Die Abschiebung - Klaus-Peter Wolf - E-Book

Die Abschiebung E-Book

Klaus-Peter Wolf

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Beschreibung

Als die achtzehnjährige Elke ihren Eltern erklärt: »Ich habe einen Kurden geheiratet, damit er nicht in die Türkei abgeschoben wird«, sind die Eltern entsetzt. Der Vater will die Ehe annullieren lassen. Doch dann lernt er Mahmut kennen und mit ihm die gängigen Abschiebepraktiken der Behörden. Sein Gerechtigkeitssinn erwacht ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 201

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Klaus-Peter Wolf

Die Abschiebung

Jugendroman

FISCHER Digital

Inhalt

Die Handlung des Buches [...]1234567891011121314151617181920212223242526272829303132333435363738

Die Handlung des Buches spielt in den 80er Jahren – doch sie hat nichts von ihrer Aktualität eingebüßt.

1

Jetzt, da alles vorbei war, hätte sie es am liebsten herausgeschrien: »Ja, ich habe es getan! Ich, Elke Stobbe!«

Verflogen war die erniedrigende Angst, entdeckt zu werden. Keine miese Geheimhaltung mehr. Kein Sprechen hinter vorgehaltener Hand. Keine Furcht vor Verrat. Kein Flüstern am Telefon.

Mit einem Mal waren alle Befürchtungen und Einschränkungen verschwunden. Sie fühlte sich großartig. Übermütig und durchtrieben. Befreit von einem unerträglichen Druck. Dämme in ihr waren gebrochen. Wellen bedenkenloser Leichtigkeit durchfluteten sie. Sie konnte jetzt fröhlich mit dem Schlimmsten rechnen, denn das Schlimmste, was immer es sein mochte, machte ihr nichts mehr aus.

Seitdem sie es getan hatte, ging sie leichtfüßiger. Die Straße wurde für sie zum Trampolin. Gern hätte sie eine Kaugummiblase vor dem Mund zerplatzen lassen.

Die Leuchtreklame vom Flipperladen spiegelte sich vor ihr in einer Pfütze. Der Regen hatte nachgelassen. Frische Feuchtigkeit glänzte auf den Dächern. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie viele unterschiedliche Schwarztöne es gab. Die wenigen Bäume hoben sich dunkel von den Häuserfassaden ab. Das silberne Schwarz der Dächer und das bläuliche Schwarz des Himmels.

Elke Stobbe stand, den Kopf in den Nacken gelegt, vor der Boutique Marion und atmete so bewusst wie möglich. Selbst in die entferntesten Verästelungen ihrer Lungenbläschen wollte sie Sauerstoff pumpen. Gern hätte sie den Sternenhimmel in sich aufgesaugt. Vom Mond sah sie nur eine kleine Sichel, die sie an die türkische Flagge erinnerte. Sie breitete ihre Arme aus, die Handflächen nach oben. Für Sekunden glaubte sie, abheben zu können. Ohne die geringste Kraftanstrengung hinaufzuschweben. Leichter zu werden als Luft. Die Stadt unter sich zurückzulassen. Eins zu werden mit dem Universum.

Vielleicht lag es am Raki? Sie spürte den Anisgeschmack bei jedem Einatmen. Noch brannten ihre Lippen von dem scharf gewürzten Hammelfleisch.

Ein Auto rollte auf sie zu. Sie hörte das Surren der Reifen auf der nassen Fahrbahn. Kleine Wasserfontänen klatschten gegen den Bürgersteig. Ein Motorengeräusch nahm sie nicht wahr.

»Na, Mädchen, bist du Schlafwandlerin oder voll gekifft?« Schlagartig wurde ihr bewusst, in welch merkwürdiger Pose sie dastand. Noch vor ein paar Stunden hätte sie sich jetzt ängstlich weggestohlen. Fast jeden zweiten Abend, wenn sie zu Fuß nach Hause ging, wurde sie von irgendwelchen Männern angemacht. Wenn das aus einem Auto heraus passierte, nutzte es nichts, schneller zu laufen. Aber sie ging dann so dicht wie möglich an der Häuserzeile entlang. Eine Klassenkameradin von ihr war einmal in ein langsam fahrendes Auto gezerrt worden. Mitten in der Stadt. Es waren drei junge Männer. Sie hatten sie eine Weile befummelt, versucht sie auszuziehen und dann wieder freigelassen. Sie hatte noch Glück gehabt.

Elke drehte sich ohne jede Eile um, stemmte die Fäuste in die Hüften und blickte dem Fahrer ins Gesicht. Er lehnte sich lässig aus dem heruntergekurbelten Fenster. Er grinste breit übers ganze Gesicht.

»Du bist ja ganz nass, Schwester. Komm, steig ein. Ich lade dich zu einem Grog ein.«

Sie verstand nicht viel von Autos, aber sie wusste, dass der Kerl in einem BMW saß. Er war höchstens zwanzig.

»Ich habe heute schon bessere Angebote bekommen«, sagte sie.

Mit einem ersten leichten Widerstand hatte er durchaus gerechnet. Deswegen gab er nicht auf.

»Na komm schon. Wenn wir uns beeilen, können wir noch die Spätvorstellung im Autokino sehen.«

»Ach, weißt du, ich würde ja eigentlich ganz gerne …« Sein Grinsen wurde noch unverschämter. »… Aber was wird dein Papi sagen, wenn du so spät nach Hause kommst? Der wird sich bestimmt Sorgen machen. Jetzt hat er dir schon mal seinen Wagen geliehen, da musst du ihn nicht sofort enttäuschen.« Entgeistert sah er sie an. Seine Augen wurden kleiner. Sein Blick drohend.

Elke stampfte mit dem Fuß auf.

»Los, Junge! Jetzt hau ab. Ich hab den grünen Gürtel im Judo, und wenn ich nicht sofort deine Rücklichter sehe, knote ich dich ums Lenkrad.«

Er kurbelte tatsächlich die Scheibe hoch, zeigte ihr doof und gab Gas.

Sie hüpfte vor Freude in die Luft. Sie fand sich einfach toll. Sie hatte keine Angst mehr. Sie war plötzlich schlagfertig. Sie hatte gewonnen. Zum ersten Mal wirklich aus eigener Kraft gewonnen.

So schnell konnte sich ein Mensch verändern.

Es ist, dachte sie, wie bei einer Champagnerflasche. Jahrelang liegt sie ruhig im Keller. Sie staubt voll, und niemand beachtet sie. Doch wenn jemand kommt und ihr hilft, den Korken auszuspucken, dann knallt es plötzlich, und aus der Flasche schäumt der berauschende Saft.

Sie lachte über den Gedanken, fand ihn amüsant, wollte ihn anderen mitteilen.

Ja, sie war eine Champagnerflasche. Der Korken knallte gerade erst heraus. Nun würde sie ihren kostbaren Saft über diese Welt ergießen.

Wie philosophisch ich sein kann, dachte sie und freute sich auf das Gesicht ihres Philosophielehrers. Der würde Augen machen. Gleich morgen in der zweiten Stunde …

Sie tänzelte weiter in Richtung Stadtpark. Sonst benutzte sie immer einen anderen Nachhauseweg. Wenn es dunkel war, traute sie sich nicht durch die Parkstraße. Nun ging sie absichtlich dorthin.

Im Schaufenster einer Apotheke sah sie sich selbst beim Laufen zu. Ihre Bewegungen waren spielerisch. Die Füße berührten beim Gehen kaum den Boden. Die Jeans klebten eng an den Beinen. Die blonden Haare hingen in langen Strähnen herab. Sie warf sie nach hinten.

»Du bist hübsch. Hast eine astreine Figur!«, sagte sie zu sich selber.

Am Ende der Straße beschloss sie, in eine Eckkneipe zu gehen. Früher war sie nur in Kneipen gegangen, wenn dort jemand auf sie wartete oder sie mit mehreren aus ihrer Klasse im Rudel gehen konnte.

Jetzt fand sie das plötzlich albern.

Sie spürte die Blicke der Männer. Sie genoss die Aufmerksamkeit. Noch warteten die meisten unsicher. Vielleicht parkte ihr Freund nur den Wagen ein und kam dann nach? Vielleicht wäre sie ungeschoren davongekommen, wenn sie sich still in eine Ecke gesetzt hätte, um eine Limonade zu trinken und dann wieder zu verschwinden? Aber sie stellte sich an den Tresen.

»Asbach-Cola bitte.«

Der dickbauchige Wirt nickte.

Es hockten knapp ein Dutzend Leute in der Kneipe. Vier saßen an einem Tisch und spielten Karten. Drei schielten noch zu Elke rüber. Der Vierte moserte schon, weil er weiterspielen wollte. Außer Elke befand sich nur noch eine Frau in dem Raum. Sie hatte ein altes, verlebtes Gesicht. Sie saß am Ende der Theke mit dem Rücken zu den Toiletten. Vor ihr stand ein halb volles Bierglas und ein leeres Schnapsglas. Im Aschenbecher schwelte eine Zigarette.

Der Mann neben ihr wirkte schmuddelig. Mürrisch und unausgeschlafen. Die Frau redete mit langen, schleppenden Sätzen auf ihn ein und spielte dabei mit der rechten Hand an seinem Bauch herum. Manchmal berührte sie wie unabsichtlich seinen Reißverschluss.

Elke sah in die entgegengesetzte Richtung. Das Verhalten der beiden machte sie sauer. Nahm ihr die gute Laune. Zog sie runter. Sie bekam ihre Asbach-Cola. Die kleinen braunen Bläschen sprudelten über den Rand des Glases hinaus. Sie hielt das Glas nahe an ihr Ohr und hörte dem leisen Rauschen und Zischen zu, bevor sie trank.

Da stand schon jemand neben ihr. Mitte dreißig. Kurze schwarze Haare. Kleine runde Augen. Ziemlich angesoffen. Er war von einer ruhigen, selbstsicheren Härte. Er würde sich keine Blöße geben. Großzügig hielt er ihr eine Zigarette hin und raunte, als ob er von einem vergrabenen Schatz reden würde: »Zigarette?«

Elke schüttelte den Kopf. »Nein, danke.«

Er nickte ein bisschen beleidigt. Aber immerhin, es war ja möglich, dass sie Nichtraucherin war. Junge Mädchen, die allein spätabends in Kneipen gingen und Asbach-Cola bestellten, konnte sich kaum jemand als Nichtraucherin vorstellen. Bevor er es noch einmal versuchte, sah er sie abschätzend an, drückte seine eigene Zigarette in den Aschenbecher und bestellte sich ein neues Bier.

»Na, so allein?«

Elke antwortete nicht. Sie nippte erneut an ihrem Getränk. Leider musste sie feststellen, dass sie jetzt doch Herzklopfen bekam.

Warum stand sie hier? Was wollte sie sich damit beweisen? Der Kerl rückte näher heran. Warum bezahlte sie nicht und ging?

Das war einmal, dachte sie. Die Zeiten sind vorbei. Endgültig. Besser zehn Kraftproben am Tag als ständig lieb, brav, angepasst und ängstlich.

»Ich glaub, der kommt nicht mehr, Mädchen. Auf den brauchst du nicht länger zu warten. Der lässt dich sitzen.« Sie sah ihn fest an und sagte laut und deutlich, damit es auch alle anderen Leute in der Kneipe hören konnten: »Ich warte auf niemanden. Ich bin nicht verabredet.«

Er grinste.

»Brauchst dich doch nicht schämen, weil dich mal einer sitzen lässt. Also, wenn du meine wärst, ich würde …«

»Bin ich aber nicht!«

»Ich würde dich nicht sitzen lassen. Das kannst du mir aber glauben.«

Schon versuchte er, den Arm um sie zu legen. Sie wich ihm aus. Er zog sie mit sanfter Gewalt an sich. Er rechnete nicht mit viel Widerstand. Er wollte sie trösten. Schließlich hatte sie einer sitzen lassen, und solche Mädchen waren leicht zu haben. »Möchtest du ein Likörchen?«

Stumm kämpfte sie gegen seinen Arm und die aufdringliche Hand. Alle Anwesenden beobachteten die Szene interessiert. Auch der Wirt. Niemand griff ein. Alle warteten gespannt ab. Er versuchte, sie zu küssen. Angeekelt stieß sie ihn zurück und keifte: »Wer Raucher küsst, trinkt auch Rheinwasser!« Damit hatte sie die Lacher auf ihrer Seite. Sie prusteten alle gleichzeitig los.

Der Typ neben Elke bekam einen roten Kopf. Jetzt war er der Blamierte. Um die Situation zu überbrücken, lachte er mit. Doch Elke wusste, dass dieser Sieg nur von kurzer Dauer sein konnte. Der würde jetzt nicht aufgeben. Im Gegenteil. Er musste versuchen, die Schlappe wieder auszumerzen.

Elke wollte als Siegerin dastehen. Sie trank ihre Cola aus, stellte das Glas auf die Theke und sagte laut: »Danke für die Einladung.«

Dann verließ sie unter dem ausgelassenen Gebrüll der Gäste mit eiligen Schritten die Kneipe. Auch auf der Straße verlangsamte sie ihre Schritte noch nicht. Sie musste Abstand gewinnen. Es war nicht auszuschließen, dass der Typ gleich wutentbrannt hinter ihr hergelaufen kam. Wenn das dein neuer Lebensstil wird, dachte sie, dann solltest du wirklich mal einen Judokurs belegen …

2

Eva Stobbes dunkelroter Frotteebademantel rutschte auseinander. Sie klemmte die Weinflasche zwischen die Beine und entkorkte sie mit einem Ruck. Ihr Mann Harald stellte sich dabei immer so ungeschickt an, dass es ihr in Gesellschaft peinlich war, wenn er eine Flasche öffnen musste. Sie hatte schon die merkwürdigsten Modelle von Korkenziehern gekauft. Sogar welche, die mit Druckluft arbeiteten. Harald hantierte damit so tölpelhaft, dass sie es aufgab. Irgendwie war es ihr immer gegen den Strich gegangen, Weinflaschen zu öffnen. Sie fand, das sei seine Arbeit. Aber da sie es nun einmal besser konnte, machte sie es.

Sie benutzte dabei einen ganz simplen Korkenzieher mit Holzgriff und Schraube.

Sie mochte den Ton, mit dem der Korken aus der Flasche sprang. Blopp.

Harald kam mit zwei langstieligen Gläsern aus der Küche. Er stellte sie auf den Rand des Schachtisches. So, dass sie das Spielfeld nicht berührten. Dann ließ er sich in den schweren Ledersessel fallen. Sie hatten lange für diese wuchtigen Möbel gespart. Wie oft träumten sie gemeinsam davon, wie sie ihr Haus einrichten wollten, wenn sie mal im Lotto … Sie mussten erst eine Ledergarnitur besitzen, um zu erkennen, wie ungemütlich und kalt diese Möbelstücke waren. Harald Stobbe stopfte sich sorgfältig eine Pfeife mit hellem Virginiatabak.

Er rauchte nicht viel. Abends, beim Schachspielen mit seiner Frau, eine Pfeifenfüllung. Mehr nicht. Tagsüber rauchte er nie. Er besaß drei Tabakpfeifen und benutzte für jede eine andere Tabakmischung. Aus der Pflege der Pfeifen und dem Stopfen machte er ein Ritual, das vermutlich wichtiger für ihn war als der eigentliche Rauchvorgang.

Eva goss die Gläser voll. Sie prosteten sich zu und probierten. Beide versuchten, mit Kennermiene den Wein zu kauen, doch sie wussten voneinander, dass sie nichts von Weinen verstanden. Sie tranken fast jeden Abend eine Flasche zusammen. Aber keiner konnte am Geschmack die Anbaugebiete auch nur annähernd erkennen.

Eva drehte die Flasche in der Hand und las vom Etikett ab. »Bad Bergzaberner Kloster Liebfrauenberg. Ein Auslesewein aus Rheinpfalz. 76er.«

Er nickte anerkennend. »Vollmundig.«

»Mir ein bisschen zu süß.«

»Spielen wir?«

»Hm. Gern. Ich mache mir Sorgen um Elke. Sie bleibt in letzter Zeit lange weg. Vor elf, zwölf Uhr ist sie nie zu Hause.«

»Aber Eva, sie ist achtzehn! Denk mal an deine Jugend.«

Sie nippte an ihrem Glas.

»Trotzdem.«

Harald Stobbe eröffnete, indem er den Königsbauern zwei Felder vorrückte. Seine Frau erwiderte mit einem Pferd.

Wenn sie Schach spielten, dann kam es weniger darauf an, zu siegen oder brillante Züge zu machen. Auch beim Spielen war das Ritual wichtiger. Sie saßen sich ruhig gegenüber und ließen sich Zeit. Nichts drängte sie. Zwischen den Zügen lagen oft lange Pausen. Sie redeten wenig und nur mit gedämpfter Stimme miteinander. Wenn sie sich trotzdem plötzlich auf ein interessantes Thema zu bewegten, unterbrachen sie das Spiel für eine halbe oder eine ganze Stunde und diskutierten die Sache aus. Elke musste diese Zweisamkeit ihrer Eltern akzeptieren. Sie störte sie nie beim Schach.

Es ging ihr manchmal ganz schön auf die Nerven, dass sie so selten fortgingen, zwar eine Videoanlage besaßen, aber fast nie fernsahen und so leise beim Schach sprachen, als ob sie große Geheimnisse hätten. Aber immer noch besser als Eltern, die sich dauernd anschreien, dachte Elke. So kannte sie es von den meisten Familien der Klassenkameraden.

Als Elke ziemlich durchnässt die Wohnung betrat, überlegte ihre Mutter gerade, ob sie eine neue Gardine für das große Wohnzimmerfenster häkeln sollte. Sie hatte schöne Motive in einer Illustrierten gesehen. Der Vater blickte gedankenverloren auf das Schachbrett und sog an seiner Pfeife.

Elke zog die Schuhe im Korridor aus und hängte die nasse Jeansjacke über einen Bügel. Die weiße Bluse darunter war blau verfärbt.

Sie begrüßte ihre Eltern mit einem flüchtigen: »Hallo!«

Dann verschwand sie im Badezimmer. Sie pellte sich aus den Jeans und stellte belustigt fest, dass der nasse Stoff nicht nur ihren Slip bläulich verfärbt hatte, sondern auch ihre Beine. Sie stellte sich unter die Dusche. Sie liebte es, still unter dem Duschstrahl zu stehen und das Wasser zu spüren. Es perlte an ihr herunter und gab ihr ein intensives Körpergefühl. Sie trocknete sich nicht ab, sondern schlüpfte nass in ihren Bademantel. Die langen Haare band sie mit einem Handtuch zum Turban.

Sie brannte darauf, ihren Eltern mitzuteilen, was sie getan hatte. Doch es fiel ihr schwer, in deren ruhige Harmonie einzudringen. Sie waren jetzt mit sich selbst und ihrem Spiel beschäftigt. Barfuß schlenderte sie ins Wohnzimmer. Die Eltern kamen ihr vor wie Wachsfiguren. Sie saßen irgendwie hinter Glas. Windstill. In einem Aquarium aus Freundlichkeiten und Verstehen.

Wenn ich jetzt sage, ich muss etwas mit euch besprechen, fragen sie mich, ob das nicht Zeit bis morgen hat. Wenn ich eindringen will in ihre Zweisamkeit, dann muss ich sie provozieren, bis sie … Elke schlurfte mit den Füßen über den dunkelbraunen Teppichboden, auf dem nie ein Krümel lag. Sie stand neben dem Schachtisch und griff nach einem Weinglas. Sie leerte es mit einem Zug und stellte es wieder hin. Sie wusste, dass ihr Vater so etwas nicht mochte.

»Hol dir doch bitte ein Glas aus der Küche«, sagte er ruhig, ohne sie anzusehen.

Elke warf sich trotzig auf die Couch und legte die noch feuchten Füße auf den Tisch. Tropfen fielen auf die dicke Glasplatte.

Harald Stobbe goss sich wieder Wein ein. Eva nahm ihm einen Bauern. »Vielleicht«, sagte sie, »vielleicht häkel ich eine neue Gardine für das Wohnzimmerfenster. Ich habe ein schönes Bauernmuster gesehen.«

Harald Stobbe drehte langsam seinen Kopf, bis das Wohnzimmerfenster in seinem Blickfeld lag, dann nickte er: »Ja, ein Bauernmuster. Oder vielleicht große Blumen wie in Elkes Zimmer …« Eva schüttelte energisch den Kopf: »Nein, nicht schon wieder ein Blumenmuster. Wir haben schon Blumen auf den Tapeten. Ich finde, das reicht.«

Harald schob einen Pfeifenputzer ins Mundstück. Er wollte den Tabaksud aufsaugen. Er hatte einen Tropfen der beißenden braunen Flüssigkeit in den Mund bekommen. Am liebsten hätte er ausgespuckt. Er musste schon ins Badezimmer gehen, um den schlechten Geschmack loszuwerden.

Elke knipste den Fernseher an. Das würde die Eltern gegen sie aufbringen. Es galt als abgemacht, dass sie im Wohnzimmer weder Musik hörte noch Fernsehen guckte, wenn die Eltern Schach spielten. Sie besaß selbst einen Fernseher. Zwar einen kleinen und nur schwarzweiß, aber ihren eigenen. Damit sah sie oft vom Bett aus Rockpalast. Aber jetzt wollte sie gar nichts sehen. Sie wollte nur die Aufmerksamkeit ihrer Eltern.

Sie dachte an das Essen mit Mahmut. Sie liebte es: sitzen, essen, so viel es einem Spaß macht, dabei Wein trinken und erzählen. Scharfe Gewürze. Der Hauch von Knoblauch, der aus der Küche herüberwehte. Und der Raki. Sie reckte sich wie eine Katze. Ach, es war herrlich. Das Hochgefühl kam zurück.

Harald schaltete den Fernseher aus und sah seine Tochter vorwurfsvoll an.

»Elke, du weißt doch, dass wir abends gerne …«

»Ja, ich weiß!«

»Ist ja nicht schlimm. Aber du kannst doch auf deinem Zimmer fern …«

»Ja, ich kann!«

»Was ist mit dir, bist du betrunken?«

»Kann sein. Ein bisschen.«

Eva Stobbe stand auf, ging zu ihrer Tochter und setzte sich zu ihr. Harald verzog sich jetzt ins Badezimmer. Er musste sich unbedingt den Mund ausspülen.

Eva tätschelte die Hand von Elke.

»Soll ich dir ein Aspirin geben?«

Elke schüttelte den Kopf.

»I wo! Es geht mir blendend! Blendend!«

Harald kam aus dem Badezimmer zurück und setzte sich wieder an seinen Platz. Auch Eva stand auf und wollte sich wieder dem Schachspiel widmen.

Da sagte Elke ohne jeden Gefühlsausdruck in der Stimme: »Ich heiße jetzt Perver.«

Die Eltern brauchten eine Weile, um die Information aufzunehmen. Sie warfen sich flüchtige Blicke zu, starrten dann ihre Tochter an und versuchten in ihrem Gesicht zu lesen, was die Sache zu bedeuten hätte.

Vielleicht war es ein Scherz? Wollte sie ihre Eltern auf die Probe stellen?

Sie lachte so. merkwürdig. Sie lachte auf eine ernste Art. Eva fragte sich, was ihre Tochter jetzt von ihr erwartete. Sie wollte Elke nicht enttäuschen. Sicher hatte sie ihre Gründe. Sollte sie ihr weinend um den Hals fallen? Das erschien ihr zu aufgesetzt. Wenn es sich dann als Scherz herausstellen sollte, hätte sie sich lächerlich gemacht.

Elke breitete die Arme aus und wiederholte laut und freundlich: »Ich heiße jetzt Perver!«

Nachdem Harald die Pfeife aus der Hand gelegt hatte, schluckte er und sagte dann: »Ich dachte, du nimmst die Pille.«

Es sollte wie ein freundlicher Vorwurf klingen. Halb wie ein Scherz. Er wollte sich damit jede Möglichkeit im weiteren Gesprächsverlauf offen halten, doch es klang gallig. Fast schadenfroh.

Haralds Satz ließ Eva noch mehr erschrecken als Elkes. Es rutschte ihr sofort aus: »Im wievielten Monat bist du?«

Elkes Lachen kam von innen. Es war ein reines, ein wirkliches Lachen. Keine künstliche Geste. Nicht auf Wirkung bedacht.

Es machte die Eltern noch hilfloser.

Wenn sie nicht schwanger war, warum heiratete sie dann heimlich?

»Aber … du gehst doch noch zur Schule!«

»Na und?«

»Was werden deine Klassenkameradinnen dazu … und die Lehrer … Elke, ich glaube, du wirst ganz schöne Schwierigkeiten bekommen. Oder willst du dein Abitur nicht mehr machen?«

Ihr Gelächter wurde noch lauter. Ausgelassener. Sie musste sich erst beruhigen, bevor sie reden konnte.

»Aber Vati, das braucht doch niemand zu wissen. Meine Klassenkameradinnen und Lehrer werden gar nichts erfahren. Und natürlich mache ich mein Abi. Ich will auch studieren. Oder denkst du, dass ich jetzt an einem Herd stehen werde, und um mich herum laufen ein halbes Dutzend schreiender Kinder?«

Der Gedanke schien sie noch mehr zu belustigen. Ihr Lachen ging in ein heiseres Kichern über.

»Ich finde dich albern!«

Eva wollte Streit verhindern. Noch war alles offen. Jetzt nur keine scharfen Worte, dachte sie.

»Elke, wer ist der Glückliche? Kenne ich ihn? Steht er etwa draußen mit einem Strauß Blumen und wartet darauf, dass wir ihn reinbitten?«

Elke verschluckte ihr Lachen. Doch sie strahlte noch immer übers ganze Gesicht. »Nein, ihr kennt ihn nicht. Er steht auch nicht draußen vor der Tür. Ihr braucht keine Angst zu haben, dass ich nun zu ihm ziehe oder sonst irgendeinen Quatsch mache. Ich bin auch nicht irre verliebt oder schwanger oder sonst was. Ich habe ihn nur geheiratet, weil sie ihn sonst rausgeschmissen hätten.«

Eva fragte noch einmal verwirrt nach: »Wie, ich versteh nicht?«

Aber Harald hatte längst verstanden, und ohne dass Elke noch etwas sagte, begriff auch ihre Mutter.

Harald wurde blass. Er hob seinen Zeigefinger, machte eine Geste, als ob er etwas Bedeutendes sagen wollte, schwieg aber.

»Ich muss mich setzen«, sagte Eva und ließ sich in den Ledersessel fallen. Aus ihrem Gesicht wich das Blut.

Fehlt nur noch, dass einer in Ohnmacht fällt, dachte Elke. Sie fühlte sich gar nicht mehr so froh und unverwundbar. Ja, sie wollte ihre Eltern provozieren. Aber sie hatte sich das alles ganz anders vorgestellt. Anfangs lief es ganz gut, da sahen sie ratlos und verwirrt aus, aber jetzt … diese tiefe Betroffenheit, das hatte sie nicht gewollt. Das war die Sache nicht wert.

Harald holte sich einen Zahnputzbecher mit Wasser aus dem Badezimmer und trank ihn demonstrativ im Wohnzimmer stehend leer.

Damit wollte er zeigen, wie sehr er sich aufgeregt hatte. Das ging ihm auf den Kreislauf und griff den überreizten Magen an.

Er räusperte sich und bemühte sich um eine ruhige Stimme: »Also, du weißt, dass wir bestimmt nichts gegen Ausländer haben, aber …«

»Bitte, Vati, fang nicht so an. Sag jetzt nichts Kleinkariertes. Nichts Überflüssiges. Mach nicht das dufte Bild kaputt, das ich von dir habe.«

Er schluckte. Sachen konnte die sagen! Auf den Mund gefallen war sie nicht. Das Ergebnis seiner Erziehung.

Selbstbewusst saß sie da und präsentierte im Bademantel mit Turban ihre Ungeheuerlichkeiten. Dabei geriet er in eine Verteidigungsposition. Gleich würde sie ihn noch trösten und belehren. Er war froh, dass Eva die Initiative ergriff.

»Aber warum hast du das nicht mit uns besprochen? Du kannst uns doch alles sagen. Du weißt doch, dass wir immer für dich da sind. Wir brauchen keine … wir hatten nie Geheimnisse voreinander. Du hast so oft gesagt: Mutti, mit dir kann ich über alles sprechen. Warum jetzt auf einmal nicht mehr? Man kann doch nicht so einen wichtigen Schritt …«

Sie war den Tränen nahe. Elke bemerkte es, und es passte ihr gar nicht. Sie wollte es überspielen.

»Mutti, er ist Kurde. Er wird in seiner Heimat gesucht. Wenn sie ihn rausgeschmissen hätten, dann wäre er lebendig über den Flughafen nicht hinausgekommen. Er hat mich gefragt, und ich habe ihm sofort geholfen. Ich konnte ihn doch nicht …« Schärfer als gewollt unterbrach Harald seine Tochter: »Das sind große Worte. Damit sollte man vorsichtig sein. So schnell wird man nicht hingerichtet! Da gibt es immer noch Asylgerichte, die den Sachverhalt prüfen und dann entscheiden. Wer weiß, ob deinem … deinem Mann da wirklich etwas blühte. Vielleicht hat der nur eine Masche gesucht, wie er im Wirtschaftswunderland bleiben kann? Ich habe darüber schon viel gelesen. Hat er dir Geld angeboten? Manche zahlen für so eine Hochzeit bis zu zehntausend Mark.«

Jetzt hatte er Elke tiefer verletzt, als er wollte. Sie sprang auf und keifte ihn an: »Ich habe es gemacht! Ja! Und ich dachte, dass ihr stolz auf mich seid! Weil ich einem das Leben gerettet habe! Und stattdessen redet ihr hier so eine Anpasserscheiße. Ihr seid auch nicht besser als die anderen. Spießer! Miese kleine Spießer!«

Bei den letzten Sätzen schossen ihr schon die Tränen in die Augen. Sie brüllte aber weiter. Erst als sie alles aus sich herausgebrüllt hatte, rannte sie die Treppen hoch in ihr Zimmer.

3

Als sie zwölf war, zog sie mit ihren Eltern in das neue Haus ein. Damals wurde die Einrichtung ihres Kinderzimmers verschenkt. Sie durfte sich selbst die Möbel für ihr neues Zimmer aussuchen. Jetzt erinnerte sie sich daran, wie wichtig das für sie war.