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Das schönste Geschenk, dass Professor Bürgel aus seinen Studienjahren in Spanien mit nach Deutschland nahm, war seine bildhübsche Frau Maria, sein Ein und Alles. Umso untröstlicher war der damals noch junge Maler, als die Geliebte früh verstarb. Doch die kluge Frau Scholz gab ihm am Grab den kleinen Sohn als Aufgabe in den Arm, eine Verantwortung, an der der Künstler Halt fand. Das ist alles lange her. Aus dem Maler, dessen tiefe Trauer seine Kunst erst zum Blühen brachte, ist ein berühmter Professor geworden, aus dem kleinen Sohn ein vergnügter Student, der ab und zu aus Berlin kommt, um den Vater und seine liebenswerte Kusine Charlotte zu besuchen, die mit im Haus wohnt. Die seit Beginn seiner kurzen Ehe bestehende Freundschaft zu dem Ehepaar Scholz ist geblieben und immer noch, lange nach dem Tod ihres Mannes, besucht der ältere Herr die inzwischen sehr alte Dame in ihrer Villa. Zum Entsetzen der langjährigen Dienerschaft, der Bürgels, und der ganzen Stadt wird sie eines Morgens erschlagen in ihrem Schlafzimmer aufgefunden. Bald darauf bemerkt Charlotte eine seltsame Veränderung an ihrem Onkel und wird wenig später von der Nachricht überrascht, er habe den Mord an Frau Scholz gestanden. Weil nichts darauf hinweist, kein Motiv, keine Gelegenheit, muss er als geistesgestört ins Irrenhaus. Eines Tages wird in dieser verwirrenden Zeit Charlotte ein Graf Albert als Besuch gemeldet. Noch weiß sie nicht, dass der spanische Adelige eine besondere Verbindung zu ihrer Familie hat und der Schlüssel zu allen Rätseln ist. Unbemerkt tritt ihr Schicksal in das Haus.Der kalte Stolz des alten Adels oder wie aus Rache Liebe wird: ein ungewöhnlicher Kriminalroman!-
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Seitenzahl: 205
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Anny von Panhuys
Kriminal-Roman
Saga
Die aus dem Hause Villalta
© 1921 Anny von Panhuys
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711570456
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
Still, kühl und vornehm lag die kleine Villenstrasse, kein Atemzug der grossen Stadt drang bis in ihre Ruhe, ihren Frieden. Und doch liefen kaum zehn Minuten von hier die Hauptverkehrsadern des grossstädtischen Strassennetzes zusammen. Wenn nicht ab und zu das halbverklingende Läuten einer Strassenbahn leise herübergeklungen wäre, hätte man meinen können, sich in einem Provinzstädtchen zu befinden.
Milder Frühlingssonnenglanz übergoss mit liebevoller Wärme die kleinen, meist zweistöckigen Häuschen, die sich so anmutig inmitten der Gärten lagerten, in denen schon ein lichtes Grün an Bäumen und Sträuchern sprosste. Ganz am Ende der Strasse, in dem grössten der Gärten, der mit seinen hohen alten Bäumen fast einem Parke glich, kauerte wie ein schneeweisses braves Kätzchen eine winzige Villa, das Weiss des neuen Anstrichs leuchtete förmlich.
Doch nur die Farbe des Häuschens war neu, im übrigen sah man sofort, dass die Form der Bauart einer überwundenen Geschmacksrichtung angehörte. Kein Erker, kein Türmchen zierte das weisse Gebäude, und vielleicht gerade deshalb wirkte es so eigenartig.
Zwei Männer, Kaufleute oder kleine Beamte, gingen vorüber, ihre lauten Schritte hallten aufreizend in die Stille, und auf das Häuschen deutend, sagte der eine: „Ein reizendes Besitztum, namentlich der grosse Garten! Für unsereinen, der mit Wohnungen in Mietskasernen fürlieb nehmen muss, eine Utopie.“
Der andere lächelte: „Gewiss, — und der Reichtum der Frau, die dieses Häuschen bewohnt, ist für uns gleichfalls etwas Unerreichbares.“
„Wer bewohnt es denn?“ gab sein Begleiter fragend zurück.
„Eine Frau von Scholz, die Witwe eines Chemikers, der die Zusammenstellung einer wertvollen Farbe entdeckte und mit Hilfe eines Kapitalisten diese Entdeckung gut ausbeutete. Doch hat das viele Geld keinen besonderen Wert für ihn gehabt, da sein einziger Sohn schon mehrere Jahre vor ihm begraben wurde. In der Villa lebt Frau von Scholz, die schon eine sehr alte Frau sein soll, ganz zurückgezogen von der Welt, doch heisst es, sie täte viel für die Armen, deshalb wollen wir ihr den Reichtum gönnen,“ schloss der Auskunftgeber.
Die beiden bogen um die Ecke. — — —
Vor der Gartentür des kleinen weissen Hauses stand ein Briefträger und läutete.
Ein Mann in mittleren Jahren, halb wie ein Diener gekleidet, öffnete.
„Guten Morgen, Herr Mellner, ich habe einen Einschreibebrief für die gnädige Frau,“ sagte der Briefträger und wollte dem mit Mellner Angeredeten ins Haus folgen.
„Die gnädige Frau ist heute noch gar nicht auf, wenigstens hat sie noch nicht nach ihrer Kammerfrau geklingelt,“ meinte Mellner, der schon seit langen Jahren die Stelle eines Hausmeisters in der Villa bekleidete. „Geben Sie den Brief her, ich werde sehen, ob Frau von Scholz wach ist,“ setzte er, die Hand ausstreckend, hinzu.
„Nein, Herr Mellner, den Brief muss ich der gnädigen Frau selbst einhändigen.“
„Meinetwegen,“ brummte der Hausmeister und griff sich nach dem Kopfe, als empfinde er dort einen heftigen Schmerz. „Kommen Sie,“ er öffnete die Tür und liess den Postboten eintreten. Ihm voranschreitend, stiess er die leicht angelehnte Küchentür auf, hinter der man Frauenstimmen vernahm. „Ist die gnädige Frau noch nicht wach?“ rief er fragend in die Küche, in der seine Frau, die als Köchin im Hause bedienstet war, sich mit Lina Birndl, der Kammerfrau, unterhielt.
„Die Gnädige hat noch immer nicht geklingelt,“ antwortete die letztere und fügte besorgt hinzu: „Sie wird doch nicht etwa krank sein, denn gewöhnlich verlangt sie doch so um neun herum nach ihrem Frühstück, und jetzt ist’s bereits halb elf.“
„Da müssen Sie mal die Ungnade der Gnädigen riskieren und hinaufgehen, um nachzusehen. Uebrigens ist der Briefträger mit einem Einschreibebrief da, das gibt Ihnen einen Vorwand,“ entschied Mellner.
Die Kammerfrau ging, doch man wartete und wartete, sie kam nicht zurück. Der Briefträger begann schon ungeduldig zu werden, da machte sich endlich der Hausmeister selbst auf den Weg und stieg die Treppe hinauf. Vorsichtig drückte er die Klinke zum Wohnzimmer der Herrin nieder, und da er die Kammerfrau hier nicht fand, rief er leise ihren Namen.
Keine Antwort.
Sacht über den Teppich schreitend, horchte er an dem Samtvorhang, der den Eingang zum Nebenraum abschloss, doch kein Laut verriet ihm, dass sich jenseits des dunkelblauen Vorhanges Menschen befanden. Unheimlich war die Stille.
Wieder griff die Rechte des Mannes an die Stirn, dann zog er schnell den Vorhang zurück und seine Augen spähten in das halbdunkle Schlafgemach der Frau von Scholz. Durch die geschlossenen Läden lugten neugierig ein paar Sonnenstrahlen und schufen im Verein mit dem finsteren Zimmer ein mattes Dämmerlicht.
Da, mitten in dem nicht allzugrossen Raume, unterschieden seine Blicke endlich die Gestalt der Kammerfrau, die ohnmächtig gewesen zu sein schien und sich eben stöhnend erhob, doch ihrer nicht achtend, forschten seine Augen weiter. Er erschauerte, dort, quer über dem Bette ruhte ein Frauenkörper. Zitternd tappte der grosse starke Mann vorwärts, ohne die Kammerfrau zu beachten, auf das Bett zu. Ein erstickter Schrei entrang sich seinen Lippen, als er den Laden des neben dem Lager befindlichen Fensters aufstiess.
Das Antlitz mit den Händen bedeckend, floh die Kammerfrau.
Er bemerkte es nicht. Er fühlte die Knie unter sich wanken. Ein irrer Glanz trat in seine Augen, und plötzlich stürzte er, wie von Furien gejagt, durch das Vorzimmer die Treppe hinunter.
Ihm war’s, als umwoge ihn blutroter Nebel, mit verzerrtem Gesicht fiel er drunten auf einen Küchenstuhl, und minutenlang mühten sich seine Frau und der Postbote um ihn, sie wussten ja schon von Lina, die laut weinend das Entsetzliche verkündet hatte, was geschehen war. Und doch erzitterten sie bis ins Innerste, als er endlich bebend hervorbrachte: „Die gnädige Frau ist ermordet worden!“
„Du gütiger Heiland, so ist es wahr? Ich meinte, die Lina rede irre. Mann, um Christi willen, so nimm dich doch zusammen,“ schrie die dicke Köchin auf und schüttelte den starr Dasitzenden, seine steinerne Miene war ihr unheimlich.
Doch der schien gefühllos, seine Augen sahen weit aufgerissen ins Leere und mechanisch wiederholte er immer aufs neue denselben Satz: „Die gnädige Frau ist ermordet worden!“
Die Frau fasste zuerst einen Entschluss: „Da musst du gleich auf die Polizei,“ redete sie ihm zu, doch er hörte und regte sich nicht, als wüsste er nicht, dass Menschen um ihn waren.
Kopfschüttelnd entfernte sich der Briefträger, man sah es ihm an, dass er darauf brannte, seine Neuigkeit weiter zu tragen, während die Köchin mit einem letzten Blick auf ihren noch immer wie erstarrt dasitzenden Gatten, beflügelten Schrittes auf die nächste Polizeiwache eilte.
Die Kriminalpolizei war sofort am Tatort erschienen, mit neugierigen Augen von der Menschenmenge empfangen, die sich bereits vor der kleinen Villa angesammelt hatte. Der Briefträger hatte schnell die neueste Mär herumerzählt, und mit Windeseile war sie weiterverbreitet worden. In den belebten Hauptstrassen wurden bald Extrablätter ausgerufen, die man den Händlern beinahe aus den Fingern riss, denn das Wort „Mord“ elektrisiert die grosse Menge sofort, nun gar, wenn dieses Wort im Zusammenhang mit einer der reichsten und wohltätigsten Bewohnerinnen der Stadt gebracht wird.
Doch wussten die Blätter natürlich noch nicht viel zu sagen. Näheres musste erst die Untersuchung ergeben.
Gespannt erwartete man die Abendblätter, doch auch sie vermochten nur wenig Neues zu berichten.
Nur etwas ausführlicher beschrieben sie den Fall.
Nach ihrer Darstellung erfuhr man folgendes:
Die Witwe Frau von Scholz war am z. Mai vormittags in dem Schlafzimmer ihrer Villa ermordet aufgefunden worden. Die Tat war bereits am Abend vorher geschehen, wie die ärztliche Feststellung ergeben hatte, und der Tod musste sofort eingetreten sein, die Schädeldecke war zertrümmert. Neben dem Bett, auf dem man die alte Dame in voller Kleidung fand, lag ein blutbefleckter Morgenstern, mit dem augenscheinlich der mörderische Schlag geführt wurde.
Ein Morgenstern ist eine keulenartige, mittelalterliche Waffe, deren Kolben sternförmig mit Nägeln beschlagen ist.
Dieser Morgenstern stammte aus der Waffensammlung des verstorbenen Herrn von Scholz und hing im Wohnzimmer der Ermordeten, das sich neben dem Schlafzimmer befand. Der Schreibtisch im Wohnzimmer, in dem Frau von Scholz ihr Geld für den Gebrauch aufzubewahren pflegte, war offen, doch zeigte er keine Spuren gewaltsamer Oeffnung. Es musste sich eine ziemlich grosse Summe darin befunden haben, denn der Hausmeister Mellner hatte ausgesagt, dass am Tage vorher eine Hypothek, die seine Herrin auf ein Haus in der Provinz gegeben, in barem Gelde an sie zurückgezahlt wurde.
Von der Dienerschaft käme als Täter wahrscheinlich niemand in Betracht, schlossen die Berichte.
Mehr konnten die Blätter vorläufig nicht mitteilen.
Viel mehr aber wusste bis jetzt auch die Polizei nicht.
Sie hatten die Tote gefunden, wie es die Zeitungen beschrieben. Die leere Geldkassette in dem offenstehenden Schreibtisch deutete auf Raubmord, sonst aber verriet nichts, nicht die geringste Kleinigkeit, wo man den Mörder zu suchen habe.
Zuerst wurde natürlich die Dienerschaft verhört.
Aus der Kammerfrau war nicht viel herauszubekommen. Die schluchzte nur unaufhörlich vor sich hin. War ihr doch Frau von Scholz eine gute, liebevolle Herrin gewesen, bei der sie sich schon seit zwei Jahrzehnten in Stellung befand.
Das erzählte sie auch wieder und wieder dem Kriminalkommissar, der die Untersuchung leitete.
„Wenn Frau von Scholz so gut zu Ihnen war, dann ist es Ihre Pflicht, sich jetzt zusammenzunehmen und mir ordentlich auf meine Fragen zu antworten, denn der kleinste Fingerzeig kann uns eine wichtige Spur weisen,“ meinte der Kommissar. „Sie werden doch nicht dazu beitragen wollen, dass diese abscheuliche Tat ungesühnt bleiben soll.“
Lina schüttelte energisch den Kopf, schluckte ihre Tränen tapfer hinunter und erzählte, ohne dass der Beamte fragen oder einzuhelfen brauchte:
„Gestern abend um einhalb acht servierte ich im Wohnzimmer, zusammen mit Mellner, den Tee. Herr Professor Bürgel war bei der gnädigen Frau und blieb zum Tee. Nach dem Servieren ging ich zu Frau Mellner und ihrem Mann in die Küche, ass mit ihnen wie immer zur Nacht und suchte gegen neun Uhr mein Mansardenzimmer auf. Bei der Nachttoilette bedurfte die gnädige Frau, trotz ihrer Jahre, niemals meiner Hilfe. Morgens gegen neun Uhr pflegte sie nach dem Frühstück zu klingeln, doch als es heute bereits einhalb elf schlug und sie noch nichts von sich hören liess, und ausserdem der Briefträger kam, um einen Einschreibebrief abzugeben, bin ich nachsehen gegangen, was das lange Schweigen meiner Dame bedeute. Oben habe ich in dem halbfinsteren Schlafzimmer erst nichts recht erkennen können, doch dann sah ich die Gestalt auf dem Bett, sah das Blut,“ — — Lina schauderte rückerinnernd zusammen, — „und wurde ohnmächtig,“ schloss sie leise, und ihre Tränen begannen schon wieder zu fliessen.
Die Köchin wusste nicht das Geringste auszusagen, dagegen deckte sich die Erzählung des Hausmeisters mit der Linas vollkommen.
„Kam Herr Professor Bürgel öfter ins Haus?“ frug der Kommissar den blass und elend aussehenden Mellner.
„O ja, er war der beste Bekannte der gnädigen Frau und verkehrte schon zu Lebzeiten des seligen Herrn bei uns.“
Der Beamte musste über das familiäre „bei uns“ lachen, trotz des Ernstes der Situation.
„Wie lange ungefähr?“ fragte er weiter.
„Ach wohl schon über zwanzig Jahre.“
„Sind Sie schon so lange bei Frau von Scholz? Die Kammerfrau diente ja der Ermordeten gleichfalls schon so viele Jahre,“ sagte interessiert der Kommissar.
„Jawohl,“ warm klang Mellners Stimme, „und meine Frau ist noch etwas länger hier in Stellung. Bei der Gnädigen konnte man’s aushalten, sie zahlte hohen Lohn und behandelte uns anständig und höflich. Sie war ein Engel, die gute, liebe Gnädige,“ zitternd brach ihm die Stimme.
Ein schöner Nachruf aus dem Munde ihres Bediensteten. Und doch musste eine solche Frau einem fluchwürdigen Verbrechen zum Opfer fallen.
„Man möchte an der himmlischen Gerechtigkeit zweifeln,“ murmelte Mellner, und der Beamte meinte deutlich das Aufeinanderknirschen der Zähne des Sprechenden zu hören.
Der joviale Kommissar machte sich einige Notizen und meinte: „Vorläufig wollen wir uns aber mehr um die irdische Gerechtigkeit kümmern. Und deshalb müssen Sie mir mal zunächst noch einigt Fragen beantworten. Wann verliess der Herr Professor das Haus?“
„Kurz nach neun Uhr.“
„Oeffneten Sie ihm das Haustor?“
„Jawohl, auch die Gartentür.“
„Und schlossen Sie hinter ihm ab, oder blieb die Gartentür offen?“
„Ich schloss ab, die Gartentür war immer, auch tagsüber verschlossen.“
„Fanden Sir die Tür heute früh noch zu?“
„Jawohl, wie immer. Um acht Uhr wurden die Brötchen gebracht, da schloss ich zum ersten Male heute auf.“
Prompt kamen die Antworten, und der Kommissar hielt vorerst keine Frage mehr für nötig. Mellner konnte gehen, und das tat er denn auch mit erleichtertem Atemholen, er musste sich niederlegen, um ein Stündchen zu ruhen.
Ihm war grässlich zumute, immer noch meinte er das blutüberströmte Gesicht seiner guten Herrin vor sich zu sehen. Seine starke Frau war ihm in all den schweren Tagen, die durch die Untersuchungen in der Villa und die wiederholten endlosen Verhöre seine sonst so kräftigen Nerven erzittern machten, eine zuverlässige Stütze.
Auch Professor Bürgel musste ein Verhör über sich ergehen lassen, doch seine Aussage beschränkte sich darauf, dass er — wie schon oft zuvor — bei seiner alten Freundin zum Tee gewesen und sich kurz nach neun Uhr wieder auf den Heimweg gemacht hatte.
Nicht das winzigste Anzeichen ward erspäht, das auf die Fährte des Mörders wies, nur ward die Polizei durch Denunziationen auf alle mögliche falsche, zeitraubende Spuren gehetzt.
Langsam geriet der Mord in der stillen, weissen Villa in Vergessenheit, und auf dem Grab der Ermordeten blühten schon des Sommers leuchtende Rosen, als plötzlich der Name von Scholz bei Gelegenheit der Eröffnung ihres Testaments in den Zeitungen wieder viel genannt wurde. Noch einmal ward in spaltenlangen Artikeln der edle Charakter der auf so fürchterliche Weise Geendeten voll gewürdigt.
Frau von Scholz hatte in ihrem letzten Willen verfügt, dass sie, da sie keine Verwandten besitze, ihr gesamtes Vermögen der Stadt zu wohltätigen Stiftungen vermache. Ihr Haus und Mobiliar möge die Stadt versteigern und den Erlös dafür zum Vermögen schlagen, die Waffensammlung mit dem wertvollsten Stück, dem Morgenstern, den Professor Bürgel so oft bewunderte, hinterlasse sie ihrem lieben, alten Freunde.
Der Morgenstern! Das war ja die alte Waffe gewesen, mit der man sie erschlug. Die Polizei hatte ihn damals an sich genommen, und er lag bei den Akten der Mordsache Scholz.
Professor Bürgel nahm die Waffensammlung, aber auf den Morgenstern verzichtete er freiwillig, rotes Blut, das sich inzwischen dunkel gefärbt, sass ja an dem Kolben und liess den Stern von Nägeln rostig erscheinen. So blieb die rohe Waffe in polizeilichem Gewahrsam, doch der Professor musste oft an den Morgenstern denken, den er noch an dem Abend in den Händen gehalten, da er seine alte Freundin zum letztenmal gesehen.
Professor Bürgel, der berühmte Maler, bewohnte drunten am Flusse ein hübsches, bequemes Haus. Weit über Deutschlands Grenzen kannte man seinen Namen, und Künstler und Kenner nannten ihn mit Ehrfurcht. In allen grösseren Bildergalerien hingen seine frischen, lebenswarmen Porträts, und mancher vornehmen, reichen Dame oder schönen Künstlerin dünkte es das erstrebenswerteste Ziel, von ihm gemalt zu werden. Ihm zum Bild sitzen zu dürfen, galt als Gunst und Auszeichnung.
In den letzten Jahren konnten sich nur wenige dieser Auszeichnung rühmen, denn er war längst nicht mehr der fleissige, schöpfungsfrohe Künstler von einst.
Versonnen und verträumt ging er durch die Tage, selten nur, dass ihm ein auffallend interessanter oder schöner Frauenkopf den alten Eifer und Enthusiasmus an seinem Schaffen wachrief. Er, der Frauenreiz und Grazie zu schätzen wusste wie kaum ein zweiter.
Er, der sowohl als Mann wie als Künstler eine der schönsten Frauen sein eigen genannt, die je mit reinem Fuss über irdische Wege schritt.
„Wen Gott lieb hat, den lässt er jung sterben!“ damit hatte ihn oft die immer liebevolle, anteilnehmende Frau von Scholz zu trösten versucht, wenn ihm das Leben nach dem Tod der jungen Gattin zuweilen gar so öde und wertlos schien. Sie und ihr Mann zeigten in jener schmerzlichen Zeit, dass sie wahre, treue Freunde waren.
Wie ein zärtliches Elternpaar um den Sohn trauert, ging ihnen sein Kummer nahe, und ihr Beistand stärkte ihn, so dass er seiner Kunst treu blieb. Seine Künstlerschaft reifte am Leid.
Als man die berühmt schöne Frau Bürgel einsenkte auf dem Friedhof, weit draussen, wo der Grossstadt hohe Häuser sich in immer weiteren Abständen verlieren, da meinte er, nun sei für immer Freude und Glück dahin. Doch da führte ihm Frau von Scholz den kleinen Buben zu, sein Kind, für das er in den Tagen der Krankheit seiner Gattin keinen Blick gehabt. Und das Bürschchen legte die schmalen Arme um seinen Hals und sein Stimmchen sprach: „Nicht traurig sein, Väterchen, Tante Scholz sagt, Mamacita ist im Himmel und bittet den lieben Gott, dass du ein grosser Künstler wirst und ich ein braver Mensch.“
„Die gute Mamacita soll den lieben Gott nicht vergebens bitten,“ entgegnete er bewegten Tones und drückte den Kleinen an sich.
Die Worte der Frau von Scholz, die sie ihm durch den Mund des Kindes sagte, erschütterten ihn und machten ihn stark. Rastlos ging er an seine Arbeit, und die Kunst wurde ihm, wie allen, die sich ihr ganz weihen, zum heilsamen Balsam, der sich mild auf seine Herzenswunde legte. Er ward berühmt. Der Professortitel ward ihm zuteil und bald galt er als einer der ersten Porträtisten Deutschlands. Doch das schönste Gesicht, das sein Pinsel je auf die Leinwand gebannt, war lange, lange geschaffen, ehe sein Ruhm begann. Das war seine Gattin gewesen, die schöne Kastilianerin Maria Villalta, die er mit heimgebracht als herrlichste Ausbeute seiner spanischen Studienzeit.
In schwerem, prunkvollem Rahmen hing das Bild im Wohnzimmer Professor Bürgels, und immer, wenn ihm ein neues Werk gelungen, das seinen Ruhm weiter hinaustrug in die Welt, dann trat er davor hin und erzählte Maria von seiner Freude und Befriedigung.
Der purpurne Mund in dem feinen, kameenzart geschnittenen Oval, über das ein matter Elfenbeinschimmer lag, lächelte süss und lieb, und es war, als ob die mandelförmigen schwarzen Augen, über die sich schmal und gerade die dunklen Brauen zogen, aufleuchteten in stolzem Glück. Das waren seine schönsten Stunden. Seinem Sohn war er ein liebevoller Vater, der an allem, was ein Knabenherz quält oder beseligt, teilnahm. Ein älterer Freund und Kamerad wurde er seinem Jungen, der prächtig heranwuchs und sich, da die Zeit der Berufswahl nahte, für den Juristenstand entschied. Er arbeitete zur Zeit in Berlin und war vor kurzem Assessor geworden. Der Professor hatte eine verwaiste Nichte bei sich, die er als kleines Mädchen zu sich nahm und die nun, da sie erwachsen war, seinem Haushalt vorstand. Charlotte Synitz besass ein grosses Vermögen, doch war sie einfach und anspruchslos.
Der Professor lebte in seinem stillen Heim, sich um Welt und Menschen wenig kümmernd. Seit Frau von Scholz, die gütige, mütterliche Freundin, ein so schreckliches Ende fand, ging er nur noch wenig aus.
Das seltsame, menschenscheue Wesen, das er in der letzten Zeit angenommen, seit er seine Malerei fast aufgegeben hatte, vertiefte sich mehr und mehr, und Charlotte Synitz fand ihn beinahe immer vor dem Bilde seiner toten Gattin.
Lange Gespräche hielt er mit dem Bild und gab ihm Antworten, als hätte es Fragen gestellt.
Wenn das junge Mädchen dann zuweilen ins Zimmer trat, sah er gar nicht auf und redete weiter, schier unheimlich wirkte das.
Eine angenehme Unterbrechung brachten nur die kurzen Besuche Ernst Bürgels, da ward der Professor, der mit seinen vierundfünfzig Jahren schon einem müden, alten Manne glich, wieder elastisch und lebensfroher, doch sobald der Sohn nach Berlin zurückkehrte, fiel er wieder zusammen.
Auch Charlotte Synitz freute sich, wenn die schlanke, vornehme Gestalt des Vetters von Zeit zu Zeit heimkehrte in das Häuschen, an dem mit leisem Murmeln der Fluss vorüberzog.
Ein frohes Lachen klang dann wohl von ihren Lippen, und in ihre kühlen, blauen Augen trat Jugendglanz.
Allzuoft aber kam Ernst nicht, in Berlin war’s lustiger, da konnte man sich mit gleichgesinnten Kollegen vergnügen und mit amüsanten, kleinen Mädchen Spässe treiben. Hier dagegen — der Vater mühte sich lustig zu sein, und man merkte ihm doch den Zwang an, und die hübsche Kusine —, du lieber Gott, die wusste nicht viel davon, wie es draussen im Leben aussah. Die konnte nur Bücherweisheit verkunden, und ihre Augen hatten manchmal etwas so Unbequemes, Forschendes, besonders, wenn er den Vater um ein paar braune Scheine gebeten hatte.
Es war, als ahnte sie, welche Gespräche er mit dem Vater in dessen Zimmer führte, wenn er mit neckendem „Bleib’ draussen, Kusinchen, ich muss dem Vater eine kleine Beichte ablegen,“ dem Professor folgte. Der Vater verlor nie ein Wort über diese kleinen Beichten, er fand es scheinbar selbstverständlich, dass ein flotter, junger Mann sein Dasein genoss.
Der Vater verfügte auch über reichliche Mittel, seine Gattin, die graziöse Komtesse Maria Villalta, brachte ihm ja dereinst ein bedeutendes Vermögen mit in die Ehe, ganz abgesehen von dem Geld, das ihm seine Kunst eingetragen. Unter so günstigen Umständen wäre es wahrlich eine Schande gewesen, hätte „der reiche Bürgel“, wie man Ernst in seinem Bekanntenkreis nannte, sich nicht beteiligt an allem, was Vergnügen und Zerstreuung hiess.
„Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang, der bleibt ein Narr sein Lebelang,“ sang er einmal und wollte Charlotte umfassen, doch die hatte sich losgerissen und vorwurfsvoll gesagt: „Du hast vergessen, das Spiel zu nennen, das muss wohl das Allerschönste sein!“
Er lachte: „Meinst du?“
„Ja, sonst würden doch nicht so viele Menschen Glück und Ehre verspielen. Unsagbaren Jammer haben die Karten schon in die Welt gebracht!“
„Ach so, Lottchen,“ wehrte er ab, „das soll wohl ’ne Moralpauke sein? Merkwürdig, wie übertrieben so ein Frauenkopf die harmlosesten Dinge beurteilt. Hast natürlich gehört, dass ich dem Vater erzählte, ich hätte ein paar Mark im Spiel verloren. Aber, Herzchen, das darfst du nicht tragisch nehmen. Das gehört so quasi für unsereinen mit dazu.“
„Nein, Ernst, das sollst du nicht sagen, das klingt hässlich,“ brauste sie auf, und eine leichte Röte stieg ihr in das sonst so blasse Antlitz. „Ich bin nicht prüde und zimperlich, und Muckertum ist mir verhasst, ich bestreite niemandem einen Genuss, mag jeder seine Jugend nützen, doch finde ich es wenig standesgemäss, wenn die Herren in durchwachten Nächten dem eklen Spielteufel Hunderte und Tausende opfern, mit denen man armen Menschen das Leben erleichtern könnte. Wieviel Tränen vermöchte man damit zu trocknen! Und so mancher spielt und vergisst, wie schwer oft Elternhände das Geld herbeischafften, das sie fiebernd auf ein Kartenblatt setzen. O, Ernst, ich bitte, ich beschwöre dich,“ ihre Stimme sank zu leisem Flüstern herab, „lass ab vom Spiel, sonst kommt auch dir der Tag, da du es verfluchst. Der Onkel gibt dir Unsummen, um deiner Leidenschaft zu frönen, und er bleibt gleichmütig dabei, es ist, als begriffe er nicht, dass er dir damit schadet. Er lebt ja längst nicht mehr in der Wirklichkeit. Sein Geist weilt in ferner Vergangenheit, immer sitzt er vor dem Bilde deiner seligen Mutter und vergisst die Gegenwart. Darum, Ernst, da er dir keinen Einhalt gebietet,“ beschwörend klang es, „so höre auf mich, entsage dem Spiel, es führt dich zum Verderben! Die Karten hat Beelzebub selbst in bösester Stunde gezeichnet.“
Sie wollte weitersprechen, doch er unterbrach sie rauh und brüsk: „Nun schweige endlich davon, Charlotte, und verekle mir das Vaterhaus nicht.“
Sie blickte ihn gross an, so schroff war er noch nie zu ihr gewesen. Ihre entsetzten Augen entwaffneten ihn, sein Aerger verflog, und lächelnd ihre Hand ergreifend, sagte er: „Was wärst du für ein liebes Geschöpf, wenn du etwas weniger tragisch sein würdest.“
Er hatte vielleicht recht, sie nahm alles viel zu schwer. Sie mühte sich gleichfalls ein Lächeln ab, und im Ohr klang es ihr: Verekle mir das Vaterhaus nicht!
Nein, nein, das wollte sie nicht, er musste wiederkommen, oft, recht oft, brachte er doch einen Strom von Frohsinn mit sich und gab ihr davon, ohne dass er es wusste. Sie hatte ihn gern, den lebenslustigen Ernst, der niemals daran dachte, in ihr etwas anderes zu sehen, als eine hübsche, ein wenig pedantische Base.
Der Professor stand vor dem Bilde seiner Frau, und seine Blicke hingen entzückt an dem zarten Köpfchen, das seine Künstlerhand vor vielen, vielen Jahren gemalt. Damals sass ihm Maria gegenüber, und ihr radebrechendes Deutsch hatte ihn immer wieder zum Lachen gereizt. Wie drollig sie ihm dann mit dem Finger drohte, er meinte es förmlich vor sich zu sehen, nur die Hand brauchte er auszustrecken und ihre niedlichen Fingerchen, die er so oft bewundert, waren in seiner Gewalt.
Seine Hand glitt suchend vorwärts — und griff ins Leere. Zerronnen war das holde Schemen, die Wirklichkeit grinste ihn an, kühl und grau.
Er war allein, ganz allein, und schon fünfundzwanzigmal hatten die Linden draussen vor der Tür so schwer und düftereich geblüht, seit Maria von ihm gegangen.
Wie die Zeit verrann.