Immer diese Sehnsucht - Anne Wall - E-Book

Immer diese Sehnsucht E-Book

Anne Wall

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Beschreibung

Kerstin und Andrea scheinen ein glückliches Paar zu sein, doch die Beziehung kriselt: Andrea lebt nur für ihre Arbeit, und Kerstin vermisst die Zweisamkeit. Da tritt die braungebrannte Abenteurerin Pat in Kerstins Leben und schenkt ihr die Aufmerksamkeit, die sie von Andrea vermisst. Nach einem schrecklichen Streit von Andrea tief verletzt folgt Kerstin Pat nach Südafrika, wo sie ein neues Leben beginnt; Andrea bleibt ahnungslos zurück. Doch unter der heißen Sonne Afrikas wächst in Kerstin die Sehnsucht nach Andreas Liebe ...

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Anne Wall

IMMER DIESE SEHNSUCHT

1. Teil der Serie»Sehnsucht Afrika«

© 20132. Auflage 2023 édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-079-0

Coverfoto: © Nicola_Del_Mutolo – Fotolia.com

1

»Optiker Schneider, was kann ich für Sie tun?« Kerstin meldete sich etwas abwesend, weil sie gerade dabei gewesen war, Rechnungen zu überprüfen.

»Bist du das, Schatz? Also wirklich, eure Leitung ist so schlecht, da kann man ja kaum erkennen, wer dran ist!«

Kerstin hielt mit einer schnellen Bewegung den Hörer so weit wie möglich von ihrem Ohr weg, aber es war zu spät. Ihre sämtlichen Gehörgänge klingelten bereits. »Mama«, sagte sie seufzend. Sie musste sofort weitersprechen, sonst würde ihre Mutter sie gleich wieder unterbrechen. »Manchmal versteht man sich besser, wenn man nicht so laut schreit. Du musst nicht die ganze Entfernung mit deiner Stimme überbrücken. Da ist eine Verbindung zwischen den Telefonen.«

»Ach, was du immer hast . . . ich schreie doch nicht. Nur du beschwerst dich darüber, sonst niemand. Du bist einfach überempfindlich.« Ihre Mutter schien beleidigt.

»Ja, wahrscheinlich.« Kerstin seufzte erneut, hielt den Hörer aber immer noch in respektvoller Entfernung. »Gibt es irgendeinen speziellen Grund, warum du anrufst? Ich hätte da ein paar Rechnungen zu bezahlen, das muss ich heute noch erledigen. Sonst verfällt das Skonto.«

»Ja, ja . . .« Solche Dinge hatten ihre Mutter noch nie interessiert. »Natürlich habe ich einen Grund anzurufen. Susanne kommt aus . . . wo war das noch gleich? . . . irgendwo in Afrika, glaube ich . . . zurück. Du weißt doch, da war sie die letzten Monate.«

»Ich weiß«, sagte Kerstin. Im Gegensatz zu ihr selbst war ihre Cousine Susanne eine Weltenbummlerin. Sie hatte die letzten beiden Jahre auf einer Weltreise verbracht, mit kürzeren oder längeren Aufenthalten überall dort, wo es ihr gefiel.

»Ich wette, du hattest es vergessen«, behauptete ihre Mutter. »Na ja, und wo sie nun zurückkommt, muss ich natürlich eine Feier organisieren . . .«

»Was ist mit Tante Helga? Sie ist ihre Mutter«, wagte Kerstin einzuwerfen.

»Ach, Tante Helga . . .«

Kerstin fragte sich manchmal, ob die beiden Schwestern, ihre Mutter und ihre Tante Helga, sich überhaupt je verstanden hatten. Auf jeden Fall konnte Tante Helga Kerstins Mutter, was deren Organisationsdrang betraf, nicht das Wasser reichen. Aber vielleicht wollte sie es auch gar nicht.

»Bis die so weit ist, sind die nächsten zwei Jahre rum«, behauptete ihre Mutter. »Also habe ich das in die Hand genommen.«

»Wie immer«, murmelte Kerstin. Man brauchte ihrer Mutter nur eine Andeutung zu machen, dass es etwas zu organisieren gab, schon organisierte sie es. Manche Leute sparten sich viel Arbeit dadurch.

»Auf deine Mithilfe kann ich natürlich nicht zählen, das weiß ich . . .« Ihre Mutter seufzte. »Aber ich will doch wenigstens schwer hoffen, dass du zu der Feier erscheinst.«

»Ähm . . . ich . . .« Kerstin hatte das Tempo ihrer Mutter nicht geerbt, und obwohl sie seit ihrer Kindheit daran gewöhnt war, fühlte sie sich doch hie und da überfordert. »Ich würde mich natürlich freuen, Susanne wiederzusehen«, fuhr sie vorsichtig fort. »Sie hat bestimmt spannende Sachen zu erzählen. Aber ob ich kommen kann, weiß ich noch nicht.«

»Also bitte . . .« Ihre Mutter wirkte empört. »Was könnte dich wohl abhalten? Ein Privatleben hast du ja nicht. Und erzähl mir nicht, dass du am Wochenende arbeiten musst.«

Kerstin hob die Augenbrauen und atmete tief durch. »Nein, arbeiten muss ich nicht«, sagte sie. »Also gut. Ich verspreche aber nichts. Es kann immer etwas Unerwartetes dazwischenkommen, das weißt du am allerbesten.«

»Was kann bei dir schon Unerwartetes dazwischenkommen?«, fragte ihre Mutter. »Du wirst wohl kaum plötzlich zu einer Weltreise aufbrechen wie Susanne. Dazu bist du nicht der Typ.«

»Genau«, sagte Kerstin. »Susanne ist deine aufregende Nichte, ich bin nur deine langweilige Tochter.«

Ihre Mutter schnalzte tadelnd mit der Zunge. »Hör auf mit dem Unsinn. Ich liebe dich, das weißt du. Ich möchte auch nicht mit Helga tauschen. Sie hat sich die ganze Zeit Sorgen um Susanne gemacht. Was auf so einer Weltreise alles passieren kann . . . Da ist es mir schon lieber, du bleibst zu Hause und gehst jeden Tag brav zur Arbeit. Da weiß ich wenigstens, wo du bist und was du tust.«

Ach ja, weißt du das? Kerstin hätte fast gelacht. »Ist gut, Mama«, sagte sie. »Aber ich muss jetzt . . . die Rechnungen . . .«

»Ich habe sowieso zu tun«, erwiderte ihre Mutter eilig. »Ich wollte dir nur Bescheid sagen. Aber es ist noch so viel zu organisieren . . .« Und schon hatte sie aufgelegt.

Ebenso schnell, wie sie in Kerstins Tag hineingefegt war, war sie auch schon wieder hinausgefegt.

2

Gegen acht Uhr abends betrat Kerstin die Wohnung, warf ihren Schlüssel auf das Garderobenschränkchen und hängte ihre Jacke auf.

Sie ging weiter ins Arbeitszimmer und schlang von hinten die Arme um die große Frau, die dort am Schreibtisch vor dem Computer saß.

»Hallo Liebling«, flüsterte sie.

Andrea hielt Kerstins Arme leicht vor ihrer Brust fest und lächelte. »Du bist schon da?«, fragte sie.

Kerstin löste sich von Andrea, ging um sie herum, lehnte sich rückwärts an den Schreibtisch und schaute sie an. »Soll ich wieder gehen?«

»Nein.« Andrea schaute immer noch lächelnd zu ihr hoch. »Ich muss nur noch kurz etwas fertig machen.«

Kerstin betrachtete sie zärtlich und glitt vom Schreibtisch auf Andreas Schoß. »Kann ich dir dabei helfen?«, flüsterte sie und suchte Andreas Lippen.

Andrea küsste sie kurz, befreite sich aber dann und lachte leicht. »So nicht . . .«, sagte sie. »Das bewirkt eher das Gegenteil.«

Kerstin seufzte. »Ist gut. Dann lasse ich dich in Ruhe. Soll ich etwas kochen? Oder hast du schon gegessen?«

»Ich habe keinen Hunger«, sagte Andrea, das Gesicht schon wieder zum Computerbildschirm gewandt. »Aber wenn du willst, kannst du dir gern etwas machen.«

»Für mich allein?« Kerstin hob die Augenbrauen. »Dann verzichte ich lieber. Ich werde ein bisschen ins Wohnzimmer gehen, fernsehen. Kommst du dann auch bald?«

»Ja.« Andrea lächelte sie abwesend an.

Kerstin war nicht sicher, ob sie sie verstanden hatte. Aber es blieb ihr sowieso keine andere Wahl. Sie ging ins Wohnzimmer und setzte sich vor den Fernseher.

Nachdem der erste Film vorbei war, ging sie in die Küche und machte sich einen Tee. Andrea saß immer noch vor dem Computer und arbeitete. Es würde wohl wieder nichts werden mit dem gemeinsamen Fernsehabend.

Nachdem sie ihren Tee getrunken und dabei irgendeine Serie angeschaut hatte, bei der sie noch nicht einmal wusste, ob sie sie kannte, entschied sie zu Bett zu gehen. Vorher schaute sie noch einmal zu Andrea ins Arbeitszimmer hinein. »Ich gehe schlafen. Was ist mit dir?«

Andrea wirkte in ihrer Arbeit gestört. »Ich komme gleich.« Sie warf Kerstin mit gespitzten Lippen einen Luftkuss zu.

Kerstin duschte und legte sich hin, nahm sich einen Roman und las noch eine Weile. Fast war sie eingeschlafen, als Andrea hinter ihr ins Bett schlüpfte.

»Was machen Sie denn hier, schöne Frau?«, fragte sie leise an ihrem Ohr, während sie sich an Kerstins Rücken kuschelte. »Kenne ich Sie?«

»Das hoffe ich doch sehr.« Kerstin lachte leicht. »Oder kriechst du immer zu fremden Frauen ins Bett?«

»Beim ersten Mal ist jede Frau fremd«, flüsterte Andrea zurück. »Das hat auch seinen Reiz.« Ihre Hände begannen über Kerstins Körper zu wandern.

»Mhm . . .«, machte Kerstin leise. Sie schloss die Augen und genoss das Gefühl von Andreas warmen Händen auf ihrer Haut. Das Kribbeln an ihren Schenkeln, an ihren Brüsten und in ihrem Bauch wurde langsam stärker. Sie schmiegte ihren Po in Andreas Schoß.

Andrea hauchte einen Kuss in Kerstins Nacken. »Ich muss morgen wahnsinnig früh raus«, murmelte sie entschuldigend. »Bitte sei nicht böse.« Ihre Hände stellten ihre Wanderschaft ein.

Kerstin atmete tief durch und versuchte ihre aufkommende Erregung zu unterdrücken. »Natürlich nicht.« Wahrscheinlich hörte man ihrer Stimme die Enttäuschung an, aber Andrea war sicherlich viel zu müde, um es zu bemerken. Es hatte keinen Sinn, Andrea umstimmen zu wollen. Deshalb versuchte sie es gar nicht erst.

»Gute Nacht, Liebling«, flüsterte Andrea. Sie streichelte Kerstins Schulter und drehte sich dann von ihr weg.

»Gute Nacht.« Kerstin legte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Sollte sie versuchen, noch etwas zu lesen? Sie warf einen Blick auf das Buch auf ihrem Nachttisch. Nein, darauf konnte sie sich jetzt nicht mehr konzentrieren. Sie hätte sich gern auf etwas anderes konzentriert.

Mit einem Seufzer drehte sie sich ebenfalls herum und löschte das Licht.

3

»Meins! Meins! Gib das her! Das ist meins!«

Kerstin kam sich vor wie auf einem orientalischen Markt oder zumindest in einem schlecht organisierten Kindergarten. Die schrillen Stimmen des mehr oder weniger mangelhaft erzogenen Nachwuchses malträtierten ihre Ohren.

Sie wandte sich ab und versuchte eine ruhige Ecke im Haus ihrer Eltern zu finden, aber das war unmöglich.

Ständig strömten Verwandte durch die offene Flügeltür des Wohnzimmers herein, um sich bei Kaffee und Kuchen zu bedienen. Ihre Mutter wirbelte herum, stets im Wettbewerb mit den Kindern, deren zerstörerische Absichten bezüglich des guten Sonntagsgeschirrs unverkennbar waren.

Zwei Hände legten sich von hinten über ihre Augen. »Wer bin ich?«, flüsterte eine Stimme.

»Susanne.« Kerstin lachte. Sie drehte sich um. »Schön, dass du wieder da bist.«

Susanne stand braungebrannt wie die personifizierte Werbung für Urlaub im sonnigen Süden vor ihr. »Du hättest mitfahren sollen, Cousinchen«, lachte sie. »Du bist viel zu blass.«

»Verglichen mit dir ist wohl jeder blass.« Kerstin grinste ihre Cousine an. »Du siehst ja fast aus, als wärst du in Afrika geboren.«

»Das sehen die Leute dort unten anders.« Susanne legte einen Arm um sie. »Aber wirklich: Du solltest mal rauskommen aus dem kalten Deutschland. Das macht einen auf die Dauer nur depressiv.«

»Danke der Nachfrage, mir geht’s gut«, erwiderte Kerstin keck. Allerdings kam ihr sofort in den Sinn, dass Urlaub für Andrea ein Fremdwort war, weshalb sie auch noch nie einen zusammen gemacht hatten. Andrea hatte einfach nie Zeit. »Vielleicht fahre ich das nächste Mal mit«, fuhr sie zu ihrer eigenen Überraschung fort. »Oder willst du jetzt hierbleiben?«

»Keine Ahnung, wie lange ich es hier aushalte.« Susanne zog sie ein wenig mit sich. »Im Ausland habe ich so viel gesehen . . .« Sie ließ ihre Blicke durch den Raum schweifen. »Aber vielleicht lerne ich ja jemand kennen, der mich davon überzeugt, dass Deutschland doch die bessere Wahl ist.« Sie lachte. »Apropos kennenlernen: Ich muss dir jemand vorstellen.« Sie hob eine Hand und winkte. »Pat! Komm doch mal her!«

Eigentlich hatte Kerstin erwartet, dass Susanne ihr einen braungebrannten jungen Mann vorstellen würde, aber das war nicht der Fall.

»Das ist meine Cousine Kerstin«, sagte Susanne lachend, als eine große, athletisch wirkende Frau mit federnden Schritten näherkam. »Die Bodenständige. Nicht so ein unbeständiges Teil wie ich.« Sie schaute Kerstin schelmisch an. »Und das hier ist meine allerliebste Reisefreundin Patrizia, genannt Pat. Ohne sie wäre ich vielleicht irgendwo als Frau eines Stammeskriegers gelandet.« Sie lachte noch mehr.

»Ja, manchmal bist du etwas zu experimentierfreudig«, bestätigte Pat mit einem Lächeln. »Du bist also Sannes Cousine?« Sie reichte Kerstin die Hand. »Ihr scheint euch nicht sehr zu ähneln.«

»Das trifft schon für unsere Mütter zu, und die sind Schwestern«, erklärte Susanne. Sie schien jemand am anderen Ende des Raumes zu sehen. »Ihr kommt doch ohne mich zurecht?« Und schon war sie verschwunden.

Kerstin hatte Pats Hand genommen und wünschte sich gleich darauf, sie hätte es nicht getan. Ihre Haut brannte, und Pats Augen schienen sie in ihren Bann zu ziehen.

Was soll das denn? Irritiert zog Kerstin ihre Hand zurück und schaute Susanne hinterher, die gerade einem Jugendfreund um den Hals fiel und laut lachte. »Wart ihr lange zusammen unterwegs?«, fragte sie, immer noch den Blick auf Susanne gerichtet.

»Ein paar Monate – mehr oder weniger«, erwiderte Pat. »Jede von uns hat sich immer mal wieder allein abgesetzt, wenn sich unsere Interessen nicht so ganz getroffen haben.« Sie lachte amüsiert. »Mein Interesse für muskulöse Stammeskrieger hält sich beispielsweise in Grenzen.«

»Ach?« Kerstin schaute sie an. »Wofür interessierst du dich denn?«

»Wenn schon, dann für Stammeskriegerinnen«, entgegnete Pat. Ihr Blick musterte interessiert Kerstins Gesicht.

Kerstin erstarrte für einen Moment. Dann räusperte sie sich. »So was gibt’s?«, fragte sie, um einen harmlosen Tonfall bemüht.

»Es gibt Stämme, bei denen die Frauen das Sagen haben«, erklärte Pat. »Da kann das schon mal vorkommen.« Sie musterte Kerstins Gesicht erneut. »Habe ich dich schockiert? Tut mir leid, das wollte ich nicht.«

Kerstin hätte ohnehin nicht gewusst, was sie antworten sollte, aber sie wurde der Antwort glücklicherweise von ihrer Mutter enthoben.

»Ihr könntet euch mal nützlich machen! Kerstinschatz, wir brauchen Gläser. Kümmere dich doch mal in der Küche darum.« Damit wirbelte sie auch schon wieder an ihnen vorbei.

Kerstin hob die Augenbrauen und verzog das Gesicht. »Ich soll mich darum kümmern heißt: Ich soll Gläser spülen«, erklärte sie Pat. »Entschuldige mich bitte.« Sie drehte sich um und wollte in die Küche gehen.

»Ich kann dir helfen.« Pat war sofort neben ihr.

»Du bist Gast.« Kerstin schaute sie an. »Ich bin die Sklavin hier, als Tochter der Gastgeberin.«

Pat lachte. »Wir könnten die Gläser mit Sand spülen. So macht man das in Afrika. Was würde deine Mutter dazu sagen?«

Kerstin musste ebenfalls lachen. »Sie wäre zumindest erstaunt. Aber ich glaube, ich möchte das lieber nicht ausprobieren.«

»Nein, hier gibt es ja genug Wasser«, sagte Pat. Sie betraten die Küche. »In Afrika ist das anders.«

»Das klingt alles furchtbar interessant.« Kerstin seufzte und ging zum Geschirrspüler hinüber. Leider enthielt er nur eine kleine Anzahl gespülter Gläser, der Rest, offensichtlich benutzt, stapelte sich darauf. Sie nahm die wenigen sauberen Gläser heraus. »Ich bin noch nie auf einem anderen Kontinent gewesen. Susanne und du – ihr habt es wirklich gut.«

Pat nahm ein Glas und ein Handtuch und begann das Glas zu polieren. »Würde dich das denn reizen?«, fragte sie. »Ein anderer Kontinent?«

Kerstin nahm sich ebenfalls ein Handtuch und ein Glas und folgte Pats Beispiel. »Bisher habe ich noch nicht wirklich darüber nachgedacht«, erwiderte sie nachdenklich. »Ich meine, Susanne war zwar unterwegs, aber für mich war es schwer vorstellbar. Das Ganze, meine ich. Allein schon das Reisen. Für zwei Jahre nicht mehr nach Hause kommen.« Sie lachte leicht. »Nein, ich glaube nicht, dass das etwas für mich wäre.«

»Man sieht viel Fremdes.« Pat stellte das Glas beiseite und nahm das nächste. »Aber interessanterweise auch immer merkwürdig vertraute Dinge, die man gar nicht erwartet.« Sie schaute Kerstin an. »Aber das ist ja auch hier in Deutschland so.« Ihre Bemerkung schien eine tiefere Bedeutung zu haben, denn sie ließ Kerstins Blick nicht mehr los.

Kerstin wandte sich ab. »Ich werde die Gläser reinbringen«, sagte sie hastig. Sie stolperte fast, als sie die Küche mit den Gläsern verließ.

Draußen stellte sie die Gläser auf den Tisch und schenkte Sekt ein. Was ist nur mit mir los? dachte sie verwirrt. Nur weil Pat lesbisch ist? Ich suche keine Frau. Ich habe Andrea. Sie wartet zu Hause auf mich. Vielleicht wäre es das Beste, wenn sie Pat darüber aufklären würde. Solange sie Kerstin für alleinstehend hielt, konnte Kerstin ihr ihr Verhalten schließlich nicht verübeln.

Sie ging in die Küche zurück. Als sie sie betrat, sah sie Pat über den Geschirrspüler gebeugt Gläser einsortieren.

»Du musst das nicht machen.« Kerstin ging schnell zu ihr. »Meine Mutter wäre entsetzt, wenn sie wüsste, dass ich dich das tun lasse.« Sie nahm ein weiteres Glas und stellte es hinein. Dabei berührte sie zufällig Pats Hand – und erstarrte.

Pat ließ ihre Hand neben dem Glas liegen, zog sie nicht weg. Kerstin fühlte die Berührung wie einen Feuersturm, der auf sie zukam, sie erreicht hatte und dem sie nicht entrinnen konnte. »Ich . . . ich bin nicht single«, flüsterte sie. »Bitte . . .«

Pat richtete sich auf. Ihre Hände verloren den Kontakt. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ich habe niemand in deiner Begleitung gesehen. Ich befand mich wohl im Irrtum.«

»Ja.« Kerstin richtete sich ebenfalls auf, schloss den Geschirrspüler und stellte ihn an. »Das war ein Irrtum. Ich bin zwar allein hier, aber –«

»Das hätte mich auch gewundert«, sagte Pat. »Eine attraktive Frau wie du. Meine Sitten sind wohl etwas verroht durch die Zeit im Busch. Dort darf man nicht lange fackeln.«

Kerstin lächelte leicht. Sie fühlte sich wieder auf sicherem Boden. Jetzt wusste Pat Bescheid – und offensichtlich hielt sie sich daran. »Tut mir auch leid. Ich hätte dich nicht im Unklaren lassen sollen.«

»Na ja . . .« Pat zuckte die Schultern und lächelte. »So was passiert, wenn man sich zu schnell zu weit vorwagt.« Sie schaute Kerstin an. »Aber ich dachte, es ist das Risiko wert.«

Kerstin schluckte. »Bitte . . .«, sagte sie. »Bitte nicht . . .«

Pat legte eine Hand auf Kerstins Arm, wartete auf ihre Reaktion und zog sie zu sich heran, als sie keinen Widerstand spürte. Sie legte ihre Lippen leicht auf Kerstins und küsste sie sanft. »Ich bin eine Kriegerin, die bald wieder in den Busch muss«, flüsterte sie. »Ist es nicht üblich, die Krieger zum Abschied zu küssen?«

Kerstin fühlte, wie ihre Knie weich wurden. Pats Arm hinderte sie daran, in sich zusammenzusinken.

Erneut küsste sie Kerstin, diesmal drängender.

Kerstin wusste nicht, wie ihr geschah. Sie ließ Pats Zunge in ihren Mund eindringen, antwortete ihr.

Nach Ewigkeiten, wie es ihr schien, lösten sich ihre Münder voneinander.

»Danke«, sagte Pat leise. »Daran werde ich mich immer erinnern.« Sie hob eine Hand und streichelte Kerstins Wange, während sie ihr tief in die Augen sah. »Du bist wundervoll. Schade.« Sie ließ Kerstin los.

Kerstin wäre fast gefallen, als sie plötzlich den Halt durch Pats Arm verlor, aber sie stützte sich auf dem Geschirrspüler ab. »Das . . . das hätte ich nicht tun dürfen«, hauchte sie schwach.

»Du musst es ihm ja nicht erzählen«, sagte Pat, strich noch einmal zärtlich über ihre Wange, drehte sich um und ging.

Ihm? Kerstin blickte ihr nach. Ach ja, sie hatten gar nicht darüber gesprochen. Pat hatte ihr gesagt, dass sie auf Frauen stand, aber Kerstin hatte einfach angenommen . . . sie hatte reagiert, als wäre ihr das peinlich. Wie eine Heterofrau, die so tat, als wäre sie tolerant.

Schnell ging sie zur Tür hinüber und stieß sie auf, suchte nach Pats Gestalt.

Aber sie war verschwunden.

4

»Liebling? Wo bist du?« Kerstin betrat am Sonntagabend, nachdem sie von ihren Eltern zurückgefahren war, die Wohnung.

»Hier.« Andreas Stimme klang etwas entfernt zu ihr herüber.

Kerstin ging ins Wohnzimmer. Andrea saß im Sessel, mit dem Laptop auf dem Schoß. Im Hintergrund lief leise der Fernseher.

»War das dein Wochenende?«, fragte Kerstin und ging zu ihr.

»Hm.« Andrea nickte, mit mindestens einem Auge auf dem Computerbildschirm. »Am Montag muss ich die Tabellen fertighaben.«

Kerstin beugte sich zu ihr und gab ihr einen Kuss. Geschickt zog sie ihr den Laptop weg und stellte ihn auf den Boden.

»He!« Andrea blickte endlich zu ihr auf.

Kerstin schwang ein Bein über Andreas Schoß und setzte sich rittlings darauf. »Vergiss die Tabellen«, flüsterte sie. »Jetzt bin ich da.«

»Mhm . . . Liebling . . .« Andrea versuchte sich unter Kerstins Kuss zum Laptop hinzuwinden.

»Ich war das ganze Wochenende weg«, wisperte Kerstin rau an ihrem Mund. »Und alles, wofür du dich interessierst, sind deine Tabellen?« Sie knöpfte Andreas Bluse auf.

»Ich . . . ich bin noch nicht fertig . . .« Andreas Blick wanderte sehnsüchtig zu den blinkenden Zahlen auf dem Bildschirm.

Kerstin schob Andreas Bluse über ihre Schultern, griff an ihre Brüste.

Andrea stöhnte dumpf auf. »Ich . . . habe . . . keine Zeit«, keuchte sie abgerissen.

»Es geht ganz schnell«, flüsterte Kerstin. Sie beugte sich zu Andreas Brüsten hinunter. Da Wochenende war, trug Andrea keinen BH, und Kerstin konnte sich sofort der Brustwarzen bemächtigen.

Andrea versuchte sie wegzuschieben. »Liebling . . . bitte . . . ich kann nicht . . .«

Kerstin biss zärtlich in einen der hervorstehenden Kieselsteine, die im Gegensatz zu ihrer Besitzerin nicht behaupteten, sie hätten keine Zeit. Sie waren sehr entgegenkommend. »Liebling . . .«, wisperte Kerstin erregt. Sie begann sich auf Andreas Schoß zu bewegen. »Lass mich bitte nicht allein . . .«

Andrea gab – anders als sonst immer – auf. Vielleicht hatte sie Kerstin am Wochenende doch ein wenig vermisst. Sie legte ihre Arme um Kerstin und zog sie zu sich heran, vergrub ihr Gesicht in Kerstins weichen Brüsten, auch wenn sie im Gegensatz zu ihren eigenen immer noch mit Stoff bedeckt waren. »Es ist schön, dass du da bist«, flüsterte sie.

»Liebes . . .« Kerstin presste mit ihren Schenkeln Andreas zusammen, bewegte sich immer schneller, griff nach Andreas Gesicht und hob es zu sich an. Sie presste ihre Lippen auf Andreas, drang in ihren Mund ein, küsste sie wild und leidenschaftlich, während ihre Hüften vor und zurück stießen, als wäre Andrea in ihr.

Endlich stöhnte sie in Andreas Mund auf, keuchte, riss sich von ihr los und sank auf sie nieder.

»Schatz . . .« Andrea lachte leise, während sie beruhigend Kerstins Rücken streichelte. »Was ist denn mit dir los? So habe ich dich ja schon lange nicht mehr erlebt.«

Kerstin erholte sich langsam. Sie glitt über Andreas Knie vor sie auf den Teppich hinunter, griff an Andreas Hosenbund und wollte ihn öffnen.

»Nein.« Andrea hielt ihre Handgelenke fest. »Wirklich nicht. Danach bin ich zu nichts mehr zu gebrauchen, da drehen sich alle Zahlen in meinem Kopf. Das kann ich mir nicht leisten.«

»Andrea . . . Schatz . . . bitte . . .«, flehte Kerstin. »Ich will dich spüren . . .« Sie streichelte Andreas Schenkel sehnsüchtig.

»Nicht heute, Liebes.« Andrea blieb hart. »Ein andermal.«

Kerstin schloss kurz die Augen und senkte den Kopf. Dann hob sie ihn wieder und schaute Andrea an. Sie stützte sich auf ihre Knie und erhob sich. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ich wollte dich nicht von der Arbeit abhalten.«

Sie hauchte einen Kuss auf Andreas Lippen und ging in die Dusche.

5

Das Telefon klingelte. Eine gepflegte Hand nahm ab. »Kern.«

»Es tut mir leid, Liebling.« Kerstins Stimme klang zerknirscht. »Ich wollte dich nicht so unter Druck setzen.«

Andrea lächelte. »Es ist meine Schuld«, sagte sie, »und mir tut es leid.«

»Ich glaube, ich bin einfach etwas . . . durcheinander. Nach diesem Wochenende –« Kerstin brach ab, als hätte sie sich auf die Zunge gebissen.

»Was war denn am Wochenende?« Andrea runzelte die Stirn. »Du hast gar nichts erzählt.«

»Ach, nichts«, erwiderte Kerstin schnell. »Nur . . . Susanne . . . du weißt schon . . . wir sind zusammen aufgewachsen, aber sie lebt so völlig anders als ich, so viel . . . freier.«

»Würdest du gern durch die Welt reisen?«, fragte Andrea. »Wie Susanne?«

»Nein, ich –« Kerstin seufzte. »Eigentlich liegt mir das überhaupt nicht. Aber als Susanne jetzt zurückkam, die Feier, all die Leute, ihre Geschichten . . . man macht sich schon Gedanken.«

»Wir werden in Urlaub fahren«, versprach Andrea, »sobald hier mit der Beförderung alles geregelt ist. Bis dahin . . .«

»Ich weiß.« Kerstin seufzte erneut.

»Diesmal bestimmt«, sagte Andrea. »Wenn ich schon sonst nie Zeit für dich habe . . .« Sie holte tief Luft. »Ich weiß es sehr zu schätzen, dass du das akzeptierst.«

Ich akzeptiere es eigentlich nicht, dachte Kerstin. »Ich hoffe, nach deiner Beförderung wird es besser«, sagte sie.

»Das hoffe ich auch, aber –« Andrea runzelte die Stirn. »Du weißt, wie es ist.«

»Du meinst, es wird sich nichts ändern?«

»Ich werde mein Bestes tun«, erwiderte Andrea. »Das verspreche ich.«

»Und wenn dein Bestes nicht gut genug ist?«, fragte Kerstin.

»Kerstin . . . bitte . . .« Andrea klang genervt. »Ich kann es doch nicht erzwingen.«

»Nein, vermutlich kannst du das nicht.« Kerstin atmete durch. »Ich muss weitermachen. Rodenstock auf die Nerven fallen, so wie mir mein Chef ständig auf die Nerven fällt, weil die nicht liefern.«

»Ärgerlich«, sagte Andrea.

»Du sagst es.« Kerstin wartete, ob Andrea noch etwas hinzufügen würde, aber das tat sie nicht. »Dann bis . . . heute Abend«, beendete Kerstin das Gespräch. »Ich liebe dich.«

Andrea erwiderte nichts darauf, und Kerstin legte schnell auf, als sie das bemerkte. Sie versuchte sich innerlich zu beruhigen. Im Geschäft konnte sie nun wirklich nicht heulen.

Sie legte den Kopf auf die Lehne ihres Schreibtischstuhls zurück und schloss kurz die Augen. Was ist nur mit ihr los? fragte sie sich. Wieso fällt ihr das so schwer? Verlange ich denn wirklich zu viel von ihr?

Die Ladenklingel riss sie aus ihren Gedanken. Da ihr Chef in der Werkstatt war, stand sie auf und blickte über die Rezeptionstheke.

»Ich sehe, hier bin ich richtig.« Abenteuerlustig blitzende Augen strahlten sie an.

»Pat.« Kerstin fühlte sich leicht schwindelig.

Pat lächelte und kam auf den hohen Tresen zu. »Wie geht’s, schöne Frau?«

»Ähm . . .« Kerstin schluckte. »Ich sehe hier keine schöne Frau, aber falls du mich meinst, mir geht’s gut.«

Pat lachte. »Ein bisschen Koketterie schadet nie«, sagte sie. Sie beugte sich über den Tresen. »Schön ist noch untertrieben.« Sie flüsterte, und ihre Augen funkelten.

Kerstin musterte Pats Gesicht. »Du brauchst offensichtlich eine Brille«, sagte sie. »Ich hole schnell meinen Chef.« Sie wollte nach hinten gehen.

»Ich brauche keine Brille, ich sehe sehr gut.« Pats amüsierte Stimme hielt sie auf. »Ich bin deinetwegen hier.«

Kerstin drehte sich um. »Woher weißt du, dass ich hier arbeite?«

»Ach, das war nun wirklich nicht schwer rauszufinden«, entgegnete Pat selbstbewusst. »Deine ganze Familie weiß das. Ich brauchte nur Susanne zu fragen.«

»Und sie hat es dir einfach gesagt?« Kerstin kam zum Tresen zurück.

»Warum sollte sie nicht?« Pats Augenwinkel kräuselten sich belustigt. »Gäbe es dafür irgendeinen Grund?« Sie legte leicht den Kopf schief wie ein neugieriger Beo.

»Nein, natürlich nicht.« Kerstin senkte den Blick auf den Terminkalender hinter dem Tresen, als ob sie darin etwas suchte. Was sollte sie nur tun? Selbst durch den Tresen von ihr getrennt spürte sie Pats Anziehungskraft, das Kribbeln, das Prickeln, die Härchen, die sich aufstellten. Sie hob den Blick wieder. »Aber wenn du keine Brille brauchst, kann ich leider nichts für dich tun.«

Pats Mundwinkel zuckten. »Ich denke, doch«, sagte sie.

»Pat . . .« Kerstin schaute sie an. »Du solltest vergessen, was auf der Feier geschehen ist. Ich habe es längst.«

»Hast du?« Pat schmunzelte. »Ich erinnere mich gern daran.«

»Dann tu das, aber lass mich damit in Ruhe!« Kerstin drehte sich um und ging zu ihrem Schreibtisch zurück.

Doch so leicht ließ Pat sich nicht abwimmeln. Sie kam ihr nach. »Du würdest nicht so reagieren, wenn du es vergessen hättest«, bemerkte sie leise, während sie Kerstins abgewandtes Gesicht musterte.

Kerstin drehte sich verärgert zu ihr zurück. »Und wenn nicht?«, fragte sie aufgebracht. »Ich lebe in einer festen Beziehung. Wir haben darüber gesprochen, Kinder zu haben –«

»Was für ein glücklicher Mann . . .«, sagte Pat. »Ich beneide ihn.«

Erst jetzt erinnerte Kerstin sich daran, dass Pat dachte, sie wäre hetero. »Ich –«, setzte sie an, aber dann schloss sie ihren Mund wieder. Warum sollte sie es ihr sagen? Das würde die Sache nur unnötig komplizieren. So dachte Pat, sie hätte keine Chance bei ihr. »Ich werde es ihm sagen«, erwiderte sie kühl.

»Was tust du, wenn du keine Kinder planst?«, fragte Pat. »Gehst du mal mit mir Kaffee trinken?«

Kerstin schüttelte ungläubig lachend den Kopf. »Das ist ja wohl nicht dein Ernst.«

»Warum nicht? Was ist an Kaffee so schlimm?«

»An Kaffee nichts . . .« Kerstin schüttelte erneut den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Ich gehe nicht mit dir Kaffee trinken.«

Pat musterte Kerstins Gestalt ungeniert von oben bis unten. »Du siehst wirklich gut aus in einem Kostüm«, stellte sie fest. »Aber du siehst ja in allem gut aus. Die Hose, die du auf der Feier getragen hast, war auch nicht schlecht. Knackiger Po.« Sie lachte leicht.

»Du bist unverschämt.« Kerstin setzte sich, damit Pat ihren Po nicht mehr länger betrachten konnte. »Das ist ein ganz normales Bürokostüm von der Stange, sonst nichts.«

»Es kommt eben immer darauf an, was für eine Frau in dem Kostüm steckt«, schmunzelte Pat. Sie stützte sich auf Kerstins Schreibtisch ab und beugte sich zu ihr hinunter. »Und in diesem Fall ist das eine sehr reizvolle Frau.«

»Pat . . . bitte . . .« Kerstin verzog das Gesicht. »Muss ich es wiederholen? Ich lebe in einer Beziehung.«

»Die dich nicht daran gehindert hat, mich zu küssen«, sagte Pat.

»Das war ja wohl umgekehrt!« Kerstin blitzte sie an. »Ich hatte gar keine Chance!«

»Man hat immer eine Chance«, behauptete Pat und richtete sich auf. »Es hat dir gefallen, gib’s zu.«

»Das bildest du dir ein. Weil du es gern so hättest.« Kerstin schüttelte den Kopf. »Ich hatte es längst vergessen, wie ich schon sagte.«

»Dann muss ich deine Erinnerung wohl etwas auffrischen.« Pat beugte sich schnell herunter und küsste sie. »Na?«, fragte sie selbstbewusst lächelnd. »Was sagst du jetzt?«

Das Telefon klingelte. Kerstin griff automatisch danach und nahm es ab. »Oh, hallo Liebling.« Sie lächelte erfreut. »Schön, dass du anrufst.«

Pat betrachtete sie interessiert.

»Ich kann jetzt gerade nicht«, fuhr Kerstin fort. »Ich rufe dich dann gleich zurück, wenn ich –«, sie schaute Pat mit hochgezogenen Augenbrauen an, »das hier erledigt habe.« Sie legte auf.

»Dein Mann hat wohl Sehnsucht nach dir«, sagte Pat. »Kann ich verstehen.«

Kerstin stand auf. »Entschuldige bitte, aber ich arbeite hier. Ich kann nicht den ganzen Tag mit Reden vertrödeln. Zumal noch über Dinge, die . . . keinerlei Bedeutung haben.« Sie ging zum Regal und nahm einen Ordner heraus. »Ich wäre dir wirklich sehr dankbar, wenn du jetzt gehen und mich arbeiten lassen würdest.« Sie schlug den Ordner auf und ignorierte Pat.

»Ist gut. Ich gehe.« Pat begab sich zum Eingang. »Aber glaub nicht, dass du mir so einfach entkommst.« Sie lachte leise und ging begleitet vom Klingeln der Ladentür hinaus.

Kerstin stellte den Ordner zurück ins Regal, den sie zuvor willkürlich gegriffen hatte, und ging zu ihrem Schreibtisch zurück. Sie nahm das Telefon ab. »Es tut mir leid, Herr Jablonski«, sagte sie eine Minute später. »Ich habe Sie verwechselt.«

»Das habe ich gemerkt.« Der Rodenstockmitarbeiter lachte. »Leider.« Kerstin hörte ihn blättern. »Sie hatten sich wegen Auftrag A209344 erkundigt.«

»Ja«, sagte Kerstin. »Die Kundin wartet dringend auf die Brille.«

»Das ist in Bearbeitung«, erklärte Herr Jablonski. »Wir werden das wohl morgen an Sie versenden.«

»Gut«, sagte Kerstin. »Danke.«

»Ach, übrigens . . .«, fuhr er gutgelaunt fort. »Wenn Sie mich mal wieder verwechseln wollen, ich stehe gern zur Verfügung.«

Kerstin lachte leicht. »Tut mir leid, aber das wird wohl nicht so schnell wieder passieren.«

»Schade. Dann bis zum nächsten Mal.« Er legte auf.

Kerstin ließ den Hörer auf die Gabel sinken und zog ihre Hand langsam zurück.

Abwesend legte sie zwei Finger auf ihre Lippen.

Sie brannten immer noch von Pats Kuss.

6

Als Kerstin nach Hause kam, war es so wie meistens: Die Wohnung war leer, Andrea immer noch in der Firma. Schon seit mindestens einem Jahr war das der Normalzustand, oder einer von zwei Normalzuständen. Der andere war, dass Andrea zwar nach Hause kam, aber trotzdem nicht anwesend war. Jedenfalls nicht für private Dinge. Sie saß vor ihrem Computer und arbeitete bis spät in die Nacht, wenn Kerstin schon schlief.

Was ist nur passiert? dachte sie. Wir waren doch so glücklich.

Ja, am Anfang war sie sehr glücklich gewesen, Andrea gefunden zu haben. Mit Andrea konnte sie lachen und fühlte sich wohl und geborgen. Manchmal hatten sie verrückte Ideen, dann freuten sie sich wie Kinder und liebten sich danach zärtlich auf einer Wiese oder zu Hause in der Badewanne, bis das Wasser von ihrer Leidenschaft überschwappte.

Sie musste lächeln, und fast wurde sie rot, als sie in der Erinnerung die Bilder vor sich sah. Sehr schnell hatte sie gemerkt, dass Andrea die Frau war, mit der sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte. Und Andrea schien damit einverstanden zu sein.

Allerdings hatte Kerstin sich den Rest ihres Lebens damals etwas anders vorgestellt. Mit Andrea, nicht ohne sie. Mittlerweile kam sie sich vor wie eine jener vernachlässigten Ehefrauen, die sich stets über ihre Männer beklagten, weil die nichts als Arbeit im Sinn hatten.

Oder ihre blondgefärbte, vollbusige Sekretärin. Kerstin hatte nach einiger Zeit, in der Andrea abends immer so spät nach Hause kam, begonnen darüber nachzudenken, ob so etwas der Grund sein könnte. Andrea hatte keine Sekretärin, aber das hieß ja nicht, dass sie nicht eine Affäre haben konnte.

Zuerst lehnte Kerstin diesen Gedanken vollständig ab. Andrea war der ehrlichste Mensch, den sie kannte. Sie sagte, was sie meinte, und lügen hielt sie für eine Schwäche, hinter der sich nur Leute versteckten, die nicht anständig genug waren, zu dem zu stehen, was sie taten oder dachten.

Dem stimmte Kerstin durchaus zu, wenn sie auch nicht so hart geurteilt hätte wie Andrea. Aber andererseits – hatte sie selbst nicht auch gelogen, als sie Andrea nichts von Pat erzählte? Sicherlich, verschweigen war nicht dasselbe wie lügen, und mit Pat war nichts passiert, das –

War es das wirklich? fragte Kerstin sich plötzlich. War wirklich nichts passiert?

»Nein, natürlich nicht.« Sie sprach es laut aus. So klang es vielleicht glaubwürdiger. Aber es überzeugte sie trotzdem nicht ganz.

Zwei Küsse. Zwei Küsse, die sie mir aufgezwungen hat, dachte sie. Das ist gar nichts. Und ich habe es ja nicht gewollt. Ich habe ihr gesagt, dass ich es nicht will.

Gesagt ja, aber gefühlt? Sie wusste, dass da etwas gewesen war, das sie nicht kontrollieren konnte. Eine Sehnsucht, die Pat erfüllte, weil Andrea es nicht mehr tat.

Wenn Pat sie ansah, wenn Pat mir ihr flirtete, wenn Pat sie küsste, fühlte sie sich wieder begehrt. Dieses Gefühl hatte sie bei Andrea schon lange nicht mehr gehabt. Oftmals kam sie sich eher vor wie ein Möbelstück, das Andrea gar nicht mehr wahrnahm. Zärtlichkeit und Leidenschaft empfand man für ein Möbelstück sicher nicht, und war es nicht genauso mit ihr, Kerstin? Andrea schien vergessen zu haben, was diese beiden Worte bedeuteten. Ganz zu schweigen davon, dass sie es wie früher in ihrer Beziehung auslebten.

Kerstin seufzte. Wie gern hatte sie sich an Andrea geschmiegt, weich in ihrem Arm gelegen und sich von Andreas Stärke beschützt gefühlt. Damals hatte sie gemeint, das wäre ihre Zukunft.

Aber leider war es nicht so gekommen. Andrea setzte ihre Stärken jetzt hauptsächlich für ihren Beruf ein. Oder eigentlich sogar ausschließlich. Gemütliche Abende auf dem Sofa gab es kaum mehr, und wenn, hatte Andrea ihren Laptop auf dem Schoß. Da blieb kein Platz mehr für Kerstin. Vom Bett ganz zu schweigen.

Ja, sie wusste, dass eine Beziehung nicht nur aus Sex und Leidenschaft bestand, aber ab und zu einmal wenigstens ein bisschen Zärtlichkeit? War das denn zu viel verlangt? Mehr wollte sie ja gar nicht.

Oder war Andreas Zurückhaltung vielleicht doch die Folge davon, dass sie Kerstin betrog? Sie einfach zu müde war, Leidenschaft für Kerstin aufzubringen, weil sie sie schon mit einer anderen Frau ausgelebt hatte?

Mittlerweile dachte Kerstin, dass diese Möglichkeit vielleicht doch nicht so ganz auszuschließen war. Früher war Andrea nicht so desinteressiert an Sex gewesen. Es hatte ihr immer gefallen, wenn Kerstin sie verführte, und sie verführte Kerstin ebenso gern. Sie hatten viel Spaß miteinander gehabt.

Spaß. Konnte Andrea dieses Wort heute überhaupt noch buchstabieren? Oftmals sah sie so abgespannt aus, dass Kerstin das ernsthaft bezweifelte.

Aber wenn Kerstin sie dann auf Erholung ansprach, oder gar auf Urlaub, lehnte Andrea rundweg ab. Sie hatte keine Zeit, sie konnte ihre Arbeit nicht so lange alleinlassen, die Beförderung . . . Kerstin kannte alle Argumente schon auswendig.

Nicht dass Kerstin in ihrem Beruf nicht ehrgeizig war. Sie hatte sich immer bemüht, gute Arbeit zu leisten. Ihr Chef war mehr als zufrieden mit ihr. Eine Beförderung stand nicht in Aussicht, denn es gab keine Position, auf die sie hätte befördert werden können. Aber das störte sie nicht. Sie war zufrieden mit dem, was sie hatte. Beruflich ging es ihr gut.

Beruflich. Aber privat? Zufrieden sah anders aus. Und glücklich? Zu zweit allein. Früher hatte sie das für das Paradies gehalten. Aber da hatte sie nicht gewusst, dass bei diesen drei Worten ALLEIN so groß geschrieben werden konnte.

Sie weigerte sich zu akzeptieren, dass das das Ende war. Das Ende ihres Lebens, das Ende ihrer Träume. Es musste doch eine Lösung geben. Das konnte nicht alles gewesen sein.

Sie liebte Andrea. Immer noch. Andrea war einmal die Frau ihrer Träume gewesen, und sie konnte es wieder werden, davon war Kerstin fest überzeugt. Nur hatte sie im Moment keine Ahnung, wie sie das bewerkstelligen sollte. Andrea war so verschlossen, so einsilbig, sie wechselte kaum noch ein Wort mit Kerstin. Kein Wunder, sie sahen sich ja kaum.

Sie merkte, dass sie sich damit schon fast abgefunden hatte, doch da war Pat aufgetaucht. Pat. Kein Mensch konnte so verschieden von Andrea sein wie sie. Wo Andrea bodenständig war, war Pat leichtfertig. Wo Andrea ehrgeizig und arbeitsam war, lebte Pat in den Tag hinein. Wo Andrea ernst vor sich hin blickte, lachte Pat alle Sorgen hinweg, sofern sie überhaupt welche hatte.

Und während Kerstin manchmal das Gefühl beschlich, dass Andrea sich von ihren Annäherungsversuchen geradezu belästigt fühlte, zog Pat sie mit ihren Augen aus und gab ihr das Gefühl, eine begehrenswerte Frau zu sein. Versuchte ihre Aufmerksamkeit zu erregen und ihr bei jeder Gelegenheit einen Kuss zu rauben.

Kerstin musste lächeln. Sie hatte nie in Frage gestellt, dass Treue einer der wichtigsten Grundpfeiler einer Beziehung war. Andrea zu betrügen wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Aber wie definierte man untreu? War Andrea ihr treu? Jetzt mal angenommen, sie hatte keine Affäre. Betrog sie Kerstin nicht tagtäglich mit ihrer Arbeit? Musste es immer ein Mensch sein?

»Nein. Nein, das kann man so nicht sagen.« Kerstin schüttelte den Kopf. Das war ja wirklich absurd.

Und trotzdem hatte sie das Gefühl, ein Körnchen Wahrheit steckte darin.

Wofür hätte Andrea sich entschieden, wenn Kerstin sie vor die Wahl gestellt hätte? Konnte Kerstin sich da ganz sicher sein?

7

»Guten Morgen, schöne Frau.«

Kerstin zuckte beim Klang der Stimme zusammen, fing sich aber schnell wieder und drehte sich auf dem Bürgersteig um. »Findest du dich nicht selbst ein bisschen einfallslos? Immer dieselbe Anmache?« Sie hob spöttisch die Augenbrauen.

Pat grinste, während sie Kerstins Gestalt musterte. Genauso, wie Kerstin es in Erinnerung hatte: von oben bis unten und mit einem Blick, als ob sie nackt vor ihr stände. »Erstens hat sich an den Tatsachen nichts geändert, und zweitens ist es keine Anmache. Wir kennen uns schließlich schon.«

»Ach ja?« Kerstin verzog einen Mundwinkel. »Was man auch immer unter Kennen versteht . . .«

Pat ging nicht darauf ein. »Einkaufen am Samstagmorgen?«, fragte sie. »Wo ist dein Mann?« Sie ließ ihren Blick die Straße hinunterschweifen, die Kerstin gerade heraufgekommen war.

Wieder einmal stand Kerstin vor der Wahl, den Irrtum aufzuklären, und wieder einmal tat sie es nicht. »Zu Hause«, sagte sie.

»Männer gehen nicht gern einkaufen, hm?«, fragte Pat lachend.

»Kann schon sein.« Kerstin ging weiter. Sie zwang sich, langsam zu gehen, obwohl sie das Bedürfnis hatte, so schnell wie möglich wegzurennen. Sie wusste, sie wollte vor dem Gefühl davonlaufen, das Pat erneut in ihr auslöste. Pat richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf sie, und Pat wollte nichts anderes als ihre, Kerstins, Aufmerksamkeit zu erregen. Kerstin konnte nicht abstreiten, dass ihr das gefiel. Endlich einmal wieder im Mittelpunkt zu stehen, als ob es in Pats Augen nichts auf der Welt gäbe als Kerstin.

»Darf ich dich begleiten?« Pat ließ sich natürlich nicht so einfach abhängen. »Ich könnte deine Pakete tragen.« Sie lachte erneut.

Oh, es war so schön, jemand einfach so lachen zu hören. Ohne Anlass, ohne Grund, einfach nur, weil das Leben schön war und unbeschwert. »So viele Pakete werden es wohl nicht werden«, sagte Kerstin.

»Nur leichte Dessous?« Pat hob grinsend die Augenbrauen. »Auch nett.«

»Du wieder.« Gegen ihren Willen musste Kerstin schmunzeln. Sie konnte es gar nicht verhindern. Andrea hatte nicht einmal bemerkt, dass Kerstin einkaufen gegangen war – Kerstin hatte es sich schon lange abgewöhnt zu fragen, ob Andrea mitkommen wollte –, und ganz sicher hätte sie niemals angenommen, Kerstin ginge in einen Dessousladen. Wenn sie überhaupt darüber nachdachte. »Ich bin eher auf dem Weg zu Karotten und Sellerie.«

Pat ließ ihren Blick zu Kerstins Hüften gleiten. »So ein Karottenröckchen gewährt bestimmt auch interessante Einblicke.«

Sie hätte Pat fortschicken sollen. Sie hätte ihr eindeutig signalisieren sollen, dass sie kein Interesse hatte und keine Begleitung brauchte – jedenfalls nicht von Pat. Aber Pats Gegenwart hob Kerstins Laune, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Und dieses Gefühl war einfach zu angenehm, um es gleich wieder zu verlieren. »Hast du schon mal davon gehört, dass man Karotten auch essen kann?«, fragte sie fast schon etwas übermütig.

»Oh. Ja. Ja, stimmt. Da war doch was . . .« Pat legte gespielt nachdenklich eine Hand ans Kinn.

Kerstin musste lachen. »Mein Einkauf ist bestimmt nicht interessant für dich«, sagte sie. »Und auch danach gehe ich in kein Dessousgeschäft. Du musst dir wohl eine andere Freizeitbeschäftigung suchen für heute Morgen.« In dem Moment, als sie es aussprach, bemerkte sie, dass sie, statt darauf zu hoffen, überraschenderweise fürchtete, dass Pat eventuell darauf eingehen würde. Dass ihr ein Einkauf mit Kerstin zu langweilig war. Wieso tat sie das? Musste sie nicht eigentlich froh sein, wenn Pat sie in Ruhe ließ?

Aber Pat dachte gar nicht daran. »Vielleicht kann ich dich ja noch dazu überreden«, erwiderte sie gut gelaunt. »Zu dem Dessousgeschäft, meine ich. Und solange trage ich deine Karotten.«

»Das muss wirklich nicht sein«, bemerkte Kerstin amüsiert. »Das kann ich schon allein.«

»Was hast du denn geplant?«, fragte Pat. »Ein romantisches Candlelight-Dinner für heute Abend?«

Kerstins gute Laune verflüchtigte sich mit einem Schlag. Selbst wenn sie so etwas geplant hätte, würde sie dann wohl allein vor den Kerzen sitzen. Andrea wäre längst wieder in ihrem Arbeitszimmer verschwunden, vielleicht sogar direkt mit ihrem Teller. »Nein«, sagte sie. »Nichts dergleichen. Nur ganz langweilige Hausmannskost.«

»Ich glaube nicht, dass Hausmannskost bei dir langweilig ist«, behauptete Pat, und ihre Blicke strichen wieder über Kerstins Körper, als wollten sie sie ausziehen.

Kerstin fühlte, wie ihre Brustwarzen sich aufrichteten. Pats Blicke reichten aus, sie zu erregen? Das konnte ja wohl nicht wahr sein! Sie musste dem hier unbedingt ein Ende machen. Sie blieb stehen und versuchte eine ernste Miene aufzusetzen, so abschreckend wie möglich. »Du gehst jetzt besser. Ich wiederhole mich nicht noch einmal und sage dir, dass das aussichtslos ist, was du da tust.«

Nicht dass so eine Aussage Pat beeindruckt hätte. »Ich tue doch gar nichts«, behauptete sie grinsend. »Einer schönen Frau Komplimente zu machen ist wirklich keine Mühe.«

Oh mein Gott, ich kann nicht. Kerstin fühlte eine Art von Verzweiflung in sich aufkommen, die Angst vor einer Schwäche, die sie nicht beherrschen konnte. Nicht nur, dass sie es genoss, so von Pat umworben zu werden, sie fühlte fast schon ihre Hände auf sich.

»Pat.« Sie atmete tief durch. Beherrschung. Denk an deine Einkaufsliste. »Sieh es doch ein. Das hat gar keinen Sinn.« Ihre eigene Stimme klang wenig überzeugend in ihren Ohren.

Aber Pat schien ihr zu glauben. »Dein Mann muss ja ein toller Hecht sein«, sagte sie. »Wenn dich noch nicht einmal ein harmloser Flirt reizt.«

Ein harmloser Flirt würde mich vielleicht reizen, dachte Kerstin. Aber du bist nicht harmlos. »Tu, was du willst«, sagte sie und ging weiter. »Ich kann dich sowieso nicht daran hindern.«

Pat schlenderte eine Weile neben ihr her und sagte nichts mehr. Dennoch spürte Kerstin ihre Blicke auf sich, ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Ich halte das nicht aus! dachte sie. Was erwartet sie? Dass ich mich ihr in der Gemüseabteilung hingebe?

Sie steuerte das Kaufhaus an, in dem sie einkaufen wollte, und kaum hatte sie die Richtung mit einer Drehung ihres Körpers angezeigt, sprintete Pat schon los und hielt ihr die Tür auf. Kerstin wäre fast stehen geblieben, weil sie sich üblicherweise selbst die Tür öffnete und der Ablauf in ihr Gehirn einprogrammiert war. Doch dann ging sie an Pat vorbei, ohne ein Wort zu sagen, nicht einmal »Danke«. Sie hatte das Gefühl, schon das würde Pat zu weiteren Komplimenten ermutigen – oder zu mehr.

Sie fuhren mit der Rolltreppe in die Lebensmittelabteilung hinunter, immer noch wortlos. Pat hatte ihre verbalen Attacken vorübergehend eingestellt. Eigentlich hatte Kerstin auch noch eine Bluse kaufen wollen oder ein paar andere Kleinigkeiten, aber darauf verzichtete sie heute wohl lieber. Selbst wenn sie Pat vor der Umkleidekabine stehen ließ, konnte sie ihre Phantasie dadurch nicht stoppen. Sie würde sich ausmalen, wie Kerstin sich in der Kabine auszog, und Kerstin würde es an ihrem Gesicht sehen, wenn sie herauskam. Das Grinsen konnte sie sich jetzt schon vorstellen.

Und das Schlimmste daran war: Sie wollte Pat gar nicht vor der Kabine stehen lassen.

Du bist verrückt, schimpfte sie sich selbst aus. Sie sucht nur ein Abenteuer. So wie all die anderen Abenteuer, die sie schon erlebt hat. Sie braucht den Nervenkitzel, den Reiz des Neuen, der Eroberung.

Und ich? fuhr sie gleich darauf in Gedanken fort. Würde ich mich nicht gern einmal wieder erobern lassen? Sie warf kurz einen Blick auf Pat, als sie nebeneinander die Rolltreppe am unteren Ende verließen. Pat war wirklich eine aufregende Mischung. Sie hatte dieses Blitzen in den Augen, das Gefahr verhieß, und gleichzeitig konnte Kerstin sich vorstellen, dass sie zu einer Frau sehr sanft sein konnte, zärtlich wie ein Tiger mit samtenem Fell, der die Krallen einzog, um das Raubtier in sich zu beherrschen.

So ein Unsinn! Sie ist kein Schmusekätzchen, und das wird sie auch nie sein!