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Der Band ›Die Bauern‹ enthält eine Reihe Novellen und kurze Erzählungen Anton Tschechows, einer der bedeutendsten russischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. In der Erzählung ›Die Bauern‹ kommt der junge Nikolai Tschikildejew aus dem Lakaiendorf Shukowo nach Moskau, wo er im Hotel ›Slawischer Basar‹ kellnert. Krankheit zwingt ihn und seine Frau mit der gemeinsamen Tochter zurück in sein Dorf zu gehen. Ein schwerer Fehler, wie er bald einsehen muss, denn das Leben auf dem Land ist hart und voller Entbehrungen. Weiterhin enthalten: Gram, Träume, Der Leibjäger, Im Gericht, Elend, Agafja, Das Glück, Gußjew, Die Weiber, Das neue Landhaus, Die Hirtenflöte
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Seitenzahl: 249
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LUNATA
Die Bauern
Novellen
© 1897 Anton Tschechow
Originaltitel Mužiki
Aus dem Russischen von Korfiz Holm,
Wladimir Czumikow und Alexander Eliasberg
Umschlagbild: Hugo Mühlig Bauern auf dem Feld
© Lunata Berlin 2020
Die Bauern
Gram
Träume
Der Leibjäger
Im Gericht
Elend
Agafja
Das Glück
Gußjew
Die Weiber
Das neue Landhaus
Die Hirtenflöte
Über den Autor
Der Kellner am Moskauer Restaurant »Slawischer Bazar«, Nikolai Tschikildejew, wurde krank. Seine Füße versagten oft ihren Dienst, so daß er einmal im Korridor stolperte und mit dem Tablett, auf dem er Schinken mit jungen Erbsen trug, hinfiel. Nun mußte er die Stelle aufgeben. Alles Geld, das er und seine Frau besaßen, war für Arzt und Apotheke draufgegangen, er hatte nichts mehr zu leben, langweilte sich auch ohne Arbeit und entschloß sich, in sein heimatliches Dorf zurückzukehren. Daheim würde er die Krankheit leichter tragen und auch billiger leben können; nicht umsonst heißt es, daß zu Hause selbst die Wände helfen.
Er kam in Schukowo gegen Abend an. In der Erinnerung erschien ihm sein heimatliches Nest so licht, heimlich und bequem, doch als er jetzt ins Haus trat, mußte er erschrecken: so finster, eng und schmutzig war es darin. Seine Frau Olga und seine Tochter Sascha blickten erstaunt und verständnislos den großen schmutzigen Ofen an, der beinahe die halbe Stube einnahm und vor Ruß und Fliegen ganz schwarz war. Die vielen Fliegen! Der Ofen stand schief, auch die Balken der Wände lagen schief, und es schien, daß das Haus jeden Augenblick einstürzen müsse. An der Vorderwand neben den Heiligenbildern waren Flaschenetiketten und Zeitungsfetzen angeklebt: sie sollten Bilder ersetzen. Diese Armut! Von den Erwachsenen war niemand zu Hause, alle waren beim Mähen. Auf dem Ofen saß ein Mädchen von etwa acht Jahren, mit weißem Flachskopf, ungewaschen und gleichgültig; sie blickte die Eintretenden nicht einmal an. An der Ofengabel rieb sich eine weiße Katze.
»Miez, Miez!« lockte Sascha. »Miez!«
»Sie hört nichts,« sagte das Mädchen. »Sie ist taub.«
»Warum?«
»So. Man hat sie einmal durchgeprügelt.«
Nikolai und Olga begriffen auf den ersten Blick, was hier für ein Leben war, sagten aber nichts; schweigend luden sie ihre Bündel auf dem Boden ab und traten schweigend auf die Straße. Ihr Haus war das drittletzte und sah ärmer und älter als alle anderen aus; auch das nächste war nicht besser; dafür hatte das letzte ein eisernes Dach und Vorhänge an den Fenstern. Dieses stand ohne Zaun abseits von den anderen, und darin befand sich eine Wirtschaft. Alle Häuser standen in einer Reihe, und das ganze stille und verträumte Dörfchen mit den Weiden, Holunderbüschen und Ebereschen, die aus den Höfen hervorlugten, bot einen angenehmen Anblick.
Hinter den Bauernhöfen fiel der Boden steil zum Flusse ab, und im Lehm des Abhanges waren hie und da große Steine zu sehen. Um diese Steine und die von den Töpfern gegrabenen Löcher herum wanden sich Fußwege, lagen Haufen brauner und roter Geschirrscherben, und unten breitete sich eine weite hellgrüne, schon abgemähte Wiese, auf der die Dorfherde weidete. Der sich schlängelnde, von herrlichen lockigen Birken umsäumte Fluß lag eine Werst vom Dorfe entfernt, und am anderen Ufer war wieder eine weite Wiese mit einer Herde und langen Zügen weißer Gänse zu sehen; dann kam wieder ebenso wie diesseits ein steiler Abhang, und oben lag ein anderes Dorf mit einer fünftürmigen Kirche und einem etwas abseits liegenden Herrenhaus.
»Schön habt ihr's hier!« sagte Olga, sich beim Anblick der Kirche bekreuzend. »So schön und frei, mein Gott!«
In diesem Augenblick begann man zur Abendmesse zu läuten (es war Sonnabend). Zwei kleine Mädchen, die unten einen Eimer mit Wasser schleppten, blickten auf die Kirche zurück und lauschten den Glocken.
»Um diese Stunde beginnen im Slawischen Bazar die Diners,« sagte Nikolai verträumt.
Nikolai und Olga saßen am Rande des Abhanges und sahen, wie die Sonne unterging, wie der goldene und blutrote Himmel sich im Flusse und in den Fenstern der Kirche spiegelte und die ganze Luft erfüllte, die so mild, still und unsagbar rein war, wie sie es in Moskau niemals ist. Und als die Sonne sich gesenkt hatte, die Herde brüllend und blökend vorbeigezogen war und die Gänse vom anderen Ufer zurückkamen, wurde alles still, das milde Licht in der Luft erlosch, und die Abenddämmerung senkte sich schnell herab.
Indessen kamen die Eltern Nikolais heim; sie waren beide mager, gebückt und zahnlos und vom gleichen Wuchs. Auch die Weiber – die Schwägerinnen Marja und Fjokla, die beim Gutsbesitzer am anderen Ufer arbeiteten, kamen nach Hause. Marja, die Frau des Bruders Kirjak, hatte sechs Kinder, und Fjokla, die Frau des Bruders Denis, der beim Militär war, hatte ihrer zwei. Als Nikolai in die Stube trat und die ganze Familie, alle diese großen und kleinen Körper sah, die sich auf den Pritschen, in den Wiegen und in allen Ecken regten, als er sah, mit welcher Gier der Alte und die Weiber das Schwarzbrot aßen, das sie vorher in Wasser tunkten, begriff er, daß es gar keinen Sinn gehabt hatte, krank, ohne Geld und dazu noch mit der Familie herzukommen – gar keinen Sinn!
»Und wo ist Bruder Kirjak?« fragte er nach der Begrüßung.
»Er dient bei einem Kaufmann als Waldhüter,« antwortete der Vater. »Ist kein übler Mensch, trinkt aber viel.«
»Ist kein Verdiener!« versetzte die Alte mit weinerlicher Stimme. »Es ist ein Unglück mit unseren Männern: sie bringen nichts ins Haus, schleppen aber alles aus dem Haus. Kirjak trinkt, und auch der Alte, – was soll ich's verschweigen? – kennt den Weg zur Schenke. Die Himmelskönigin zürnt uns wohl.«
Den Gästen zu Ehren setzte man den Samowar auf. Der Tee roch nach Fischen, der Zucker war angenagt und grau, und über das Geschirr und das Brot liefen Schwaben; es war so ekelhaft, den Tee zu trinken, und auch die Unterhaltung war ekelhaft: man sprach nur von der Armut und den Krankheiten. Kaum hatte man die erste Tasse getrunken, als vom Hofe her ein lautes gedehntes Schreien erklang:
»Ma–arja!«
»Es wird wohl Kirjak sein,« sagte der Alte. »Wenn man vom Wolfe spricht ...«
Alle verstummten. Etwas später erklang der gleiche rohe und gedehnte Schrei, der von unter der Erde zu kommen schien, wieder:
»Ma–arja!«
Marja, die ältere Schwiegertochter wurde blaß und drückte sich an den Ofen, und es war so seltsam zu sehen, wie das Gesicht dieser breitschultrigen, starken, unschönen Frau sich vor Angst verzerrte. Ihre Tochter, das Mädchen, das auf dem Ofen gesessen hatte und so gleichgültig schien, fing plötzlich laut zu weinen an.
»Was heulst du, du Cholera?« schrie sie Fjokla an, ein hübsches, ebenso starkes und breitschultriges Weib. »Er wird dich doch nicht umbringen!«
Nikolai erfuhr vom Alten, daß Marja sich fürchtete, mit Kirjak im Walde zusammenzuleben, und daß er, wenn er betrunken war, immer herkam, um sie zu holen, und dabei großen Skandal machte und sie erbarmungslos prügelte.
»Ma–arja!« erklang es dicht vor der Türe.
»Rettet mich, ihr Lieben, um Christi willen!« lallte Marja. Sie atmete dabei so, wie wenn man sie in sehr kaltes Wasser tauchte. »Rettet mich, ihr Lieben ...«
Alle Kinder, die in der Stube waren, begannen zu heulen, und auch Sascha fing zu weinen an. Nun ertönte ein trunkenes Husten, und in die Stube trat ein großer, schwarzbärtiger Mann in Pelzmütze; da sein Gesicht im trüben Scheine des Lämpchens nicht zu sehen war, machte er einen sehr schrecklichen Eindruck. Es war Kirjak. Er ging auf seine Frau zu, holte mit der Faust aus und schlug sie ins Gesicht; sie aber gab keinen Ton von sich, war vom Schlage wie betäubt und hockte sich nur hin; aus ihrer Nase kam sofort Blut.
»Diese Schande, diese Schande,« murmelte der Alte, auf den Ofen kriechend, »vor den Gästen! Diese Sünde!«
Die Alte aber saß schweigend da und schien an etwas zu denken; Fjokla wiegte ihr Jüngstes ... Kirjak, der sich wohl des schrecklichen Eindrucks, den er machte, bewußt und damit zufrieden war, packte Marja bei der Hand, schleppte sie zur Tür und brüllte dabei, um noch schrecklicher zu erscheinen, wie ein Tier; in diesem Augenblick erblickte er aber die Gäste und blieb stehen.
»So, ihr seid da ...« sagte er, seine Frau loslassend. »Mein lieber Herr Bruder mit Familie ...«
Er bekreuzigte sich vor dem Heiligenbilde, riß seine trunkenen, roten Augen weit auf und fuhr schwankend fort:
»Mein lieber Herr Bruder mit Familie sind also ins Elternhaus gekommen ... aus Moskau. Moskau ist ja die ältere Hauptstadt und die Mutter aller Städte ... Entschuldigen Sie ...«
Er ließ sich auf die Bank vor dem Samowar nieder und begann laut schlürfend den Tee aus der Untertasse zu trinken. Alle schwiegen ... Er trank an die zehn Tassen, sank dann auf die Bank hin und begann sofort zu schnarchen.
Nun gingen alle schlafen. Nikolai bekam als Kranker einen Platz auf dem Ofen neben dem Alten; Sascha legte sich auf den Fußboden, und Olga ging mit den anderen Weibern in die Scheune.
»Ach, meine Liebe,« sagte sie, sich auf das Heu neben Marja legend, »Tränen helfen nicht viel! Du mußt eben dulden. Auch in der Heiligen Schrift steht geschrieben: wer dich auf die rechte Backe schlägt, dem biete die linke dar ... Ja, meine Liebe!«
Dann erzählte sie leise in singendem Tonfalle von Moskau und von ihrem Leben als Dienstmädchen in einer Pension.
»In Moskau sind die Häuser groß und aus Stein,« erzählte sie. »Und es gibt so viele Kirchen: vierzigmal vierzig, meine Liebe, und in den Häusern wohnen lauter Herrschaften, und die sind so hübsch und so anständig!«
Marja erzählte, daß sie noch nie in Moskau gewesen war, selbst in der nächsten Kreisstadt nicht; sie konnte weder lesen noch schreiben, verstand nicht zu beten und kannte nicht einmal das Vaterunser. Sie und die andere Schwägerin, Fjokla, die etwas abseits saß und zuhörte, waren stumpfsinnig und konnten nicht viel verstehen. Beide liebten ihre Männer nicht; Marja fürchtete ihren Kirjak; sie zitterte, so oft sie mit ihm allein war, vor Angst und bekam in seiner Nähe immer Kopfschmerzen, da er stark nach Schnaps und Tabak roch. Und Fjokla antwortete auf die Frage, ob sie sich ohne ihren Mann nicht langweile, geärgert:
»Daß ihn der Teufel!«
So sprachen sie eine Weile und verstummten ...
Es war kühl, und in der Nähe krähte immer ein Hahn, der sie nicht einschlafen ließ. Als das bläuliche Morgenlicht durch alle Ritzen eindrang, stand Fjokla leise auf und ging hinaus; dann hörte man sie auf ihren bloßen Füßen fortrennen.
Olga ging zur Kirche und nahm Marja mit. Als sie den Fußpfad zur Wiese hinuntergingen, war es beiden lustig zumute. Olga freute sich über die freie Natur, und Marja fühlte in ihrer Schwägerin eine nahe und verwandte Seele. Die Sonne ging eben auf. Ganz tief über der Wiese schwebte ein verschlafener Habicht, der Fluß war noch dunkel, hie und da stand noch der Nebel, aber jenseits des Flusses, oben auf dem Abhang lag schon ein Lichtstreifen, die Kirche strahlte, und im Garten des Herrenhauses schrien wie besessen die Krähen.
»Der Alte ist nicht schlecht,« berichtete Marja, »aber die Alte ist streng und haut immerzu. Mit dem eigenen Brot sind wir bis zur Butterwoche ausgekommen, jetzt kaufen wir das Mehl in der Wirtschaft. Nun schimpft sie, daß wir zu viel essen.«
»Ach, meine Liebe! Du mußt eben dulden. Es steht auch geschrieben: kommet alle, die ihr mühselig und beladen seid.«
Olga sprach bedächtig und singend und bewegte sich schnell und hastig wie eine Wallfahrerin. Sie las jeden Tag im Evangelium, sie las laut und singend wie ein Küster, sie verstand vieles nicht, aber die heiligen Worte rührten sie zu Tränen, und wenn sie auf gewisse unverständliche altertümliche Ausdrücke stieß, erstarb ihr Herz vor Wonne. Sie glaubte an Gott, an die Muttergottes und die Heiligen; sie glaubte, daß man keinen Menschen auf Erden kränken dürfte, weder einfache Leute noch Deutsche, weder Zigeuner noch Juden, und daß es selbst denen, die mit den Tieren kein Mitleid haben, schlecht ergehen wird; sie glaubte, daß dies alles in den heiligen Schriften geschrieben sei, und darum nahm ihr Gesicht, wenn sie irgendwelche ihr unverständliche Worte aus der Schrift anführte, einen gerührten, andächtigen und strahlenden Ausdruck an.
»Und wo stammst du her?« fragte Marja.
»Aus dem Wladimir'schen. Bin aber schon mit acht Jahren nach Moskau gekommen.«
Sie kamen zum Fluß. Am anderen Ufer stand dicht am Wasser eine Frau und zog sich aus.
»Das ist unsere Fjokla,« sagte Marja. »Sie war eben auf dem Herrenhofe drüben gewesen. Bei den Arbeitern. So ausgelassen ist sie und flucht so abscheulich ...«
Die schwarzbrauige Fjokla mit den aufgelösten Haaren, jung und prall wie ein Mädchen, warf sich vom Ufer ins Wasser und schlug mit den Beinen so kräftig aus, daß sich um sie her Wellen bildeten.
»So furchtbar ausgelassen!« wiederholte Marja.
Über den Fluß führte ein schwankender Brettersteg, und unter diesem zogen im reinen, durchsichtigen Wasser ganze Scharen dickköpfiger Äschen vorbei. An den grünen Büschen, die sich im Wasser spiegelten, glänzte der Tau. Ein warmer Hauch kam gezogen, und beide fühlten sich so wohlig. Ein herrlicher Morgen! Und wie herrlich wäre wohl das ganze Leben auf dieser Erde, wenn es nicht diese Not, diese schreckliche, zwingende Not gäbe, vor der man sich nirgends verstecken kann! Sie brauchte nur auf das Dorf zurückzuschauen, und alles Gestrige erstand wieder in der Erinnerung, und der ganze Zauber des Glückes, das hier zu schweben schien, verflog in einem Augenblick.
Sie kamen in die Kirche. Marja blieb bei der Türe stehen und wagte sich nicht weiter vor. Sie wagte sich auch nicht hinzusetzen, obwohl die Messe erst nach acht begann. So stand sie die ganze Zeit.
Als die Vorlesung aus dem Evangelium begann, geriet das Volk plötzlich in Bewegung und machte der Gutsbesitzerfamilie Platz; zwei junge Mädchen in weißen Kleidern und breitkrempigen Hüten und ein wohlgenährter, rosiger Junge im Matrosenanzug kamen in die Kirche. Ihr Erscheinen rührte Olga; sie sagte sich gleich auf den ersten Blick, daß es anständige, gebildete und schöne Menschen seien. Marja blickte sie aber finster an und runzelte die Stirne, als ob es keine Menschen sondern Ungeheuer wären, die sie zermalmen könnten, wenn sie nicht zur Seite getreten wäre.
Und wenn der Diakon mit seiner Bassstimme in den Gottesdienst einfiel, hörte sie jedesmal den Schrei »Ma–arja!« und fuhr zusammen.
Im Dorfe hatte man schon von der Ankunft der Gäste erfahren, und gleich nach der Messe kamen viele Leute ins Haus. Es kamen die Leonytschows, die Matwejitschows und die Iljitschows, um sich über ihre Verwandten, die in Moskau dienten, zu erkundigen. Alle Bauernjungen von Schukowo, die zu lesen verstanden, wurden immer nach Moskau gebracht und dort zu Kellnern und Gasthausdienern ausgebildet (während das jenseits des Flusses liegende Dorf lauter Bäckergesellen lieferte); so war es seit langem, seit der Zeit der Leibeigenschaft eingeführt, als ein gewisser sagenhafter Luka Iwanowitsch, ein ehemaliger Bauer von Schukowo, Oberkellner in einem der Moskauer Klubs wurde und ausschließlich seine Landsleute in Dienst zu nehmen pflegte; sobald aber diese einen gewissen Einfluß erlangten, ließen sie ihre Verwandten nachkommen und verschafften ihnen Stellungen in Gasthäusern und Restaurants; seit jener Zeit wurde Schukowo von den Bewohnern nicht anders als »Lakaiendorf« genannt. Nikolai war mit elf Jahren nach Moskau gekommen und verdankte seine Karriere einem Mitglied der Familie Matwejitschow, Iwan Makarytsch, der damals als Logenschließer im Etablissement »Eremitage« angestellt war. Nun sagte er salbungsvoll, sich an die Matwejitschows wendend:
»Iwan Makarytsch ist mein Wohltäter, und ich muß Tag und Nacht für ihn zu Gott beten, denn ihm habe ich es zu verdanken, daß ich ein anständiger Mensch geworden bin.«
»Väterchen,« sagte mit weinerlicher Stimme eine großgewachsene Alte, die Schwester des Iwan Makarytsch, »er läßt aber gar nichts von sich hören!«
»Im Winter diente er im Theater Aumont, und in dieser Saison soll er irgendwo in einem Gartenetablissement draußen vor der Stadt angestellt sein ... Alt ist er geworden! In früheren Zeiten pflegte er im Sommer täglich an die zehn Rubel heimzubringen, jetzt ist aber das Geschäft überall still, und der Alte hat es recht schwer.«
Die alten und die jungen Weiber blickten auf die mit Filzstiefeln bekleideten Füße und das bleiche Gesicht Nikolais und sprachen traurig:
»Auch du bist kein Verdiener mehr, Nikolai Ossipytsch! Hast nicht mehr die Kraft ...«
Und alle liebkosten Sascha. Sie war schon zehn Jahre alt, aber klein und sehr schmächtig und sah wie eine Siebenjährige aus. Unter den anderen sonnenverbrannten, schlecht geschorenen, mit langen verschossenen Hemden bekleideten Mädchen nahm sie sich mit ihrer weißen Hautfarbe, den großen dunklen Augen und dem roten Bändchen im Haar drollig aus, wie ein kleines, wildes Tier, das man draußen im Felde gefangen und in die Stube gebracht hätte.
»Sie kann auch schon lesen!« prahlte Olga mit einem zärtlichen Blick auf die Tochter. »Lies uns mal vor, Kind!« sagte sie, das Evangelium vom Brett holend. »Lies, und die Rechtgläubigen werden zuhören.«
Das Evangelium war alt, in schwerem Ledereinband mit abgeriebenen Ecken, und es roch auf einmal so, als ob in die Stube Mönche getreten wären. Sascha hob die Brauen und begann laut mit singender Stimme:
»Da sie aber hinweggezogen waren, siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum und sprach: Stehe auf und nimm das Kindlein und seine Mutter ...«
»Das Kindlein und seine Mutter,« wiederholte Olga, ganz rot vor Erregung.
»Und fliehe ins Ägyptenland und bleibe allda, bis ich dir sage ...«
Beim Worte »allda« konnte sich Olga nicht mehr beherrschen und begann zu weinen. Auch Marja mußte, als sie sie ansah, schluchzen; dann schluchzte auch die Schwester Iwan Makarytschs. Der Alte begann zu husten und herumzukramen, um seiner Enkelin etwas zu schenken; er fand aber nichts und winkte nur mit der Hand. Als die Vorlesung zu Ende war, gingen die Nachbarn gerührt und mit Olga und Sascha über die Maßen zufrieden, nach Hause.
Dem Sonntag zu Ehren blieb die Familie den ganzen Tag zuhause. Die Alte, die der Mann, die Schwiegertöchter und die Enkelkinder »Großmutter« nannten, bemühte sich alles selbst zu machen: sie heizte selbst den Ofen ein und bereitete den Samowar, sah sogar um die Mittagszeit nach dem Vieh und jammerte hinterher, daß man sie mit Arbeit zugrunde richte. Und sie paßte immer auf, daß niemand ein Stück zu viel nehme und daß der Alte und die Schwiegertöchter nicht müßig herumsäßen. Bald kam es ihr vor, daß die Gänse des Gastwirts in ihren Gemüsegarten gekommen seien, und sie lief mit einem langen Stecken in der Hand aus der Stube und schrie eine halbe Stunde lang gellend bei ihrem Kohl, der ebenso mager und krank war wie sie selbst; bald schien es ihr, daß eine Krähe ihre Kücken überfallen wolle, und sie stürzte sich fluchend über die Krähe. Sie schimpfte und brummte vom Morgen bis zum Abend und erhob oft solches Geschrei, daß die Leute auf der Straße stehen blieben.
Ihren Alten behandelte sie gar nicht freundlich und nannte ihn bald Faulenzer, bald Cholera. Er war ein unsolider, unzuverlässiger Bauer, und hätte wohl, wenn sie ihn nicht ständig antriebe, überhaupt nicht gearbeitet, sondern ständig auf dem Ofen gesessen und geredet. Er erzählte seinem Sohn lange und ausführlich von den Feinden, die er angeblich hatte, beklagte sich über die Kränkungen, die ihm die Nachbarn tagtäglich zufügten, und es war furchtbar langweilig, ihm zuzuhören.
»Ja,« erzählte er, sich an die Hüften fassend. »Ja ... Eine Woche nach dem Fest der Kreuzeserhöhung verkaufte ich mein Heu zu dreißig Kopeken für das Pud, aus freien Stücken. Ja ... Gut ... So fahre ich des Morgens mit dem Heu, rühre keinen Menschen an, da sehe ich, zur unglücklichen Stunde, wie aus dem Wirtshaus der Dorfälteste Antip Ssedjelnikow kommt. ›Wo willst du mit dem Heu hin?‹ sagt er und haut mir eine herunter.«
Kirjak hatte aber nach dem gestrigen Rausche fürchterliches Kopfweh und schämte sich vor seinem Bruder.
»Was der Schnaps alles macht. Ach du, lieber Gott!« stammelte er, seinen schmerzenden Kopf schüttelnd. »Verzeiht es mir, um Christi willen, lieber Bruder und liebe Schwester, ich bin selbst nicht froh darüber.«
Dem Sonntag zu Ehren kaufte man im Wirtshause einen Hering und kochte aus dem Heringskopf eine Suppe. Um die Mittagsstunde setzten sich alle an den Samowar und tranken so lange Tee, bis der Schweiß kam und sie alle anschwollen. Nach dem Tee aßen sie die Suppe, alle aus einem Topf. Aber den Hering selbst tat die Alte auf die Seite.
Abends brannte der Töpfer am Abhang seine Töpfe. Unten auf der Wiese tanzten die jungen Mädchen einen Reigen und sangen Lieder. Die Burschen spielten Ziehharmonika. Auch drüben, jenseits des Flusses brannte ein Feuer und tönte Mädchengesang, der aus der Ferne schön und harmonisch erschien. Im Wirtshause und vor dem Wirtshause lärmten die Bauern; sie sangen mit trunkenen Stimmen, alle durcheinander, und fluchten so, daß Olga jeden Augenblick zusammenfuhr und sagte:
»Mein Gott, mein Gott ...«
Sie staunte darüber, daß das Fluchen für keinen Augenblick verstummte und daß die Alten, die doch an den Tod denken sollten, lauter und schlimmer als alle fluchten. Die Kinder und die jungen Mädchen hörten aber ganz ruhig zu, und es war ihnen anzusehen, daß sie es von der Wiege her gewohnt waren.
Mitternacht war vorüber, die Feuer auf dieser wie auf der anderen Seite waren schon erloschen, aber unten auf der Wiese und im Wirtshause vergnügte man sich noch immer. Der Alte und Kirjak kamen beide betrunken, sich an den Händen haltend und einander mit den Schultern anstoßend, zur Scheune, wo Olga und Marja schliefen.
»Laß,« redete der Alte auf seinen Sohn ein. »Laß ... Sie ist ein stilles Weib ... Eine Sünde ist es ...«
»Ma–arja!« schrie Kirjak.
»Laß ... Eine Sünde ist's ... Sie ist ein ordentliches Weib.«
Sie standen eine Minute vor der Scheune und gingen dann weiter.
»Ich liebe die Blumen des Feldes!« begann der Alte plötzlich mit hoher, durchdringender Tenorstimme zu singen. »Ich liebe der Wiesen Duft!«
Dann spuckte er aus, schimpfte unflätig und ging ins Haus.
Die Großmutter stellte Sascha beim Gemüsegarten hin und befahl ihr, aufzupassen, daß die Gänse nicht hereinkommen. Es war ein heißer Augusttag. Die Gänse des Wirtes, die von hinten hereinkommen konnten, waren jetzt aber anderweitig beschäftigt: sie pickten vor dem Wirtshause, friedlich schnatternd, Haferkörner auf, und nur der Gänserich reckte den Hals, wie wenn er sehen wollte, ob nicht die Alte mit dem Stecken käme; und die anderen Gänse, die von der anderen Seite kommen konnten, weideten jetzt weit hinter dem Fluß, eine weiße Girlande auf der Wiese bildend. Nachdem Sascha eine Weile dagestanden hatte, wurde ihr die Sache langweilig, und sie ging zum Abhang.
Am Abhang traf sie die ältere Tochter Marjas, Motjka, die unbeweglich auf einem großen Stein stand und auf die Kirche starrte. Marja hatte schon dreizehnmal geboren, es waren ihr aber nur sechs Kinder geblieben, lauter Mädchen, kein einziger Junge, und die Älteste war acht Jahre alt. Motjka stand barfuß in langem Hemd auf dem Stein, die Sonne brannte ihr auf den Scheitel, sie merkte es aber nicht und war wie erstarrt. Sascha stellte sich neben sie hin und sagte mit einem Blick auf die Kirche:
»In der Kirche wohnt der liebe Gott. Bei den Menschen brennen Lampen und Kerzen, bei Gott aber kleine Lämpchen, rot, grün, blau wie die Äuglein. Nachts geht Gott in der Kirche herum, und mit ihm die heilige Mutter Gottes und der heilige Nikolai ... Dem Kirchenwächter ist es ganz bange, wenn er sie herumgehen hört! Ja, ja, meine Liebe,« fügte sie hinzu, ihre Mutter nachahmend. »Und wenn der Jüngste Tag kommt, fliegen alle Kirchen in den Himmel hinauf.«
»Mit den Glocken?« fragte Motjka mit ihrer Bassstimme, jede Silbe dehnend.
»Mit den Glocken. Am Jüngsten Tag werden aber die Guten in's Paradies kommen, und die Bösen im ewigen Feuer brennen, meine Liebe. Meiner Mutter und der Marja wird Gott sagen: Ihr habt niemand was zu Leide getan, und darum dürft ihr nach rechts ins Paradies gehen; zu Kirjak und zur Großmutter wird er aber sagen: geht nach links ins Feuer. Und wer am Fasttag Fleisch oder Milch gegessen hat, der kommt auch ins ewige Feuer.«
Sie blickte mit weit aufgerissenen Augen zum Himmel empor und sagte:
»Schau in den Himmel, ohne zu zwinkern, dann kannst du die Engel sehen.«
Motjka sah nun auch auf den Himmel, und eine Minute verging in Schweigen.
»Siehst du sie?« fragte Sascha.
»Ich sehe nichts,« antwortete Motjka mit ihrem Bass.
»Ich sehe sie aber. Kleine Engelchen fliegen durch den Himmel und bewegen die Flügelchen wie kleine Mückchen.«
Motjka blickte zu Boden, dachte eine Weile nach und fragte:
»Wird Großmutter brennen?«
»Gewiß, meine Liebe.«
Der steil abfallende Boden war vom Stein bis ans Ufer mit weichem grünem Gras bewachsen, und man hatte Lust, das Gras mit der Hand zu streicheln oder darauf zu liegen. Sascha legte sich hin und rollte hinab. Auch Motjka legte sich mit ernstem, strengem Gesicht auf das Gras und rollte pustend hinab. Ihr Hemd rutschte dabei bis zu den Schultern hinauf.
»Wie lustig!« rief Sascha entzückt.
Als sie wieder hinaufgingen, um noch einmal hinunterzurollen, erklang oben die bekannte kreischende Stimme. Dieses Entsetzen! Die zahnlose, knochige, bucklige Großmutter mit den kurzen grauen Haaren, die im Winde flatterten, trieb mit dem langen Stecken die Gänse aus dem Gemüsegarten und schrie:
»Den ganzen Kohl haben sie zerstampft, die Verfluchten! Krepieren sollt ihr, dreimal Verdammten, die Pest komme über euch!«
Als sie die Mädchen erblickte, warf sie ihren Stecken weg, ergriff eine lange Rute, packte Sascha mit ihren trockenen und harten Fingern am Hals und begann sie zu schlagen. Sascha weinte vor Schmerz und Angst; der Gänserich ging mit gerecktem Hals wackelnd auf die Alte zu, zischte ihr etwas vor und kehrte zu seiner Herde zurück, und alle Gänse begrüßten ihn mit beifälligem Geschnatter. Die Großmutter nahm dann Motjka vor, der das Hemd wieder hinaufrutschte. Sascha ging ganz verzweifelt, laut weinend ins Haus, um sich zu beklagen; ihr folgte Motjka, die gleichfalls weinte, doch im Bass; sie wischte sich die Tränen nicht ab, und ihr Gesicht war so naß, als ob man sie ins Wasser getaucht hätte.
»Lieber Gott!« rief Olga erstaunt, als die beiden in die Stube traten. »Heilige Himmelskönigin!«
Sascha begann zu erzählen, in diesem Augenblick kam aber auch die Großmutter kreischend und fluchend in die Stube, auch Fjokla begann zu schimpfen, und die Stube füllte sich mit Geschrei.
»Macht nichts, macht nichts!« tröstete Olga, blaß und erregt, ihrer Tochter den Kopf streichelnd. »Sie ist ja deine Großmutter, und es ist Sünde, ihr zu zürnen. Macht nichts, Kind.«
Nikolai, der vor diesem ewigen Geschrei, Hunger, Ofendunst, Gestank noch mehr heruntergekommen war, der die Armut haßte und verachtete und sich vor seiner Frau und Tochter für seine Eltern schämte, ließ die Beine vom Ofen hinunterhängen und wandte sich mit gereizter, weinerlicher Stimme an die Mutter:
»Sie dürfen sie nicht schlagen! Sie haben gar kein Recht, sie zu schlagen!«
»Krepier nur dort oben auf dem Ofen!« schrie ihm Fjokla gehässig zu. »Was hat euch auch der Teufel hergebracht, ihr Fresser??!«
Sascha, Motjka und alle Mädchen, die in der Stube waren, verkrochen sich in die Ofenecke hinter Nikolais Rücken und hörten schweigend, voller Angst zu, so daß man ihre kleinen Herzen klopfen hörte. Wenn es in einer Familie einen Schwerkranken gibt, dessen Zustand hoffnungslos ist, so kommen manchmal Augenblicke, wo alle Angehörigen schüchtern und heimlich, in der Tiefe ihrer Seelen seinen Tod wollen; und nur die Kinder allein fürchten den Tod des ihnen nahestehenden Menschen und erzittern beim Gedanken, daß er sterben könnte. Die Mädchen sahen atemlos, mit traurigen Augen Nikolai an, dachten daran, daß er bald sterben müsse, und wollten weinen und ihm irgend etwas Freundliches oder Tröstendes sagen.
Er schmiegte sich an Olga, wie wenn er bei ihr Schutz suchte, und sagte leise, mit zitternder Stimme:
»Olja, liebe Olja, ich kann nicht mehr. Es geht über meine Kraft. Um Gottes willen, um Christi willen, schreib deiner Schwester Klawdija Abramowna, sie möchte alles, was sie hat, verkaufen oder versetzen und uns das Geld schicken, und wir gehen von hier weg. Mein Gott!« fuhr er traurig fort: »ach, wenn ich doch nur einen einzigen Blick auf Moskau werfen könnte! Wenn es mir wenigstens im Traum erscheinen wollte!«
Als aber der Abend anbrach und es in der Stube finster wurde, wurde es allen so trübe zumute, daß niemand mehr sprechen konnte. Die böse Großmutter weichte sich einige Brotrinden in Wasser auf und sog an ihnen lange, eine ganze Stunde. Marja molk die Kuh und brachte den Eimer mit der Milch in die Stube; die Großmutter goss lange, ohne Übereilung die Milch aus dem Eimer in die Krüge um und schien sehr zufrieden, daß heute, am Fasttage vor Mariä Himmelfahrt niemand die Milch anrühren und so der ganze Vorrat bleiben würde. Nur ein klein wenig tat sie in eine Untertasse auf die Seite für Fjoklas Jüngstes. Als sie und Marja die Milchkrüge in den Keller hinuntertrugen, fuhr Motjka plötzlich auf, sprang vom Ofen herunter, ging zur Bank, wo die Holzschale mit den Brotrinden stand, und tat etwas Milch aus der Untertasse hinein.
Die Großmutter kam zurück und machte sich wieder an ihre Brotrinden; Sascha und Motjka sahen ihr vom Ofen herab zu und freuten sich, daß sie den Fasttag verletzte und nun ganz gewiß in die Hölle kommen würde. So trösteten sie sich und legten sich schlafen. Sascha stellte sich im Einschlafen das Jüngste Gericht vor: es brannte ein großer Ofen, einem Töpferofen ähnlich, und ein schwarzer Teufel mit Kuhhörnern trieb die Großmutter mit einem Stecken ins Feuer, genau so wie sie vorhin die Gänse getrieben hatte.
Am Tage Mariä Himmelfahrt, gegen elf Uhr abends erhoben die Mädchen und Burschen, die unten auf der Wiese spazierten, plötzlich ein Geschrei und rannten ins Dorf hinauf; diejenigen aber, die oben am Rande des Abhanges saßen, konnten im ersten Augenblick gar nicht verstehen, was los war.
»Es brennt! Es brennt!« schrie man unten verzweifelt: »Das Dorf brennt!«