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Was ist das Geheimnis des guten Stils, wie wird aus Sprache Literatur? Dieser Frage geht Michael Maar in seinem Haupt- und Lebenswerk nach, für das er vierzig Jahre lang gelesen hat. Was ist Manier, was ist Jargon, und in welche Fehlerfallen tappen fast alle? Wie müssen die Elementarteilchen zusammenspielen für den perfekten Prosasatz? Maar zeigt, wer Dialoge kann und wer nicht, warum Hölderlin über- und Rahel Varnhagen unterschätzt wird, warum ohne die österreichischen Juden ein Kontinent des Stils wegbräche, warum Kafka ein Alien ist und warum nur Heimito von Doderer an Thomas Mann heranreicht. In fünfzig Porträts, von Goethe bis Gernhardt, von Kleist bis Kronauer, entfaltet er en passant eine Geschichte der deutschen Literatur.
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Seitenzahl: 834
Veröffentlichungsjahr: 2020
Michael Maar
Das Geheimnis großer Literatur
Was ist das Geheimnis des guten Stils, wie wird aus Sprache Literatur? Dieser Frage geht Michael Maar in seinem Haupt- und Lebenswerk nach, für das er vierzig Jahre lang gelesen hat. Was ist Manier, was ist Jargon, und in welche Fehlerfallen tappen fast alle? Wie müssen die Elementarteilchen zusammenspielen für den perfekten Prosasatz? Maar zeigt, wer Dialoge kann und wer nicht, warum Hölderlin über- und Rahel Varnhagen unterschätzt wird, warum ohne die österreichischen Juden ein Kontinent des Stils wegbräche, warum Kafka ein Alien ist und warum nur Heimito von Doderer an Thomas Mann heranreicht. In fünfzig Porträts, von Goethe bis Gernhardt, von Kleist bis Kronauer, entfaltet er en passant eine Geschichte der deutschen Literatur.
Michael Maar, geboren 1960, ist Germanist, Schriftsteller und Literaturkritiker. Bekannt wurde er durch «Geister und Kunst. Neuigkeiten aus dem Zauberberg» (1995), für das er den Johann-Heinrich-Merck-Preis erhielt. 2002 wurde er in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen, 2008 in die Bayerische Akademie der Schönen Künste, 2010 bekam er den Heinrich-Mann-Preis verliehen. Zuletzt sind von ihm erschienen: «Heute bedeckt und kühl. Große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf» (2013) und «Tamburinis Buckel. Meister von heute» (2014). Er hat zwei Kinder und lebt in Berlin.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2020
Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung Anzinger und Rasp, München
Coverabbildung Bridgeman Images / André Derain, The Cup of Tea, 1935, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020
ISBN 978-3-644-00507-5
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Wilhelm Hauff, bekannt für seine Märchen, suchte für seinen historischen Roman Lichtenstein einen Verlag. Ein Stuttgarter Verleger wollte es wagen und schickte Hauff tausend Gulden mit der Entschuldigung, Hauff möge es verzeihen, wenn der Stil des Briefes nicht einwandfrei sei. Hauff antwortete ihm: «Ein Brief mit tausend Gulden ist immer in einwandfreiem Stil geschrieben.»
Was aber, wenn keine tausend Gulden beiliegen?
Was ist guter Stil? Und was hat guter Stil mit großer Literatur zu tun? Alles, oder fast alles. Nur gut geschriebene Bücher würden älter als fünfzig Jahre, bemerkt lakonisch der Stilkundler Ludwig Reiners. Aber was heißt: gut geschrieben? Was ist das Geheimnis des guten Schreibens, des guten Stils?
Den guten Stil kann es so wenig geben wie die eine schöne Handschrift. Wenn ein Mensch schön ist, dann unverwechselbar auf je eigene Art, auch das Wärzchen über der Lippe kann dazu beitragen und mindert jedenfalls die Schönheit nicht. Welche Regel sollte man über Schönheit aufstellen, sei’s die physische, sei’s die des Stils?
Schlechten Stil zu beschreiben ist relativ leicht. Man kann den Finger darauf legen, was platt ist, wo es holpert, wo es schief ist, wo grau und abgenutzt.
Viel schwieriger ist es beim guten Stil. Jeder Stil für sich ist eigen, eben das ist seine Definition. Eine generelle Regel verbietet sich. Die originellste Bestimmung stammt dabei von Kafka. Der Stil, die Individualität der Schriftsteller bestehe darin, daß jeder auf ganz besondere Weise sein Schlechtes verdecke.
Stilgefühl ist entfernt verwandt mit Takt. Historischer Takt, eine Prägung Adornos, kann erst entstehen, wenn es keine Regelpoetik mehr gibt. Worauf das Stil- und Taktgefühl sich dann stützt, ist nichts Vorgegebenes, es ist ein Gefühl, ein Gespür für etwas nicht Meßbares, aber doch Reales.
Was Alfred Polgar über das Kunstwerk im Allgemeinen sagt, trifft darum im Besonderen auf literarische Größe und Stil: sein Entscheidendes liegt im Nicht-mit-Sinnen-Wahrnehmbaren, in dem, was sich nicht wägen, messen, spiegeln, isolieren läßt.
Es folgt daraus, daß hier nichts zu messen und also auch nichts zu beweisen sein wird. Alles ist Geschmacksurteil. Der eine mag die Gurke, der andere mag die Tochter des Gärtners, wie man in Polen sagt.
In Königsberg hätte man daraufhin allerdings eingewendet: So einfach ist die Sache auch wieder nicht. Um einmal (und damit aber auch schon das letzte Mal) das große Geschütz aufzufahren: In der Kritik der Urteilskraft schreibt Kant über das ewige Rätsel des Geschmacksurteils, dieses Urteil sei zwar nicht beweisbar, aber auch nicht abweisbar. Denn jeder ästhetisch von etwas Überzeugte sinnt an, sein subjektives Geschmacksurteil als allgemeingültig zu akzeptieren. Nicht mehr als solches Ansinnen kann hier im folgenden geschehen.
Hugo von Hofmannsthal hat das Geheimnis des Stils in ein Bild gefaßt. Der Stilist, nach Hofmannsthal:
Wie ein Seiltänzer geht er vor unseren Augen auf einem dünnen Seil, das von Kirchturm zu Kirchturm gespannt ist; die Schrecknisse des Abgrundes, in den er jeden Augenblick stürzen könnte, scheinen für ihn nicht da, und die plumpe Schwerkraft, die uns alle niederzieht, scheint an seinem Körper machtlos. Mit Entzücken folgen wir seinem Schritt, mit um so höherem, je mehr es scheint, als ginge er auf bloßer Erde. So wie dieser wandelt, genauso läuft die Feder des guten Schriftstellers. Ihr Gang, der uns entzückt und der so einzigartig ist wie eine menschliche Physiognomie, ist die Balance eines Schreitenden, der seinen Weg verfolgt, unbeirrbar durch die Schrecknisse und Anziehungskräfte einer Welt, und eine schöne Sprache ist die Offenbarung eines unter den erstaunlichsten Umständen, unter einer Vielheit von Drohungen, Verführungen und Anfechtungen aller Art bewahrten inneren Gleichgewichtes.
Das Gleichgewicht, die Balance – es entspricht dem, was man in alten Stilschulen das Aptum nannte. Die zweite Inschrift des Tempels von Delphi lautete «Alles in Maßen». Ein Laster links, ein Laster rechts, die Tugend in der Mitten. Die Tugend ist das rechte Maß. Jede Tugend, auch die stilistische, balanciert im labilen Gleichgewicht zwischen Extremen. Das Aptum fordert das Angemessene im Verhältnis zum Gegenstand: Über Tragisches ist nicht flapsig zu reden, über Triviales nicht pathetisch.
Weil Stil mit allem verbunden ist, in alle Lebensadern dringt, sich überall zeigt und von überall gespeist wird, soll hier auch das Schreiben nicht strikt vom Biographischen getrennt werden. Die Trennung ist künstlich, man versteht von Stifters Stil nicht viel, wenn man nichts von seinem Leben weiß. Wie die Prosa sich zum Leben verhält, wirkt bis ins Adjektiv auf sie zurück. Stil und Charakter sind nicht voneinander zu scheiden, wer schreibt wie Heinrich Mann, muß Heinrich Mann sein, so schneidend, pompös und windschief und dann und wann grandios. Vielleicht nur bei den Allergrößten trennt es sich ab, das reine Blatt der Prosa von den Blättern des Lebens, um nicht zu sagen, vom Lebensbaum.
Regel I: Man ist Stilist, oder man ist es nicht. Widerlegung der Regel: Wir finden bei Goethe ganz schwache Sätze und fänden nach eifrigem Bemühen selbst in den Sternstunden der Menschheit ein paar gute.
Regel II, modifiziert: Es gibt ein paar unfehlbare Stilisten. Schopenhauer, Hebel, Gottfried Keller, Kafka.
Hauptregel: Es gibt keine Regeln, jedenfalls kann man sie alle brechen. Aber man muß es können.
Soll das nun heißen, daß es in der großen Literatur auf den Inhalt überhaupt nicht ankommt und allein die Form entscheidet, die Sprache, der Stil? Wie ist überhaupt das Verhältnis von Inhalt und Form?
Fast eine Parabel auf dieses Verhältnis, und eine sehr lustige dazu, findet sich in Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt. Alexander von Humboldt fährt im Boot auf dem Rio Negro, an Bord sind neben seinem Begleiter Bonpland und vier Ruderern einige an ihren Gittern rüttelnde Zwergaffen; einer bekommt sogar die Käfigtür auf und belästigt die Passagiere. Die Zeit wird lang, der Ruderer Mario bittet Humboldt, er möge doch auch einmal etwas erzählen.
Geschichten wisse er keine, sagte Humboldt und schob seinen Hut zurecht, den der Affe umgedreht hatte. Auch möge er das Erzählen nicht. Aber er könne das schönste deutsche Gedicht vortragen, frei ins Spanische übersetzt. Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein.
Alle sahen ihn an.
Fertig, sagte Humboldt.
Ja wie, fragte Bonpland.
Humboldt griff nach den Sextanten.
Entschuldigung, sagte Julio. Das könne doch nicht alles gewesen sein.
Die Ruderer unter der Himmelskuppel – ratlos. Hat Humboldt falsch referiert? Hat er verfälscht, übertrieben, ausgeschmückt, hat er Wichtiges weggelassen oder unzulässig verkürzt? Hat er sich einfach falsch erinnert? Nichts von alledem. Er war ganz korrekt. Er hat nur das Wichtigste übersehen, die Form. «Wandrers Nachtlied», Goethes im September 1780 an die Holzwand einer Jagdhütte auf dem Kickelhahn bei Ilmenau geschriebenes Gedicht, das bekannteste der deutschen Klassik, lebt nicht vom referierbaren Inhalt. Die geschätzten Leser kennen es ohnehin auswendig:
Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest Du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur! balde
Ruhest du auch.
Was hat das Gedicht mehr als die Prosa-Zusammenfassung Alexander von Humboldts bei Daniel Kehlmann? Es hat die Reime (Ruh – Du, Hauch – auch, Walde – balde; ohne das schon damals archaisierende «balde», in der unverkürzten Form, bräche das Gedicht zusammen). Es hat den Rhythmus, den Klang, die Assonanzen-Abfolge der «R» (Ruh, spürest, warte, ruhest) und «W» (Wipfeln, schweigen, warte). Es hat nicht den Wind, sondern den «Hauch», der stärker ist, weil er schwächer ist und das Pneuma anklingen läßt. Es hat statt der Vögel (in dieser Fassung) «Vögelein», und sie sind nicht nur ruhig, sondern sie schweigen, was sie vermenschlicht, weil es einen bewußten Entschluß und Absicht unterstellt. Es hat, durch das «Warte nur!», das uns direkt anspricht und nicht nur Memento mori ist fürs lyrische Ich, den direkten Griff an die Gurgel des Lesers. Und es verheißt diesem Ich und uns Lesern nicht, bald tot zu sein, sondern zu «ruhen» – ein großer atmosphärischer Unterschied und vielleicht auch ein sachlicher, weil man aus der Ruhe wiedererweckt werden kann.
Die Sachlage bei Humboldt und Goethe ist nicht haar- oder hauchgenau die gleiche, aber doch ungefähr. Der Stil, die Form fügt der Sache etwas hinzu. Aber das stimmt nicht, könnte man argumentieren: Der Stil ist, in der Literatur, doch die Sache selbst! Literatur besteht aus aneinandergereihten Sätzen, und außerhalb dieser Sätze gibt es nichts. Darum ist es unsinnig, den Inhalt eines Gedichts oder Romans von seinem Stil abzulösen. Der Inhalt sei gut, vom Stil müsse man nicht sprechen – so geht das nicht in der Literatur. Es geht so wenig, wie es bei einem Musikstück ginge, von dem man sagte, bis auf die Noten sei alles prima.
So ganz stimmt aber auch das nicht.
Sprache ist, anders als die Musik, double use. Bei Musik kann man sich allerhand vorstellen, bei Programmusik soll man sich sogar allerhand vorstellen, Musik weckt reichste und subtilste Empfindungen und mag als Sprache für sich bezeichnet werden, aber sie verweist nicht unmittelbar auf ein Außerhalb. Man kann sagen, der Anfang von Schostakowitschs op 87 aus den Präludien und Fugen erzähle auf gut zwei Minuten ein ganzes Leben, mit jugendlichen Hoffnungen, rasch sich zuziehenden Himmeln, Enttäuschungen und milder Altersmelancholie, man kann es fühlen, miterleben und begründen, aber gerade mit dem Begründen wird man dabei immer im Metaphorisch-Appellierenden bleiben – wer’s anders hören will, wird es anders hören. Es gibt in der Musik zwar semantische Traditionen (wofür steht C-Dur?), aber kein Wörterbuch, in dem eine Note auf eine Sache oder einen Begriff verweist.
Sprache, also geformte Prosa, hat ihre musikalische Seite, aber sie verweist auf etwas Außersprachliches, auf etwas außerhalb. Das Schild NO EXIT kann in roter oder schwarzer Schrift geprägt sein, es gibt uns immer eine Information. (Nämlich die, daß hier notfalls ein Ausgang wäre.)
Das ist die eine Seite. Auf die andere Seite, die überwiegend musikalische, fiele zum Beispiel das poème en prose, ein zwittriges und etwas zwielichtiges Zwischengenre, und die Sprachmusik überhaupt – da ist es fast egal, worum es geht, da schwebt das Gedachte noch als Zirruswölkchen über den Sätzen, die sich wiegen im Reigen von Assonanzen und rhetorischem Glanz; Vokalgeschmuse, sich kosende Konsonanten, der ganze Venusberg an Sprachwollust.
Dennoch oder doppelt recht hat Peter Hacks, wenn er schreibt, ein Werk der Poesie bestehe nicht einfach aus Wörtern, sondern aus Wörtern, die etwas meinen. «Es gibt keine Sprachmelodie, die nicht zunächst Gedankenmelodie wäre. Die Musik, die in einem Gedicht ist, ist ein Musizieren mit Begriffen; wenn das nicht wäre, könnte man ja gleich Geige spielen.»
Wer hier nur stumm und verbittert nicken würde, ist Penthesilea. Der Doppelcharakter der Sprache wird in Kleists Drama in zwei Zeilen gefaßt. Penthesilea hat lange auf Achilles eingeredet und ihm ihre komplizierte Lage erläutert. Und er? Er hat, wie es scheint, nicht richtig zugehört. Darauf Penthesilea, außer sich und zornentbrannt, zu ihrer Dienerin:
Was ich ihm zugeflüstert, hat sein Ohr
Mit der Musik der Rede bloß getroffen?
Mit der Musik der Rede bloß. Bei aller Musik der Sprache gibt es nun aber immer noch sachliche Inhalte. Wie zum Beispiel die Frage: «Zu dir oder zu mir?» Was hier heißt: den Brauttempel in Themiscyra aufbauen, wie Penthesilea es will und ihr Gesetz es fordert – oder im Heerlager bei Achill Hochzeit feiern? Mißverständnisse dieser Art können böse enden. Da kann man von Hunde- und Frauenzähnen zerrissen werden oder sich mit glühenden Metapher-Dolchen entleiben müssen – wir werden darauf zurückkommen. Es gilt auch hier das Aptum: nicht bloß Musik! Es sei denn, es gälte der Musik. Wenn Wagners Rheintöchter singen: «Weia! Waga! Woge, du Welle! walle zur Wiege! Wagalaweia! Wallala weiala weia!», dann ist es ganz richtig. Sonst aber: nicht nur Musik. Und umgekehrt: nicht nur sang- und klanglose Wortparaden. Es sei denn, es gälte Gesetzestexte (und selbst die, oder gerade die, lassen sich besser oder schlechter ausrichten).
Man kann, um es zusammenzufassen, bei der guten Prosa weder vom Klanglichen absehen noch vom gedachten, durchs Wort bezeichneten Inhalt. Die Trennung wäre künstlich, es ist die höhere Einheit, die sich im Stil bewähren muß, oder anders: Erst wenn es ein nennenswerter Stil ist, gibt es diese höhere Einheit von Gedanke und Klang, von Rhythmus und Begriff.
Mit diesem Doppelcharakter der Sprache hängt aber auch zusammen, daß Stil allein noch nicht über Romane entscheidet. Es kann große Stilisten geben, die dennoch keine großen Autoren wurden – es fehlt ihnen vielleicht an anderen notwendigen Fertigkeiten oder Talenten, die das Verfassen eines Romans verlangt. Ein großer Stilist wie Rudolf Borchardt hat (außer seinen Kindheitserinnerungen und dem postum veröffentlichten Weltpuff Berlin) kaum ein lesbares fiktionales Werk verfaßt. Umgekehrt kann es, wie Ludwig Börne bemerkt, vortreffliche Werke geben, welche in einem schlechten Stile geschrieben sind. Kenner des Russischen, und nicht nur Nabokov, führen für letzteres gerne Dostojewski an. Stil ist nicht immer die notwendige Voraussetzung für ein großes Buch. Balzac mag ein Riese sein, ein Stilist ist er sicher nicht. Joseph Conrad wird nicht wegen seines Stils gelesen wie Henry James (der zumindest im Spätwerk wohl eher trotz seines Stils gelesen wird). In Stefan Zweigs Die Welt von Gestern finden sich auf fünfhundert Seiten zwei neu gesehene Metaphern und fast kein überraschendes Adjektiv, trotzdem ist es ein großes, bewegendes Zeitzeugnis. Heinrich Böll wird von vielen als bedeutender Autor angesehen; als Stilisten werden ihn die wenigsten reklamieren.
Eine paradoxe Folgerung aus diesen Erwägungen zog Karl Kraus: Er las keine Romane. Seine Begründung: «Es scheint mir überhaupt keine andere Wortkunst zu geben, als die des Satzes, während der Roman nicht beim Satz, sondern beim Stoff beginnt.» Damit spart man sich natürlich eine Menge Lektüre.
Ludwig Börne fragte sich in seinen Bemerkungen über Sprache und Stil von 1826, woher es komme, daß so viele deutsche Schriftsteller so schlecht schrieben. Vielleicht daher, weil sie sich keine Mühe gäben. Und sie gäben sich keine Mühe, weil sie, als Deutsche treu und ehrlich sich mehr an die Sache und die Wahrheit haltend, es für eine Art Koketterie ansähen, den Ausdruck schöner zu machen, als der Gedanke sei.
Ein halbes Jahrhundert später macht sich Friedrich Nietzsche ganz ähnliche Gedanken. Auch er fragt sich, warum die Deutschen so schlecht schreiben. Auch er sieht den Grund darin, daß sie sich keine Mühe geben, weil sie überhaupt keinen Begriff von geformter Prosa haben.
Unsere Prosa. – Keines der jetzigen Kulturvölker hat eine so schlechte Prosa wie das deutsche; und wenn geistreiche und verwöhnte Franzosen sagen: es giebt keine deutsche Prosa – so dürfte man eigentlich nicht böse werden, da es artiger gemeint ist, als wir’s verdienen. Sucht man nach den Gründen, so kommt man zuletzt zu dem seltsamen Ergebnis, daß der Deutsche nur die improvisierte Prosa kennt und von einer anderen gar keinen Begriff hat. Es klingt ihm schier unbegreiflich, wenn ein Italiener sagt, daß Prosa gerade um so viel schwerer sei als Poesie, um wie viel die Darstellung der nackten Schönheit für den Bildhauer schwerer sei als die der bekleideten Schönheit.
Um Vers, Bild, Rhythmus und Reim hat man sich redlich zu bemühen – das begreift auch der Deutsche und ist nicht geneigt, der Stegreif-Dichtung einen besonders hohen Wert zuzumessen. Aber an einer Seite Prosa wie an einer Bildsäule arbeiten? – es ist ihm, also ob man ihm etwas aus dem Fabelland vorerzählte.
Trotz Börne und Nietzsche hat sich die Abneigung der Deutschen gegen das Feilen an der Prosa bis tief ins zwanzigste Jahrhundert erhalten. Peter Sloterdijk zitiert in seinen Notizen einen Satz von Gerhart Hauptmann, «dem deutschen Repräsentanztölpel vom Dienst, bevor Günter Grass das Amt übernahm: ‹Sprachschliff ist kalte Ausländerei.› Der gute Deutsche läßt es stehen, wie es kommt.»
Gerhart Hauptmanns Antipode war zum Glück nicht der einzige, der das anders sah – und der Hauptmann überhaupt nur dadurch verewigte, daß er ihn als Mynheer Peeperkorn im Zauberberg zur unvergeßlichen Figur gestaltete, mit allem Sprachschliff, der ihm, Thomas Mann, zu Gebote stand.
Auch Karl Kraus hatte vom Sprachschliff eine andere Idee. Kalte Ausländerei? Im Gegenteil, das war die Möglichkeit zu höchstem Lustgewinn. «Ein guter Stilist muß bei der Arbeit die Lust eines Narzissus empfinden», schreibt Kraus. «Er muß sein Werk so objektivieren können, daß er sich bei einem Neidgefühl ertappt und erst durch Erinnerung darauf kommt, daß er selbst der Schöpfer sei. Kurzum, er muß jene höchste Objektivität bewähren, die die Welt Eitelkeit nennt.»
Aber was macht ihn nun aus, den guten Stilisten? Eine mögliche Antwort wäre: Der Künstler will, wie der Wissenschaftler, die Welt nicht verlassen, ohne ihr eine winzige neue Erkenntnis mitgegeben zu haben. Und wenn keine Erkenntnis, dann eine Farbnote, eine Stimmung, irgendeinen Dreh, den es zuvor noch nicht gab. Kein großer Künstler ohne eine solche Hinterlassenschaft – oder umgekehrt, nur durch diese Hinterlassenschaft wird er zum großen Künstler. Das gilt nun im engeren und exklusiveren Sinn auch für den Stilisten. Wenn es einer ist, muß er in irgendein Stellrädchen gegriffen, irgend etwas sacht verschoben oder eine neue Verzahnung erfunden haben – irgend etwas Neues, neu Gesehenes muß er hinterlassen, wenn man ihn einen großen Stilisten nennen soll, auch wenn man das spezifisch Neu-Besondere nicht einmal immer beim Namen nennen kann.
Marcel Proust, der Großlogenmeister des Stils, konnte es beim Namen nennen. In seinem Flaubert-Essay, in dem er alle Belege aus dem Kopf zitierte, weil er aus seiner Räucherhöhle alle Bücher verbannt hatte, wies er auf die stilistischen Erneuerungen Flauberts hin, die genauso kategorial seien wie die Umstürze bei Immanuel Kant. Er führt Flauberts Gebrauch des passé simple und der Adverbien an, seine Art, das Imperfekt als Mittel der indirekten Rede zu verwenden, ferner Flauberts speziellen Gebrauch der Konjunktion «und», die bei ihm, anders als grammatisch vorgesehen, eine Pause in der rhythmischen Einheit bezeichne, während er es immer dort, wo das «et» stehen müßte, einfach weglasse. All das zusammen mache Flauberts Stil so einzigartig und neu.
In diesem Zusammenhang spricht Proust davon, daß es eine grammatische Schönheit gebe, die nichts mit Korrektheit zu tun habe. Jeder halbwegs begabte Schüler hätte in Flauberts Druckfahnen Dutzende Fehler anstreichen können. Flaubert verwechsle z.B. ständig die Personalpronomen, das heißt, er setzt sie so, daß sie sich grammatisch auf das Nicht-Gemeinte beziehen (wenn er «sie» schreibt, meint er Personen, aber grammatisch bezieht es sich auf «Hüte»). Flaubert – so Proust, der vielleicht in eigener Sache schreibt – will das, was bislang Aktion war, ummünzen in Impression, er hat ein ästhetisches Programm, dem er die grammatische Korrektheit notfalls unterordnet. Er will sich der tyrannischen Wirklichkeit unterwerfen, an der nicht das geringste zu ändern erlaubt ist. Er will das visuell Wahrgenommene ohne kausale Zuordnung, die erst im nachhinein erfolgt, sprachlich abbilden. Und er will, aus rhythmischen Gründen, aus dem Zentrum eines Satzes den Bogen aufsteigen lassen, der sich erst in der Mitte des folgenden Satzes niedersenkt.
Wie gesagt, dies gilt für die Großlogenmeister. Man kann Prousts Beschreibung der Prosa Flauberts aber auf den Stilisten überhaupt anwenden. Der Stil im engeren Sinn zeichnet sich dadurch aus, daß man den Autor, die Autorin nach ein paar Sätzen wiedererkennt. Der Stil hat eine DNA, die sich bei jedem etwas anders zusammensetzt. Dem geübten Leser fluoresziert dann jede Seite unverwechselbar. Das trifft vor allem auf die Manieristen zu. Bei den anderen, auch den Größten, sind Verwechslungen möglich, wie das Literaturquiz II hoffentlich leider erweisen wird.
Verwechslungen sind vor allem aber bei den Un-Stilisten möglich. Was soll das sein, ein Un-Stilist? Hier gilt die einfache Weglaßprobe. Was fehlte in der Geschichte des Stils, wenn X, Y oder Z nie geschrieben hätten? Wenn die Antwort darauf ist: «Nicht eben viel», wären der Kandidat, die Kandidatin ermittelt.
In seinem schmalen und klaren Buch Umblättern und andere Obsessionen schreibt Michael Köhlmeier über seine Legasthenie. Er habe immer langsam und mühsam lesen müssen, mit den Lippen die Buchstaben nachformend, diesem Handikap seien aber auch Vorteile entsprungen. Der sehr langsam Lesende sei besser gerüstet, gute Literatur von schlechter zu unterscheiden. «Wiederholungen, Klischees, Ungenauigkeiten, Umständlichkeiten, geringer Wortschatz, zu wenige oder zu viele Worte mit Strahlkraft (Strahlkraft meint in diesem Zusammenhang, dass die Worte selten bis seltsam, besonders wohlklingend oder in ihrem Umfeld ungewöhnlich sind), all das fällt dem Langsamen unerbittlicher auf die Nerven als dem Hurtigen. Der Langsame, seine Lebens- und Leseökonomie bedenkend, kann es sich nicht leisten, schlechte Bücher zu lesen!»
Köhlmeiers Erklärung liest sich wie die Beschreibung ex negativo des guten Stils. Und wir stoßen hier wieder auf die versteckte Kategorie des Aptum: Nicht nur zu wenige, auch zu viele Wörter mit Strahlkraft können stören. Das Maß entscheidet.
Ein Lyrik-Beispiel für dieses richtige Maß an Wörtern mit Strahlkraft wäre Die gestundete Zeit von Ingeborg Bachmann, ein zu Recht berühmtes, raffiniertes Rondo, bei dem alles an dem schillernd strahlenden Verb «gestundet» hängt. Alle anderen Wörter sind schlicht und eingängig; dann strahlen wieder die «Marschhöfe», das Zentrum der zweiten Strophe. In der dritten Strophe ist es die schön alliterierende Metapher, das «Licht der Lupinen», aber auch der im Hochdeutschen ungeläufige «spurende» Blick. Es ist genau das richtige Maß an gewöhnlichen und leicht ungewöhnlichen Wörtern.
Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Bald mußt du den Schuh schnüren
und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe.
Denn die Eingeweide der Fische
sind kalt geworden im Wind.
Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.
Dein Blick spurt im Nebel:
die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Man stundet einem Schuldner vorläufigdas, was man ihm geliehen hat. Bachmann verschiebt das aufs Kapital der Lebenszeit. Auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar, das heißt: Du merkst, du wirst älter, es kann dich jederzeit erwischen. Bachmanns aus der Sphäre des Finanzjuristischen ins Existentielle gehobene Formulierung ist der tragende Einfall des Gedichts.
Die Stilistin hat etwas winzig Neues in die Welt gebracht. Sie hatte Einfälle. Der Einfall ist eine der wichtigsten Kategorien des Stils. Er macht sich vor allem durch sein Fehlen oder durch Fülle bemerkbar. Bei Polgar haben wir einen Einfall pro Satz. Bei Schnitzler haben wir keinen Einfall pro Seite – gut ist er trotzdem. Die meisten Einfälle pro Seite hatte Vladimir Nabokov. Aber auch Hildegard Knef hat eine Menge.
Was definiert den Einfall? Nichts. Wenn er sich definieren ließe, wäre es keiner mehr. Der Einfall ist die kleine überraschende Abschweifung vom protokollierten Weg, das Pflücken der von andern unbeachteten schönen Beere; die witzige Verschiebung oder Umdeutung, die syntaktische oder rhythmische Kühnheit, das Wortspiel, die Metapher, der neue Gedanke. Oder auch im Großformat: die neue Romanform. Auch der Ulysses von James Joyce, ursprünglich als kurze Erzählung geplant, verdankt sich der Urzeugung eines Einfalls – laß deinen Helden einen Tag durch Dublin ziehen, und lege als mythologische Schicht den Odysseus der Antike darunter.
Die meisten Einfälle verdanken sich einer winzigen Verschiebung. «Die geringe Abweichung macht den Stil», bemerkt Botho Strauß. Aus der kleinen Abweichung speist sich große Poesie, oft aber auch der Witz. «Schöner Fisch, hat der einen Namen?» – «Koi Uwe.» Vom a zum o, das ist die kleine witzerzeugende Differenz. Max Goldt, ein Meister des Buchtitels, gab gelegentlich zu, eine Textsammlung nur deshalb Der Krapfen auf dem Sims betitelt zu haben, weil er den Verleser «Der Karpfen auf dem Sims» hervorkitzeln wollte.
Virginia Woolf, eine der vielen großen Stilistinnen, die wir hier leider nicht über die Sprachgrenze ins Deutsche schleusen können, schreibt anläßlich der Lektüre eines Autors, sie bewundere seinen Stil – aber sie fürchte, es seien die Gedanken.
Ohne genaues Denken kein genaues Formulieren; da beißt die Maus keinen Faden ab. Den Stil verbessern, das heiße den Gedanken verbessern, wußte schon Friedrich Nietzsche.
Ein guter Stil ist es dann, wenn man merkt, daß Gedanke und Formulierung – mit unhörbar wollüstigem Schmatzen – zueinandergefunden haben. Darum ist Lichtenberg ein souveräner Stilist, darum sind es Schopenhauer und Montaigne: weil es ihnen nicht zuerst um die Wörter ging, sondern um das – möglichst genau ausgedrückte – Gedachte.
Und darum ist, scheinbar paradox, die Kürzestform des Gedankens, der Aphorismus, stilistisch nicht leicht seinem jeweiligen Urheber zuzuordnen. Was ist von Jean Paul, was von Lichtenberg, was von Hebbel, was von Kraus, was von Polgar? Man kann raten, am leichtesten errät man noch Hebbel, Adorno und Canetti, aber oft ist es ein Topfschlagen wie beim Kinderspiel. Aphorismen sind keine Stil-, sondern Gedankenausweise. Aphorismen sind stilistisch immer ähnlich. Darum sagt Canetti, die Aphoristiker schrieben, als kennten sie sich alle. Auf Dauer markieren sie aber einen Denkstil.
Der von Canetti zeichnet sich zum Beispiel dadurch aus, daß man die Hauptwörter seiner Sentenzen und Aphorismen oft vertauschen könnte, ohne daß es jemand bemerken würde. Als ein erstes Mini-Quiz die Frage: Welche Version ist die originale:
a) Das Tier ist das Maß des Menschen.
b) Gott ist das Maß des Tieres.
c) Der Mensch ist das Maß des Tieres.
Die richtige Antwort ist: c).
Bei allem, was auch nur eine halbe Seite über den Aphorismus hinausgeht, gilt: Und sie verraten sich doch.
Daß der Stil mit dem Denken untrennbar verwachsen ist, sieht man gerade in der Philosophie. Man kann nicht Adorno umformulieren à la Wittgenstein. Man kann nicht Ernst Bloch übersetzen in die Prosa Bertrand Russells. Was bliebe von Nietzsche, wenn er geschrieben hätte wie sein Zeitgenosse Theodor Fontane?
Borges hatte Deutsch studiert, um Schopenhauer im Original lesen zu können. Er wußte, das Gedachte ist nicht von der Sprache zu lösen und Philosophie ist auch Stil. Bei Schopenhauer konnte man lernen: «Für eine gelungene Rede gebrauche gewöhnliche Worte und sage ungewöhnliche Dinge.» Ein Rat, an den sich zum Beispiel Sigmund Freud noch gehalten hat. Viele andere nicht. Diese anderen konnten Schopenhauer bis zur Mordlust treiben. Als Student schrieb er zornig verzweifelt an den Rand seiner Kladden, Fichte habe bei seiner jüngsten Vorlesung Sachen gesagt, die ihm, Schopenhauer, den Wunsch ausgepreßt hätten, ihm eine Pistole auf die Brust setzen zu dürfen und dann zu sagen: «Sterben musst du jetzt ohne Gnade; aber um deiner armen Seele Willen, sage ob du dir bey dem Gallimathias etwas deutliches gedacht hast oder uns blos zum Narren gehabt hast!»
Sprache kann etwas Gedachtes deutlich bezeichnen, und sie kann verhüllen und verkleiden. «Es sei mir erlaubt, hier beiläufig ein die redenden Künste betreffendes Gleichnis einzuschalten», führt Schopenhauer, der dann doch auf die Pistole verzichtet hatte, aus:
Nämlich wie die schöne Körperform bei der leichtesten oder bei gar keiner Bekleidung zum vorteilhaftesten sichtbar ist, und daher ein sehr schöner Mensch, wenn er zugleich Geschmack hätte und auch demselben folgen dürfte, am liebsten beinahe nackt, nur nach Weise der Antiken bekleidet gehen würde – ebenso nun wird jeder schöne und gedankenreiche Geist sich immer auf die natürlichste unumwundenste, einfachste Weise ausdrücken, bestrebt, wenn es irgend möglich ist, seine Gedanken andern mitzuteilen, um dadurch die Einsamkeit, die er in einer Welt wie dieser empfinden muß, sich zu erleichtern: umgekehrt nun aber wird Geistesarmut, Verworrenheit, Verschrobenheit sich in die gesuchtesten Ausdrücke und dunkelsten Redensarten kleiden, um so in schwierige und pomphafte Phrasen kleine, winzige, nüchterne oder alltägliche Gedanken zu verhüllen, demjenigen gleich, der, weil ihm die Majestät der Schönheit abgeht, diesen Mangel durch die Kleidung ersetzen will und unter barbarischem Putz, Flittern, Federn, Krausen, Puffen und Mantel die Winzigkeit oder Häßlichkeit seiner Person zu verbergen sucht. So verlegen wie dieser, wenn er nackt gehen sollte, wäre mancher Autor, wenn man ihn zwänge, sein so pomphaftes, dunkles Buch in dessen kleinen, klaren Inhalt zu übersetzen.
Das zielte immer noch auf Fichte und Hegel. Aber hätte bei dieser Stelle nicht bis vor kurzem noch halb Frankreich rot anlaufen müssen? Derrida puterrot; Heidegger verlegen hüstelnd? Niemals. Das Seiende west im Sein. Basta.
Können Denker als Stilisten Schulen bilden? Pflegen diese Schulen einen Jargon? Die Antwort ist gar nicht so einfach. Man sollte meinen, einer der großen Denker und Seelenkundler des letzten Jahrhunderts habe eine einflußreiche Schule gegründet, die ihm auch stilistisch huldigt. Es stimmt aber nicht ganz. Sigmund Freud, Jargon? Nein. Die Begriffe sind von ihm – wer sie benutzt, wer vom Es oder vom Über-Ich, vom Unbewußten, vom Todestrieb oder von der analen Phase spricht, der zitiert Freud. Aber es ist kein Jargon, den Freud, einer der großen Stilisten seiner Zeit, verbreitet hat. Nur in seinen Denkfiguren hat er schul- und stilbildend gewirkt, küchenpsychoanalytisch; insofern steckt er seine Schüler stark an. Stilistisch im strengen Sinn hat Freud keine Schüler gehabt, weil er dafür einfach zu gut schrieb – zu gut einfach schrieb. Er selbst war stolz auf das Prädikat Stilist, wie er an seinen Jugendfreund Emil Fluss schrieb; auch auf das Lob seines Lehrers bei der Matura, er habe, was Herder einen «idiotischen Stil» nannte – also einen Stil, der nach damaligem Wortgebrauch zugleich korrekt und charakteristisch sei.
Was zeichnet ihn aus, diesen Stil? Freud ist hoch anschaulich, immer scheinbar abwägend, scheinbar skrupulös, um dann im nächsten Absatz mit einem Tigersprung alles einzuheimsen, was gerade zuvor noch allenfalls möglich, aber keineswegs gesichert war. Rhetorisch ist der Katzenliebhaber Freud ein Meister der Erschleichung und des Sophismus, in einem böhmisch-österreichisch gefärbten Deutsch von großer Schönheit. Das Höfliche und das Hinterfotzige, Gravitas und Intrige, die alte Wiener Mélange – Freuds stark am Klassischen orientierte Prosa hat mehr als ein paar Bröserln davon.
Heidegger wiederum ist ein Spezialfall, bei dem schon nicht mehr von Jargon, sondern fast von Kunstsprache die Rede sein müßte. Vielleicht war sie notwendig, um neu Gedachtes ausdrücken zu können. Schüler riskieren, wenn sie ihre Federn in Heideggersche Tinten tunken, sofortige Lächerlichkeit. «Wie aber west das Ding? Das Ding dingt» geht genau einmal, und schon da geht es nur knapp. Die Kunstsprache kann eigentlich keinen Jargon bilden. Es sei denn den sogenannten Jargon der Eigentlichkeit, den sich Theodor W. Adorno zum Fraß vorlegte. In seiner 1964 erschienenen General-Polemik filetiert Adorno bis auf die Knöchelchen, was Heidegger und seine Epigonen mit ihren hohen und hohlen Begriffen zu erschleichen und zu kaschieren suchen. Wenn er diesen Innerlichkeits-Begriffen vorwarf, sie seien bloße «Verfallsprodukte der Aura», schnupperte er freilich, ohne es zu wissen, schon am Honig des nächsten modischen Jargons.
Es war Adornos schwieriger Freund, der in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts zum Kultautor und Stichwortgeber einer Generation wurde. Aus Walter Benjamins Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeitstammt der Begriff der Aura, die das Kunstwerk in jenem Zeitalter verliere. Der Begriff begann dann ein Eigenleben und wurde das, was man mit Dawkins heute vielleicht ein «Mem» nennen würde. Der Verlust der Aura wurde Benjamin nachgebetet, wie Benjamin überhaupt (zu Recht, aber aus falschen Gründen) zu einem Halb-Heiligen des zwischen Philosophie und Literatur schwebenden Kritikers erhoben wurde. Der Mix aus Messianismus und Marxismus machte ihn für alle bedeutend, die mit dem jeweils einen allein unbefriedigt gewesen wären. Wenn schon Klassenkampf, dann mit Aura. Oder wenn schon Mystik, dann materialistisch. Dazu ein Freitod auf der Flucht vor den Nazis und ein dunkler Stil …
Aber wie war Benjamin als Stilist? Hat er eine Schule gebildet und Jünger herangezogen? Es ist wie bei Sigmund Freud: Dafür schrieb er zu gut. Daß man ihn nicht imitieren konnte, lag daran, daß er ein überwältigender Bildschöpfer war. Bilder und kühne Vergleiche muß man selber finden, da gibt es keine leicht zu übernehmenden Muster und Stildetails.
Er hatte einen Meisterschüler, und der war Adorno. Böse Zungen könnten ihn einen begnadeten pick-pocket nennen, aber das wäre nicht gerecht. Manches von dem, was bei Adorno gut ist, erinnert in seinem stilistischen Gestus an Benjamin. Aber dann gibt es Gebiete wie das der Musik, auf dem sich Benjamin überhaupt nicht auskannte und auf dem Adorno auch stilistisch seine Zeitgenossen übertraf. Vor allem sein Mahler-Aufsatz, musikologisch umstritten, ist sprachlich ein Höhepunkt der Musikbeschreibung, sieht man von denen im Doktor Faustus ab, die ja aber Wiesengrund-Adorno ebenfalls fourniert hatte. Die andere unbestrittene Stärke Adornos sind seine Fragmente, Aphorismen, short cuts; am eindrucksvollsten in der Sammlung Minima Moralia, einem wohl doch Jahrhundertwerk.
Konziser Stilist, der Adorno war, hatte er anders als Benjamin eine entscheidende Schwäche: Ihn, Adorno, konnte man seiner Manierismen wegen auch als nicht kongenialer Adept nachmachen. Genau das ist notwendig, wenn ein Jargon sich bilden soll.
Adorno-Schüler erkennt man stilistisch auf den ersten Blick, nicht anders als die durch den Nieselregen Lacans Gestapften. Bei den Adorno-Schülern ist es vor allem die angestrengte Syntax neben einigen Lieblingsbegriffen und Denkfiguren. Tiedemann, sein Herausgeber, schmiegte sich dem Jargon des Meisters so eng an, daß es das Parodistische streift.
Eckhard Henscheid, ein Mitglied jener Frankfurter Schule, die sich von der alten Kritischen dadurch absetzte, daß sie sich die «Neue» nannte, hat einen der auffälligsten Manierismen Adornos, das von Benjamin übernommene postponierte «sich», in einer bekannten Anekdote parodiert. Ein kleiner Wettstreit um jenes «sich» soll die Stimmung in der Frankfurter Schule aufheitern. Erich Fromm und Herbert Marcuse («Jetzt wird sich mal zeigen»!) scheiden sofort aus, Horkheimer überzeugt mit: «Die Judenfrage erweist in der Tat als Wendepunkt sich der Geschichte», aber dann liefert Adorno sein Meisterstück:
«Das unpersönliche Reflexivum erweist in der Tat noch zu Zeiten der Ohnmacht wie der Barbarei als Kulmination und integrales Kriterium Kritischer Theorie sich.»
Fassen wir zusammen: Der Jargon zeichnet sich durch die Übernahme bestimmter Begriffe und eingeschliffener Wendungen aus, die auf eine ursprüngliche Schule deuten. Man könnte von Markern sprechen oder von Schmauchspuren. Der «Diskurs», «das Andere» oder «ganz Andere», das perennierende «immer schon» (achten Sie auf «immer schon»!): Ja, hier fand Berührung mit der Lacancan- und Derridada-Schule statt, nach dem zu oft zitierten, aber gut gefundenen Übernamen; Berührung, die kleine unverkennbare stilistische Spuren hinterläßt bzw. «einschreibt». Diese Phrasen-Partikel verderben den Personalstil, weil sie nichts Selbstgedachtes mehr ausdrücken, sondern die Zugehörigkeit zu einer Schule demonstrieren, hinter die zu laufen der Ehrgeiz noch jedes individuellen Stilisten war. – Das letzte Beiwort kann man streichen.
So wie es Graubrot gibt, geschmacksarmes, plastikverpackt, so gibt es auch Graudeutsch. Es zeichnet sich aus durch viele, langweilige latinisierende Fremdwörter; kein originelles Verb; wenn Bilder, dann nur die abgegriffensten, Münzen ohne Prägerand. Fast alle akademischen Publikationen zermalmen oder zelebrieren dieses Graubrot, daß es eine Art hat. Es sind graue Begriffsbrocken, die sich aufeinandertürmen; Klapperbleche, mit denen man nicht Spatzen, sondern Leserschwärme verscheucht. Man will es nicht einmal zitieren.
So wie das Graubrot gibt es aber auch das tortenhaft Überschmückte, Überzuckerte, das, was man im Englischen overwritten nennt. Jeder einzelne Satz für sich glänzt, glänzt vielleicht ein bißchen zu sehr, hat oft ein kostbares Adjektiv zuviel. Wolfgang Koeppens Tauben im Gras: Jeder Satz macht auf sich aufmerksam, einer folgt dem andern im Stakkato. Jeder winkt: «Hier bin ich!» Kein Satz als einzelner ist zu tadeln, aber über viele Romanseiten hinweg strengen sie an. Die Wörter sind wie eine reflektierende Scheibe vor den Sachen. Sie stören bei dem Transfer-Akt, das gelesene oder gehörte Wort möglichst lichtschnell in eine Vorstellung zu verwandeln. (Für Lyrik gelten andere Gesetze.) Ein Bild für diese übertüftelte Art Prosa fände sich in Andersens Märchen Die chinesische Nachtigall. Dort hängt an jeder Blume im Kaiserlichen Garten ein Glöckchen.
Manierismus kann sich an einem einzigen Wort zeigen, auf das der Autor wie unter Zwang zurückkommt. Bei einem bekannten Frankfurter Gastronomie-Kritiker war es das magische Wort «Textur». Es war ein wöchentliches Vergnügen, beim Lesen seiner Feinschmecker-Kolumne darauf zu lauern: Wann würde das heilige Wort zum ersten Mal sein Köpfchen aus dem Gehege der Prosa recken? Wenn diese Textur einmal fehlte, verschlug es einem glatt den Appetit. Wie? Heute keine Textur? Wo man sich seit Jahrzehnten daran gewöhnt hatte, ein Wort über die Textur des Saiblings, die Textur der Artischockenblüte oder die Textur des Kalbsbäckchens zu erfahren? Sie war oft fein, diese Textur, ließ öfter aber auch zu wünschen übrig, denn der Kritiker war streng und nicht davon abzubringen, den kulinarischen Verblendungszusammenhang ordentlich zu durchleuchten. – Das war ein Beispiel für Abschweifung. Sie ist eigentlich unerwünscht, aber seit Laurence Sterne sind Ausnahmen erlaubt. Solange die Textur stimmt.
Ist das Folgende overwritten? Ist es Glöckchenprosa? Oder Graubrot? Es handelt von Isothermen und Isotheren:
Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Saturnringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering.
An dieser Stelle wird der Autor bei seiner Berliner Lesung unterbrochen. Ein Zuhörer steht auf und ruft: «Ham Se’s nich ’ne Nummer kleiner?!» Robert Musil schaut vom Manuskript auf, wartet ein paar Sekunden und fährt fort:
Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.
Der Zwischenrufer, sichtlich zufrieden, setzt sich wieder. «Na, ham’ Se ja wat dazujelernt!»
Vermutlich hat es weder eine Berliner Lesung noch diesen Zwischenrufer gegeben. Aber der Romanbeginn des Mann ohne Eigenschaften, einer der berühmten Romananfänge der Literatur, ist die Ausfaltung der Frage, ob man es nicht eine Nummer kleiner habe. Musil zeigt die Instrumente und legt sie dann wieder in die Truhe zurück.
Es gibt Stil-Exzentriker, die sie nicht zurücklegen. Wer zu diesen Exzentrikern zählt, ist eine schwierige Frage. Hans Henny Jahnn und Rudolf Borchardt? Warum Robert Walser nicht, aber Franz Overbeck mit Sicherheit? Kleist und Jean Paul vielleicht knapp noch nicht, aber Fritz von Herzmanovsky-Orlando auf jeden Fall?
Die Frage ist so komplex wie die, über der in Kehlmanns Roman Tyll der Vater Eulenspiegels fast verzweifelt. Ab wann ist ein Körnerhaufen kein Haufen mehr? Wie viele Körner muß man wegnehmen, damit er seinen Haufen-Charakter verliert? Mit wieviel Sonderbarkeiten und Regelbrüchen weniger wäre man kein Exzentriker mehr? Die Frage, versteht sich, ist unlösbar. Aber nur als annähernde Antwort: Hans Henny Jahnn will die Regeln und den stilistischen Komment brechen. Über jeder seiner Parforce-Passagen weht der rote Wimpel: «Stil! Ausdruck! Extravaganz!» Bei Robert Walser weht da gar nichts; wir spüren: Er schreibt einfach so.
Schließen Manierismen oder Exzentrik guten Stil aus? Mitnichten. Man kann auch Manierist sein, und es schadet überhaupt nicht, wenn denn ein Stil vorliegt. Es gibt überhaupt keinen Personalstil ohne gewisse wiederkehrende Vorlieben und Eigenarten, Schrullen und Tics, die dem Schreiber oft unbewußt sind. Nur im schlimmsten Fall wird es zum Tourette-Syndrom. Allerdings locken diese Schrullen den Parodisten an.
Exzentrische Stilisten – à la bonne heure. Es gibt viele Wohnungen im Haus der Sprache. Und es gibt Hausmeister, die den Personalstil überhaupt ablehnen.
Jeder Autor, heißt es bei Arno Schmidt, müsse den ersten Meridian durch den Schreibtisch Alfred Döblins ziehen. In einem Punkt ist sein Verehrer ihm nicht gefolgt: Arno Schmidt schrieb immer wie Arno Schmidt. Drei Zeilen, und man erkennt ihn. Döblin aber war der prominenteste Vertreter einer Schule des Anti-Stils. «Wer einen eigenen Stil hat», schrieb er, «ist zu bedauern; wir sehen schon wenig genug; mit dem eigenen Stil können wir noch weniger sagen.» Döblin zufolge erfordert jeder Stoff seinen eigenen Stil; der Personalstil wäre nach dieser Schule so etwas wie der Koch, der an jedes Gericht die gleiche Béchamelsauce gibt.
Wirklich hat Döblin jeden seiner Romane in einem anderen Stil geschrieben; man sprach von seinem Chamäleon-Stil. Berlin Alexanderplatz ist in einem ganz anderen Ton gehalten als Die drei Sprünge des Wang-lun oder der Berlin-Roman Pardon wird nicht gegeben. Das allein hätte noch nichts zu sagen, auch Thomas Mann schreibt in Buddenbrooks anders als im Zauberberg, im Tod in Venedig anders als im Erwählten, und doch erkennt man ihn auf jeder Seite als Thomas Mann. Döblin aber meißelt aus der Vermeidung des Personalstils ein Prinzip.
Döblins Lehre hat kluge Schüler gefunden. Ein bekannter Autor der Gegenwartsliteratur, der sich auf Tschechow und Döblin beruft, sieht das Ideal des Stils in der Resonanz zwischen Stoff und Stil. Er empfände es geradezu als Beleidigung, wenn man ihm einen unverkennbaren Stil zuschriebe. In jeder Erzählung, in jedem Roman müsse der Stil sich dem Stoff anschmiegen oder müsse aus diesem Stoff erwachsen. In einem frei gewählten Beispiel: Wenn der Stoff von Schuld und Sühne das Nervöse, Hastige, leicht Hysterische erfordert, dann kann Dostojewski nervös, hastig und leicht hysterisch schreiben, auch wenn kein einziger seiner Sätze dabei wohlgeformt oder elegant gerät.
Dies die Schule des Nicht-Stils. Aber gibt es nicht dennoch den Dostojewskischen Personalstil oder den Tschechowschen, wird man nicht mit etwas Mühe sogar bei Döblin eine unverwechselbare Faktur finden, den stilistischen Fingerprint? Es sei unmöglich, mit dem eigenen Zungenschlag zu brechen, stellt Botho Strauß fest; und hat er nicht recht? Und kennt man nicht auch unseren Gegenwartsautor, der am liebsten anonym bliebe, spätestens dann heraus, wenn er den ersten «Plastestuhl» aufstellt und um die Erde den Sputnik kreisen läßt?
Er und Döblin hätten sich auch auf Heinrich Heine berufen können. Heine bestritt kurzerhand, daß es einen Personalstil gäbe:
Der Grundsatz, daß man den Charakter eines Schriftstellers aus seiner Schreibweise erkenne, ist nicht unbedingt richtig; er ist bloß anwendbar bey jener Masse von Autoren, denen beim Schreiben nur die augenblickliche Inspirazion die Feder führt und die mehr dem Worte gehorchen als befehlen. Bey Artisten ist jener Grundsatz unzuläßlich, denn diese sind Meister des Wortes, handhaben es zu jedem beliebigen Zwecke, prägen es nach Willkühr, schreiben objektiv, und ihr Charakter verräth sich nicht in ihrem Styl.
Und das gerade von Heine! Dessen Ton so unverwechselbar ist, daß er sowohl Schule machen konnte als auch zur Persiflage reizte. Zu imitieren war Heine leicht, wie Robert Gernhardt in seiner Sammlung Klappaltar vorführt – wie sollte das ohne Personalstil möglich sein? Nur eigenwillige Stilisten erlauben es, daß man mit ihnen Hallodri treibt.
Gernhardt griff mit seinen Parodien und Persiflagen auf eine Tradition zurück, die von jenem Großlogenmeister zu barocker Blüte gebracht wurde. Marcel Proust hat in seinen Pastiches den Personalstil seiner Lieblingsautoren imitiert. Er hat eine damals prominente Skandalgeschichte um einen Diamantenfälscher, die sogenannte Lemoine-Affäre, in das jeweils anders duftende Becken der Sprache Balzacs, Flauberts, Saint-Simons, Renans, Michelets, der Brüder Goncourt getaucht. Für Proust war es eine purgierende Maßnahme: Er geriet nicht mehr in Gefahr, die verehrten Meister unbewußt zu imitieren, wenn er es einmal bewußt getan hatte. Der Proustsche Personalstil schält sich durch das Abstreifen aller Einfluß-Schichten, die sich über den jungen Autor und Vielleser legen, erst allmählich heraus.
Der Autor, der Proust im Deutschsprachigen beerbt hat, war auch ein Robert, noch vor Gernhardt, nämlich Robert Neumann. Er war ein Tausendsassa oder, wie es bei dem gebürtigen Wiener hieße, Wunderwuzzi. Neumann war, wie Proust, bekannt für seine Fähigkeit, andere Leute perfekt nachzumachen; kaum fiel die Tür hinter ihm ins Schloß, wurde der die Party verlassende Gast imitiert. Diese schauspielerische Begabung, die er selbst hochstaplerisch nannte, übertrug Neumann aufs Stilistische. Seine 1927 veröffentlichte Sammlung Mit fremden Federn machte den damals Dreißigjährigen, wie es die Formel will, über Nacht berühmt. Viele der von ihm parodierten Autoren kennt man heute nicht mal mehr namentlich. Es sind aber auch die noch immer Großen dabei: Thomas und Heinrich Mann, Gottfried Benn, Bertolt Brecht, Alfred Döblin; Rilke, George, Hofmannsthal. Heinrich Mann zerlegt er so gut, daß man den originalen danach kaum noch lesen kann.
Denn zerlegen wollte er. Neumanns Ruhm – bei Canetti heißt er immer nur «der gräßliche Neumann» – war und bleibt hochverdient. Seine Parodien sind begnadet und geistsprühend und oft vernichtend, was sie von den Pastiches Marcel Prousts unterscheidet. Dessen Stil-Imitationen waren humoristisch, aber nicht aggressiv. Ohne einen gewissen Unernst waren sie nicht möglich, ohne das Pfefferkörnchen Albernheit, die Proust in hohem Maße besaß. Man konnte seine Pastiches auch als Hommagen verstehen.
Das war bei Neumann ganz anders. Wie er später erklärte, war er in seiner Jugend ein Thomas-Mann-Epigone, minus Talent und Ironie. Neumanns Romane taugten nicht viel, das erkannte er selbst. Was ihn zu den Parodien trieb, war ein Gefühl, das verhüllt ganze Säle füllt, sich offen aber nur selten zu erkennen gibt: Ressentiment. Der nicht Arrivierte wollte es den neuen Modeautoren zeigen. Sein Antrieb war der Wunsch, die Parodierten mit einem Blattschuß zu erlegen. Wie der Freischütz hatte er dabei magische Kugeln; in gewisser Selbstehrfurcht schreibt er einmal von seiner «magischen Grausamkeit».
Wie genau hat er es angestellt? Neumann nutzte seine Fähigkeit der Stimmenimitation, um dem scheinsonoren fremden Ton ein kleines Fisteln beizumischen. Das Magische daran war, daß Neumann den jeweiligen Personalstil gewissermaßen durch Handauflegen aufnahm: Wenn er nur ein paar Seiten überflogen hatte, wußte er schon mehr als ein Heer pedantischer Leser, wie Hermann Kesten bemerkte. Nach diesem magischen Akt begann das Skelettieren, die Vivisektion, wie immer man es nennen will. Es genügten, um abermals das Bild zu wechseln und Jens Jessen zu zitieren, ein, zwei Schritte über den Punkt hinaus, an den Rilke oder Thomas Mann, Döblin oder Else Lasker-Schüler sich schon hingeschrieben hatten, und der Text stürzte in den Abgrund von Lächerlichkeit oder Umnachtung. Neumann gab dem etwas zu steil Geschriebenen den entscheidenden kleinen Schubs. Jessen, selbst ein Stilist von Graden, erkennt darin ein tieferes Geheimnis der Kunst: ihre Gefährdung durch sich selbst. Der Stilist neigt zum Extrem. Und dort wartet schon mit glitzerndem Lächeln ein Robert Neumann auf ihn.
Es gibt Stilgebärden, die es ihm besonders leicht machten. Eine davon ist die erheischende: Respekt, Demut, Gefolgschaft erheischend. Zart und doch bedrängend bei Rilke, massiv bei Borchardt, George oder Heidegger. Der erheischende Stilgestus hat bestimmte Charakteristika, die aufzuzählen zu langweilig wäre – jeder sieht es. Gern gibt dieser Gestus sich dunkel-drohend. Das macht Robert Neumann aus dem Handgelenk.
Ich forschte blinden sinnes nach der pforte
der alten parks die sich im zwielicht ziehn
und fand sie nicht doch kreiste drüberhin
von dohlen eine drohende cohorte.
da eingebettet lag in halbverdorrte
waldnacht das tor das sich mir nie verliehn
ich trat hindurch dumpf duftete yasmin
und moder lohte auf besonntem orte.
Auf einem plane in gerader zahl
saß streng die ausgewählte schar der gäste
ein page reichte stumm das karge mahl
dann sprach ich meine schweren anapäste
und jeder schwieg und jeder auf dem feste
war von der bürde der gedanken fahl.
Über die Ungerechtigkeit solcher Nachdichtungen müssen wir kein Wort verlieren. George war kein geringerer Wunderwuzzi als sein bös begnadeter Parodist. Neumann war aber komischer.
Allerdings stieß auch das magische Ressentiment an natürliche Grenzen. Wie Neumann zu Recht erklärt, war eines nicht parodierbar, nämlich das Meisterliche. Das Meisterliche habe die Form eines Panzers, in den man nicht kriechen könne, um ihn von innen aufzusprengen. Umgekehrt gebe es eine Begrenzung nicht nur nach oben, sondern auch nach unten. Mein Kampf könne man nicht parodieren. Das mag stimmen; Neumann kannte freilich nicht Gerhart Polt als Hitler, der sich auf dem Reichsparteitag in der Nürnberger Luitpoldhalle über einen unfairen Leasing-Vertrag der Firma Ismeier mit anschließendem verlorenen Prozeß («gewonnen … morrralisch!») erregt. Vielleicht hätte er es als ins Exil getriebener Jude auch nicht lustig gefunden.
Zahm wurde der Löwe dann erst im Alter. Er sei ein friedliebender Mensch geworden, schreibt Neumann im Nachwort einer zweiten Parodiensammlung, «ich trage es einem Menschen auch nicht eine Minute nach, wenn ich ihn beleidige».
Früher war das noch anders. Das Skandalon: Ausgerechnet Neumann, der Pasticheur, wurde einmal selbst pastichiert. 1932 erschien in hoher Auflage der Roman Das kunstseidene Mädchen von Irmgard Keun. Der Erfolg war groß, das Buch wurde in sieben Sprachen übersetzt und war monatelang in den Leihbibliotheken vergriffen. Und war das nicht tatsächlich ein ganz neuer Ton und kühner Wurf?
Der Stoff jedenfalls war neu und kühn: eine einfache Frau aus dem unteren Mittelstand, die «ein Glanz» sein will. Dafür gab es noch kein Vorbild. Doris, eine junge aufstiegshungrige Semi-Prostituierte mit Film-Ambitionen und goldenem Herzen in der Großstadt Berlin. Sie schreibt, wie ihr der Schnabel gewachsen ist, naiv oder pseudonaiv, die Vermeidung der Eleganz ist das oberste Stilgebot, von ferne her hallt Büchners Woyzeck nach, ob Keun ihn nun im Ohr hatte oder nicht; auch der pikareske Roman spielt hinein. Bei jedem zweiten Satz zuckt die Lektorenhand, aber es ist alles Absicht und gehört zu ihrem Ton, der sich um Korrektheit nicht kümmert. Eine Probe: Doris irrt mit einem geklauten Pelzmantel durch den Park:
mit den Schwänen, die kleine Augen haben und lange Hälse, mit denen sie die Leute nicht mögen. Das kann ich verstehn, aber ich mag die Schwäne auch nicht, trotzdem sie sich bewegen und man darum Trost mit ihnen haben sollte. Alles hat mich allein gelassen. Ich hatte kalte Stunden, und mir war wie begraben auf einem Friedhof mit Herbst und Regen. Dabei war gar kein Regen, sonst hätte ich mich unter ein Dach gestellt wegen dem Feh.
Allein über die Schwäne und die Hälse, «mit denen sie die Leute nicht mögen», kann man lange nachdenken, genauer gesagt über das «mit». Und keineswegs hat man Trost «für sie» oder Mitleid mit ihnen. Bei Keun muß es immer ein bißchen verschoben sein. Doris ißt zu Abend bei Verwandten, ihr Vetter Paul ist arbeitslos, und sie wird Zeugin dramatischer Vorfälle:
und saßen bei Ruhrbeins, und Paul ist ganz fröhlich durch unsere Stimmung, und da sagt er: «Holen wir doch eine Flasche Wein, Mutter!»
Und da sieht sie ihn an und macht eine zischende Stimme ganz voll Böse: «Wenn du’s selber wieder mal verdienst, kannst du ja auch deinen Freunden Wein spendieren.»
Und da wurden wir alle rot, es wurde eine Stille im Zimmer. Und Paul ist fortgegangen und hat sich das Leben genommen im Wasser an demselben Abend. Und die Ruhrbeins weinten ganz furchtbar und waren ein Leid und sagten: «Er war doch der beste von unseren Kindern, und wie konnte er uns es antun, wo wir immer gut zu ihm waren.»
Nicht ganz voll Bosheit, sondern «ganz voll Böse» ist die Stimme der Mutter; kein Satz der Keun ohne eine kleine Kindchenschema-Manieriertheit. Es ist der «Und»-Stil des gespitzten Mündchens, mit ein bißchen Bibel und ein bißchen Argot. Und noch ein paar anderen Spezifika, die Kurt Tucholsky ins Auge stachen; aber davon gleich mehr. Das mag man mögen oder nicht, ein Ton ist es allemal. Immer der gleiche und auf Dauer enervierende, man kann das fiktive Tagebuch aufschlagen, wo man will:
Und dann müssen wir frische Luft haben und gehen eine Stunde spazieren nebeneinander und nach dem Essen. Es sind Abende und die Haustüren sind alle nicht mehr auf. Es sind einzelne Sterne und in meinem Bauch ist eine Ruhe. Leute führen in vornehmen Straßen ihre Hunde an die Bäume. Es ist sehr schön. Wir sprechen Gespräche.
In ihrem Bauch ist also eine Ruhe und, nein, sie führen keine Gespräche, weil zwei Sätze zuvor schon Hunde geführt wurden, lieber führe Keun zur Hölle, als das im nachhinein zu ändern; sie sprechen Gespräche. Das ist der frische, unbefangene, naive Ton, und der machte Irmgard Keun sofort berühmt.
Aber war der Ton wirklich eigen? Das sah Robert Neumann etwas anders. Ein Jahr vor dem Kunstseidenen Mädchen war sein Berlin-Roman Karriere erschienen, dem Keuns Nachfolger auffällig glich. Neumann meldete seinem Verlag, sie habe sein Buch glatt abgeschrieben. In ihrer Not bittet Irmgard Keun den bekannten und ihr wohlgesinnten Kritiker Kurt Tucholsky brieflich um Beistand. Er möge doch bestätigen, daß hier kein Fall von Plagiat vorliege.
Aber da war sie vor die rechte Schmiede gekommen.
«Ich habe den Bert Brecht jahrelang verfolgt», antwortet ihr Tucholsky im Juli 1932, «weil er etwas gemacht hat, was ich für unverzeihlich halte: er hat einen Ton gestohlen. Bei Neumann steht das alles wie bei Ihnen: die nicht beendeten Sätze, wenn’s die Dame so eilig hat; die merkwürdige Stellung von sagt er … sage ich … sagt er …; genau dieselbe Technik, wie das Mädchen ihre Kokettiergeheimnisse enthüllt […]; das verquatschte Deutsch – und dann eben dieser Ton. Wie da alles Intime als bekannt vorausgesetzt wird, wie vierzehn Sachen mit einemmal erzählt werden … alles wie bei Neumann. Ich bin ganz entsetzt gewesen, als ich das gelesen habe.»
Das Schlußwort behielt der im Alter minimal milder gewordene Robert Neumann; es ist ein weises Wort über die Frage des stilistischen Einflusses überhaupt. «Der mit vielen Visionen Befallene weiß oft gar nicht, was wirklich von ihm ist und was vom Nebenmann; er greift nach dem, was sich am besten in sein Gemächte fügt.» Und nun der weise Schluß: «Er greife getrost; greifbar ist für ihn nur, was ohnehin locker sitzt.»
Das leicht zu Imitierende ist das, was den wahren Personalstil noch nicht ausmacht. Jeder halbwegs Begabte kann nach ihm greifen. Was tiefer sitzt und im Kern wurzelt, läßt sich nicht so leicht herauslösen.
Von der bewußten Nachbildung eines Stilvorbilds ist die halbbewußte zu unterscheiden, die sich im Jargon äußert. Wenn man den Jargon meidet, ist man stilistisch schon auf dem richtigen Weg. Der gute Stil, hatten wir gesagt, speise sich aus Einfällen. Diese Einfälle lassen sich nicht imitieren oder parodieren, wie selbst Neumann zugab, sie kommen oder sie kommen eben nicht. Diese Seite ist die positive Seite des Stils. Mit ihr korrespondiert die andere, negative Seite, die ein Geheimnis des guten Stils berührt.
Guter Stil beruht auf einem inneren Verbotskanon. Diese Verbotstafeln sind von außen nicht einzusehen, sie stehen in den Schreibkammern des Autors verschlossen. Und eben hierin liegt ein Geheimnis des Stils: Die Leser merken nicht unbedingt, warum sie etwas gern lesen, weil es an etwas Fehlendem liegt. Man merkt es dem guten Stil nicht gleich an, daß er Gemeinplätze meidet, man spürt das Fehlende so wenig, wie man das Nicht-gezwickt-Werden spüren kann. Aber auf Dauer merkt man es doch. Auf Dauer merkt die Leserin eines Essays, daß es ihr wohltut, wenn sie einmal verschont bleibt von den Phrasen, von «Paradigma», «Diskurs» und «Narrativ», oder wenn ihr aus einem Roman nicht die schiefen Bilder und Worthülsen entgegenpurzeln.
Die Idiosynkrasien – ein Lieblingswort Fontanes – sind dabei unterschiedlich. Der eine möchte schon beim ersten «Sinn machen» den Raum verlassen, noch bevor alles in trockenen Tüchern ist; der andere läßt gerade noch ein «positionieren» und ein «vor Ort» durchgehen. Allein, hier ist jede Strenge und Empfindlichkeit erlaubt. Im Februar 2018 erteilte eine Bar in Manhattan dem Modewort literally Lokalverbot: Wer es im rein verstärkenden Sinn benutzt («I literally died laughing»), hatte noch fünf Minuten Zeit, seinen Drink zu beenden. Es wäre aufregend und spannend, wenn es solche Lokalverbote auch in Deutschland gäbe; es wäre zumindest eine Herausforderung.
Nicht nur in New York, auch in Paris kannte man diese Phrasen-Empfindlichkeit. Gustave Flaubert hatte seinen Ekel vor dem Abgedroschenen und dem Klischee in ein ganzes Buch gefaßt. Auch in Wien, der Hauptstadt der gemütlich-vergifteten Phrase, gab es Protest gegen die sprachlichen idées reçues. Karl Kraus hatte noch einen radikaleren Vorschlag als das einfache Vermeiden der Klischees. Kraus schlug vor, es müsse ein Landtag über die Sprache konstituiert werden, der, «wie für jede Kreuzotter, für jede erlegte Phrase eine Belohnung aussetzt».
Phrasen erlegen gegen Belohnung? Reizvolle Beschäftigung! Lukrativ dazu. Doch wir wollen uns nicht im Phrasen-Dickicht verlieren. Als Regel gelte: Meidet «unbequem» für Denker oder Publizistinnen, beschränkt diese Beschreibung auf Biedermeierstühle. Allgemeiner: Meidet alles, was als Sprachplastik im Mainstream schwimmt; wobei die Phrasen zum Glück schneller zerfallen. Auch wenn man heute als Berlin-Wilmersdorfer schon fast froh ist, daß an der U-Bahn-Station noch nicht «Fair-Berliner Platz» steht.
Aber wir wollen grundsätzlicher werden. Wie ist die Sprache, aus der sich literarischer Stil bildet, aufgebaut, wie setzt sie sich zusammen? Kann ein falsches Komma oder ein falsches Substantiv einen Satz zerstören; kann ein Beiwort ihn retten? Wie fügen sich Wörter zu Sätzen, wie geraten sie in Schwingung, und warum kann für einen Romansatz verboten sein, was für das Gedicht erlaubt ist? Wie muß, anders gesagt, gejätet, geharkt, gezupft, gekeltert und filtriert werden, damit uns die Prosa ohne Trübung entgegenquillt?
Bleiben wir nicht im Gestrüpp der Phrasen und Ottern. Begeben wir uns in den Weinberg der Literatur.
Ein fehlendes Komma kann nicht nur einen Satz, es kann sogar ein Leben zerstören. Der königliche Heerführer überstellt einen wichtigen Gefangenen zum Rücktransport in die Heimat mit der Nachricht «Warte nicht hängen». Als er zurückkommt, ist der König empört: Der Gefangene lebt nicht mehr. Er, der König, hatte das Komma innerlich so gesetzt: «Warte, nicht hängen.» Daheim hatte man verstanden: «Warte nicht, hängen.» In einer anderen Form dieser Anekdote erreicht den König das Begnadigungsgesuch eines zum Tode Verurteilten. Der Bote des Königs überbringt dem Henker die Antwort: «Ich komme nicht köpfen.» Wie wird es ausgehen?
Meistens sind sie nicht ganz so wichtig, die Kommas oder vornehmer Kommata, österreichisch Beistriche, manchmal aber schon. Man denke an die Stelle aus dem Tagebuch Thomas Manns, in dem er leicht grimmig von dem Streit mit seinen Schwiegereltern Pringsheim über die Frage schreibt, ob der bekannte Satz laute: «Einsam, bin ich nicht allein.» Oder aber: «Einsam bin ich, nicht allein.» Was einen großen Unterschied macht.
Wenn man im folgenden Beispiel – es stammt von dem polnischen Aphoristiker Stanislaw Lec – das Komma durch einen Doppelpunkt ersetzt, ersetzt man Religion durch Philosophie und das Alte Testament durch Ludwig Feuerbach. «Der Mensch denkt, Gott lenkt.» Oder: «Der Mensch denkt: Gott lenkt.» Die jüdische Variante des Sprichworts lautet übrigens: «Der Mensch denkt, Gott lacht.»
Es war Karl Kraus, der den Kampfslogans der Nationalsozialisten das sinnentstellende Fehlen eines Beistrichs nachwies. «Deutschland erwache!» und «Juda verrecke!» – da fehlte leider ein Komma. Gemeint war ja wohl der Imperativ, daß also Deutschland erwachen und Juda verrecken solle. Ohne Komma wird aus dem Befehl nur ein frommer Wunsch, und das war ja offenbar nicht gemeint.
Wo er recht hat, hat er recht, und er hatte es meistens. Für Kraus waren die Beistriche heilig. Er führte noch bis kurz vorm Tod Prozesse um sie. Als ihn sein Freund Ernst Krenek Anfang 1933 zart darauf hinwies, daß es in diesen Zeiten – die Japaner hatten gerade China angegriffen – möglicherweise drängendere Probleme gäbe als ein falsches Komma, erwiderte Kraus: Hätten die Leute, die dazu verpflichtet sind, immer darauf geachtet, daß alle Beistriche am richtigen Platz stehen, so würde Shanghai heute nicht brennen.