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Die Familie hat eigentlich alles, was man zum Glücklichsein braucht: Geld, gesellschaftliches Ansehen, Einfluß. Einem indes scheint das nicht zu reichen. Jedenfalls fällt die «große alte Dame» des Clans einem rätselhaften Mord zum Opfer. Und da zeigt sich, wie fein diese Gesellschaft wirklich ist … (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 281
Mary Roberts Rinehart
Die alte Dame
Kriminalroman
Aus dem Amerikanischen von Dolly Landolt
FISCHER Digital
Hilda Adams wollte eben zu Bett gehen, als das Telefon läutete. Sie hatte sich ein ausgedehntes heißes Bad geleistet, wie sie dies stets nach Abschluß eines Falles zu tun pflegte, war verschwenderisch mit Badesalz und Lotion umgegangen und hatte sich ihr bereits leicht ergrautes Haar gewaschen. Wie sie nun in ihrem Nachthemd auf dem Bettrand saß und ihre kleinen, aber kräftigen Hände eincremte, sah sie eigentlich aus wie ein achtunddreißigjähriger Cherubim. Ihre Haut war glatt und rosig, und ihre Augen blickten klar, fast kindlich.
Dieses harmlose Äußere war Hilda Adams’ große Stärke, wie Inspektor Fuller am Nachmittag des gleichen Tages dem neuen Kommissar erklärt hatte.
»Sie sieht aus, als ob sie noch immer daran glaubte, daß der Storch die kleinen Kinder bringt«, sagte er. »Und das will etwas heißen für eine Frau, die seit fünfzehn Jahren als Pflegerin arbeitet. Doch mit ihren unschuldigen blauen Augen bemerkt sie mehr, als die meisten von uns mit einem Mikroskop sehen können! Und was noch wichtiger ist: Die Leute haben Vertrauen zu ihr. Sie ist nicht von der schwatzhaften Sorte – sitzt einfach da und strickt und erzählt höchstens etwas von ihrem Kanarienvogel zu Hause –, und ehe sie sich’s versehen, schütten ihr die Leute das Herz aus.«
»Das ist recht nützlich für Sie, nicht?«
»Nützlich? Das will ich meinen. Was braucht eine vornehme Familie als erstes, wenn sie Schwierigkeiten hat? Eine Pflegerin. Jemandem stößt etwas zu – und schon ist sie dort!«
»Hm – ich denke kaum, daß eine vornehme Familie diese Art von Schwierigkeiten hat.«
Der Inspektor bedachte den neuen Kommissar mit einem väterlichen Lächeln.
»Sie würden sich wundern«, sagte er. »Diese Leute haben Geld, und Geld bringt Schwierigkeiten mit sich. Und nicht nur das – manchmal haben sie auch Fledermäuse.«
Er grinste. Der neue Kommissar starrte ihn verblüfft an. »Es ist Tatsache«, erklärte der Inspektor. »Heute nachmittag war eine alte Dame bei mir, die behauptete, Fledermäuse in ihrem Schlafzimmer zu haben. Alles ist abgeschlossen, doch die Fledermäuse kommen trotzdem irgendwie rein. Hie und da auch eine Ratte oder ein Spatz.«
Der Kommissar hob die Augenbrauen. »Elefanten sieht sie keine?« fragte er.
»Bis jetzt nicht. Aber seltsame Geräusche hört sie.«
»Klingt nach Gespenstern«, sagte der Kommissar. »Alte Damen werden oft komisch. Meine Schwiegermutter pflegte nachts ihren verstorbenen Gatten zu sehen. Sie mochte ihn nicht einmal als Gespenst – warf ihren Pantoffel nach ihm.«
Der Inspektor lächelte höflich. »Vielleicht haben Sie recht. Vielleicht auch nicht. Jedenfalls wurde die alte Dame von ihrer Enkelin begleitet, und das Mädchen bestätigte ihre Aussagen. Ich bemerkte, daß die Enkelin ihre Großmutter überhaupt zum Kommen veranlaßt hatte.«
»Was bezweckte sie damit?«
»Das junge Mädchen verlangte, daß wir nachts einen Polizisten zur Bewachung des Hauses hinschicken. Es handelt sich um den Sitz der Fairbanks – vielleicht kennen Sie ihn. Das Mädchen glaubt, daß nachts jemand in das Haus eindringt und die Menagerie zurückläßt; die alte Dame dagegen erklärt dies für Unsinn, die Sache gehe im Haus selber vor sich.«
Der Kommissar sah überrascht aus. »Sie sprechen doch nicht etwa von Eliza Fairbanks?«
»Wir nennen uns noch nicht beim Vornamen. Es ist Mrs. Fairbanks, die Witwe von Henry Fairbanks, wenn Ihnen das etwas sagt.«
»Guter Gott«, sagte der Kommissar schwach. »Was haben Sie ihr gesagt?«
»Ich erklärte ihr, sie brauche eine zuverlässige Person, die ihr Gesellschaft leistet und für ihre Sicherheit sorgt.« Er lächelte. »Am besten eine Pflegerin. Die alte Dame sagte, sie werde mit ihrem Arzt darüber sprechen, und ich erwarte jetzt seinen Bericht.«
»Und Sie wollen die Adams hinschicken?«
»Ich werde Miss Adams hinschicken, wenn sie frei ist«, erklärte der Inspektor, wobei er »Miss« leicht betonte. »Und wenn Hilda Adams sagt, das Haus sei verhext oder der ganze Stadtzoo befinde sich dort, so werde ich ihr glauben.«
Er ging vor sich hin lachend hinaus, und der Kommissar lehnte sich in seinen Schreibtischsessel zurück und grunzte unwillig. Er haßte es, sich mit senilen alten Damen herumzuschlagen, selbst wenn die alte Dame Eliza Fairbanks war. Oder lautete das Wort »anil«? Er war sich nicht ganz sicher.
Es war bereits acht Uhr abends, als der Inspektor den erwarteten Bericht erhielt, doch war es nicht der Arzt, der anrief, sondern die Enkelin. Ihre Stimme klang ein wenig atemlos.
»Inspektor Fuller?« fragte sie. »Ich rufe Sie im Auftrag meiner Großmutter an. Sie hat eben wieder eine Fledermaus gefangen.«
»Wirklich?«
»Ja. Sie hat sie in einem Handtuch. Ich bin aus dem Haus gelaufen, um zu telefonieren – meine Großmutter traut niemandem mehr, den Dienstboten nicht und auch keinem von uns. Sie möchte, daß Sie jemanden schicken. Die Pflegerin, von der Sie sprachen – ich glaube, es wäre gut, wenn sie schon heute nacht kommen könnte.«
Der Inspektor überlegte. »Was sagt der Arzt dazu?« fragte er. »Ich habe ihn informiert, und er wird Sie gleich anrufen. Es ist Dr. Brooke, Dr. Courtney Brooke.«
»Schön«, sagte der Inspektor und hängte auf.
Und deshalb klingelte also Hilda Adams’ Telefon, als sie gerade in ihr warmes Bett schlüpfen wollte.
Voller Abneigung schaute sie auf den läutenden Apparat, und einen Augenblick lang überkam sie die Versuchung, nicht ans Telefon zu gehen. Sie sehnte sich nach ein paar Tagen ungestörter Ruhe und Erholung. Dann aber hob sie doch ab.
»Hallo?«
»Hier ist Fuller. Sind Sie’s, Miss Pinkerton?«
»Hier ist Hilda Adams«, sagte sie kühl. »Lassen Sie bitte diesen Unsinn.«
»Schon zu Bett gegangen?«
»Beinahe.«
»Das tut mir aber leid. Ich habe nämlich einen Fall für Sie.«
»Doch nicht heute abend?« protestierte Hilda.
»Es wird Sie interessieren, Hilda. Eine alte Dame hat eben eine Fledermaus in ihrem Schlafzimmer gefangen. In einem Handtuch. Sie scheint überhaupt von einer Art reisender Menagerie besucht zu werden: Vögel, Fledermäuse, Ratten.«
Hilda warf einen verzweifelten Blick auf ihr gemütliches Zuhause, auf den zugedeckten Vogelkäfig, ihr weiches Bett und die vielen ungelesenen Zeitschriften. Sie griff nach ihrem Haar, das noch ein wenig feucht war.
»Es gibt eine Menge Fledermäuse dieses Jahr«, sagte sie schwach. »Warum sollte sie da nicht eine fangen?«
»Weil die Fledermaus nicht auf normalem Weg ins Zimmer kommen konnte«, erklärte der Inspektor. »Seien Sie nett, Hilda, gehen Sie hin, und halten Sie Ihre blauen Augen offen.«
Sie gab endlich nach, wenn auch ohne große Begeisterung, und als einige Minuten später eine junge und etwas unsichere Mädchenstimme sie am Telefon verlangte, war sie bereits mit Packen beschäftigt.
»Ich telefoniere im Auftrag von Dr. Brooke«, sagte das Mädchen. »Meine Großmutter fühlt sich nicht wohl. Es tut mir schrecklich leid, Sie so spät noch zu stören, aber ich glaube, sie sollte heute nacht nicht allein sein. Könnten Sie wohl kommen?«
»Handelt es sich um den Fall, von dem Inspektor Fuller gesprochen hat?«
»Ja.«
»Schön, ich werde in ungefähr einer Stunde dort sein.«
Ein Seufzer der Erleichterung war zu hören. »Das ist wunderbar. Die Adresse ist Grove Avenue Nr. 10 – Mrs. Henry Fairbanks. Ich werde auf Sie warten.«
Hilda legte auf und saß einen Augenblick still da. Der Name hatte sie überrascht, fast erschreckt. So – die alte Eliza Fairbanks fing jetzt also Fledermäuse in Handtüchern, nachdem sie viele Jahre lang das gesellschaftliche Leben der Stadt beherrscht hatte! Lady Fairbanks, so hatte man sie in Hildas Kindheit genannt, als Henry Fairbanks noch lebte. Er war mittlerweile gestorben, und auch die Umgebung seines vornehmen Hauses hatte sich verändert. Unfreundliche Mietskasernen erhoben sich überall, sogar ein Einkaufszentrum befand sich gegenüber. Das große Haus aber stand immer noch in seinem eigenen Garten, von Eisengittern umgeben, und blickte gewissermaßen verächtlich über die Veränderungen der Nachbarschaft und der ganzen Welt hinweg.
Hilda erhob sich und zog sich fertig an. Aus irgendeinem Grund wählte sie ihr bestes Kostüm und ihren neuesten Hut. Eine halbe Stunde später ging sie zum Taxistand an der Straßenecke. – Jim Smith, der sie häufig fuhr, nahm ihr den Koffer ab.
»Sie sind doch gerade erst nach Hause gekommen«, sagte er freundlich.
»Ich weiß.« Hilda seufzte. »Fahren Sie mich bitte zur Grove Avenue Nr. 10, Jim.«
Er warf ihr einen raschen Blick zu. »Ist jemand krank bei den Fairbanks?«
»Ja, die alte Mrs. Fairbanks fühlt sich nicht wohl.«
Jim lachte. »Sieht sie wieder Fledermäuse?«
»Fledermäuse? Woher wissen Sie das?«
»Oh – die Leute schwätzen eben«, erklärte Jim gutmütig.
Er hielt vor dem Seiteneingang des Fairbanksschen Hauses, nahm Hildas Koffer und trug ihn zur Eingangstür. Hilda betrachtete das große Gebäude; es erschien ihr ruhig und völlig normal, wie es sich da mit einigen erleuchteten Fenstern in der Dunkelheit vor ihr erhob. Jim nickte ihr zu.
»Viel Glück«, sagte er. »Und kümmern Sie sich nicht um das Geschwätz.«
»Keine Angst«, erklärte Hilda grimmig. Sie bezahlte und sah Jim wegfahren, und ein plötzliches Gefühl der Verlassenheit überkam sie, als das Taxi verschwunden war. Irgend etwas stimmte nicht, sonst hätte der Inspektor nicht darauf gedrungen, daß sie herkam. Und an Gespenster glaubte er ganz bestimmt nicht. Wie sie da in der Dunkelheit stand, erinnerte sie sich an jenen strahlenden Tag vor zwanzig Jahren, an dem Mrs. Fairbanks’ Tochter Marian geheiratet hatte. Hilda war damals Lehrschwester im nahen Spital gewesen und in ihren Freistunden oft am Fairbanksschen Haus vorbeispaziert. Sie sah noch alles deutlich vor sich: den roten Teppich auf den Stufen, die schaulustige Menge, die sich vor dem Eisengitter drängte, die vielen Blumen, die Braut in weißem Satinkleid und Schleier am Arm des hochgewachsenen Bräutigams. Für die kleine Lehrschwester schien dies alles eine einzige Romanze von Jugend, Schönheit und Glück zu sein. Und das Ganze hatte mit einer Scheidung geendet.
Sie wandte sich rasch um und zog die Türglocke.
Zu Hildas Überraschung wurde die Tür nicht von einem Butler oder einem Stubenmädchen, sondern von einer jungen Dame geöffnet. Als sie zu sprechen begann, wußte Hilda sofort, daß dies das junge Mädchen war, das sie angerufen hatte.
»Sie sind Miss Adams, nicht wahr? Bitte kommen Sie doch herein. Ich bin Janice Garrison – ich bin so froh, daß Sie da sind!« Sie sah sich um, als fürchte sie, belauscht zu werden. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht.«
Sie führte Hilda in die große Halle und blieb dort einen Augenblick unsicher stehen. Hinter einer der Türen erklangen gedämpfte Stimmen. Nach kurzem Zögern öffnete das junge Mädchen die gegenüberliegende Tür, die in ein riesiges, in viktorianischem Stil eingerichtetes Wohnzimmer führte. Der Raum lag im Halbdunkel, doch gab die einzige Lampe, die angezündet war, gerade genug Licht, daß Hilda das junge Mädchen näher betrachten konnte.
Ein bezauberndes Geschöpf, noch sehr jung, vielleicht achtzehn Jahre alt, und im Moment sehr verwirrt. Sie schloß die Tür hinter sich.
»Ich wollte zuerst allein mit Ihnen sprechen«, sagte sie hastig. »Wegen meiner Großmutter. Bitte – bitte glauben Sie nicht, daß sie komisch ist oder so etwas! Wenn sie sich eigenartig benimmt, so hat sie allen Grund dazu.«
Das Mädchen tat Hilda leid; es schien den Tränen nahe zu sein. »Ich bin daran gewöhnt, daß alte Damen sich eigenartig benehmen«, sagte sie lächelnd. »Was meinen Sie damit: Sie hat allen Grund dazu?«
Janice gab ihr keine Antwort. Sie horchte in die Halle hinaus, wo sich eine Tür geöffnet hatte und die Stimmen nun lauter wurden. »Entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick«, murmelte sie und schlüpfte hinaus, wobei sie die Doppeltür hinter sich schloß. Einige Minuten später öffnete sich die Tür wieder, und ein Mann trat ein. Er war hoch gewachsen, sein Gesicht sah sehr müde aus, und das dichte dunkle Haar war an den Schläfen ergraut. Hilda erschrak: Es war Frank Garrison – doch wie wenig glich er dem Bräutigam von vor zwanzig Jahren! Er sah immer noch gut aus, aber unglaublich gealtert, viel älter, als er in Wirklichkeit war. Lächelnd schüttelte er ihre Hand.
»Gut, daß Sie da sind«, sagte er. »Mein Name ist Garrison. Janice sagte mir, daß Sie kommen würden. Ich bin froh, daß Sie das Mädel entlasten. Es hat sich viel zuviel zugemutet.«
»Dafür bin ich ja hier«, erklärte Hilda mit berufsmäßiger Munterkeit.
»Ich danke Ihnen. Wissen Sie, ich habe mir Sorgen um Janice gemacht, sie bekommt zuwenig Schlaf und ist viel zu dünn. Ihre Großmutter –«
Er hielt inne und strich sich zerstreut über die Haare. Hilda bemerkte, daß er nicht nur gealtert aussah, sondern auch vernachlässigt wirkte, sein Anzug schrie geradezu nach einem Bügeleisen.
Als hätte sie ihre Gedanken erraten, schob Janice plötzlich ihren Arm unter den ihres Vaters und schmiegte sich an ihn. Sie blickte mit ihren schönen, braunen Augen zu ihm auf.
»Mach dir keine Sorgen, Papa. Ich bin ganz in Ordnung.«
»Die Sache gefällt mir nicht, Liebling, das weißt du.«
»Möchtest du Granny noch sehen?«
Er blickte auf seine Uhr und schüttelte den Kopf. »Nein, es ist besser, wenn ich mache, daß ich mit Eileen wegkomme. Ich lasse Granny grüßen, Jan. Und schlaf dich gründlich aus heute nacht!« Er öffnete die Tür, und Hilda sah eine blonde Frau von leicht verwelkter Schönheit in der Halle stehen. Sie war damit beschäftigt, ihre Handschuhe anzuziehen, und blickte mit gelassener Neugierde ins Zimmer. Janice schien verlegen.
»Das ist Miss Adams, Eileen«, sagte sie. »Großmama ist etwas nervös, deshalb haben wir sie kommen lassen.«
Eileen bedachte Hilda mit einem flüchtigen Nicken, dann wandte sie sich Janice zu.
»Das ist doch alles lächerlich, Jan«, sagte sie kühl. »Meiner Meinung nach gehört Großmama in ein Sanatorium. Dieser ganze Unsinn mit Fledermäusen und so weiter!«
Janice wurde dunkelrot, doch sie schwieg. Frank Garrison öffnete die Haustür, sein Gesicht war verschlossen.
»Es wäre mir lieber, wenn du deine Ansichten für dich behieltest, Eileen«, sagte er. »Wir müssen gehen. Gute Nacht, Jan.«
Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, wandte sich Hilda nach Janice um und bemerkte zu ihrer Überraschung, daß die Augen des Mädchens voller Tränen standen.
»Wie dumm ich bin«, murmelte Janice und suchte nach ihrem Taschentuch. »Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, daß er einfach so weggeht. Meine Eltern sind geschieden, müssen Sie wissen. Eileen ist Papas zweite Frau.« Sie wischte sich über die Augen und steckte das Taschentuch wieder weg. »Er kommt nur her, wenn Mutter nicht da ist. Sie – sie können’s nicht sehr gut miteinander.«
»Ich verstehe«, sagte Hilda behutsam.
»Ich hatte Papa immer schrecklich gern, doch als man mich vor Gericht fragte, für wen ich mich entscheide, wollte ich doch lieber hierbleiben. Meine Großmutter hatte die Scheidung nämlich sehr schwer genommen. Sie hing sehr an meinem Vater. Und außerdem –«, sie zögerte, »heiratete er bald darauf Eileen, da war es das Beste, daß ich hierblieb. Ich mußte Ihnen das erklären«, fügte sie hinzu. »Eileen kommt selten her, aber nachdem Sie sie jetzt gesehen haben –«
Sie hielt inne, und ihre Lippen zitterten.
»Hören Sie«, sagte Hilda, »Sie sind ja todmüde. Wollen Sie mir das alles nicht morgen erzählen?«
Janice schüttelte den Kopf. »Ich bin schon wieder in Ordnung«, sagte sie. »Sie müssen über einiges Bescheid wissen, bevor Sie zu Großmutter hinaufgehen. Ich sagte Ihnen, warum ich hierblieb, nicht wahr? Nicht nur wegen Großmutter. Meine Mutter war auch sehr unglücklich; sie hat sich sehr verändert seit damals. Ich hatte das Gefühl, daß beide mich brauchten, ganz besonders natürlich Großmutter.«
Hilda schwieg, doch ihr Mund war hart. Wie egoistisch das Alter sein kann, dachte sie. Dieses junge Geschöpf, das in seiner eigenen Welt von Jugend, Sport und Heiterkeit hätte leben sollen, war in diesem Mausoleum mit zwei verbitterten Frauen eingeschlossen. Wie lange schon? Sechs oder sieben Jahre mußten es sein!
»Ich verstehe, sie brauchten Sie. Und was sagten Sie dazu?«
»Oh, es hat mir nichts ausgemacht. Ich fahre oft mit Granny aus, und abends lese ich ihr vor. Es ist nicht schlimm.«
»Warum besorgt nicht Ihre Mutter das Vorlesen?«
Janice sah erst erschrocken, dann verlegen aus.
»Die beiden vertragen sich nicht besonders gut seit der Scheidung. Großmutter hat ihr nie ganz verziehen.« Sie wandte sich mit einem tapferen Lächeln zu Hilda. »Sie müssen ja einen ganz schlechten Eindruck von uns bekommen, so wie ich uns schildere. In Wirklichkeit ging eigentlich alles ganz gut bis vor kurzem. Mein Vater besucht uns regelmäßig, das heißt, wenn Mutter nicht da ist, natürlich. Und oft gehe ich auch zu ihm; Eileen ist meine frühere Gouvernante …«
Hilda tat etwas, was sonst selten bei ihr vorkam. Sie streckte die Hand aus und streichelte die schmalen Schultern des jungen Mädchens. Janices Gesicht nahm wieder einen lauschenden Ausdruck an. Als alles still blieb, schien sie erleichtert. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Wahrscheinlich bin ich wirklich übermüdet. Seit zwei Monaten habe ich auf Granny aufgepaßt, so gut ich konnte. Und deshalb möchte ich Ihnen noch einmal versichern, bevor Sie zu ihr gehen, Miss Adams: Sie ist nicht verrückt. Sie ist so normal wie Sie und ich. Wenn jemand etwas anderes behauptet, glauben Sie es bitte nicht.«
Die Halle war noch immer leer, als sie hinaustraten und die mit kostbaren Teppichen belegten Treppen hinaufzusteigen begannen.
Oben angelangt, blieb Janice vor einer der Türen stehen; bevor sie anklopfte, warf sie Hilda einen raschen Blick zu, in dem so etwas wie eine Warnung lag.
»Ich bin’s, Jan«, rief sie. »Darf ich hineinkommen?«
Drinnen bewegte sich etwas, Schritte wurden hörbar und dann eine Stimme.
»Bist du allein, Jan?«
»Ich bringe dir die Pflegerin, von der Dr. Brooke gesprochen hat. Sie wird dir gefallen, Großmutter.«
Langsam drehte sich ein Schlüssel im Schloß, die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, und eine kleine, alte Frau spähte heraus. Hilda erstarrte. In ihrer Erinnerung war Mrs. Fairbanks eine stattliche, schöne und gebieterische Erscheinung gewesen, nun aber war sie unglaublich zusammengeschrumpft. Nur ihre Augen, die Hilda durchdringend musterten, hatten nichts von ihrer Schärfe eingebüßt. Die Prüfung schien zu ihrer Zufriedenheit auszufallen, denn sie löste die Sicherheitskette und öffnete die Tür.
»Ich habe sie noch«, sagte sie triumphierend.
Wen hat sie noch? dachte Hilda.
»Fein. Das ist also Miss Adams, Granny.«
Die alte Dame nickte Hilda zu, ohne ihr die Hand zu geben.
»Ich brauche keine Pflege«, sagte sie kurz angebunden. »Ich brauche Bewachung. Ich will wissen, wer versucht, mich zu erschrecken, und warum. Das ist alles. Ich bin nicht krank.«
»Ich weiß«, erwiderte Hilda. »Ich werde Ihnen nicht lästig fallen.«
»Es ist nur wegen der Nächte.« Die alte Dame zitterte plötzlich. »Am Tag ist es nicht so schlimm, da können Sie schlafen. Jan hat ein Zimmer für Sie hergerichtet. Aber in der Nacht brauche ich jemanden in der Nähe. Sie können im Korridor sitzen, vor meiner Tür, nicht wahr? Sie werden nicht einschlafen? Jan schläft immer ein, wenn sie draußen sitzt.«
Janice sah schuldbewußt drein. Sie nahm Hildas Handkoffer auf. »Ich möchte Ihnen Ihr Zimmer zeigen«, sagte sie. »Sie wollen sich sicher umziehen?«
Sie ging voraus. Als die alte Dame hinter ihnen die Tür wieder abgeschlossen hatte, drehte sich Janice zu Hilda um.
»Sie verstehen jetzt sicher, was ich meinte«, murmelte sie. »Sie ist vollkommen normal, und irgend etwas stimmt wirklich nicht. Sie wird Ihnen alles erzählen.«
Allein in ihrem Zimmer, ging Hilda sofort mit gewohnter Tüchtigkeit an die Arbeit. Sie packte ihren Koffer aus, legte ihren Strickbeutel, den Kasten mit den Spritzen und das Thermometer bereit und schlüpfte schließlich in die saubere weiße Pflegerinnentracht, setzte das weiße Häubchen auf und zog die weißen Gummischuhe an. Eine Weile betrachtete sie sinnend auch den kleinen Revolver, der zuunterst in ihrem Koffer lag. Er war ein Geschenk des Inspektors.
»Wenn ich Sie irgendwohin schicke, so deshalb, weil dort etwas nicht stimmt«, hatte er gesagt. »Lernen Sie mit dem Ding umzugehen, Hilda, Sie könnten es eines Tages brauchen.«
Doch heute ließ Hilda den Revolver in ihrem Koffer. Wenn hier auch etwas Unheimliches vor sich ging, so hatte es doch nichts mit Gewalt zu tun. Da irrte sie sich allerdings, doch vorläufig war sie zuversichtlich und heiter. Sie begutachtete ihre adrette Erscheinung im Spiegel und trat dann für einen Augenblick ans Fenster.
Wie Janices Zimmer daneben ging dieser Raum auf die Seitenstraße hinaus. In ungefähr fünfzig Metern Entfernung sah sie einen Fachwerkbau mit einem Turm, den alten Stall, in dem Henry Fairbanks früher seine Pferde gehalten hatte und der jetzt wohl als Garage benützt wurde.
Hilda raffte ihre Sachen zusammen, klemmte das dicke »Handbuch der Krankenpflege« unter den Arm und ging zu Janices Tür hinüber.
Janice stand ebenfalls am Fenster und war so vertieft, daß sie Hilda nicht hörte. Sie mußte zweimal klopfen, bis das junge Mädchen errötend herumfuhr. »Oh, es tut mir leid«, sagte sie erschrocken. »Sind Sie schon fertig?«
»Ja«, versicherte Hilda. »Hat der Arzt irgendwelche besonderen Anweisungen hinterlassen?«
Aus unerfindlichen Gründen errötete Janice noch tiefer. »Nein, sie ist ja nicht eigentlich krank. Nur ein Beruhigungsmittel, falls sie nicht schlafen kann. Ihr Herz ist schwach – deshalb ist dies alles auch so – so gemein!«
Ohne weitere Erklärungen hinzuzufügen, ging sie voraus, und Hilda benützte die Gelegenheit, sich unauffällig umzusehen. Auf der anderen Seite des schmalen Korridors, auf den ihr und Janices Zimmer führten, gab es zwei weitere Türen. Zur Vorderseite des Hauses hin erweiterte sich der Korridor und bildete oberhalb der Treppe eine große viereckige Halle, die tagsüber durch ein Fenster des Treppenhauses erhellt wurde und als eine Art Wohnraum eingerichtet war. Zwei Schlafzimmer nahmen die beiden vorderen Ecken des Hauses ein, dazwischen lagen Badezimmer.
Janice gab die nötigen Erklärungen ab.
»Mein Onkel, Carlton Fairbanks, und Susie, seine Frau, wohnen in den beiden Zimmern gegenüber von uns«, sagte sie. »Zur Zeit sind sie nicht in der Stadt. Mutter hat das andere Eckschlafzimmer vom, über der Bibliothek.«
Ganz plötzlich gähnte sie, dann glitt ein Lächeln über ihr Gesicht. Dieses Lächeln veränderte sie völlig, sie sah auf einmal jung und entspannt aus.
»Jetzt gehen Sie aber sofort zu Bett«, befahl Hilda streng.
»Sie werden mich rufen, wenn irgend etwas passiert, nicht wahr?«
»Es wird nichts passieren.«
Gehorsam ging das junge Mädchen zurück; in ihrem kurzen Rock und dem grünen Pullover sah sie fast aus wie ein Kind. Hilda knurrte mißbilligend vor sich hin, legte ihre Sachen auf einen Tisch in der Halle und klopfte an die Tür der alten Dame.
Mrs. Fairbanks trug einen altmodischen Schlafrock und sah nicht mehr so sehr wie ein wachsamer Terrier, sondern mehr wie eine verängstigte und etwas nachlässige alte Frau aus.
»Schließen Sie die Tür«, sagte sie kurz. »Ich muß Ihnen etwas zeigen. Und sagen Sie mir gefälligst nicht, das Ding sei durch den Kamin oder durch ein Fenster hereingekommen. Die Fenster sind verriegelt und gesichert und die Kaminöffnung versperrt. Außerdem habe ich selber einen Stoß Zeitungen über den Rauchfang gelegt.«
Hilda schloß die Tür hinter sich. Der Raum war groß und viereckig, er hatte zwei Fenster nach vorn und zwei auf der Seite. Ein riesiges Himmelbett nahm die Wand gegenüber den Seitenfenstem ein, daneben führte eine Tür in ein Badezimmer. Die vierte Wand wies einen Kamin auf, der, wie Hilda später sah, von zwei riesigen eingebauten Schränken flankiert war.
Außer einem Radioapparat neben dem Bett war der Raum wohl noch genauso wie damals, als die alte Dame als junge Braut hier eingezogen war. Die schweren altmodischen Möbel, der Kaminsims und sogar die verblaßte Fotografie von Henry Fairbanks, die dort stand, schienen aus der Zeit vor der Jahrhundertwende zu stammen.
Mrs. Fairbanks dirigierte Hilda zum Bett hinüber, das bereits für die Nacht zurechtgemacht war; auf der zurückgeschlagenen Steppdecke lag ein Handtuch, in dem sich ganz unzweifelhaft etwas Lebendiges befand. Hilda streckte vorsichtig eine Hand aus.
»Was ist das?«
Mrs. Fairbanks stieß Hildas Hand zurück. »Passen Sie auf«, warnte sie. »Es hat mich genug Mühe gekostet, das Ding zu fangen. Es ist eine Fledermaus. Ja, eine Fledermaus«, wiederholte sie, und in ihrer Stimme schwang unterdrückter Triumph. »Sie halten mich alle für verrückt. Meine eigene Tochter hält mich für verrückt. Ich sagte ihnen immer und immer wieder, daß sich solche Dinger in meinem Zimmer befänden, doch sie glaubten mir nicht. Hier ist endlich der Beweis.« Sie atmete tief. »Drei Fledermäuse, zwei Spatzen und eine Ratte«, fuhr sie fort. »Alles während der letzten zwei Monate. Eine Ratte!« schnappte sie verächtlich. »Seit fünfzig Jahren lebe ich in diesem Haus, und es gab hier niemals Ratten.«
Hilda spürte wachsendes Unbehagen. Sie haßte Ratten.
»Wie kommt das Getier denn herein?« fragte sie. »Irgendeinen Weg muß es doch geben.«
»Deshalb sind Sie ja hier. Um das herauszufinden. Jedenfalls will ich diese Fledermaus aufheben; der Inspektor sagte mir heute, ich solle alles aufbewahren, was ich fangen kann. In der Besenkammer – die letzte Tür hinten rechts – finden Sie eine Schuhschachtel. Stecken Sie die Fledermaus hinein, und schnüren Sie die Schachtel zu. Und lassen Sie sie nicht entwischen!«
Hilda griff mit spitzen Fingern nach dem Tuch. Als sie den kleinen, warmen lebendigen Körper durch den Stoff fühlte, stieg Ekel in ihr hoch, doch sie machte sich gehorsam auf den Weg, und Mrs. Fairbanks schloß die Tür hinter ihr ab. Ganz plötzlich war Hilda überzeugt, daß der Inspektor recht hatte: Irgend etwas stimmte hier nicht. Es lag etwas Unheimliches über allem, über dem großen düsteren Haus, der alten Frau, die sich in ihr Zimmer einschloß, der gefangenen Kreatur in ihren Händen.
Sie fand die Besenkammer am Ende des Ganges; mit der einen Hand hielt sie krampfhaft das Tuch zusammen, mit der andern tastete sie nach dem Lichtschalter; in diesem Augenblick hörte sie ein Geräusch über ihrem Kopf, etwas Weiches, Pelziges sprang auf ihre Schulter und von dort zu Boden.
»Du lieber Gott«, stöhnte sie schwach.
Doch die Ratte – sie war überzeugt, daß es eine Ratte gewesen war – war verschwunden, als Hilda endlich den Lichtschalter gefunden hatte. Ihre Hände zitterten, als sie die Schuhschachtel ergriff und die Fledermaus hineinsperrte. Sie verschnürte die Schachtel, bohrte ein kleines Luftloch hinein und trug sie dann zu der alten Dame zurück. Wie üblich mußte sie warten, bis ihr aufgeschlossen wurde, und sie ärgerte sich plötzlich darüber. »Wie kann ich auf Sie aufpassen, wenn Sie mich ständig aussperren?« fragte sie.
»Sie sollen ja nicht auf mich aufpassen. Und nun will ich, daß Sie dieses Zimmer untersuchen. Vielleicht finden Sie raus, wie die Tiere hereinkommen. Wenn nicht, dann weiß ich, daß jemand in diesem Hause mich zu Tode ängstigen will.«
»Wie schrecklich, Mrs. Fairbanks. Das können Sie doch eigentlich selber nicht glauben.«
»Natürlich ist es schrecklich. Doch nicht so schrecklich wie Gift.«
»Gift?«
»Ja, Gift. Fragen Sie den Arzt, wenn Sie mir nicht glauben. Arsen. Es war im Zucker auf meinem Frühstückstablett.«
Wenn sie bezweckt hatte, ihre Pflegerin zu verblüffen, so hatte sie ihr Ziel vollkommen erreicht. Hilda starrte die alte Dame an, die sich vor dem Kamin niedergelassen hatte.
»Wann ist das passiert?« fragte sie schließlich.
»Vor drei Monaten.«
»Und Sie sind sicher, daß Sie sich das nicht nur – einbilden?«
»Habe ich mir etwa diese Fledermaus eingebildet?« Grimmig fuhr die alte Dame mit ihrem Bericht fort. Sie pflege stets auf ihrem Zimmer zu frühstücken, und an jenem Morgen habe es Erdbeeren gegeben; das Arsen sei im Streuzucker gewesen, und sie wäre beinahe gestorben. »Doch ich blieb am Leben«, murmelte sie triumphierend. »Und von Einbildung kann keine Rede sein. Der Doktor nahm Proben mit und ließ alles untersuchen. Es war im Zucker. Gott sei Dank hatte ich einen jungen Arzt, der diese ganzen modernen Methoden kennt – wäre der alte Smythe gekommen, hätte er mich sicher sterben lassen. Janice holte den jungen Brooke, sie hat ihn irgendwo kennengelernt, und er wohnt ganz in der Nähe, gegenüber dem Stall an der Huston Street. Es war wirklich Arsen.«
»Wie steht es mit den Dienstboten?« fragte Hilda rasch.
»Sie sind alle seit vielen Jahren hier, und ich traue ihnen mehr als meiner eigenen Familie.«
»Wer brachte das Tablett herauf?«
»Janice.«
»Aber Sie können sie doch nicht verdächtigen, Mrs. Fairbanks.«
»Ich verdächtige jedermann«, knurrte die alte Dame.
Hilda mußte sich setzen. Die ganze Situation erschien ihr irgendwie unglaublich, wie sie hier hinter verriegelten und verschlossenen Fenstern in dem totenstillen Haus saß und mit der alten Dame über Mordversuche sprach.
»Sie haben natürlich die Polizei benachrichtigt?« meinte sie schließlich.
»Natürlich nicht.«
»Aber der Arzt? Er mußte doch –«
Mrs. Fairbanks lächelte. »Ich sagte ihm, ich hätte das Arsen selber irrtümlich eingenommen. Natürlich glaubte er mir nicht, aber was konnte er tun? Mein Leben lang habe ich dafür gesorgt, daß unsere Familie nicht in die Zeitungen kam, obwohl wir auch unsere Affären hatten. Die Scheidung meiner Tochter zum Beispiel.« Ihr Gesicht wurde hart. »Eine unnötige und tragische Geschichte. Ich verlor dadurch Frank Garrison, den einzigen, dem ich traute. Und dann die unglückselige Heirat meines Sohnes Carlton mit diesem Mädchen … nicht standesgemäß, Sie verstehen. Sollte ich vielleicht der Polizei erzählen, daß meine eigene Familie mich umbringen will?«
Hilda schwieg verwirrt. Ihr war, als spiele Mrs. Fairbanks eine Partie mit dem Tod und sei bis jetzt siegreich geblieben.
»Und seither gab es keine solchen Versuche mehr?« fragte sie. »Ich habe es verhindert. Wenn ich unten esse, nehme ich vom gleichen wie alle andern, und zwar nach ihnen. Und mein Frühstück esse ich hier oben; ich presse meinen Orangensaft selber, und den Kaffee mache ich mir mit einem Filter im Badezimmer. Kein Zucker – keine Milch! Und jetzt untersuchen Sie bitte das Zimmer.«
Wie sie eigentlich bereits erwartet hatte, entdeckte Hilda nichts. Die Fenster, auch das des Badezimmers, waren vergittert, die Gitter festgeschraubt. In den großen Schränken links und rechts vom Kamin, die nach alten Kleidern rochen, gab es keine Öffnung irgendwelcher Art, nur in jenem zunächst der Türe befand sich ein kleiner Safe, der in die Seitenwand eingebaut war.
»Könnte vielleicht jemand etwas in den Safe sperren«, fragte Hilda, »das herauskommt, wenn Sie ihn öffnen?«
»Niemand kann ihn öffnen außer mir. Und ich tue es nie. Er ist leer.« Bei diesen Worten trat ein verschlagener Ausdruck in das Gesicht der alten Dame, und Hilda glaubte nicht, daß sie die Wahrheit sprach.
Nachdem Hilda unter das Bett gekrochen war, den geschlossenen Rauchfang untersucht und schließlich noch hinter die Badewanne geschaut hatte, mußte sie zugeben, daß das Zimmer nicht die leiseste Möglichkeit einer natürlichen Erklärung für das Auftauchen der Tiere bot. Die alte Dame lächelte ironisch.
»Das sagte ich Ihrem Inspektor bereits heute nachmittag, doch er wollte mich Lügen strafen.«
Es war elf Uhr vorbei, als sie sich endlich überreden ließ, zu Bett zu gehen, doch sie lehnte jegliche Hilfe Hildas ab und schickte sie ziemlich abrupt hinaus, nachdem sie ihr noch mal größte Wachsamkeit eingeschärft hatte. Als Hilda rauskam, fand sie verschiedenes verändert: ein großer bequemer Lehnsessel war herbeigeschafft worden, daneben stand eine Leselampe, und auf dem Tisch neben der Tür der alten Dame lag eine Menge Zeitschriften und Bücher. Ein Wandschirm war aufgestellt, um den Zug vom Treppenhaus her abzuhalten, und außerdem erschien in diesem Augenblick Janice auf der Vordertreppe, in den Händen ein reichbeladenes Tablett.
»Es macht Ihnen doch nichts aus, hier oben zu essen?« fragte sie schüchtern. »So müssen Sie nicht hinuntergehen. Maggie – das ist die Köchin – hat Ihnen heißen Kaffee in diese Thermosflasche gefüllt.«
Hilda nahm ihr das Tablett ab. »Sie versprachen mir doch, sofort zu Bett zu gehen«, bemerkte sie streng.
»Ich weiß – es tut mir leid«, sagte Janice. »Ich gehe jetzt gleich.« Sie schenkte Hilda ein scheues Lächeln. »Ich bin so froh, daß Sie hier sind«, flüsterte sie. »Nun kann nichts mehr passieren, nicht wahr?«
Hilda sollte sich in den nächsten Tagen oft an diesen Augenblick erinnern – an das rührende Vertrauen, das in Janices Augen geleuchtet hatte, und an ihre eigene, beruhigende Antwort: »Natürlich kann nichts passieren.«
Janice nahm das dicke »Handbuch der Krankenpflege« vom Tisch auf und blätterte darin. »Ich würde gern in einem Spital arbeiten«, sagte sie unvermittelt. »Aber natürlich – so wie die Situation ist –, es müßte herrlich sein, etwas von den Sachen zu verstehen, die die Ärzte sagen. Ich komme mir so unwissend vor.«
Hilda betrachtete sie. War es ein unbewußter Wunsch Janices, aus diesem Haus fortzukommen? Oder war sie vielleicht an dem jungen Arzt interessiert, von dem Mrs. Fairbanks gesprochen hatte? Sie wechselte das Thema. »Erzählen Sie mir etwas über den Haushalt hier, Miss Janice«, forderte sie das junge Mädchen auf. Janice hatte sich eine Zigarette angezündet, sie sah beruhigt und froh aus. »Nennen Sie mich einfach Jan«, bat sie, »jeder nennt mich so. Also: Wir haben gegenwärtig vier Angestellte, drei wohnen hier im Haus – oben, in den Zimmern des hinteren Flügels – und Amos außer Haus; er hat seine Wohnung über dem Stall. Sie sind alle schon seit vielen Jahren bei uns, Maggie seit zwanzig, William sogar seit dreißig und Ida seit zehn.«
»Und Sie vertrauen ihnen völlig?«
»Gewiß.«
»Gibt es Leute, die regelmäßig im Haus verkehren?«
Janice runzelte die Stirn. »Nur mein Vater. Granny mag keine Besuche. Und Mutter trifft ihre Freunde meistens im Klub oder in einem Restaurant.«
Sie erhob sich und betrachtete nachdenklich die Schuhschachtel mit der Fledermaus. »Sie werden sie der Polizei zeigen, nicht wahr?« fragte sie.
»Ihre Großmutter scheint es zu wünschen.«
Janice tat einen tiefen Atemzug. »Ich mußte es tun«, sagte sie leise. »Ich hatte Angst, sie würden sie für verrückt erklären. Sie entmündigen lassen. Ich mußte zur Polizei gehen, Miss Adams.«
»Wer sind ›sie‹?«
Aber Janice war bereits gegangen, und Hilda blieb nachdenklich zurück. Sie nahm ihr Strickzeug zur Hand, legte es jedoch bald wieder weg und griff nach ihrem Buch. Sie las den Abschnitt über Arsen nach …
Später machte sie die erste Eintragung auf ihrem Merkblatt. »23.30 Uhr. Patientin aufgeregt. Puls schwach, aber rasch. Will kein Schlafmittel nehmen.«
Während sie noch schrieb, wurde plötzlich das Radio in Mrs. Fairbanks’ Zimmer angestellt, so plötzlich, daß Hilda erschrocken auffuhr. Die überlauten Klänge stachen wie tausend schreiende Teufelchen gegen ihr Trommelfell. Zehn Minuten hielt sie den Lärm aus, dann klopfte sie an die Tür. »Ist alles in Ordnung?« rief sie.
Mrs. Fairbanks antwortete zu ihrer Überraschung sofort; sie mußte sich in der Nähe der Tür aufhalten. »Natürlich ist alles in Ordnung«, sagte sie scharf. »Aber bleiben Sie trotzdem draußen sitzen – gehen Sie nicht weg.«