letzte Waschzuber zu Wasser gelassen wird, um zu den Diamantenfeldern zu gelangen, reden wir vom Dreifachen der Kosten!« Sie rückte ihren Hut zurecht und beugte sich vor. »Machen Sie sich keine Sorgen. Ich nehme an, Sie haben noch nie gearbeitet?«
»Ich bin verheiratet«, erwiderte Henrike steif, denn durch Frau Vogts Frage wurde sie an etwas erinnert, an das sie nicht gern erinnert werden wollte. »Verheiratete Frauen arbeiten nicht.«
»Natürlich nicht.« Frau Vogt nickte. Anscheinend lenkte das Gespräch mit Henrike sie so sehr von der Übelkeit ab, die ihr die Fahrt verursachte, dass ihre Wangen unter dem Rouge ein wenig an Blässe verloren. »Immer mit der Ruhe, Frau Störtebeker, ich verstehe Ihre Gefühle bezüglich dieser . . . Dinge. Als ich Sie gestern traf, habe ich Sie nicht für eine Sekunde für ein erfahrenes Mädchen gehalten.«
Henrike klammerte sich an die Reling und starrte die Frau an, konnte es fast nicht glauben, dass sie auf einem eingenebelten Schiff im Südatlantik stand und ihre Ehre mit einer Prostituierten diskutierte. Eine Möwe schrie, als sie über sie hinwegflog.
»Aber ich dachte mir gleich, dass Ihre sterbende Mutter nicht der Hauptgrund war, weshalb Sie Swakopmund verlassen wollten«, fuhr Frau Vogt gleich fort, ohne offenbar eine Antwort von Henrike zu erwarten. »Bitte hören Sie mir zu«, ein ungeduldiges Abwinken mit den behandschuhten Fingern, »ich habe kein Interesse an Ihren Geheimnissen. Wir werden etwas arrangieren, genau wie ich mit den anderen Mädchen –«
»Sie müssen völlig von Sinnen sein«, unterbrach Henrike sie empört. »Ich bin klassisch ausgebildete Pianistin und werde mir Arbeit als Klavierspielerin suchen! Wenn Sie auch nur für einen Moment denken, dass ich –«
»Pianistin?« Unerwartetes Interesse blitzte in Frau Vogts Augen auf. »Sie können Klavier spielen?«
»Allerdings!« Wenn Henrike auf eins stolz war, dann auf das. Auch wenn das in diesem Land wohl keine Bedeutung hatte. Jedenfalls nicht dieselbe wie in Europa. Und auch da . . . »Die bloße Vorstellung, dass ich –«
»Oh, aber das ist perfekt!« Frau Vogt legte ihre Hand auf Henrikes Arm. Ihre Augen glänzten vor Aufregung. »Wenn das stimmt, könnten wir uns einigen, dass Sie in meinem Etablissement Musik machen – nur Musik, verstehen Sie? Das würde eine hochkultivierte Atmosphäre für unsere Klientel schaffen.«
»Klavier spielen? In einem Sündenhaus?« Henrike trat einen Schritt zurück. Hatte die Frau den Verstand verloren?
Frau Vogts Mundwinkel verzogen sich nach unten. »Sie sollten für diese Gelegenheit dankbar sein.« Dann wanderten ihre Mundwinkel wieder nach oben. »Was wollen Sie denn sonst in Lüderitzbucht oder Kolmannskuppe machen?«, fuhr sie sanfter mit überredender Stimme fort. »Dort gibt es nicht viele Möglichkeiten für eine alleinstehende Frau, Geld zu verdienen. Außer eben . . .« Sie ließ das Ende des Satzes offen, da das ja sowieso klar war.
»Das werde ich auf keinen Fall tun!«, entgegnete Henrike entschieden.
Frau Vogt zuckte die Achseln. »Ich habe Ihnen ja eine Alternative angeboten.« Sie hob die Augenbrauen. »Wie wollen Sie sonst Ihre Schulden bei mir begleichen? Ich habe Ihre Fahrt bezahlt. Und glauben Sie mir«, sie beugte sich vor, »ich bekomme immer das, wofür ich bezahlt habe.«
Ihre Augen hatten einen harten Schimmer, der Henrike die Glaubwürdigkeit dieser Aussage nicht anzweifeln ließ. Aber was sollte sie machen? Die See war rau, Wellen wogten auf und ab, und genauso fühlte Henrike sich in ihrem Inneren. Wenn die Fahrt nach Lüderitzbucht ein Mehrfaches von dem kosten sollte, was sie noch besaß, war es völlig aussichtslos, nach einem Ausweg suchen zu wollen. Es gab keinen.
Seit sie aus Windhuk geflohen war, hatte die Aussichtslosigkeit ihrer Situation ständig zugenommen, aber sie wollte sich nicht so leicht geschlagen geben.
»Hier«, sagte sie. Ihre Finger zitterten so sehr vor Zorn, dass sie sie kaum kontrollieren konnte, als sie in den Taschen ihrer Jacke nach der kleinen Geldbörse grub. Sie öffnete die Seidenbörse und zog ihre verbleibenden Geldscheine heraus. »Das ist meine Anzahlung, um meine Schulden zu begleichen.«
Sie hielt Frau Vogt das Geld hin, schob es ihr in die Hand, als sie es nicht nahm. »Und den Rest werde ich Ihnen geben, sobald ich Arbeit gefunden habe. Anständige Arbeit.«
Sich an der Reling festhaltend drehte sie sich um und stolperte mit so viel Würde, wie sie aufbringen konnte, an den Ochsen vorbei über Deck, bis sie so weit wie möglich von Frau Vogt entfernt auf das Meer blicken konnte.
Die Weite beruhigte sie nur wenig, aber dennoch fühlte sie sich dadurch besser. Es lagen Möglichkeiten da draußen. Es musste sie geben!
Sie musste sie nur finden.
So sehr sie sich davor fürchtete, völlig mittellos in Lüderitzbucht anzukommen, war Henrike doch erleichtert, als der endlose leere braune Streifen der Küste schließlich eine felsige Bucht umschloss, in der sich Häuser drängten.
Nach tagelangem engem Zusammenleben mit Bergarbeitern und Prostituierten auf dem nebligen Meer und unruhigen Nächten voller Albträume von Friedrich-Wilhelm erschien ihr die einsame Gruppe der Häuser in der Lüderitzbucht wie das Paradies.
Langsam fuhren sie in die Bucht hinein. Der Kapitän manövrierte das Schiff geschickt in den Hafen. Die Häuser waren jetzt nah genug, dass man Einzelheiten ausmachen konnte.
Die Gebäude waren sehr modern, da sie erst in den letzten Jahren in der eleganten Architektur des Jugendstils gebaut worden waren. Fenster glitzerten wie Spiegel in der Sonne, und die Luft war so klar, dass Henrike das Gefühl hatte, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um die Gebäude zu berühren.
Aber am Rand der Stadt und in der Ferne war die Wüste allgegenwärtig: rastloser Sand, der sich in Dünen verschob und bereit war, diesen winzigen Vorposten der Menschen im nächsten Moment zu verschlingen.
Auf einmal wurde sie von Männern zur Seite geschoben, die an ihr Hab und Gut gelangen wollten. Einer der Ochsen brüllte, und ein paar der Matrosen stimmten ein unflätiges Lied an.
Das alles störte Henrike jedoch nicht, sie nahm es kaum wahr. Ein erleichtertes Gefühl breitete sich in ihr aus. Wie eng die Bucht auch immer war, aber für Henrike bedeutete sie genau den Hauch von Freiheit, nach dem sie sich gesehnt hatte.
Die Blicke hoffnungsvoll auf den Hafen von Lüderitzbucht gerichtet bemerkte sie gar nicht, wie Frau Vogt neben sie trat.
»Was glauben Sie, was Sie in einem gottverlassenen Nest wie diesem hier machen können? Um Geld zu verdienen?«, fragte sie. »Als Frau?«
Jetzt, da die Ankunft immer näher kam und die Wellen im Hafen das Schiff ruhiger als draußen auf See bewegten, schien ihre Seekrankheit verschwunden. Sie wirkte nicht mehr blass unter dem Rouge, sondern im Gegenteil freudig erregt.
»Glauben Sie mir, niemand engagiert hier eine Frau fürs Klavierspielen.« Ihre Mundwinkel hoben sich süffisant. »Außer mir.«
»Das werden wir sehen«, erwiderte Henrike. Ruhig sah sie Frau Vogt an. »Sie bekommen Ihr Geld schon, keine Angst.«
»Oh, ich habe keine Angst.« Frau Vogt lachte leicht, als ob sie sich köstlich darüber amüsieren würde, was Henrike gesagt hatte. »Sie werden auf die eine oder andere Art bezahlen. Da bin ich mir sicher.« Kurz ließ sie ihren Blick an Henrikes Gestalt auf und ab wandern. »Ja, da bin ich mir absolut sicher«, wiederholte sie fast schmunzelnd, drehte sich dann um und sammelte ihre Mädchen zusammen, um mit ihnen gemeinsam das Schiff zu verlassen.
Henrike ließ zuerst einmal alle anderen aussteigen. So, wie sie drängelten, hätte sie sich dazwischen fast erdrückt gefühlt. Alle schienen nicht schnell genug an Land kommen zu können. Die Diamantensucher hatten wohl das Gefühl, sie würden gleich hier im Hafen die ersten Diamanten finden, so suchend blickten sie sich um.
Zwei Seehunde tauchten neben einem nach Fisch riechenden Boot auf und nieder, wo der morgendliche Fang unter den Kommentaren der schreienden Möwen entladen wurde. Für ein gottverlassenes Nest war hier ganz schön viel los am frühen Morgen.
Endlich stolperte sie die Bootsrampe hinunter, bei jedem schwankenden Schritt von ihrer Reisetasche gebeutelt. Es schien unmöglich, gerade zu gehen – ihre Knie beugten sich automatisch, um Wellen auszubalancieren, die nicht mehr existierten. Es erinnerte sie an die Reise übers Meer, die sie von Hamburg hierhergebracht hatte. Hätte sie diese Reise doch nie gemacht . . .
Doch nun war sie hier, und diesmal war sie allein. Was sie vor noch gar nicht so langer Zeit wahrscheinlich ziemlich erschreckt hätte, doch in Anbetracht der Alternative erschreckte sie es nun weniger. Auch wenn sie nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Dennoch versuchte sie, Selbstsicherheit auszustrahlen, als sie auf das Dock trat.
Die paar restlichen Münzen in ihrer Tasche würden für kein Hotelzimmer reichen. Sie musste sofort Arbeit finden. Sinnierend blieb sie stehen und setzte die Tasche, die schwer an ihrem Arm zog, ab.
Am besten wäre es, mit dem Bezirksamtsmann zu reden, der für die Region verantwortlich war – aber was, wenn Friedrich-Wilhelm Erkundigungen einzog? Einen Moment lang zögerte sie, unsicher, was sie tun sollte.
Schwarze Arbeiter, gebeugt unter dem Gewicht von Kisten mit Lebensmitteln und Vorräten, mühten sich entlang des Docks ab, während die Glücksritter an Henrike vorbeieilten, jeder mit seinen Habseligkeiten an sich gepresst. Alle waren darauf aus, so schnell wie möglich zu den Diamantenfeldern zu kommen. Es fühlte sich an, als wäre sie der einzige Mensch im ganzen Hafen, der langsam ging, als sie nun ihre Tasche wieder aufnahm.
»Sie können immer noch mit mir kommen, meine Schöne!«, rief der blonde Mann, der sie schon auf dem Schiff angesprochen hatte, als er von seinen Freunden an Henrike vorbeigedrängt wurde. »Kommen Sie mit mir – ich gehe mich gleich bei der Deutschen-Diamanten-Gesellschaft anmelden!«
Frau Vogt und ihre Mädchen waren bereits verschwunden. Wenigstens etwas, für das Henrike dankbar sein konnte. Sie schüttelte ihren Kopf über den Mann, wehrte sich dagegen, von dem Gemisch aus Angst und Erwartung überwältigt zu werden, das nun doch in ihr brodelte.
Als eine Windböe vom Meer her auffrischte, drückte sie ihren Hut fester auf die Haare nieder. Jeder konnte es in diesem Ort zu etwas bringen, davon musste sie sich jetzt selbst überzeugen. Sie hielt sich an dem Gedanken fest, als sie sich von der Menschenflut mitreißen ließ.
Der Hafen war mit Ochsenkarren, Eselswagen und Leuten verstopft, die einander in verschiedenen Sprachen Verständliches und Unverständliches zuriefen. Mehrere Schiffe entluden ihre Fracht bestehend aus Diamantensuchern, schwarzen Arbeitern und Bergen von Versorgungsgütern, und verschlagen aussehende Gestalten folgten der Masse wie Hyänen, zweifelsohne erpicht darauf, sich leichtgläubige und törichte Opfer zu suchen.
Henrike stolperte, als jemand sie von hinten anstieß. Sofort umklammerte sie den Griff ihrer Reisetasche fester. Ein schwitzender schwarzer Mann, der rückwärtsging und dabei als einer von mehreren ein Klavier schleppte, war auf ihre Ferse getreten.
Ein Klavier! Henrikes Herz wurde leicht. Wo es Musik gab, war auch Hoffnung. Ohne dass sie es verhindern konnte, überzog ein Lächeln ihr Gesicht.
»Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, wem dieses Piano gehört?«, fragte sie den Arbeiter, der notgedrungen hatte stehenbleiben müssen.
Der andere schwarze Arbeiter, der das hintere Ende des Klaviers trug, schüttelte seinen Kopf und bedeutete seinem Kollegen, weiterzugehen. Zwischen den beiden Männern wackelnd bewegte sich das Piano an Henrike vorbei.
»Bitte warten Sie!«, rief sie und begann, neben den beiden herzulaufen. »Wohin bringen Sie es?«
»Kolmannskuppe«, sagte der erste, der über sie gestolpert war. Seine weißen Zähne blitzten.
»Wessen Piano ist es denn?«, fragte sie wieder, als die Männer neben einem Ochsenkarren anhielten.
»Familie Gersdorff«, sagte der zweite Arbeiter, zog seinen Hut vom Kopf und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Danke.« Henrike stand da und überlegte. Lüderitzbucht erschien ihr schon wie das Ende der Welt, aber Kolmannskuppe? Das war noch weiter entfernt von der Zivilisation, wie sie sie kannte. Und dennoch war jetzt ein Klavier auf dem Weg dahin. Da musste sich doch etwas machen lassen . . .