Die Betrogenen - Michael Maar - E-Book + Hörbuch
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Die Betrogenen Hörbuch

Michael Maar

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Beschreibung

Eher beiläufig erwähnt Bittner, Großschriftsteller und Charismatiker, dass er eine erwachsene Tochter hat. Wie kann es sein, denkt Karl, sein Bewunderer und designierter Biograph, dass er davon nichts wusste? Beinahe glaubt er, dem Meister dieses eine Mal einen Schritt voraus zu sein, als er Bittners Tochter ausfindig macht, sie unter einem Vorwand in ihrer Berliner Galerie besucht, den Abend mit ihr verbringt – und dann auch die Nacht. Was der sofort Verliebte seinerseits nicht weiß: Er ist es selbst, der einer Täuschung unterliegt, und das nicht ohne Folgen. In seinem so klug arrangierten wie hintersinnig erzählten literarischen Debut verbindet Michael Maar kleinste Details und Wendungen mit großen Sinnfragen, Lust und Leichtigkeit mit tiefstem Ernst. Denn was als heiteres Spiel der Scharaden und Verwechslungen beginnt, führt unversehens – um Bittners Gesundheit ist es schlechter bestellt, als es zunächst den Anschein hat, und schließlich kommen dem sonst so selbstsicheren Schriftsteller Zweifel – zu einer Erkundung der letzten Dinge: der Liebe, des Alterns, des Todes und der Frage, was von einem Werk und von einem Leben bleibt.

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Zeit:2 Std. 59 min

Veröffentlichungsjahr: 2025

Sprecher:Dominique Horwitz

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Michael Maar

Die Betrogenen

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Eher beiläufig erwähnt Bittner, Großschriftsteller und Charismatiker, dass er eine erwachsene Tochter hat. Wie kann es sein, denkt Karl, sein Bewunderer und designierter Biograph, dass er davon nichts wusste? Beinahe glaubt er, dem Meister dieses eine Mal einen Schritt voraus zu sein, als er Bittners Tochter ausfindig macht, sie unter einem Vorwand in ihrer Berliner Galerie besucht, den Abend mit ihr verbringt – und dann auch die Nacht. Was der sofort Verliebte seinerseits nicht weiß: Er ist es selbst, der einer Täuschung unterliegt, und das nicht ohne Folgen.

In seinem so klug arrangierten wie hintersinnig erzählten literarischen Debut verbindet Michael Maar kleinste Details und Wendungen mit großen Sinnfragen, Lust und Leichtigkeit mit tiefstem Ernst. Denn was als heiteres Spiel der Scharaden und Verwechslungen beginnt, führt unversehens – um Bittners Gesundheit ist es schlechter bestellt, als es zunächst den Anschein hat, und schließlich kommen dem sonst so selbstsicheren Schriftsteller Zweifel – zu einer Erkundung der letzten Dinge: der Liebe, des Alterns, des Todes und der Frage, was von einem Werk und von einem Leben bleibt.

Vita

Michael Maar, geboren 1960, ist Germanist, Schriftsteller und Literaturkritiker. Bekannt wurde er durch «Geister und Kunst. Neuigkeiten aus dem Zauberberg» (1995), für das er den Johann-Heinrich-Merck-Preis erhielt. 2002 wurde er in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen, 2008 in die Bayerische Akademie der Schönen Künste, 2010 bekam er den Heinrich-Mann-Preis verliehen. Das Buch «Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer Literatur» stand lange auf der «Spiegel»-Bestsellerliste. Zuletzt erschien in einer Neuausgabe «Leoparden im Tempel». Michael Maar hat zwei Kinder und lebt in Berlin.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2012 im Verlag C. H. Beck, München.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2025

Copyright © 2012 by C. H. Beck, München

Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München, unter Verwendung eines Motivs von Midjourney

ISBN 978-3-644-02349-9

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

I.

Es war die alte Geschichte. Karl wußte es und hatte es sich schon oft gesagt, daß er nie einen Bleistift in die Innentasche seines Jacketts stecken sollte, auch nicht mit der Spitze nach oben, denn dabei blieb es nie lange. Die Spitze fand ihren Weg nach unten und fräste allmählich ein Loch in die Naht, der Stift wanderte unbemerkt durchs Innere und landete als harter schmaler Stiel im unteren Jackensaum, wo Karl ihn eine Weile zu mißachten versuchte, bis ihm die Geduld riß und er ihn wieder in die Senkrechte zwang, am Rand des Futters hochmanövrierte und durchs Schlupfloch zurück in die Tasche schob. Das konnte einige Minuten und Fehlversuche in Anspruch nehmen, besonders das Einfädeln am Schluß war schwierig. Karl gelang es gerade noch rechtzeitig, als der Zug schon langsam auf seinem Gleis einfuhr. Der eine Höcker des weißen Lindwurms verriet, wo sich das Bordrestaurant befand, das sogar dort zum Halt kam, wo es der Wagenanzeiger angekündigt hatte. Karl hatte wenig Appetit nach der Trauerfeier und war abends mit Bittner zum Essen verabredet; aber das war kein Grund, nicht wie immer im Speisewagen zu sitzen.

Die Fahrt würde er nicht so schnell vergessen, und nicht nur, weil man nicht jeden Tag seinen Verleger verlor. Als er sich gerade an einem Zweiertisch niedergelassen und sein Jackett ausgezogen hatte, sah er auf dem Gang von weitem einen Mann, der auf den Speisewagen zusteuerte, und schaute sofort wieder weg. Das war ja ganz furchtbar, er mußte sich getäuscht haben.

Die durchsichtige Doppeltür öffnete sich leise zischend, und der Mann trat ein. Karl konnte kaum hinsehen und mußte es wie unter Zwang doch immer wieder tun. An der linken Kopfseite ragte dem älteren Herrn auf Wangenhöhe eine enorme Geschwulst aus dem Gesicht. Er hatte sich zwei Tische weiter an einen Platz gesetzt und Tee mit Milch bestellt.

Konnte man das nicht wegoperieren? Dumme Frage – offenbar nicht. Karl schaute verstohlen wieder hinüber; der seitlich herausgewachsene Zapfen oder Ballon stand immer noch ab. Er war so groß wie eine Kiwi, sofern Karl das von seinem Platz aus beurteilen konnte, aber leicht rötlich gefärbt. Der Mann rührte mit einem Löffel in seinem Tee; der Kellner hatte sich nichts anmerken lassen. Ein Glück, daß keine Kinder im Abteil waren, man konnte sich das Getuschel und das Psst! vorstellen, wenn die Eltern sie zum Schweigen bringen mußten. Hätte er nicht den Zapfen gehabt, sähe er aus wie ein gediegener Geschäftsmann, zum grauen Anzug trug er eine gelbe Krawatte.

Das Überraschendste war, er wirkte nicht einmal tief unglücklich. Vielleicht vergaß er es für Momente; er sah sich ja nicht ständig im Spiegel. Dennoch mußte es anstrengend sein, er vergaß es doch wohl weniger, als daß er es verdrängte, und das war kräftezehrend; er mußte es auch immer spüren, wahrscheinlich sogar in der Kopfhaltung leicht gegentarieren, das Ding wog ja sicher nicht wenig. Es schien etwas gerötet und hatte ingwerknollenartige Scharten und Erhebungen. Ob es auch juckte? Kein Wunder, daß er jetzt eine Zeitung aufschlug, hinter der er sich bis auf weiteres verbarg. Wer sollte ihn, fragte Karl sich mit leichtem Schaudern, küssen wollen?

Nicht auszumalen, hatte er gedacht, während er die getüpfelten Schneewolken am Himmel betrachtete. Wie gut es einem doch ging!

Am Abend traf er Bittner, der gerade in Berlin war, in einem kleinen chinesischen Lokal. Bittner hatte nicht zur Beerdigung kommen können und auch deshalb um das Treffen gebeten, um sich von Karl davon berichten zu lassen. Der Tod ihres Verlegers würde das Gespräch nun nicht erschöpfen, selbst wenn es darum kreisen sollte. Karl hoffte, daß Bittner sich nicht höflich nach seiner Frau erkundigen würde; das war noch zu frisch, als daß er darüber hätte reden wollen. Wegen der Biographie nachhaken würde er wohl noch nicht. Aber das Wichtigste war ja immer noch sein Werk. Seinerseits höflich fragte Karl, während er seine Papierserviette entfaltete, woran Bittner denn gerade sitze?

Oh, erst vorletzte Woche habe er das Mozart-Manuskript an den Verlag geschickt, das Gabriel nun leider nicht mehr lesen würde. Das Haus würde sich darum kümmern müssen. Er war schon gespannt, in welche Fettnäpfe der Lektor dieses Mal tappen würde. Das werde Karl, der ja erst am Anfang stehe, auch noch zu schmecken bekommen. Hatte er ihm erzählt, wie dieser Lektor sich bei ihm durch einen einzigen Apostroph für alle Zeiten unmöglich gemacht hatte?

Karl konnte sich nicht daran erinnern.

Das war bei seiner Studie über die Josephslegende gewesen, da hatte er von «Judas Vermächtnis» geschrieben. Und der Lektor hatte hinter das «s» des «Judas» doch tatsächlich einen korrigierenden Apostroph gesetzt!

Bittner hielt den Kopf mit dem Adlerprofil leicht zur Seite geneigt, wie es seine Gewohnheit war, und betrachtete Karl, der seine Serviette glattstrich. Neben ihnen zogen bunte Fische ihre langsamen Runden in dem Aquarium, das bei keinem Chinesen fehlen durfte.

Das hieß, erklärte Bittner und hielt den Kopf jetzt aufrecht, er hatte den Genitiv nicht erkannt. Das hieß, er kannte nicht den Unterschied zwischen Judas, dem Jesus-Verräter, und Juda, dem Bruder Josephs! Er kannte nicht den Unterschied zwischen dem Neuen und dem Alten Testament. Er kannte überhaupt nichts und hatte nichts gelesen und strich auch sonst immer zielsicher die besten Pointen heraus. Aber Cheflektor bei Gabriel … Der in Personalfragen dann doch nicht den sichersten Griff gehabt hatte, bei aller unbestreitbaren Größe sonst.

Bittner seufzte, hatte er nicht sogar leicht feuchte Augen? Dabei war es eher Karl, der einen väterlichen Protektor verloren hatte, Bittner und Gabriel waren ja aus derselben Generation, was sie natürlich auch wieder verband.

Der Tod ihres Verlegers war trotz seiner langen Krankheit überraschend gekommen. Gabriel hatte nicht zu den Menschen gezählt, von denen man sich vorstellen konnte, sie stürben wirklich. Selbst die Natur schien empört und tobte in der Nacht seines Todes mit einem Sturm über der Stadt, der Masten knickte, parkende Autos versetzte und Flugzeuge an der Landung hinderte. Zur Trauerfeier eine Woche darauf hatte sich in München die ganze Literaturwelt versammelt.

Im Aquarium witschte ein hellroter Fisch aus seiner lethargischen Bahn. Bittner, der einen Zahnstocher mit einer Hand abschirmte, war Karls Blick gefolgt. Wußte er, daß Aquarien in den Chinarestaurants nicht nur der Dekoration dienten? Nein, man konnte sie lesen und entziffern wie einen Code. Durch Anzahl und Farbe der Fische zeigten sie die jeweilige Triade an, an die der Besitzer das Schutzgeld abführte. So kamen erst gar keine Mißverständnisse auf; und das war auch der Grund, warum sie bei kaum einem Chinesen fehlten. Wie war denn nun aber die Trauerfeier genau? Welche Musik wurde gespielt?

Ein langsamer Satz aus einem Streichquartett Debussys. Die Aussegnungshalle war bis auf den letzten Platz gefüllt, Karl hatte stehen müssen. Gabriels Tochter war als letzte gekommen, ihre Stöckelschuhe hatten auf dem Steinboden geklackt, als sie zur vordersten Reihe geschritten war. Nach der Zeremonie hatte man sich im leichten Nieselregen um das Grab gruppiert.

Karl zog seinen neugewonnenen Bleistift aus der Jacketttasche und malte einen Kringel auf seine Serviette. «Der Grabplatz war erhöht, die Tochter, sehr gefaßt, stand ganz allein.» Er machte noch einen Kringel, während Bittner sich eine Zigarette anzündete. «Auf dem Grabplatz also die allein postierte Tochter, in deutlichem Abstand dazu ihr Bruder. Dazwischen die Ehrengäste, dahinter verstreut das Publikum.»

Karl deutete weitere Kringel an. Als er seine Skizze beendet hatte, bot sich Bittner ein unerwartetes Bild. Die Serviette zeigte ein Kürbisgesicht mit vielen Zähnen; die Trauergemeinde formte das Halbrund des grinsenden Munds.

II.

«Bei den Namen merkt man es als erstes. Geht es Ihnen auch schon so, lieber Freund, daß Sie immer öfter Namen vergessen? Aber nein, Sie sind ja noch blutjung.» Bittner legte seine Hand auf Karls Schulter. Es war erstaunlich mit ihm, woher hatte er nun schon wieder diese Schwäche erkannt? Sicher hatte er früher beobachtet, daß Karl manches von ihm kopierte, aber doch nicht sein schlechtes Namensgedächtnis.

Die Frühlingssonne schien mild, als sie zu ihrem lange verabredeten Spaziergang aufbrachen, dem Karl mit leicht gemischten Gefühlen entgegensah. Seit Gabriels Tod und ihrem Treffen beim Chinesen hatte er den vielbeschäftigten Freund nur telephonisch gesprochen; heute hätten sie etwas länger füreinander Zeit, wobei unvermeidlich auch Themen aufs Tapet kommen würden, auf die Karl nicht besonders erpicht war.

Bittner war in Plauderstimmung, und Karl fühlte, wie die alte Wärme für ihn hochstieg. Wer immer Bittner seine Stimme beschert hatte, mit ihrem dunklen weichen Timbre, der hatte sich wahrhaft generös gezeigt. Seine Höflichkeit war so unaufdringlich wie vollendet, man hätte sie aristokratisch genannt, gäbe es unterm Adel nicht so viele Rüpel. Und dann die Fülle der Anekdoten, von denen er überquoll, wenn er in Laune war und nicht, was auch vorkam, etwas Leidendes aus feinen Poren oder Fissuren aus ihm herauszutreten und sich wie in einer Wolke um ihn zu verdichten schien.

Dem verehrten Freund zu lauschen, mußte Karl sich eingestehen, war fast noch angenehmer als ihn zu lesen, wie er seit einiger Zeit bemerkt hatte. Früher! Da war Bittner ihm erschienen wie der strahlende Jupiter selbst, Autorität war noch ein viel zu schwaches Wort dafür. Keines seiner Edikte verhallte ungehört; oft waren sie ja auch donnernd genug. Ein neues Buch von ihm, in der Verlagsvorschau angekündigt und von da an freudig erwartet, war jedesmal ein Ereignis, das war die Eröffnung eines Tempels, den man gesenkten Hauptes betrat, die staubigen Schuhe des Alltags zog man dafür aus.

Auch später, als er ihn näher kennengelernt und sie sich angefreundet hatten, soweit das mit einem Bittner überhaupt möglich war, hatte Karl dieses Tempelgefühl nie ganz abgestreift. Zum Tempel gehörte, daß Bittner die Schächer daraus mit Geißelhieben vertrieb. So streng, ja herrisch er sich auch öffentlich gab, so sanft war er im Umgang mit Karl. Er hatte Karls Mutter verehrt, stille Poetin, die sie war, und davon hatte der Sohn profitiert. Karl fragte sich manchmal, ob er es eigentlich verdiene; die Emaille seiner Bittner-Bewunderung wies inzwischen ja schon einige Kratzer auf, oder geradezu eine Krakelur.

Für ihr heutiges Treffen hatten sie einen Spaziergang durch den Stadtpark geplant; in der Gartenwirtschaft am Flüßchen wollten sie dann, in Bittners Worten, eine kleine Kollation zu sich nehmen. Und jetzt hieß es Schritt halten mit dem Meister, was nicht deshalb schwierig war, weil er vorangeeilt wäre, sondern weil er immer wieder plötzlich stehenblieb, ohne dabei je den Faden seiner Rede zu verlieren.

War das schon die Schaufensterkrankheit? Aber Bittner wirkte wie das blühende Leben selbst; braungebrannt wie immer und schlank, im sandfarbenen, leicht abgewetzten Jackett, in dem er ab und zu ruckartig die Schultern nach oben zog. Wie lange es wohl dauerte, bis einer der heiklen Punkte zur Sprache käme? Aber vorerst hatte Bittner ja ein anderes Thema angeschlagen. Die Namen – die vergaß auch Karl immer öfter, besonders dann, wenn sich ein Wort in ihnen verbarg. Entweder Name oder Wort, beides zusammen biß sich. Immerzu brauchte Karl Eselsbrücken, um sich die einfachsten Namen zu merken, die durch Wörter verdorben waren; auf eine davon war er allerdings stolz. Bittner würde sie sicher sofort erraten.

Ob er seine Eselsbrücke für einen französischen Komponisten hören wollte?

«Aber mit Vergnügen!» Die laue Luft zupfte an Bittners noch vollem Haar.

Das war eine ganz besondere, die goldene Eselsbrücke, wenn Bittner so wolle: «Das Wort Eselsbrücke selbst.» Denn auf dem Esel der Bremer Stadtmusikanten – Musikanten! – stand ganz oben wer?

Bittner schaute Karl fragend an.

«Der Hahn.»

Bittner neigte anerkennend den Kopf zur linken. «Oh, Reynaldo Hahn! Kein Schubert, aber doch sehr hübsch.» Und ebenso hübsch gefunden. Hatte Karl noch weitere Eselsbrücken zu bieten?

Nein, aber da gab es einen anderen Fall. Da versagte Karl fast jede Woche, und auch jetzt fiel ihm der Name nicht ein.

Um wen handelte es sich denn, wenn er es umschrieb?

Also, fast jede Woche mußte Karl an einen französischen Autor denken, und zwar jedesmal, wenn er morgens seine Kapsel Johanniskraut aus der Großpackung drückte und sie ihm dabei wieder einmal ins Waschbecken fiel.

«Ach so, Johanniskraut?» Bittner hob die Augenbrauen. «Sie also auch?»

Ja, und dabei also mußte Karl jedesmal an diesen Schriftsteller denken, dessen Name ihm partout nie einfiel, und an eine Geschichte aus einem Roman. Sie spielte in China unterm weißen Terror. Am Bahnsteig gibt ein gefangener Aufständischer seine Zyankali-Kapsel zwei andern Männern, bevor die Lokomotive einfährt und er im Kessel lebendig verbrannt wird …

Bittner blieb stehen und runzelte die Stirn. «Warten Sie, ist das nicht … Malraux.»

Natürlich! Von wegen nachlassendes Gedächtnis; Bittner kannte alles und vergaß offenbar nichts, das war bloß gespielte Bescheidenheit. Daß er in seiner Privatgelehrtheit auch ein halber Sinologe war, mußte hier noch nicht einmal eine Rolle gespielt haben. Obwohl Karl ihn verdächtigte, gerade mit diesem Sinologentum ein bißchen zu kokettieren.

«Tja», sagte Bittner und räusperte sich. «Malraux … Die Geschichte kann stimmen, obwohl seine Memoiren durchweg verlogen sind und er nie einen chinesischen Kommunisten gesehen hat. Das haben die Biographen inzwischen nachgewiesen. Nun ja, die Biographen!» Bittner zuckte wieder kurz mit den Schultern, als ziehe jemand an den Epauletten.

Da war es, das Thema; Karl hatte es befürchtet und kommen sehen.

Eine nicht unebene Aufgabe, fuhr Bittner fort, halb Historiker sein zu müssen und halb Romancier. Einigen immerhin gelänge sie sehr beachtlich.

Bittner verzog das Gesicht.

Er hadere gewiß nicht damit, daß Karl noch nicht damit begonnen habe, er möge sich alle Zeit der Welt damit lassen.