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Die Ursache, Der Keller, Der Atem, Die Kälte und Ein Kind – erschienen zwischen 1975 und 1982 – galten (und gelten) als die Selbstbeschreibung des Lebens Thomas Bernhards, in denen deutlich wird, warum er zu dem Schriftsteller geworden ist, der er ist. Doch inzwischen ist es möglich, diese Autobiographie nicht nur als Darstellung der Wahrheit, sondern auch als Dichtung zu lesen.
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Seitenzahl: 736
Thomas Bernhard
Die Autobiographie
Suhrkamp Verlag
Die Ursache
Der Keller
Der Atem
Die Kälte
Ein Kind
Eine Andeutung
Zweitausend Menschen pro Jahr versuchen im Bundesland Salzburg ihrem Leben selbst ein Ende zu machen, ein Zehntel dieser Selbstmordversuche endet tödlich. Damit hält Salzburg in Österreich, das mit Ungarn und Schweden die höchste Selbstmordrate aufweist, österreichischen Rekord.
Salzburger Nachrichten am 6. Mai 1975
G R Ü N K R A N Z
Die Stadt ist, von zwei Menschenkategorien bevölkert, von Geschäftemachern und ihren Opfern, dem Lernenden und Studierenden nur auf die schmerzhafte, eine jede Natur störende, mit der Zeit verstörende und zerstörende, sehr oft nur auf die heimtückisch-tödliche Weise bewohnbar. Die extremen, den in ihr lebenden Menschen fortwährend irritierenden und enervierenden und in jedem Falle immer krankmachenden Wetterverhältnisse einerseits und die in diesen Wetterverhältnissen sich immer verheerender auf die Verfassung dieser Menschen auswirkende Salzburger Architektur andererseits, das allen diesen Erbarmungswürdigen bewußt oder unbewußt, aber im medizinischen Sinne immer schädliche, folgerichtig auf Kopf und Körper und auf das ganze diesen Naturverhältnissen ja vollkommen ausgelieferte Wesen drückende, mit unglaublicher Rücksichtslosigkeit immer wieder solche irritierende und enervierende und krankmachende und erniedrigende und beleidigende und mit großer Gemeinheit und Niederträchtigkeit begabte Einwohner produzierende Voralpenklima erzeugen immer wieder solche geborene oder hereingezogene Salzburger, die zwischen den, von dem Lernenden und Studierenden, der ich vor dreißig Jahren in dieser Stadt gewesen bin, aus Vorliebe geliebten, aber aus Erfahrung gehaßten kalten und nassen Mauern ihren bornierten Eigensinnigkeiten, Unsinnigkeiten, Stumpfsinnigkeiten, brutalen Geschäften und Melancholien nachgehen und eine unerschöpfliche Einnahmequelle für alle möglichen und unmöglichen Ärzte und Leichenbestattungsunternehmer sind. Der in dieser Stadt nach dem Wunsche seiner Erziehungsberechtigten, aber gegen seinen eigenen Willen Aufgewachsene und von frühester Kindheit an mit der größten Gefühls- und Verstandesbereitschaft für diese Stadt einerseits in den Schauprozeß ihrer Weltberühmtheit wie in eine perverse Geld und Widergeld produzierende Schönheits- als Verlogenheitsmaschine, andererseits in die Mittel- und Hilflosigkeit seiner von allen Seiten ungeschützten Kindheit und Jugend wie in eine Angst- und Schreckensfestung Eingeschlossene, zu dieser Stadt als zu seiner Charakter- und Geistesentwicklungsstadt Verurteilte, hat eine, weder zu grob, noch zu leichtfertig ausgesprochen, mehr traurige und mehr seine früheste und frühe Entwicklung verdüsternde und verfinsternde, in jedem Falle aber verhängnisvolle, für seine ganze Existenz zunehmend entscheidende, furchtbare Erinnerung an die Stadt und an die Existenzumstände in dieser Stadt, keine andere. Verleumdung, Lüge, Heuchelei entgegen, muß er sich während der Niederschrift dieser Andeutung sagen, daß diese Stadt, die sein ganzes Wesen durchsetzt und seinen Verstand bestimmt hat, ihm immer und vor allem in Kindheit und Jugend, in der zwei Jahrzehnte in ihr durchexistierten und durchexerzierten Verzweiflungs- als Reifezeit, eine mehr den Geist und das Gemüt verletzende, ja immer nur Geist und Gemüt mißhandelnde gewesen ist, eine ihn ununterbrochen direkt oder indirekt für nicht begangene Vergehen und Verbrechen strafende und bestrafende und die Empfindsamkeit und Empfindlichkeit, gleich welcher Natur, in ihm niederschlagende, nicht die seinen Schöpfungsgaben förderliche. Er hat in dieser Studierzeit, die zweifellos seine entsetzlichste Zeit gewesen ist, und von dieser seiner Studierzeit und den Empfindungen, die er in dieser Studierzeit gehabt hat, ist hier die Rede, für den Rest seines Lebens einen hohen Preis und wahrscheinlich die Höchstsumme zahlen müssen. Diese Stadt hat die ihm von seinen Vorfahren überkommene Zuneigung und Liebe als Vorauszuneigung und Vorausliebe seinerseits nicht verdient und ihn immer und zu allen Zeiten und in allen Fällen bis zum heutigen Tage zurückgewiesen, abgestoßen, ihn jedenfalls vor den schutzlosen Kopf gestoßen. Hätte ich nicht diese letzten Endes den schöpferischen Menschen von jeher verletzende und verhetzende und am Ende immer vernichtende Stadt, die mir durch meine Eltern gleichzeitig Mutterund Vaterstadt ist, von einem Augenblick auf den andern, und zwar in dem entscheidenden lebensrettenden Augenblick der äußersten Nervenanspannung und größtmöglichen Geistesverletzung hinter mich lassen können, ich hätte, wie so viele andere schöpferische Menschen in ihr und wie so viele, die mir verbundene und vertraute gewesen sind, diese für diese Stadt einzige bezeichnende Probe auf das Exempel gemacht und hätte mich urplötzlich umgebracht, wie sich viele in ihr urplötzlich umgebracht haben, oder ich wäre langsam und elendig in ihren Mauern und in ihrer das Ersticken und nichts als das Ersticken betreibenden unmenschlichen Luft zugrunde gegangen, wie viele in ihr langsam und elendig zugrunde gegangen sind. Ich habe sehr oft das besondere Wesen und die absolute Eigenart dieser meiner Mutter- und Vaterlandschaft aus (berühmter) Natur und (berühmter) Architektur erkennen und lieben dürfen, aber die in dieser Landschaft und Natur und Architektur existierenden und sich von Jahr zu Jahr kopflos multiplizierenden schwachsinnigen Bewohner und ihre gemeinen Gesetze und noch gemeineren Auslegungen dieser ihrer Gesetze haben das Erkennen und die Liebe für diese Natur (als Landschaft), die ein Wunder, und für diese Architektur, die ein Kunstwerk ist, immer gleich abgetötet, immer schon gleich in den ersten Ansätzen abgetötet, meine auf mich selber angewiesenen Existenzmittel waren immer gleich wehrlos gewesen gegen die in dieser Stadt wie in keiner zweiten herrschende Kleinbürgerlogik. Alles in dieser Stadt ist gegen das Schöpferische, und wird auch das Gegenteil immer mehr und mit immer größerer Vehemenz behauptet, die Heuchelei ist ihr Fundament, und ihre größte Leidenschaft ist die Geistlosigkeit, und wo sich in ihr Phantasie auch nur zeigt, wird sie ausgerottet. Salzburg ist eine perfide Fassade, auf welche die Welt ununterbrochen ihre Verlogenheit malt und hinter der das (oder der) Schöpferische verkümmern und verkommen und absterben muß. Meine Heimatstadt ist in Wirklichkeit eine Todeskrankheit, in welche ihre Bewohner hineingeboren und hineingezogen werden, und gehen sie nicht in dem entscheidenden Zeitpunkt weg, machen sie direkt oder indirekt früher oder später unter allen diesen entsetzlichen Umständen entweder urplötzlich Selbstmord oder gehen direkt oder indirekt langsam und elendig auf diesem im Grunde durch und durch menschenfeindlichen architektonisch-erzbischöflich-stumpfsinnig-nationalsozialistisch-katholischen Todesboden zugrunde. Die Stadt ist für den, der sie und ihre Bewohner kennt, ein auf der Oberfläche schöner, aber unter dieser Oberfläche tatsächlich fürchterlicher Friedhof der Phantasien und Wünsche. Dem Lernenden und Studierenden, der sich in dieser überall nur im Rufe der Schönheit und der Erbauung und zu den sogenannten Festspielen alljährlich auch noch in dem Rufe der sogenannten Hohen Kunst stehenden Stadt zurecht und Recht zu finden versucht, ist sie bald nurmehr noch ein kaltes und allen Krankheiten und Niedrigkeiten offenes Todesmuseum, in welchem ihm alle nur denkbaren und undenkbaren, seine Energien und Geistesgaben und -anlagen rücksichtslos zersetzenden und zutiefst verletzenden Hindernisse erwachsen, die Stadt ist ihm bald nicht mehr eine schöne Natur und eine exemplarische Architektur, sondern nichts anderes als ein undurchdringbares Menschengestrüpp aus Gemeinheit und Niedertracht, und er geht nicht mehr durch Musik, wenn er durch ihre Gassen geht, sondern nurmehr noch abgestoßen durch den moralischen Morast ihrer Bewohner. Die Stadt ist dem in ihr aufeinmal um alles Betrogenen, seinem Alter entsprechend, in diesem Zustand nicht Ernüchterung, sondern Entsetzen, und sie hat für alles, auch für Erschütterung, ihre tödlichen Argumente. Der Dreizehnjährige ist plötzlich, wie ich damals empfunden (gefühlt) habe und wie ich heute denke, mit der ganzen Strenge einer solchen Erfahrung, mit vierunddreißig Gleichaltrigen in einem schmutzigen
und stinkenden, nach alten und feuchten Mauern und nach altem und schäbigem Bettzeug und nach jungen, ungewaschenen Zöglingen stinkenden Schlafsaal im Internat in der Schrannengasse zusammen und kann wochenlang nicht einschlafen, weil sein Verstand nicht versteht, warum er plötzlich in diesem schmutzigen und stinkenden Schlafsaal zu sein hat, weil er als Verrat empfinden muß, was ihm als Bildungsnotwendigkeit nicht erklärt wird. Die Nächte sind ihm eine Beobachtungsschule der Verwahrlosung der Schlafsäle in den öffentlichen Erziehungsanstalten und in der Folge überhaupt der Erziehungsanstalten und immer wieder der in diesen Erziehungsanstalten Untergebrachten, Kinder aus den Landgemeinden, die von ihren Eltern, wie er selbst, aus dem Kopf und aus der Hand in die staatliche Züchtigung gegeben sind und die, wie ihm während seiner nächtlichen Beobachtungszwänge scheint, ihre Erschöpfungszustände ohne weiteres zu einem tiefen Schlaf machen können, während er selbst seinen noch viel größeren Erschöpfungszustand als einen ununterbrochenen Verletzungszustand niemals auch nur zu einem Augenblick Schlaf machen kann. Die Nächte ziehen sich als Verzweiflungs- und Angstzustände in die Länge, und was er hört und sieht und mit fortwährendem Erschrecken wahrnimmt, ist immer nur neue Nahrung für neue Verzweiflung. Das Internat ist dem Neueingetretenen ein raffiniert gegen ihn und also gegen seine ganze Existenz entworfener, niederträchtig gegen seinen Geist gebauter Kerker, in welchem der Direktor (Grünkranz) und seine Gehilfen (Aufseher) alle und alles beherrschen und in welchem nur der absolute Gehorsam und also die absolute Unterordnung der Zöglinge, also der Schwachen unter die Starken (Grünkranz und seine Gehilfen), und nur die Antwortlosigkeit und die Dunkelhaft zulässig sind. Das Internat als Kerker bedeutet zunehmend Strafverschärfung und schließlich vollkommene Aussichts- und Hoffnungslosigkeit. Daß ihn jene, die ihn, wie er immer geglaubt hat, liebten, bei vollem Bewußtsein in diesen staatlichen Kerker geworfen haben, begreift er nicht, was ihn schon in den ersten Tagen in erster Linie beschäftigt, ist naturgemäß der Selbstmordgedanke. Das Leben oder die Existenz abzutöten, um es oder sie nicht mehr leben und existieren zu müssen, dieser plötzlichen vollkommenen Armseligkeit und Hilflosigkeit durch einen Sprung aus dem Fenster oder durch Erhängen beispielsweise in der Schuhkammer im Erdgeschoß ein Ende zu machen, erscheint ihm das einzig Richtige, aber er tut es nicht. Immer wenn er in der Schuhkammer Geige übt, für die Geigenübungen ist ihm von Grünkranz die Schuhkammer zugeteilt worden, denkt er an Selbstmord, die Möglichkeiten, sich aufzuhängen, sind in der Schuhkammer die größten, es bedeutet ihm keinerlei Schwierigkeit, an einen Strick zu kommen, und er macht schon am zweiten Tag einen Versuch mit dem Hosenträger, gibt diesen Versuch aber wieder auf und macht seine Geigenübung. Immer wenn er künftig in die Schuhkammer eintritt, tritt er in den Selbstmordgedanken ein. Die Schuhkammer ist mit Hunderten von schweißausschwitzenden Zöglingsschuhen in morschen Holzregalen angefüllt und hat nur eine knapp unter der Decke durch die Mauer geschlagene Fensteröffnung, durch welche aber nur die schlechte Küchenluft hereinkommt. In der Schuhkammer ist er allein mit sich selbst und allein mit seinem Selbstmorddenken, das gleichzeitig mit dem Geigenüben einsetzt. So ist ihm der Eintritt in die Schuhkammer, die zweifellos der fürchterlichste Raum im ganzen Internat ist, Zuflucht zu sich selbst, unter dem Vorwand, Geige zu üben, und er übt so laut Geige in der Schuhkammer, daß er selbst während des Geigenübens in der Schuhkammer ununterbrochen fürchtet, die Schuhkammer müsse in jedem Augenblick explodieren, unter dem ihm leicht und auf das virtuoseste, wenn auch nicht exakteste kommenden Geigenspiel geht er gänzlich in seinem Selbstmorddenken auf, in welchem er schon vor dem Eintritt in das Internat geschult gewesen war, denn er war in dem Zusammenleben mit seinem Großvater die ganze Kindheit vorher durch die Schule der Spekulation mit dem Selbstmord gegangen. Das Geigenspiel und der tägliche Ševčík waren ihm in dem Bewußtsein, es auf der Geige niemals zu etwas Großem zu bringen, ein willkommenes Alibi für das Alleinsein und Mitsichselbstsein in der Schuhkammer, in die während seiner Übungszeit kein Mensch Zutritt hatte; an der Außenseite der Tür hing ein von der Frau Grünkranz beschriftetes Schild mit der Aufschrift »Kein Zutritt, Musikübung«. Jeden Tag sehnte er sich danach, die ihn vollkommen erschöpfenden Erziehungsqualen im Internat mit dem Aufenthalt in der Schuhkammer unterbrechen, mit der Musik auf seiner Geige diese fürchterliche Schuhkammer seinen Selbstmordgedankenzwecken nützlich machen zu können. Er hatte auf seiner Geige seine eigene, seinem Selbstmorddenken entgegenkommende Musik gemacht, die virtuoseste Musik, die mit der im Ševčík vorgeschriebenen Musik aber nicht das geringste zu tun hatte und auch nichts mit den Aufgaben, die ihm sein Geigenlehrer Steiner gestellt hatte, diese Musik war ihm tatsächlich ein Mittel, sich jeden Tag nach dem Mittagessen von den übrigen Zöglingen und von dem ganzen Internatsgetriebe absondern und sich selbst hingeben zu können, nichts anderes, sie hatte mit einem Geigenstudium, wie es erforderlich gewesen wäre, zu welchem er gezwungen worden war, das er aber, weil er es im Grunde nicht wollte, verabscheute, nichts zu tun. Diese Übungsstunde auf der Geige in der beinahe vollkommen finsteren Schuhkammer, in welcher die bis an die Decke geschlichteten Zöglingsschuhe ihren in der Schuhkammer eingesperrten Leder- und Schweißgeruch mehr und mehr verdichteten, war ihm die einzige Fluchtmöglichkeit. Sein Eintritt in die Schuhkammer bedeutete gleichzeitiges Einsetzen seiner Selbstmordmeditation und das intensivere und immer noch intensivere Geigenspiel eine immer intensivere und immer noch intensivere Beschäftigung mit dem Selbstmord. Tatsächlich hat er in der Schuhkammer viele Versuche gemacht, sich umzubringen, aber keinen dieser Versuche zu weit getrieben, das Hantieren mit Stricken und Hosenträgern und die Hunderte von Versuchen mit den in der Schuhkammer zahlreichen Mauerhaken waren immer in dem entscheidenden lebensrettenden Punkte abgebrochen worden und von ihm durch bewußteres Geigenspiel, durch ganz bewußtes Abbrechen des Selbstmorddenkens und ganz bewußte Konzentration auf die ihn mehr und mehr faszinierenden Möglichkeiten auf der Geige, die ihm mit der Zeit weniger ein Musikinstrument als vielmehr ein Instrument zur Auslösung seiner Selbstmordmeditation und Selbstmordgefügigkeit und zum plötzlichen Abbrechen dieser Selbstmordmeditation und Selbstmordgefügigkeit gewesen war; einerseits hochmusikalisch (Steiner), andererseits naturgemäß einer vollkommenen Nichtdisziplin Vorschriften betreffend verfallen (ebenso Steiner), hatte sein Geigenspiel und vornehmlich in der Schuhkammer einen durch und durch nur seinem Selbstmorddenken entgegenkommenden Zweck, keinen andern, und seine Unfähigkeit, den Befehlen Steiners zu gehorchen, auf der Geige, und das heißt in dem Geigenstudium als solchem weiterzukommen, war offensichtlich gewesen. Das Selbstmorddenken, das ihn im Internat und außerhalb beinahe ununterbrochen beschäftigte und welchem er sich in dieser Zeit und in dieser Stadt durch nichts und in keiner Geistesverfassung entziehen hatte können, war ihm in dieser Zeit mit seiner Geige und mit seinem Spiel auf der Geige wie mit nichts anderem verbunden gewesen, und es war damals immer schon allein durch den Gedanken an das Geigenspiel und dann intensiv mit dem Auspacken der Geige und mit dem angefangenen Geigenspiel in Gang gekommen als ein Mechanismus, dem er sich mit der Zeit vollkommen ausliefern hatte müssen und der erst mit der Zerstörung der Geige zum Stillstand gekommen ist. Er hat später, wenn ihm
die Schuhkammer zu Bewußtsein gekommen ist, sehr oft gedacht, ob es nicht besser gewesen wäre, in dieser Schuhkammer seine Existenz abzuschließen, seine ganze Zukunft, gleich, was ihr Inhalt war, mit dem Selbstmord zu liquidieren, wenn er den Mut dazu gehabt hätte, als diese alles in allem auf jeden Fall vollkommen fragwürdige Existenz, deren Inhalt mir jetzt bekannt ist, über Jahrzehnte fortzusetzen. Er war aber für einen solchen Entschluß immer zu schwach gewesen, während so viele im Internat in der Schrannengasse Selbstmord gemacht haben, diesen Mut aufgebracht haben, merkwürdigerweise keiner in der Schuhkammer, die doch für den Selbstmord die ideale gewesen wäre, sie hatten sich alle aus den Schlafzimmerfenstern, aus den Abortfenstern gestürzt oder im Waschraum an den Brausen aufgehängt, hatte er nie die Kraft und die Entschiedenheit und Charakterfestigkeit für den Selbstmord aufgebracht. Tatsächlich haben sich während seiner Zeit und wieviele vorher und nachher!, im Internat in der Schrannengasse, allein in der nationalsozialistischen Zeit zwischen Herbst dreiundvierzig (seinem Eintreten) und Herbst vierundvierzig (seinem Austreten), vier Zöglinge umgebracht, aus dem Fenster gestürzt, aufgehängt und viele andere aus der Stadt aus unerträglicher Kopfverzweiflung vom Schulweg abgekommene Schüler von den beiden Stadtbergen gestürzt, mit Vorliebe vom Mönchsberg direkt auf die asphaltierte Müllner Hauptstraße, die Selbstmörderstraße, wie ich diese fürchterliche Straße immer betitelt habe, weil ich sehr oft auf ihr zerschmetterte Menschenkörper liegen gesehen habe, Schüler oder Nichtschüler, aber vornehmlich Schüler, Fleischklumpen in bunten Kleidungsstücken, der Jahreszeit entsprechend. Auch heute, drei Jahrzehnte später, lese ich immer wieder in regelmäßigen Abständen und gehäuft im Frühjahr und im Herbst von selbstgemordeten Schülern und anderen, jährlich von Dutzenden, obwohl es, wie ich weiß, Hunderte sind. Wahrscheinlich ist in Internaten und vornehmlich in solchen unter den extremsten menschensadistischen und naturklimatischen Bedingungen wie in der Schrannengasse das Hauptthema unter den Lernenden und Studierenden, unter den Zöglingen kein anderes als das Selbstmordthema, alles andere also als ein wissenschaftlicher Gegenstand, ein solcher Gegenstand nicht aus der Studienmasse heraus, sondern aus dem ersten, alle gemeinsam am intensivsten beschäftigenden Gedanken heraus, und der Selbstmord und der Selbstmordgedanke ist immer der wissenschaftlichste Gegenstand, aber das ist der Lügengesellschaft unverständlich. Das Zusammensein mit den Mitzöglingen ist immer ein Zusammensein mit dem Selbstmordgedanken gewesen, in erster Linie mit dem Selbstmordgedanken, erst in zweiter Linie mit dem Lern- oder Studierstoff. Tatsächlich habe nicht nur ich während meiner ganzen Lern- und Studierzeit die meiste Zeit mit dem Selbstmordgedanken zubringen müssen, dazu herausgefordert von der brutalen, rücksichtslosen und in allen ihren Begriffen gemeinen Umwelt einerseits, von der in jedem jungen Menschen größten Sensibilität und Verletzbarkeit andererseits. Die Lern- und Studierzeit ist vornehmlich eine Selbstmordgedankenzeit, wer das leugnet, hat alles vergessen. Wie oft, und zwar hunderte Male, bin ich durch die Stadt gegangen, nur an Selbstmord, nur an Auslöschung meiner Existenz denkend und wo und wie ich den Selbstmord (allein oder in Gemeinschaft) machen werde, aber diese durch alles in dieser Stadt hervorgerufenen Gedanken und Versuche haben immer wieder zurück in das Internat, in den Internatskerker geführt. Den Selbstmordgedanken als den einzigen ununterbrochen wirksamen hatte nicht nur jeder für sich gehabt, alle haben diesen ununterbrochenen Gedanken gehabt, und die einen sind von diesem Gedanken gleich getötet und die anderen von diesem Gedanken nur gebrochen worden, und zwar für ihr ganzes Leben gebrochen; über den Selbstmordgedanken und über Selbstmord ist immer debattiert und diskutiert und in allen ausnahmslos ununterbrochen geschwiegen worden, und immer wieder ist aus uns ein tatsächlicher Selbstmörder hervorgegangen, ich nenne ihre Namen nicht, die ich zum Großteil gar nicht mehr weiß, aber ich habe sie alle hängen und zerschmettert gesehen als Beweis für die Fürchterlichkeit. Mir sind mehrere Begräbnisse auf dem Kommunalfriedhof und auf dem Maxglaner Friedhof, auf welchen solche von ihrer Umwelt umgebrachte dreizehn- oder vierzehnjährige oder fünfzehn- oder sechzehnjährige Menschen als Zöglinge verscharrt, nicht begraben worden sind, bekannt, denn in dieser streng katholischen Stadt sind diese jungen Selbstmörder natürlich nicht begraben worden, sondern nur unter den deprimierendsten, menschenentlarvendsten Umständen verscharrt. Diese beiden Friedhöfe sind voller Beweise für die Richtigkeit meiner Erinnerung, die mir, dafür danke ich, durch nichts verfälscht worden ist und die hier nur Andeutung sein kann. Den an der Verscharrstelle schweigenden Grünkranz in seinen Offiziersstiefeln, die in schamvollem Entsetzen in pompöser Schwärze dastehenden sogenannten Anverwandten des Selbstmörders, die Mitschüler, die einzigen an der Verscharrstelle um die Wahrheit und um die ehrliche Fürchterlichkeit der Wahrheit Wissenden, die den Vorgang solcher Verlegenheitsbegräbnisse beobachten, sehe ich, Wörter, mit welchen sich die sogenannten hinterbliebenen Erziehungsberechtigten von dem Selbstmörder zu distanzieren versuchen, während sie ihn in seinem Holzsarg in die Erde hinuntergelassen haben, höre ich. Ein Geistlicher hat in einer solchen, dem Stumpfsinn des Katholizismus vollkommen ausgelieferten und von diesem katholischen Stumpfsinn vollkommen beherrschten Stadt, die dazu in dieser Zeit auch noch eine durch und durch nazistische Stadt gewesen ist, bei einem Selbstmörderbegräbnis nichts zu suchen. Der ausgehende Herbst und das in Fäulnis und Fieber eingetretene Frühjahr haben immer ihre Opfer gefordert, hier mehr als anderswo in der Welt, und die für den Selbstmord Anfälligsten sind die jungen, die von ihren Erzeugern und anderen Erziehern alleingelassenen jungen Menschen, lernenden und studierenden und tatsächlich immer nur in Selbstauslöschung und Selbstvernichtung meditierenden, für welche einfach noch alles die Wahrheit und die Wirklichkeit ist und die in dieser Wahrheit und Wirklichkeit als einer einzigen Fürchterlichkeit scheitern. Jeder von uns hätte Selbstmord machen können, von den einen haben wir es vorher immer deutlich ablesen können, von den andern nicht, aber wir haben uns selten getäuscht. Wenn einer aufeinmal in einem Schwächezustand der furchtbaren Last seiner Innenwelt wie seiner Umwelt, weil er das Gleichgewicht dieser beiden ihn fortwährend bedrückenden Gewichte verloren hatte, nicht mehr standhalten konnte, und dann plötzlich, von einem bestimmten Zeitpunkt an, alles in ihm und an ihm auf Selbstmord deutete, sein Entschluß, Selbstmord zu machen, an seinem ganzen Wesen zu bemerken und bald mit erschreckender Deutlichkeit abzulesen gewesen war, waren wir immer vorbereitet gewesen auf das uns nicht überraschende Fürchterliche als Tatsache, auf den jetzt konsequent vollzogenen Selbstmord unseres Mitschülers und Leidensgefährten, während der Direktor mit seinen Gehilfen niemals und auch nicht in einem einzigen Falle auf eine solche ja immer auch äußerlich lange Zeit sich entwickelnde und zu beobachtende Phase der Vorbereitung zum Selbstmord aufmerksam geworden und dadurch von dem Selbstmord des Selbstmörders als Zögling naturgemäß immer vor den Kopf gestoßen war oder vorgegeben hatte, von dem Selbstmord des Selbstmörders als Zögling vor den Kopf gestoßen zu sein, er hatte sich jedesmal entsetzt, gleichzeitig sich von dem doch nichts als Unglücklichen als betrügerischem Unverschämten hintergangen gezeigt und war in seiner uns alle abstoßenden Reaktion auf den Selbstmord des Zöglings
immer unbarmherzig gewesen, kalt und nazistisch-egoistisch Anklage erhebend gegen einen Schuldigen, der naturgemäß in jedem Falle immer unschuldig ist, denn den Selbstmörder trifft keine Schuld, die Schuld trifft die Umwelt, hier also immer die katholisch-nazistische Umwelt des Selbstmörders, die diesen von ihr zum Selbstmord getriebenen und gezwungenen Menschen erdrückt hat, er mag aus was für einem Grunde oder aus was für Hunderten und Tausenden von Gründen Selbstmord begangen oder besser gemacht haben, und in einem Internat oder in einer Erziehungsanstalt, deren tatsächliche offizielle Bezeichnung ja Nationalsozialistisches Schülerheim gewesen war, und eben in einer solchen wie der in der Schrannengasse, die jeden Feinnervigen naturgemäß in allem zum Selbstmord verleiten und verführen und zu einem hohen Prozentsatz tatsächlich zum Selbstmord führen mußte, ist ununterbrochen alles ein Grund zum Selbstmord gewesen. Die Tatsachen sind immer erschreckende, und wir dürfen sie nicht mit unserer krankhaft in jedem ununterbrochen arbeitenden und wohlgenährten Angst vor diesen Tatsachen zudekken und die ganze Naturgeschichte als Menschengeschichte dadurch verfälschen und diese ganze Geschichte als eine immer von uns verfälschte Geschichte weitergeben, weil es Gewohnheit ist, die Geschichte zu verfälschen und als verfälschte Geschichte weiterzugeben, wo wir doch wissen, daß die ganze Geschichte nur eine verfälschte und immer nur als verfälschte Geschichte weitergegeben worden ist. Daß er in das Internat hereingekommen ist zum Zwecke seiner Zerstörung, ja Vernichtung, nicht zur behutsamen Geistes- und Empfindungs- und Gefühlsentwicklung, wie ihm beteuert und dann immer und immer wieder vorgemacht worden war, unablässig und mit dem Nachdruck der sich im Grunde dieser unverschämtesten und heimtückischesten und verbrecherischesten aller Erzieherlügen vollkommen bewußten Erziehungsberechtigten, war ihm, dem bis dahin gutgläubigen Zögling, bald klar gewesen, und er hatte vor allem seinen Großvater als seinen Erziehungsberechtigten (sein Vormund war in das Militär, in die sogenannte deutsche Wehrmacht und den ganzen Krieg auf dem sogenannten jugoslawischen Balkan eingezogen gewesen) nicht verstehen können, heute weiß ich, daß mein Großvater keine andere Wahl hatte, als mich in das Internat in der Schrannengasse und also als Vorbereitung auf das Gymnasium in die Andräschule als Hauptschule zu geben, wenn er nicht haben wollte, daß ich aus jeder Art von Mittelschulbildung und also in Konsequenz später Hochschulbildung ausgeschlossen sein sollte, aber auch nur an Flucht zu denken, war sinnlos gewesen, wo die einzige Fluchtmöglichkeit nur die in den Selbstmord gewesen war, und so haben es viele vorgezogen, ihre vom nationalsozialistischen Totalitarismus (und von dieser diesen Totalitarismus wenn auch nicht in allem verherrlichenden, ja anhimmelnden, so doch immer mit Nachdruck fördernden Stadt, die dem jungen hilflosen Menschen auch ohne diesen nationalsozialistischen Totalitarismus als fortwährenden Einfluß auf alles immer nur eine auf nichts als auf Zersetzung und Zerstörung und Abtötung zielende gewesen ist) angeherrschte und damit zum Selbstmord erschütterte Existenz aus dem Fenster zu werfen, von einer der Mönchsbergfelswände herunter, also lieber kurzen und kürzesten und im eigentlichsten elementarsten Sinne des Wortes kürzesten Prozeß zu machen, als sich nach und nach durch einen staatlich-faschistisch-sadistischen Erziehungsplan als staatsbeherrschendes Erziehungssystem nach den Regeln der damaligen großdeutschen Menschenerziehungs- und also Menschenvernichtungskunst zerstören und vernichten zu lassen, denn auch der aus einer solchen Anstalt als Internat entlassene und entkommene junge Mensch, und von keinem anderen spreche ich an dieser Stelle, ist für sein weiteres Leben und seine weitere immer zweifelhafte Existenz, gleich wer er ist und gleich was aus ihm wird, in jedem Falle eine zu Tode gedemütigte und zugleich hoffnungslose und dadurch hoffnungslos verlorene Natur, als Folge seines Aufenthaltes in einem solchen Erziehungskerker als Erziehungshäftling vernichtet worden, er mag Jahrzehnte weiterleben als was und wo immer. So haben vor allem zwei Ängste in dieser Zeit in dem Zögling, der ich damals gewesen bin, geherrscht, die Angst vor allem und jedem im Internat, vornehmlich die Angst vor dem immer unvermittelt und mit der ganzen militärischen Infamie und Schläue auftauchenden und strafenden Grünkranz, der ein Musteroffizier und Muster-SA-Offizier gewesen war und welchen ich fast niemals in Zivil, immer nur entweder in seiner Hauptmanns- oder in seiner SA-Uniform gesehen habe, dieser wahrscheinlich mit seinen sexuellen und pervers-allgemein-sadistischen Krämpfen und Widerkrämpfen, wie ich jetzt weiß, niemals fertig werdende, einem Salzburger Liederchor vorstehende durch und durch nationalsozialistische Mensch einerseits und der Krieg andererseits, der aufeinmal nicht nur aus den Zeitungen und aus den Berichten der urlaubmachenden Verwandten als Soldaten wie von meinem Vormund, der auf dem Balkan, und von meinem Onkel, der in Norwegen stationiert gewesen war und der mir als genialer Kommunist und Erfinder, der er zeitlebens gewesen ist, immer als ein mich mit in jedem Falle außerordentlichen und gefährlichen Gedanken und unglaublichen und ebenso gefährlichen Ideen konfrontierender Geist und schöpferischer Mensch, wenn auch krankhaft unstabiler Charakter im Gedächtnis geblieben ist, als nur in weiter Ferne sich vollziehender ganz Europa beherrschender menschenfressender Alptraum als Bericht gegenwärtig und fühlbar, sondern uns allen aufeinmal durch die jetzt schon beinahe täglichen sogenannten Luft- oder Fliegeralarme gegenwärtig gewesen war, zwei Ängste, zwischen und in welchen sich diese Internatszeit mehr und mehr zu einer lebensbedrohenden entwickeln mußte. Der Studierstoff war von der Angst vor dem Nationalsozialisten Grünkranz einerseits und von der Angst des Krieges in Form von Hunderten und Tausenden tagtäglich den klaren Himmel verdüsternden und verfinsternden, dröhnenden und drohenden Flugzeugen andererseits in den Hintergrund gedrängt, denn die meiste Zeit hatten wir bald nicht mehr in der Schule, in der Andräschule oder in den Studierzimmern und also mit dem Studienmaterial zusammen, verbracht, sondern in den Luftschutzstollen, die, wie wir monatelang beobachtet hatten, von fremdländischen, vornehmlich russischen und französischen und polnischen und tschechischen Zwangsarbeitern unter unmenschlichen Bedingungen in die beiden Stadtberge getrieben worden waren, riesige, Hunderte Meter lange Stollen, in welche die Stadtbevölkerung zuerst nur aus Neugier und nur zögernd, dann aber, nach den ersten Bombenangriffen auch auf Salzburg, tagtäglich zu Tausenden in Angst und Schrecken hineinströmte, in diese finsteren Höhlen, in welchen sich die fürchterlichsten und sehr oft tödlichen Szenen vor unseren Augen abspielten, denn die Luftzufuhr in die Stollen war nicht ausreichend, und oft war ich mit Dutzenden, nach und nach mit Hunderten von ohnmächtigen Kindern und Frauen und Männern in diesen finsteren und nassen Stollen zusammen, in welchen ich heute noch die Tausende von in sie hineingeflüchteten Menschen dicht aneinandergedrängt ängstlich stehen und hocken und liegen sehe. Die Stollen in den Stadtbergen waren ein sicherer Aufenthalt vor den Bomben gewesen, aber viele sind in diesen Stollen erstickt oder aus Angst umgekommen, und ich habe viele in den Stollen Umgekommene und als Tote aus den Stollen Hinausgeschleppte gesehen. Manchmal waren sie reihenweise schon gleich nach ihrem Eintritt in den sogenannten Glockengassenstollen, in welchen wir selbst immer hineingegangen waren, alle Internatszöglinge angeführt von eigens dazu bestimmten Anführern, älteren Studenten, Mitschülern, gemeinsam mit Hunderten und Tausenden von Schülern aus anderen Schulen
durch die Wolf-Dietrich-Straße am Hexenturm vorbei in die Linzer- und in die Glockengasse, reihenweise schon gleich nach ihrem Eintritt in den Stollen ohnmächtig geworden und mußten, um gerettet zu werden, gleich wieder aus dem Stollen hinausgeschleppt werden. Vor den Stolleneingängen warteten immer mehrere große mit Tragbahren und Wolldecken ausgestattete Autobusse, in welche diese Ohnmächtigen hineingelegt worden sind, aber meistens waren es mehr Ohnmächtige, als in diesen Autobussen Platz gehabt hatten, und die in den Autobussen keinen Platz hatten, wurden unter freiem Himmel vor den Stolleneingängen abgelegt, während die in den Autobussen durch die Stadt in das sogenannte Neutor gefahren worden sind, wo die Autobusse mit diesen in ihnen Liegenden, sehr oft auch in ihnen in der Zwischenzeit Verstorbenen, so lange abgestellt waren, bis entwarnt war. Ich selbst war zweimal im Glockengassenstollen ohnmächtig und in einen solchen Autobus hineingeschleppt und während des Alarmzustandes in das Neutor gefahren worden, aber ich hatte mich jedesmal in der frischen Luft außerhalb des Stollens rasch erholt gehabt, so habe ich auch in den Autobussen im Neutor meine Beobachtungen machen können, wie hilflose Frauen und Kinder nach und nach aus ihrer Ohnmacht aufwachten oder ganz einfach nicht mehr aus dieser Ohnmacht aufwachten, und es ist nicht feststellbar gewesen, ob die, die nicht mehr aufwachten, an Erstickung oder aus Angst gestorben sind. Diese an Erstickung oder aus Angst Gestorbenen waren die ersten Opfer dieser sogenannten Luft- oder Terrorangriffe gewesen, bevor noch eine einzige Bombe auf Salzburg gefallen war. Bis es soweit gewesen war, Mitte Oktober neunzehnhundertvierundvierzig, ein vollkommen klarer Herbsttag zu Mittag, sind noch viele auf diese Weise gestorben, sie waren die ersten gewesen von vielen Hunderten oder Tausenden, die dann in den tatsächlichen sogenannten Luftangriffen, Terrorangriffen auf Salzburg umgekommen sind. Einerseits hatten wir Angst vor einem solchen tatsächlichen Luft- oder Bomben- oder Terrorangriff auf unsere Heimatstadt, die bis zu diesem Oktobermittag davon völlig verschont geblieben war, andererseits wünschten wir (Zöglinge) alle insgeheim tatsächlich, mit einem solchen Luft- oder Bomben- oder Terrorangriff als tatsächliches Erlebnis konfrontiert zu sein, wir hatten unser Erlebnis eines solchen fürchterlichen Vorgangs noch nicht gehabt, und die Wahrheit ist, daß wir es aus (pubertärer) Neugierde herbeiwünschten, daß nach den Hunderten von deutschen und österreichischen Städten, die schon bombardiert und zum Großteil auch schon völlig zerstört und vernichtet waren, wie wir wußten und was uns nicht nur nicht verborgen geblieben, sondern tagtäglich aus allen nur möglichen persönlichen Berichten und aus den Zeitungen mit der ganzen Furchtbarkeit des Authentischen aufgedrängt worden war, daß auch unsere Stadt bombardiert wird, was dann, ich glaube, es war der siebzehnte Oktober, geschehen ist. Wie Hunderte Male vorher, waren wir an diesem Tage gleich anstatt in die Schule oder aus der Schule durch die Wolf-Dietrich-Straße in den Glockengassenstollen hineingegangen und hatten dort mit der in einem jungen Menschen immer größtmöglichen Aufnahme- und Beobachtungs- und also auch Sensationsbereitschaft das sich schon gewohnheitsmäßig vollziehende zweifellos schreckliche und erschreckende Geschehen wahrgenommen, die Angst der in den Stollen stehenden und sitzenden und liegenden mehr oder weniger betroffenen, aber doch ununterbrochen von dem ganzen entsetzlichen Geschehen des Krieges bewußt oder unbewußt schon lange Zeit zur Gänze beherrschten Menschen, vornehmlich der Kinder und Schüler und Frauen und alten Männer, die sich in gegenseitiger Hilflosigkeit und in dem permanenten Dauer- als Lauerzustand des Krieges fortwährend, als wäre das schon ihre einzige Nahrung gewesen, beobachteten und beargwöhnten und die alles schon nurmehr noch apathisch mit ihren vor Angst und Hunger gebrochenen Augen verfolgten, gleichgültig zum Großteil die Erwachsenen alles Geschehende, sich in ihrer ganzen totalen Hilflosigkeit zu Ende Vollziehende hinnehmend. Sie waren wie wir schon längst an die in den Stollen Sterbenden gewöhnt gewesen, hatten längst den Stollen und also die Fürchterlichkeit der Finsternisse des Stollens als ihren tagtäglichen gewohnheitsmäßig aufzusuchenden Aufenthaltsort akzeptiert, die ununterbrochene Demütigung und Zerstörung ihres Wesens. An diesem Tage hatten wir zu der Zeit, in welcher sonst immer die sogenannte Entwarnung gewesen war, aufeinmal ein Grollen gehört, eine außergewöhnliche Erderschütterung wahrgenommen, auf die eine vollkommene Stille im Stollen gefolgt war. Die Menschen schauten sich an, sie sagten nichts, aber sie gaben durch ihr Schweigen zu verstehen, daß das, was sie schon monatelang befürchtet hatten, jetzt eingetreten war, und tatsächlich hatte sich bald nach dieser Erderschütterung und dem darauf gefolgten Schweigen von einer Viertelstunde rasch herumgesprochen gehabt, daß auf die Stadt Bomben gefallen waren. Nach der Entwarnung drängten, anders als es bisher ihre Gewohnheit gewesen war, die Menschen aus den Stollen hinaus, sie wollten mit eigenen Augen sehen, was geschehen war. Als wir im Freien gewesen waren, hatten wir aber nichts anderes gesehen als sonst, und wir hatten geglaubt, es sei doch nur wieder ein Gerücht gewesen, daß die Stadt bombardiert worden sei, und wir zweifelten sofort an der Tatsache und hatten uns gleich wieder den Gedanken zu eigen gemacht, daß diese Stadt, die als eine der schönsten auf der Welt bezeichnet wird, nicht bombardiert werden würde, woran wirklich sehr viele in dieser Stadt geglaubt haben. Der Himmel war klar, graublau, und wir hörten und sahen keinerlei Beweis für einen Bombenangriff. Plötzlich hieß es aber doch, die Altstadt, also der Stadtteil auf dem gegenüberliegenden Salzachufer, sei zerstört, alles sei dort zerstört. Wir hatten uns einen Bombenangriff anders vorgestellt, es hätte die ganze Erde beben müssen undsofort, und wir liefen durch die Linzergasse hinunter. Jetzt hörten wir alle möglichen Signale als Notsignale von Feuerwehren und Rettungswagen, und als wir hinter dem Gablerbräu über die Bergstraße auf den Makartplatz gelaufen waren, hatten wir plötzlich die ersten Anzeichen der Zerstörung gesehen: die Straßen waren voll Glas- und Mauerschutt, und in der Luft war der eigentümliche Geruch des totalen Krieges. Ein Volltreffer hatte das sogenannte Mozartwohnhaus zu einem rauchenden Schutthaufen gemacht und die umliegenden Gebäude, wie wir gleich gesehen haben, schwer beschädigt. So fürchterlich dieser Anblick gewesen war, die Menschen waren hier nicht stehen geblieben, sondern in Erwartung einer noch viel größeren Verwüstung weitergelaufen, in die Altstadt, wo man das Zentrum der Zerstörung vermutete und von woher alle möglichen Geräusche und uns bis jetzt unbekannten Gerüche auf eine größere Verheerung hindeuteten. Bis über die sogenannte Staatsbrücke hatte ich keinerlei Veränderung des bekannten Zustandes feststellen können, aber auf dem Alten Markt war, schon von weitem zu sehen, der bekannte und geschätzte Herrenausstatter Slama, ein Geschäft, in welchem, wenn er das Geld und die Gelegenheit dazu hatte, mein Großvater eingekauft hatte, arg in Mitleidenschaft gezogen, sämtliche Fenster des Geschäfts, Auslagenscheiben und die dahinter ausgestellten, wenn auch der Kriegszeit entsprechend minderwertigen, so doch begehrenswerten Kleidungsstücke waren zerschlagen und zerfetzt gewesen, und mich wunderte, daß die Leute, die ich auf dem Alten Markt gesehen hatte, von der Zerstörung des Herrenausstatters Slama kaum Notiz nehmend, in Richtung Residenzplatz liefen, und sofort, wie ich mit mehreren anderen Zöglingen um die Slamaecke gebogen bin, habe ich gewußt, was die Menschen hier nicht stehenbleiben, sondern weiterhasten ließ: den
Dom hatte eine sogenannte Luftmine getroffen, und die Domkuppel war in das Kirchenschiff gestürzt, und wir waren gerade im richtigen Zeitpunkt auf dem Residenzplatz angekommen: eine riesige Staubwolke lag über dem fürchterlich aufgerissenen Dom, und dort, wo die Kuppel gewesen war, war jetzt ein ebenso großes Loch, und wir konnten schon von der Slamaecke aus direkt auf die großen, zum Großteil brutal abgerissenen Gemälde auf den Kuppelwänden schauen: sie ragten jetzt, angestrahlt von der Nachmittagssonne, in den klarblauen Himmel; wie wenn dem riesigen, das untere Stadtbild beherrschenden Bauwerk eine entsetzlich blutende Wunde in den Rücken gerissen worden wäre, schaute es aus. Der ganze Platz unter dem Dom war voll Mauerbrocken, und die Leute, die gleich uns von allen Seiten herbeigelaufen waren, bestaunten das exemplarische, zweifellos ungeheuer faszinierende Bild, das für mich eine Ungeheuerlichkeit als Schönheit gewesen war und von dem für mich kein Erschrecken ausgegangen war, aufeinmal war ich mit der absoluten Brutalität des Krieges konfrontiert, gleichzeitig von dieser Ungeheuerlichkeit fasziniert und verharrte minutenlang, wortlos das noch in Zerstörungsbewegung befindliche Bild, das der Platz mit dem kurz vorher getroffenen und wild aufgerissenen Dom für mich als ein gewaltiges, unfaßbares gewesen war, anschauend. Dann gingen wir, wo alle andern hingingen, in die Kaigasse hinüber, die von Bomben beinahe zur Gänze zerstört war. Lange Zeit standen wir, zur Untätigkeit verurteilt, vor den riesigen qualmenden Schutthaufen, unter welchen, wie es hieß, viele Menschen, wahrscheinlich schon als Tote, begraben waren. Wir schauten auf die Schutthaufen und die auf den Schutthaufen verzweifelt nach Menschen Suchenden, die ganze Hilflosigkeit der plötzlich unmittelbar in den Krieg Hineingekommenen hatte ich in diesem Augenblick gesehen, den vollkommen ausgelieferten und gedemütigten Menschen, der sich urplötzlich seiner Hilflosigkeit und Sinnlosigkeit bewußt geworden ist. Nach und nach waren immer mehr Rettungsmannschaften gekommen, und wir erinnerten uns plötzlich unserer Anstaltsordnung und kehrten um, aber wir gingen dann doch nicht in die Schrannengasse, sondern in die Gstättengasse, aus welcher ebenso große Zerstörungen wie in der Kaigasse gemeldet worden waren. In der Gstättengasse, in dem uralten Hause links vom Mönchsbergaufzug, das zu dieser Zeit noch Verwandten von mir gehörte, die zweifellos zur Zeit des Angriffs in ihrem Hause gewesen waren, habe ich, von dem Haus meiner Verwandten ab, fast alle Gebäude vollkommen vernichtet gesehen, ich hatte bald die Gewißheit, daß meine Verwandten, ein über zweiundzwanzig Nähmaschinen und ihre Opfer herrschender Schneidermeister und seine Familie, lebten. Auf dem Weg in die Gstättengasse war ich auf dem Gehsteig, vor der Bürgerspitalskirche, auf einen weichen Gegenstand getreten, und ich glaubte, es handle sich, wie ich auf den Gegenstand schaute, um eine Puppenhand, auch meine Mitschüler hatten geglaubt, es handelte sich um eine Puppenhand, aber es war eine von einem Kind abgerissene Kinderhand gewesen. Erst bei dem Anblick der Kinderhand war dieser erste Bombenangriff amerikanischer Flugzeuge auf meine Heimatstadt urplötzlich aus einer den Knaben, der ich gewesen war, in einen Fieberzustand versetzenden Sensation zu einem grauenhaften Eingriff der Gewalt und zur Katastrophe geworden. Und als wir dann, wir waren mehrere, von diesem Fund vor der Bürgerspitalskirche erschrocken, über die Staatsbrücke und gegen alle Vernunft nicht in das Internat zurück, sondern zum Bahnhof hinausgelaufen und in die Fanny-von-Lehnert-Straße hineingegangen sind, wo Bomben in das Konsumgebäude gefallen waren und viele Konsumangestellte getötet hatten, und wie wir hinter dem Eisengitter der Grünanlage des sogenannten Konsums reihenweise mit Leintüchern zugedeckte Tote gesehen haben, deren Füße nackt auf dem staubigen Gras lagen, und wir zum erstenmal Lastautos fahren gesehen haben, die riesige Holzsärgestapel in die Fanny-von-Lehnert-Straße transportierten, war uns augenblicklich und endgültig die Faszination der Sensation vergangen. Ich habe bis heute die im Vorgartengras des Konsumgebäudes liegenden mit Leintüchern zugedeckten Toten nicht vergessen, und komme ich heute in die Nähe des Bahnhofs, sehe ich diese Toten und höre ich diese verzweifelten Stimmen der Angehörigen dieser Toten, und der Geruch von verbranntem Tier- und Menschenfleisch in der Fanny-von-Lehnert-Straße ist auch heute und immer wieder in diesem furchtbaren Bild. Das Geschehen in der Fanny-von-Lehnert-Straße ist ein entscheidendes, mich für mein ganzes Leben verletzendes Geschehen als Erlebnis gewesen. Die Straße heißt auch heute noch Fanny-von-Lehnert-Straße, und der Konsum steht wiederaufgebaut an der gleichen Stelle, aber kein Mensch weiß heute, wenn ich die Leute, die dort wohnen und (oder) arbeiten, frage, etwas von dem, das ich damals in der Fanny-von-Lehnert-Straße gesehen habe, die Zeit macht aus ihren Zeugen immer Vergessende. Die Menschen befanden sich zu dieser Zeit in einem fortwährenden Angstzustand, und beinahe ununterbrochen waren amerikanische Flugzeuge in der Luft, und der Gang in die Stollen war allen in der Stadt zur Gewohnheit geworden, viele hatten sich in der Nacht nicht mehr ausgezogen, damit sie bei Alarm sofort den Koffer oder die Tasche mit ihrem Notwendigsten packen und in die Stollen hineingehen konnten, aber viele in der Stadt begnügten sich damit, nur in ihre eigenen Hauskeller hinunterzugehen, weil sie sich dort schon sicher glaubten, aber die Hauskeller waren, fielen Bomben darauf, Gräber. Es war bald mehr am Tage als in der Nacht Alarm gegeben worden, weil sich die Amerikaner ungehindert in der von den Deutschen, wie es schien, vollkommen verlassenen Luft bewegen konnten, bei hellichtem Tage zogen die Bomberschwärme ihre Bahnen zu deutschen Zielen über die Stadt, und gegen Ende vierundvierzig war nur noch selten in der Nacht das Dröhnen und Brummen der sogenannten feindlichen Bombenflugzeuge in der Luft. Aber es gab auch in dieser Zeit noch nächtlichen Fliegeralarm, da waren wir aus den Betten gesprungen und hatten uns angezogen und waren durch die vorschriftsmäßig völlig verdunkelten Gassen und Straßen in die Stollen hinein, die von den Stadtbewohnern immer schon voll gewesen waren, wenn wir hinkamen, denn viele waren schon am Abend, bevor noch Alarm gewesen war, in die Stollen hineingegangen, mit Kind und Kegel, sie hatten es vorgezogen, die Nacht gleich in den Stollen zu verbringen, ohne den Alarm abzuwarten, von dem Sirenengeheul aufgeschreckt und durch die Straßen in die Stollen getrieben zu werden, angesichts der vielen Toten auch in Salzburg nach dem ersten Angriff waren sie zu Tausenden in die Stollen geströmt, in den schwarzen, vor Nässe blinkenden und tatsächlich auch immer lebensgefährlichen, weil viele Todeskrankheiten auslösenden Felsen. Viele haben sich in den auf jeden Fall krankmachenden Stollen den Tod geholt. Daß ich einmal von dem Sirenengeheul aufgeschreckt worden bin in der Nacht, denke ich und, ohne zu denken, zwischen den andern durch auf die Toilette gelaufen bin und wieder von der Toilette zurück in den Schlafsaal gegangen und mich niedergelegt habe und sofort wieder eingeschlafen bin. Kurze Zeit später bin ich durch einen Schlag auf den Kopf aufgewacht, der Grünkranz hatte mir mit der Taschenlampe auf den Kopf geschlagen, ich war aufgesprungen und hatte mich, am ganzen Leib zitternd, vor ihm aufgestellt. Da sah ich, unter dem Schein der Taschenlampe, einer sogenannten Stablampe des Grünkranz, daß alle Betten im Schlafsaal leer waren, in diesem Augenblick war mir eingefallen, daß ja Alarm gegeben worden war und alle in den Stollen gegangen sind, ich selbst war aber, anstatt mich anzuziehen wie die andern, auf die Toilette gegangen und hatte da vergessen, daß Alarm war, und hatte mich, aus der Toilette zurückkommend
und in den vollkommen ruhigen finsteren Schlafsaal zu meinem Bett tastend, weil ich geglaubt hatte, daß alle im Schlafsaal schliefen, weil ich den Alarm vergessen hatte, wieder in mein Bett gelegt und war sofort eingeschlafen, allein in dem riesigen Schlafsaal, während die andern längst in den Stollen waren, der Grünkranz als sogenannter Luftschutzwart hatte mich aber auf seinem Rundgang entdeckt und ganz einfach durch einen Schlag mit der Stablampe auf den Kopf aufgeweckt. Er ohrfeigte mich und befahl mir, mich anzuziehen, und er werde, sagte er, sich eine Strafe für mein Vergehen ausdenken (die Strafe war wahrscheinlich zwei Tage Frühstückslosigkeit gewesen), bevor er mir befahl, in den hauseigenen Luftschutzkeller hinunterzugehen, wo niemand außer seiner Frau, der Frau Grünkranz, zu welcher ich Zutrauen gehabt habe, gewesen war, die Grünkranz saß in der Kellerecke, und ich durfte mich zu ihr setzen, und die Anwesenheit dieser mütterlichen und, wo sie konnte, mich immer beschützenden Frau beruhigte mich. Ich hatte ihr erzählt, daß ich, wie alle andern Zöglinge auch, aufgestanden, aber, anstatt mich anzuziehen und mit ihnen in die Stollen zu gehen, auf die Toilette gegangen war und dann, nach der Rückkehr in den Schlafsaal, auf den Alarm vergessen gehabt und mich wieder niedergelegt hatte, das hätte den Herrn Direktor, ihren Mann, aufgebracht. Ich hatte nicht gesagt, daß ihr Mann mir mit der Stablampe auf den Kopf geschlagen hatte, um mich aufzuwecken, nur daß ich eine Bestrafung zu gewärtigen hätte. In der Nacht waren keine Bomben gefallen. Die Hausordnung im Internat war völlig über den Haufen geworfen, weil immer wieder Alarm gewesen war, gleich was für eine Tätigkeit, sie war bei Alarm sofort abgebrochen worden, und alles ist in die Stollen gegangen, noch während des Sirenengeheuls bewegte sich der Menschenstrom auf die Stollen zu, und vor den Eingängen spielten sich immer entsetzliche Szenen der Gewalttätigkeit ab, hinein drängten die Menschen mit der ganzen ihnen angeborenen und nicht mehr zurückgehaltenen Brutalität genauso wie heraus, und die Schwachen waren sehr oft ganz einfach niedergetrampelt worden. In den Stollen selbst, in welchen die meisten schon ihre angestammten Plätze hatten, waren immer dieselben zusammen, die Menschen hatten Gruppen gebildet, diese Hunderte von Gruppen hockten stundenlang auf dem Steinboden, und manchmal, wenn die Luft ausging und sie reihenweise ohnmächtig wurden, fingen alle zu schreien an, und dann war es auch oft wieder so still, daß man glaubte, diese Tausende in den Stollen wären schon tot. Auf bereitgestellten langen Holztischen waren die Ohnmächtigen abgelegt, bevor sie aus den Stollen hinausgeschleppt worden sind, und mir sind die vielen völlig nackten Frauenkörper auf diesen Tischen noch in Erinnerung, die von Sanitäterinnen und Sanitätern und sehr oft auch von uns selbst unter Anleitung massiert worden sind, um sie am Leben zu erhalten. Diese ganze ausgehungerte und bleiche Todesgesellschaft in den Stollen war von Tag zu Tag und von Nacht zu Nacht gespenstischer. In den Stollen in einer nichts als angstvollen und hoffnungslosen Finsternis hockend, redete diese Todesgesellschaft auch noch immer vom Tod und von nichts sonst, alle bekanntgewordenen und selbsterlebten Kriegsschrecken und Tausende von Todesbotschaften aus allen Richtungen und aus ganz Deutschland und Europa waren hier in den Stollen von allen immer mit großer Eindringlichkeit besprochen worden, während sie hier in den Stollen saßen, breiteten sie in der Finsternis, die hier herrschte, hemmungslos den Untergang Deutschlands und die mehr und mehr zur allergrößten Weltkatastrophe sich entwickelnde Gegenwart aus und hörten damit nur auf in totaler Erschöpfung. Sehr oft waren alle im Stollen von einem fürchterlichen, alles in ihnen niederschlagenden Erschöpfungszustand erfaßt worden, und zum großen Teil lagen sie in langen Haufenreihen eingeschlafen an den Wänden, zugedeckt von ihren Kleidungsstücken und oft schon gänzlich unbeeindruckt von den da und dort hör- und sichtbaren Sterbezuständen ihrer Mitmenschen. Die meiste Zeit waren wir Zöglinge in dieser Zeit in den Stollen, an Lernen, gar Studieren, war bald nicht mehr zu denken gewesen, aber der Internatsbetrieb war krampfhaft und krankhaft aufrecht erhalten worden, obwohl wir beispielsweise sehr oft erst um fünf Uhr früh aus den Stollen in das Internat zurückgekommen waren, sind wir doch nach Vorschrift schon um sechs wieder aufgestanden und in den Waschraum und sind pünktlich um halb sieben im Studierzimmer gewesen, in totaler Erschöpfung war aber an Studieren im Studierzimmer nicht mehr zu denken gewesen, und das Frühstücken war sehr oft nichts anderes als schon wieder der Aufbruch in die Stollen, auf diese Weise sind wir oft tagelang gar nicht mehr in die Schule und zu einem Unterricht gekommen. So sehe ich mich in dieser Zeit beinahe nurmehr noch durch die Wolf-Dietrich-Straße in die Stollen gehen und aus den Stollen durch die Wolf-Dietrich-Straße zurück in das Internat, immer in Scharen, und die zu immer unregelmäßigeren Zeiten stattfindenden, sich auch noch von Tag zu Tag verschlechternden Mahlzeiten waren nur Wartezeiten auf das neuerliche Aufsuchen der Stollen gewesen. War es bald beinahe überhaupt nicht mehr zum Unterricht in der Andräschule gekommen, weil die Schule schon bei der sogenannten Vorwarnung geschlossen und die Schüler aufgefordert worden waren, die Schule zu verlassen und in die Stollen zu gehen, und jeden Tag gegen neun Uhr war ja schon Vorwarnung gewesen, und der Unterricht um acht hatte auch immer nurmehr daraus bestanden, auf die Vorwarnung um neun Uhr zu warten, und kein Lehrer hatte sich mehr in einen tatsächlichen Unterricht eingelassen, alles wartete nur darauf, daß Vorwarnung ist und daß in die Stollen gegangen wird, die Schultaschen sind gar nicht mehr ausgepackt worden, lagen nur griffbereit auf den Lernpulten, die Lehrer vertrieben die Zeit von acht bis neun, bis zur Vorwarnung, mit dem Kommentieren von Zeitungsberichten oder mit dem Berichten von Todesfällen, oder sie schilderten die Zerstörung vieler berühmter deutscher Städte, so war es, was mich betrifft, doch immer zum Englisch- und Geigenunterricht gekommen, denn die Zeit zwischen zwei und vier Uhr war meistens ohne Alarm gewesen. Der Geigenlehrer Steiner unterrichtete mich unbekümmert immer noch im dritten Stock seines Hauses, die Englischlehrerin nurmehr noch in der finsteren ebenerdigen Gaststube in der Linzergasse. Eines Tages, wahrscheinlich nach dem zweiten Bombenangriff auf die Stadt, war aus dem Gasthaus in der Linzergasse, in welchem mich die Dame aus Hannover unterrichtet hatte, ein Schutthaufen geworden, ich hatte von der vollkommenen Zerstörung des Gasthauses keine Ahnung gehabt und war wie immer in die Nachhilfestunde gegangen, plötzlich vor dem Schutthaufen stehend, war mir von jemandem, den ich nicht gekannt habe, der aber offensichtlich mich gekannt hat, gesagt worden, unter dem Schutthaufen lägen alle Bewohner des Gasthauses, auch meine Englischlehrerin. Vor dem Schutthaufen stehend, hörte ich einerseits, was der Unbekannte auf mich einredete, und dachte gleichzeitig an meine nun umgekommene Englischlehrerin aus Hannover, die ja, nachdem sie in Hannover total ausgebombt worden war (so die Bezeichnung für einen Menschen, der in einem Luftangriff oder Fliegerangriff oder sogenannten Terrorangriff alles verloren hat), nach Salzburg geflüchtet ist, um hier vor den Bomben sicher zu sein, und die hier nicht nur wieder alles verloren hat, sondern selbst getötet worden ist. Heute steht ein Kino auf dem Platz, das einmal ein Gasthaus gewesen war, in welchem mich die Dame aus Hannover in Englisch unterrichtet hatte, und kein Mensch weiß, wovon ich rede, wenn ich davon rede, wie überhaupt alle, wie es scheint, ihr Gedächtnis verloren haben, die vielen zerstörten
Häuser und getöteten Menschen von damals betreffend, alles vergessen haben oder nichts mehr davon wissen wollen, wenn man sie darauf anspricht, und komme ich heute in die Stadt, rede ich doch immer wieder die Leute nach dieser fürchterlichen Zeit an, aber sie reagieren kopfschüttelnd. In mir selbst sind diese furchtbaren Erlebnisse immer noch so gegenwärtig, wie wenn sie gestern gewesen wären, Geräusche und Gerüche sind augenblicklich da, wenn ich in die Stadt komme, die ihre Erinnerung ausgelöscht hat, wie es scheint, ich spreche, wenn ich hier mit Menschen spreche, die tatsächlich alte Einwohner dieser Stadt sind und die dasselbe erlebt haben müssen wie ich, mit den Irritiertesten, Unwissendsten, Vergeßlichsten, es ist, als redete ich mit einer einzigen verletzenden, und zwar geistesverletzenden Ignoration. Wie ich vor dem total zerstörten Gasthaus und also vor dem Trümmerhaufen gestanden bin und die Englischlehrerin aus Hannover aufeinmal nichts als Erinnerung gewesen war, hatte ich nicht einmal geweint, obwohl mir zum Weinen gewesen war, und ich weiß noch, daß ich, plötzlich den Umstand bemerkend, daß ich in der Hand ein Kuvert hatte, in welchem das von meinem Großvater der Englischlehrerin für ihre Bemühungen, mich Englisch zu lehren, zu zahlende Geld war, überlegt habe, ob ich nicht zuhause sagen sollte, ich habe der Englischlehrerin, der Dame aus Hannover, noch vor ihrem fürchterlichen Tod das Geld gegeben; ich weiß nicht, ich kann also nicht sagen, wie ich gehandelt habe, wahrscheinlich habe ich zuhause gesagt, ich habe der Dame noch vor ihrem Tod die Stunden bezahlt. So hatte ich aufeinmal keine Englischstunden mehr, nurmehr noch Geigenstunden. Während des Geigenunterrichts schaute ich, die Anordnungen meines strengen, nervösen Lehrers befolgend, einerseits also die Befehle des Steiner aufnehmend und ausführend, andererseits alles, nur nicht das den Geigenunterricht Betreffende denkend und dadurch selbstverständlich im Geigenunterricht nicht vorwärts kommend, auf den Sebastiansfriedhof hinunter, auf das schöne Kuppelmausoleum des Erzbischofs Wolf Dietrich und auf die Gräber als Grabdenkmäler und Grüfte, die von der Zeit schon wieder halb geöffnet waren und eine furchtbare, mich ängstigende Kälte ausströmten, hinunter auf die Friedhofsarkaden mit den Namen der Salzburger Bürger, unter welchen viele Namen von mit mir Verwandten stehen. Ich war schon immer gern auf die Friedhöfe gegangen, das hatte ich von meiner Großmutter mütterlicherseits, die eine leidenschaftliche Friedhofsgängerin und vor allem Leichenhallen- und Aufbahrungsbesucherin gewesen war und mich sehr oft schon als kleines Kind auf die Friedhöfe mitgenommen hatte, um mir die Toten zu zeigen, ganz gleich welche, mit ihr gar nicht verwandte, aber doch immer auf den Friedhöfen aufgebahrte Tote, sie war von den Toten, von den aufgebahrten Toten immer fasziniert gewesen und hatte immer versucht, diese ihre Faszination als Leidenschaft auf mich zu übertragen, sie hatte mich aber doch immer nur mit ihrem Hochheben meiner Person zu den aufgebahrten Toten hin geängstigt, ich sehe sehr oft heute noch, wie sie mich in die Leichenhallen hineinführt und mich hochhebt zu den aufgebahrten Toten und so lange hochhebt, als sie es aushalten hat können, immer wieder ihr siehst du, siehst du, siehst du und so lange hochgehalten hat, bis ich geweint habe, dann hat sie mich auf den Boden gestellt und selbst noch lange auf den aufgebahrten Toten geschaut, bevor wir wieder aus der Aufbahrungshalle hinausgegangen sind. Wöchentlich mehrere Male hatte mich meine Großmutter auf die Friedhöfe und in die Leichenhallen mitgenommen, regelmäßig hatte sie die Friedhöfe besucht, zuerst die Gräber der Verwandten mit mir besucht, dann lange Zeit alle anderen Gräber und Grüfte in Augenschein nehmend, wobei ihr wahrscheinlich kein einziges Grab entgangen war, sie wußte alles über alle Gräber, wie alle Gräber ausschauten, in welchem Zustand sie sich befanden und alle auf diesen Gräbern und Grüften stehenden Namen waren ihr immer geläufig gewesen, so hatte sie einen unerschöpflichen Gesprächsstoff in jeder Gesellschaft. Und wahrscheinlich hatte ich die zugegeben immer große eigene Faszination für die Friedhöfe und auf den Friedhöfen von meiner Großmutter, die mich in nichts mehr geschult hat als in Friedhofsbesuchen und in der Betrachtung und Anschauung der Gräber und in der intensiven Betrachtung und Beobachtung der Aufgebahrten. Sie hatte sogenannte Lieblingsfriedhöfe und alle Friedhöfe, die sie in ihrem Leben kennengelernt und immer und immer wieder aufgesucht hat, solche ihre Lebensstationen markierende Friedhöfe in Meran und in München, in Basel und in Ilmenau in Thüringen, in Speyer und in Wien und in ihrer Heimatstadt Salzburg, wo ihr Lieblingsfriedhof nicht der von Sankt Peter, der oft als der schönste Friedhof der Welt bezeichnet wird, war, sondern der Kommunalfriedhof, auf welchem die meisten meiner Verwandten und schon verstorbenen Weggefährten begraben sind. Mir selber aber ist immer der Sebastiansfriedhof der unheimlichste und dadurch faszinierendste gewesen, und ich bin sehr oft stundenlang auf dem Sebastiansfriedhof gewesen, allein und in todessüchtiger Meditation. Während des Geigenunterrichts, auf den Sebastiansfriedhof hinunterschauend, dachte ich immer, wenn ich nur von dem Steiner in Ruhe gelassen da unten für mich selbst sein könnte, von Grab zu Grab gehend, wie ich das von meiner Großmutter gelernt habe, in Gedanken an die Toten und an den Tod und die Natur zwischen und auf den Gräbern beobachtend, wie sie hier in völliger Abgeschiedenheit die Jahreszeiten ankündigte und wechselte, dieser Friedhof war aufgelassen, und die ehemaligen Besitzer der Grabstätten kümmerten sich nicht mehr um ihren Besitz; oft setzte ich mich auf einen umgefallenen Grabstein, um mich, für ein, zwei Stunden dem Internat entkommen, zu beruhigen. Der Steiner hatte mich zuerst auf der Dreiviertelgeige unterrichtet, dann auf der sogenannten Ganzen, während seines theoretischen und praktischen Unterrichts, jede einzelne Passage aus dem zum Grundstudium herangezogenen Ševčík hatte er mir vorgespielt, worauf ich ihm nachzuspielen hatte, immer wieder aus dem Ševčík, aber doch nach und nach schon klassische Sonaten und andere Stücke, und er klopfte mir in ganz bestimmten, aber immer unvorhergesehenen Augenblicken züchtigend mit seinem Geigenbogen auf die Finger, in zu ihm, zu seinem von und mit der Zeit vollkommen rhythmisierten Wesen passenden Zeitabständen, denn er war beinahe immer wütend über meine Zerstreutheit gewesen, über meinen Widerstand und schon krankhaften Widerwillen gegen das Geigenlernen, denn hatte ich einerseits die größte Lust, Geige zu spielen, die größte, Musik zu machen, weil mir Musik das Schönste überhaupt auf der Welt gewesen war, so haßte ich jede Art von Theorie und Lernprozeß und also, durch fortwährendes aufmerksamstes Befolgen der Regeln des Geigenstudiums in diesem weiterzukommen, ich spielte nach eigenem Empfinden das Virtuoseste und konnte nach Noten nicht das Einfachste einwandfrei, was meinen Lehrer Steiner naturgemäß gegen mich aufbringen mußte, und ich wunderte mich immer wieder, daß er den Unterricht mit mir fortsetzte und nicht ganz einfach von einem Augenblick auf den andern einmal abgebrochen und mich mit Schimpf und Schande nach Hause geschickt hat mit meiner Geige. Die von mir auf meiner Geige produzierte Musik war dem Laien die außerordentlichste und meinen eigenen Ohren die gekonnteste und aufregendste, wenn sie auch eine vollkommen selbsterfundene gewesen war, die mit der Mathematik der Musik nicht das geringste zu tun gehabt hatte, nur mit meinem, so doch Steiner immer wieder, hochmusikalischen Gehör, das Ausdruck meines hochmusikalischen Empfindens gewesen war, wie der Steiner auch immer zu meinem für diese Geigenstunden aufkommenden Großvater gesagt hatte, Ausdruck meines hochmusikalischen
Talents, aber diese von mir allein zur Selbstbefriedigung gespielte Geigenmusik war im Grunde keine andere als dilettantisch meine Melancholien untermalende Musik, die mich naturgemäß daran hinderte, in meinem Geigenstudium, das ein ordentliches hätte sein sollen, weiterzukommen, ich beherrschte, um es kurz zu sagen, die Geige virtuos, aber ich konnte darauf niemals korrekt nach Noten spielen, was den Steiner nicht nur mit der Zeit verdrießen, sondern verärgern mußte. Der Grad meines musikalischen Talents war zweifellos der höchste gewesen, ebenso aber auch der Grad meiner Nichtdisziplin und der Grad meiner sogenannten Zerstreutheit. Die Unterrichtsstunden bei Steiner waren nichts anderes als die sich immer noch intensivierende Aussichtslosigkeit seiner Bemühungen. Gerade in dem Wechsel zwischen Geigenund Englischstunden, zweier vollkommen konträrer Disziplinierungen, hatte ich, abgesehen davon, daß diese beiden mir ermöglichten, in regelmäßigen Abständen ganz korrekt aus dem Internat hinauszukommen, in dem Wechsel von der mich Englisch lehrenden Dame in der Linzergasse, die mich immer beruhigt und auf die sorgfältigste Weise belehrt und mir in jedem Falle ein freundlicher, meine Zuneigung immer noch vergrößernder Mensch gewesen war, zu dem mich doch immer nur peinigenden und deprimierenden Steiner in der Wolf-Dietrich-Straße, von dem Englischen zweimal in der Woche also zum Geigenunterricht zweimal in der Woche, einen mich für die Strenge und fortwährende Züchtigungs- und Verletzungstortur in der Schrannengasse entschädigenden Gegensatz gehabt, und nach dem Verlust der Dame aus Hannover und der Englischstunden war ich gänzlich aus dem Gleichgewicht gekommen, denn die Geigenstunden in der Wolf-Dietrich-Straße allein, ohne die Englischstunden in der Linzergasse, waren kein Gegensatz und kein Ausgleich für alles das gewesen, was das Internat für mich bedeutete und das ich schon angedeutet habe, diese Geigenstunden allein verstärkten nur, was ich im Internat zu überstehen gehabt hatte. Die Aussichtslosigkeit, mir die Kunst des Geigenspiels beizubringen, und es war wohl doch der Wunsch meines Großvaters gewesen, aus mir einen Künstler zu machen, daß ich ein künstlerischer Mensch gewesen war, diese Tatsache hatte ihn zu dem Ziel verleiten müssen, aus mir einen Künstler zu machen, und er hatte mit der ganzen Liebe für den auch ihm zeitlebens nur in Liebe verbundenen Enkel immer alles versucht, aus mir einen Künstler zu machen, aus dem künstlerischen Menschen einen Künstler, einen Musikkünstler oder einen Maler, denn auch zu einem Maler hatte er mich später, nach meiner Salzburger Internatszeit, geschickt, damit ich malen lernte, und immer wieder hatte er dem Knaben und Jüngling auch nur von den größten Künstlern und von Mozart und Rembrandt und von Beethoven und Leonardo und von Bruckner und Delacroix gesprochen, immer mir gegenüber von allen Großen, die er bewunderte, gesprochen und mit Eindringlichkeit mich immer wieder schon als Kind auf das Große hingewiesen und auf das Große gedeutet und mir das Große zu deuten versucht, die Aussichtslosigkeit, mir die Kunst des Geigenspielens beizubringen, aber war von Geigenstunde zu Geigenstunde offensichtlicher, für meinen Großvater, den ich liebte, hatte ich im Geigenspielen ja weiterkommen wollen, etwas erreichen wollen in der Geigenkunst, aber der Wille, meinem Großvater den Gefallen zu tun, ihm den Wunsch, ein Geigenkünstler zu werden, zu erfüllen, genügte allein nicht, ich versagte in jeder Geigenstunde auf das kläglichste, und der Steiner reagierte immer in der Weise darauf, daß er mein Versagen als ein Verbrechen bezeichnete, ein Mensch in einer solchen hochmusikalischen Verfassung wie ich begehe mit dem Zerstreuungsverbrechen das größte Verbrechen überhaupt, meinte er immer wieder und, was auch für mich selbst klar und fürchterlich gewesen war, die Gelder meines Großvaters für meinen Geigenunterricht seien zum Fenster hinausgeworfen, mein Großvater sei aber, so Steiner, ein ihm so sympathischer Mensch, daß er ihm nicht ins Gesicht sagen könne, er solle die Hoffnung, daß aus mir auf der Geige etwas zu machen sei, aufgeben, und wahrscheinlich dachte der Steiner auch, daß zu dieser chaotischen Zeit des bevorstehenden Kriegsendes ja alles tatsächlich und diese ganze Sache mit mir also selbstverständlich auch schon vollkommen gleich sei. Deprimiert war ich aber noch sehr oft am Hexenturm vorbei in die Wolf-Dietrich-Straße und wieder zurück gewandert, und die Geige war ja auch mein kostbares Melancholieinstrument gewesen, das mir, wie ich schon angedeutet habe, Zugang in die Schuhkammer verschaffte und in alle schon angedeuteten Umstände und Zustände in der Schuhkammer. Obwohl ich sehr viele Verwandte hatte in der Stadt, bei welchen ich als Kind, mit der Großmutter vor allem, vom Land herein in die Stadt gefahren, zu Besuch gewesen war, in vielen dieser alten Häuser an beiden Salzachufern, und ich kann sagen, daß ich mit Hunderten von Salzburger Bürgern verwandt war und auch heute noch verwandt bin, hatte ich doch niemals auch nur das geringste Verlangen gehabt, diese Verwandten aufzusuchen, instinktiv glaubte ich nicht an die Nützlichkeit solcher Verwandtenbesuche, und was hätte es geholfen, diesen Verwandten, die, wie ich heute sehe, nicht nur instinktiv fühle