Die Bibliothek der Wahren Lügen - Jesús Cañadas - E-Book

Die Bibliothek der Wahren Lügen E-Book

Jesús Cañadas

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Beschreibung

Kennst du den Ort, an dem die Geschichten leben? Als Oskar den Schreibwettbewerb seines Lieblingsautors gewinnt, kann er sein Glück kaum fassen: Simon Bruma lädt ihn zu sich nach Hause ein, um ihn höchstpersönlich in die Kunst des Erzählens einzuweihen. Doch schon in der ersten Nacht wird der Traum zum Albtraum: Körperlose Schatten jagen ihn durch die Flure des Anwesens, der Autor und seine Tochter November scheinen verrückt zu sein. Das Mädchen ist schwer krank, und ihr Vater glaubt, dass nur Oskar ihr helfen kann. Und zwar ausgerechnet mit Papier und Schreibfeder … Berührend, magisch und voller Abenteuer! Eine Hommage an das Lesen und Schreiben Ein moderner Klassiker für Leser:innen von Cornelia Funke und Michael Ende

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EPUB
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Seitenzahl: 344

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Für Mar ist dieses.Für Mar sind alle.Für Mar ist alles.

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eISBN 978-3-649-65110-9

© 2025 für die deutschspachuge Ausgabe

Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,

Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise. Die Nutzung des Werkesfür das Text- und Data-Mining nach §44 b UrhG ist durch den Verlagausdrücklich vorbehalten und daher verboten.

Originalcopyright © 2023 Jesús Cañadas

Veröffentlicht nach Vereinbarung mit UnderCover Literary Agents

Die Originalfassung erschien 2023 bei Edebé, Barcelona

Text: Jesús Cañadas

Übersetzung: Elisabeth Leuthardt

Covergestaltung und Vignetten: Frauke Schneider

Lektorat: Katja Korintenberg

Satz: Sabine Conrad, Bad Nauheim

www.coppenrath.de

Die Print-Ausgabe erscheint unter der ISBN 978-3-649-64850-5

Liebe Leserin, lieber Leser,

seit dem Sommer, in dem ich November das Leben rettete, ist viel Zeit vergangen. Genau von diesem Sommer handelt mein Buch. Eigentlich wollte ich die Geschichte nie veröffentlichen. Es ist meine erste, und ich muss zugeben, dass sie sehr persönlich ist, manchmal sogar peinlich. Das ist auch der Grund dafür, dass ich mir den ein oder anderen Kommentar am Rand einfach nicht verkneifen konnte. Tut mir leid! Am liebsten hätte ich das Manuskript wieder in die Schublade zurückgelegt, doch genau wie mein Lieblingsautor damals meine Hilfe brauchte, brauche ich heute eure!

Um zu verstehen, worauf ihr euch einlasst, müsst ihr sie natürlich erst lesen. Novembers Geschichte. Die Geschichte über den Sommer, in dem ich versuchte, die Wahre Lüge zu finden. Selbst wenn ich nicht aufgeschrieben hätte, was alles geschah, würde ich diesen Sommer nie vergessen. Und auch nicht, wie alles anfing: mit dem Urgroßvater eines Drachen …

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 1

Der Urgroßvater eines Drachen … Ich räusperte mich und versuchte es noch einmal: Er war so alt, dass kein Fleisch mehr an seinen Knochen hing. Da war nur noch ein Skelett – riesig wie eine Stadt –, von dem ledrige Fetzen herabfielen. In seinem Kopf, der so groß war wie eine Kathedrale, flatterte ein Vogel – eingehüllt in den grünlichen Glanz der Magie, die den kolossalen Körper des Drachen am Leben hielt.

Ich machte eine Pause, um Luft zu holen. Die ganze Klasse starrte mich an. In dem Moment bereute ich, dass ich mich gemeldet hatte. Von den dreißig Texten, die alle bis zum Ende des Schuljahrs schreiben sollten … Wie war ich bloß auf die Idee gekommen, dass meiner der beste sein könnte? Wie konnte ich nur so bescheuert sein, ihn freiwillig laut vorzulesen?

»Na los, Oskar, lies weiter und hör auf, Löcher in die Luft zu starren«, sagte Frau Adam. Ihre Augenbrauen waren bis über den Rand ihrer Brille nach oben gezogen und gebogen wie der Rücken eines Katers.

Noch einmal räusperte ich mich. Es war, als hätten mir diese neunundzwanzig Augenpaare die Stimme geraubt, nur indem sie mich ansahen. Ich brauchte noch eine halbe Minute, bevor ich wieder anfangen konnte. Und glaubt mir, eine halbe Minute in Totenstille, in einem Raum voller Schüler, die es nicht abwarten können, nach draußen zu rennen, ist eine lange, eine sehr lange Zeit. Meine Hände waren so schwitzig, dass sich das Blatt Papier an der Stelle, wo ich es hielt, langsam auflöste.

Der Urgroßvater eines Drachen hatte schon die Hälfte des Schlachtfelds verwüstet. Er hatte keine Muskeln mehr, die seine Beine in Bewegung setzen konnten, deshalb hatte man Raupenräder besorgt, die sein Gewicht trugen und ihn nun durch den Schlamm fuhren – quietschend wie die Tore einer Kathedrale.

Aus dem Augenwinkel sah ich auf die Uhr über der Tafel – und ich hätte schwören können, dass ihre Zeiger aufgehört hatten, sich zu bewegen. Ein paar meiner Mitschüler dagegen bewegten sich sehr wohl an mir vorbei und zur Tür hinaus. Und das war fast noch schlimmer. Zwei Jungs flüsterten miteinander, andere starrten aus dem Fenster, ein paar Mädchen lachten laut, ein anderes spielte in ihrer Tasche mit ihrem Handy. Und die Augenbrauen von Frau Adam schoben sich weiter nach oben.

Der Drang, einfach wegzurennen, war so stark, dass meine Knie weich wurden. Ich hatte kaum gemerkt, dass ich die ganze Zeit mit den Fingern an meiner Jeansjacke rumzupfte, bis ich fühlte, dass der Anstecker am Kragen sich lockerte. Trotzdem war ich entschlossen, mich aufs Vorlesen zu konzentrieren und den Blick nicht mehr vom Blatt zu lösen, bis ich es hinter mir hatte.

Die dämonische Bestie schlug einen ihrer Vorderläufe auf den Boden, woraufhin es von allen Seiten feuchte Erde regnete. In einem der Gräben drückte sich der Weise Preter Naturalis gegen die Holzbretter, die die Wand verstärkten, und rief: »Wir werden es nicht schaffen, meine Mondstrahlen können hier nichts ausrichten.«

Neben ihm stand der mutige Ritter Levíticus Galore, von dem man sagte, er habe die Kraft von hundert Maultieren. Er zog sein Schwert aus der Scheide.

»Dann machen wir es eben auf die altmodische Art«, brummte er und fing an, die Grabenwand nach oben zu klettern.

Doch die Nixe Bianca Wasserlilie legte eine ihrer blauen Hände auf seine Schulter, um ihn zurückzuhalten, während sie sich mit der anderen an die Stirn fasste und sagte: »Lass das, Levíticus! Sobald du das Schlachtfeld betrittst, wird die Macht des Drachen dich in Fetzen reißen. Wir müssen zuerst den Star in seinem Schädel vernichten, damit die Magie unschädlich wird.«

Der Ritter senkte entmutigt den Blick. »Wenn das so ist, ist alles verloren.«

Aber Bianca Wasserlilie schüttelte den Kopf: »Nein, mein Freund, es ist nicht alles verloren.«

Preter Naturalis, der weiseste aller Weisen im Reich, begriff sofort, was sie meinte: »Er ist hier. Er ist gekommen!«

Mittlerweile hatte ich die Klasse und Frau Adam vergessen. Ich hatte vergessen, dass es der letzte Tag des Schuljahrs war. Ich war abgehoben, befand mich im freien Fall. Und was haben alle freien Fälle gemeinsam? Wenn du wieder unten ankommst, wartet dort der Boden auf dich.

Er schritt den Graben entlang, las ich weiter. Die Soldaten waren ausgemergelt und verletzt, aber bei seinem Anblick neigten sie die Köpfe und zogen ihre Waffen. Seine langen schwarzen Haare waren zu einem Zopf gebunden, sein schwarzer Mantel wehte hinter ihm im Wind.

»Du kommst spät«, sagte seine Geliebte zu Ozzy Calavera.

»Ich bin jetzt hier, nur darauf kommt es an«, antwortete er.

Und dann kam er, der Aufprall nach dem Fliegen.

»Okay, Oskar, das reicht«, bat Frau Adam, aber in meinen Ohren klang es mehr nach einem Befehl.

Ich ließ die Blätter sinken – oder das, was mein Schweiß von ihnen übrig gelassen hatte. Noch acht Seiten voller Schwertkämpfe und Bisswunden hielt ich in den Händen, doch mir war klar, dass sich niemand dafür interessierte. Keiner hörte mir zu. Das Geflüster und Gekicher hatte ich irgendwann ausgeblendet. Ich hatte mich in meinen eigenen Worten verloren, aber auch den Bezug zur Realität.

»Also, Oskar …« Frau Adam fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, bevor sie sagte: »Du hast dir viel Mühe gegeben, und man merkt, dass du Spaß beim Schreiben hattest.«

Aber …

»Aber, da ist … noch etwas Luft nach oben.«

In meinem Inneren breitete sich eine eiskalte Leere aus. Fragt mich nicht, wie Leere gefrieren kann. Wenn es euch einmal passiert, werdet ihr wissen, was ich meine. Das Einzige, was ich herausbrachte, war: »Luft nach oben?«

»Luft nach oben«, wiederholte sie. »Einige Sätze sind recht verschachtelt. Du wiederholst Wörter, Verben und Satzstrukturen. Das macht es schwer, dem Text zu folgen. Es gibt zu viele Adjektive und die Charaktere sind ein wenig flach …«

»Außerdem bist du ein absoluter Nerd«, blaffte Sergio aus der zweiten Reihe.

Ihr könnt euch die Lacher sicher vorstellen. Frau Adam versuchte vergeblich, das Gegröle und Geplapper zu zügeln – eine zu nette Formulierung dafür, wie sich alle lauthals über mich lustig machten. Rodrigo hatte mich heimlich mit seinem Smartphone gefilmt, weshalb der Rest der Klasse sich noch immer vor Lachen krümmte.

»Das sind …«, setzte ich an, aber da war plötzlich ein unsichtbarer Avocadokern in meiner Kehle und machte mir das Sprechen nicht unbedingt leichter. »… Charaktere aus … einer Buchreihe, die mir gefällt.«

»Ja, Mann, aber Bücher sind langweilig«, mischte sich Sergio wieder ein. »Jeder kennt Ozzy Calavera, aber von den Filmen! Die Bücher sind für Nerds wie dich.«

»Sergio!«, ermahnte ihn Frau Adam.

Sergio entschuldigte sich in ihre Richtung, streckte mir aber seine lange rote Zunge entgegen. Wieder berührte ich den Ozzy-Anstecker an meiner Jeansjacke, wie um mich festzuhalten. Doch das Einzige, was mich hätte retten können, wäre ein Erdbeben gewesen. Leider gab es kein Erdbeben.*Ich musste mich mit dem Gong zufriedengeben, der das Ende der letzten Stunde des letzten Schultags verkündete.

Eine ganze Meute von Mädchen und Jungen meines Alters trampelte über die Reste des Schuljahrs, das geschlagen zu ihren Füßen lag.

»Habt einen schönen Sommer«, rief Frau Adam mit mehr Erleichterung, als sie vielleicht vor uns hätte zeigen sollen. »Und vergesst nicht, Oskar zum Geburtstag zu gratulieren.«

Ich schloss die Augen, noch immer die zur Hälfte vom Schweiß aufgeweichten Blätter in der Hand.

Einer meiner Mitschüler, Sebas, ging an mir vorbei und rempelte mich an der Schulter an. »Aber klar, gleich gratulieren wir dir.«

Ich wollte der Lehrerin mit meinen Blicken ein stummes Warum? zuwerfen, aber ihr waren Flügel gewachsen. Schon flatterte sie aus dem Klassenzimmer, mit genauso großer Vorfreude auf die Ferien wie die anderen.

Ich holte meine Sachen, zerknüllte die Seiten mit meiner Geschichte und warf sie in den Papierkorb. Dann zog ich ein Handtuch und einen Plastikbeutel aus meinem Rucksack. Ich streifte die Jeansjacke ab, legte sie in den Plastikbeutel und verstaute das Bündel im Rucksack. Das Handtuch warf ich mir über den Kopf, bevor ich aus dem Klassenraum ging. Widerwillig tappte ich in Richtung Schulhof. Ich war der Letzte, der das Gebäude verließ – und ich hatte das Gefühl, dass die gesamte Schule auf mich wartete.

Auf dem Hof kampierte ein Heer, bereit zum Angriff. Ich zog das Handtuch fester um meinen Kopf und sah mich um. Alle Kämpferinnen und Kämpfer erhoben sich im selben Moment. Ein Schrei – und sie fielen über mich her. Ich versuchte nicht einmal wegzulaufen, sondern zog das Handtuch nur noch enger um mich. Hoffte, dass es schnell gehen würde.

Der erste Soldat näherte sich: Ritter Roderick, auch wenn sie ihn in der Klasse Rodrigo nannten. Er stapfte mir mit breiter Brust und auf bulligen Beinen entgegen, ein untersetzter Kerl mit roten Haaren – und einem prall gefüllten Luftballon in einer Hand. Jemand anders kam von hinten angerannt, schnappte sich ein Ende meines Handtuchs und zog es mir mit einem Ruck vom Kopf. Die umstehenden Ritter jubelten, jeder von ihnen hob triumphierend seinen Luftballon in die Höhe.

»Herzlichen Glückwunsch, Oskar!«, schrie Ritter Roderick-Rodrigo. Dann warf er mir die Wasserbombe mit voller Wucht ins Gesicht. Doch es war kein Wasser … Ich hatte schon damit gerechnet, dass er seinem Geschenk wieder Lebensmittelfarbe untermischen würde, aber der saure Geschmack und das Brennen in meinen Augen verrieten mir, dass er sich vorgenommen hatte, diesmal noch einen draufzusetzen. Wein? Ernsthaft!? Rot wie Blut tropfte er von meinem Kinn.

Vierzehn Luftballons trafen mich, keiner weniger. Einer für jedes Jahr meines Lebens. Ich war nicht der Einzige, der nass auf dem Schulhof stand. Die große Wasserschlacht zum Ende des Schuljahrs hatte Tradition – und war die perfekte Tarnung für einen Streich. Nicht einem einzigen Lehrer oder einem Elternteil fiel auf, dass sich unter den vielen lachenden und tropfnassen Teenagern einer befand, der froh war, dass das Wasser seine Tränen verbarg. Meine Kleidung war voller roter Flecke, die sich nicht rauswaschen lassen würden. Und ich stank wie ein altes Weinfass. Mein einziger Trost war, dass meine Lieblingsjacke nichts abbekommen hatte.

Ich kam nass und stinkend zu Hause an, öffnete die Tür, lugte vorsichtig hinein. Der Flur war leer.

»Hallo?«, rief ich leise.

Keine Antwort. Niemand da, um mir eine Rolle Küchenpapier oder ein Handtuch zuzuwerfen. Meins hatte ich auf dem Schlachtfeld zurückgelassen. Ich würde alles dreckig machen … Trotzdem ging ich hinein – und jeder meiner Schritte hinterließ einen rötlichen Abdruck auf dem Boden.

»Oskar!«, flüsterte jemand in meinem Rücken. »Was ist denn mit dir passiert?«

Ich drehte mich um und entdeckte mitten im Wohnzimmer die Statue aus Eis. In ihr war eine Königin gefangen: Sie war klein und rund, hatte schwarzes Haar und ein wunderschönes Gesicht. Ihr Kopf, bedeckt von einer silbernen Krone mit kompliziertem Muster, war das Einzige, was aus dem Eis herausragte – und zwei Hände, die zum Gruß durch die Luft wedelten. Sie sah besorgt aus, aber die Königin sah immer besorgt aus.

»Sie haben mich mit Wasserbomben beworfen, Mama. Ich hab dir gesagt, dass sie das machen. Deswegen solltest du mich am Ausgang abholen. In einer war Wein drin.«

Die Königin runzelte die Stirn.

Mamas Hände griffen nach den Reifen und brachten den Rollstuhl, in dem sie saß, in Bewegung. Sie fuhr in meine Richtung. »Das tut mir so leid, aber ich musste noch warten, bis Hektor ein paar mehr Kisten reingetragen hat …«

Hinter der Statue aus Eis war ein verächtliches Schnauben zu hören. Ein Schatten huschte über den Boden und lehnte sich über das Sofa. Es war ein kahlköpfiger, dicklicher Mann, der ein halbes Lächeln auf den Lippen trug und darüber einen Schnurrbart, auf dem Schweißperlen glitzerten. Seine Eidechsenhaut zog sich zusammen und wieder auseinander, wenn er atmete. Als er mich sah, schnalzte er mit der Zunge.

»Schau doch, wie du den Boden ruinierst, Oskar«, schimpfte er, aber schaute dabei Mama an. »Bist du jetzt zufrieden, Clara? Es ist nicht einfach, das alles hier sauber zu halten, vor allem in deiner Situation, und dann kommt auch noch der Junge mit seinen Spielchen und versaut alles.«

»Das sind keine Spielchen«, protestierte ich. »Sie haben mich mit Weinbomben beworfen, weil ich Geburtstag habe.«

»Wir wissen, dass heute dein Geburtstag ist.« Er schaute weiterhin nur Mama an, während er sprach: »Glaubt er etwa, dass wir das nicht wissen? Eine Entschuldigung dafür, alles schmutzig zu machen, ist es jedenfalls nicht. Du bist vierzehn Jahre alt, fast ein Mann. Es wird Zeit, dass du deiner Mutter hilfst, vor allem in ihrer Situation …«

Schwer zu sagen, was es für eine dickbäuchige Eidechse bedeutete, fast ein Mann zu sein …

»Meine Mutter ist in keiner Situation«, fauchte ich. »Sie sitzt im Rollstuhl, das ist alles, und sie kommt sehr gut damit zurecht – ganz im Gegensatz zu dir!«

Hektor murrte.

Mama neigte den Kopf in meine Richtung. »Na los, Oskar, ab in die Dusche. Lass deine Sachen im Waschbecken, ich kümmere mich später darum.«

»Er sollte sie selber waschen«, mischte sich der Echsenmann ein, wobei eine gespaltene Zunge zwischen seinen schuppigen Lippen zum Vorschein kam. »Er ist wirklich alt genug!«

»Na gut«, seufzte sie. »Tu mir den Gefallen und weich schon mal alles in Wasser ein. Und bitte sag deinen Freunden, dass sie beim nächsten Mal den Wein weglassen sollen.«

Das sind nicht meine Freunde und das nächste Mal wird genau in einem Jahr sein, hätte ich gern gesagt. Aber die Wahrheit ist, dass mir das erst viel später einfiel. Stattdessen ging ich mit hängendem Kopf aus dem Wohnzimmer.

An der Tür konnte ich noch hören, wie Hektor sagte: »Dieser Junge macht mir Sorgen, Clara. Er ist einer von der besserwisserischen Sorte.«

Ich seufzte und ging ins Bad.

Ganz hatte ich den Weingeruch nicht aus meinen Haaren bekommen. Während ich mich in meinem Zimmer abtrocknete, öffnete sich die Tür. Ich drehte mich um – und eine siebenjährige Maus, verkleidet als Pfadfinderin, streckte ihren Kopf herein: lange blonde Schnurrhaare, ein paar Krümel an der Nase. Sie schaute mich mit ernstem Blick an.

»Haben sie dich mit Weinwasser beworfen?«

Ich nickte.

»Warum?«

»Weil ich Geburtstag habe.«

»Und da wird man mit Weinwasser beworfen?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Sie haben es einfach gemacht.«

»Essen wir heute Kuchen, wenn du Geburtstag hast?«

»Ich denke schon.«

Bibi nickte zufrieden, fast feierlich: »Na, dann bin ich froh, dass sie dich mit Weinwasser beworfen haben.«

Ihre Lebenseinstellung hätte ich gern gehabt.

»Komm her, ich brauche eine Umarmung, Bibi-Maus!«

Meine kleine Schwester rannte auf mich zu und landete mit einem Sprung neben mir auf der unteren Matratze unseres Stockbetts. Ich tat so, als würde ich sie umarmen wollen, aber dann schubste ich sie nach hinten. Die Maus kreischte lachend auf und wir lieferten uns einen Kitzelkampf. Ich ließ sie gewinnen, denn wenn Bibi verlor, war sie immer eingeschnappt und machte einen richtigen Aufstand.

»Heute haben sie uns bei den Pfadfindern gezeigt, wie man den Ankerstichknoten macht, wie man erkennt, aus welcher Richtung der Wind weht und wie man eine Karte liest. Außerdem haben wir gelernt, uns ohne Kompass zu orientieren: nur mit Wasser, einer Nadel und einem Blatt und … «

Sie ratterte die Aufzählung in schwindelerregendem Tempo runter, so machte Bibi das immer. Ihr Kopf arbeitete zu schnell für die eine Zunge, die zwei Lippen und die begrenzte Anzahl an Zähnen, die ihr zur Verfügung standen.

Unser Zimmer war eigentlich zu klein für zwei, aber wir kannten es nicht anders. Ich schlief oben, wusste aber, dass Bibi den Plan schmiedete, mir meinen Platz wegzunehmen. Nachdem sie kurz Luft geschnappt hatte, beugte sie sich zu mir und flüsterte: »Mama sagt, Hektor wohnt jetzt bei uns.«

»Sieht so aus.«

Ihre Schnurrharre zitterten. »Ich kann Hektor nicht leiden.«

»Ich auch nicht.«

»Also, was machen wir?«

»Wir schleichen nachts in ihr Schlafzimmer und stecken seine Hand in eine Schüssel Wasser. Wenn er am Morgen aufwacht, wird er sich in die Hose pinkeln.«

Meiner Schwester fielen fast die Augen aus dem Kopf. »Klappt das wirklich?«

Ich nickte wieder.

»Das scheint mir eine ganz exzellente Idee zu sein!«

Wo hatte meine Maus von einer Schwester bitte die Formulierung Das scheint mir eine ganz exzellente Idee zu sein! aufgeschnappt? Doch … eigentlich wusste ich es, ich musste nur einen Blick auf die vollgestopften Bücherregale in unserem Zimmer werfen.

Bibis schrille Stimme zog mich aus meinen Gedanken zurück in unser Gespräch. Zumindest fast.

»Also, wann machen wir das mit dem Wasser? Ich möchte sehen, wie er sich in die Hose macht!«

»Pst! Heute Nacht, aber jetzt erst mal Kuchen!«

»Kuuuchen«, rief Bibi und warf die Arme in die Luft. »Lässt du mich heute oben schlafen, jetzt, wo du alt bist?«

»Und was, wenn das Bett aus dem Fenster fliegt? Wer weiß, wo du dann morgen früh aufwachst?«

Bibi wurde still und zog misstrauisch die Augenbrauen zusammen. »Das können Betten gar nicht«, sagte sie unsicher.

»Klar können sie das. Wusstest du nicht, dass das Bett verhext ist?«

»Das Bett ist nicht verhext!«

Der süße Zweifel in ihrer Stimme ließ mich lächeln. »Alle Betten sind verzaubert, so werden sie seit Ewigkeiten hergestellt. Wenn du dich mit dem Kopf am Fußende schlafen legst und zweimal in die Luft klopfst, fliegen sie los. Deswegen muss man sich immer gut und fest zudecken, und man kann nie sicher sein, wo man landet.«

Bibi überlegte einen Moment. »Na gut, vielleicht schlafe ich heute doch noch einmal unten. Okay?«

»Okay.«

»Abendessen!«, rief Mama von draußen.

»Kuchen!«, schrie Bibi zurück und rannte aus dem Zimmer. »Zum Geburtstag viel Glück und für mich das größte Stück!«

Was für ein Energiebündel … Bevor ich das Licht ausmachte und ihr nach draußen folgte, sah ich noch einmal über meine Schulter. Papa hatte mir früher immer erzählt, dass ich das machen sollte, um sicherzugehen, dass sich keine Zwerge hereingeschlichen hatten, um Chaos anzurichten. Aber das Zimmer sah aus wie immer. Auf den Regalen standen Figuren von Ozzy und seinen Gefährten: die Nixe Bianca Wasserlilie, der Weise Preter Naturalis, der Ritter Levíticus Galore und Monq, der geflügelte Albtraum, der sie überallhin begleitete. Die Romane über Ozzy hatten einen Ehrenplatz im Regal, der erste Band war sogar vom Autor signiert: Simon Bruma. Papa hatte ihn vor vielen Jahren persönlich getroffen, als er gerade angefangen hatte, seine Bücher zu lesen und zu sammeln. Und Bibi und ich haben sie dann geerbt, nachdem er …

Na ja, jedenfalls waren die Bücher der Ozzy-Reihe nicht die einzigen. Im Regal standen viele Fantasyromane, auf denen sich der Staub sammelte. Und zwischen den Büchern gab es jede Menge Hefte und einzelne Blätter mit meinen eigenen Texten. Ich weiß nicht, wann ich angefangen hatte, Geschichten zu schreiben, die die aus Papas Romanen weitererzählten: Abenteuer von Ozzy und seinen Freunden, aber auch von Frodo und Sam, von Tanis und Tasslehoff, von Drizzt … In meinen Heften lebten Vampire, Drachen, Magier und Krieger auf Friedhöfen, in Burgen oder Schlössern. Es waren Geschichten, die Papa gefallen hatten. Und Geschichten, die mir gefielen.

»Setz dich gerade hin, Oskar, sonst machst du dir den Rücken kaputt.«

»Ich finde es so bequem.«

Es musste der schlimmste aller schlimmsten Geburtstage sein: Wir saßen schweigend zusammen in der Küche und aßen, umkreist von einem Haufen Pappkartons, die eng aneinandergequetscht waren. In diesen Kisten befand sich das ganze Leben von Hektor, hatte Mama gesagt.*Während wir aßen, sah ich aus dem Augenwinkel, wie die Klappen der Kisten wackelten. Hektors Leben wollte sich aus ihnen befreien und unseres überfluten. Doch niemand anders schien es zu bemerken.

Mama hatte Spaghetti gekocht und ich deswegen schlechte Laune. Irgendwie hatte ich gehofft, dass sie für mich Lasagne machen würde. Aber Bibi war begeistert, denn Spaghetti waren ihr Lieblingsessen. Sie rollte sie mit ihrer Gabel auf und verschlang ihre ganze Portion mit nur zwei Bissen.

»Der Junge sollte sich nicht so hinsetzen«, sagte Hektor zu Mama. »Das ist nicht gut für den Rücken. Am Ende wird er jammern, wenn es zu spät ist.«

»Er hat recht, Oskar. Setz dich bitte ordentlich hin …«

Ich zuckte mit den Schultern, wie ich es immer tat, aber gab schließlich nach.

Mama räusperte sich: »Bibi, wie wäre es, wenn du Duweißt-schon-was holst?«

»Juhuuu«, piepste die Maus und rannte aus der Küche. »Ich finde die Kerzen nicht, Mama!«

Mama schien ins Wohnzimmer rollen zu wollen, aber sie überlegte es sich anders und rief: »Du musst sie nur an ihrem Platz suchen, Bibi!«

»Und das Feuerzeug?«

»Sei vorsichtig und verbrenn dich nicht!«

»Soll ich ihr helfen?«

Mama schüttelte den Kopf. »Lass sie, sie hat sich schon drauf gefreut.«

Bibi erschien im Türrahmen. Auf ihren Händen balancierte sie eine Schokoladentorte, die wahrscheinlich nicht besonders groß gewesen ist, aber mir in diesem Moment so riesig vorkam, dass nicht mal das ganze Dorf von Asterix es geschafft hätte, sie bis auf den letzten Krümel zu verdrücken.

»Zum Geburtstag viel Glück, zum Geburtstag viel Glück!« Bibi stolperte und war kurz davor, die Torte fallen zu lassen.

Wir wollten schon aufspringen, um sie aufzufangen, aber sie fand ihr Gleichgewicht selbst wieder und stellte die Riesentorte auf dem Tisch ab.

Vierzehn Kerzen flackerten über dem Schokoladenguss.

»Wünsch dir was, Oskar.«

Ich sah Hektor in die Augen, als ich die Kerzen auspustete. Leider schaffte ich es nicht ganz, eine brannte weiter. Mist!

»Das Geschenk!«, sang Bibi und hakte sich bei mir unter, sprang aufgeregt hin und her. »Das Geschenk! Pack es aus! Pack es aus!«

»Was habt ihr dieser Maus bloß ins Essen gemischt?«

»Hier, Oskar.« Mama überreichte mir ein Päckchen, eingewickelt in purpurrotes Geschenkpapier mit Sternenmuster.

Ich lächelte sie an. Die Größe und Form ließen keine Zweifel daran, was es war – nämlich genau das, was ich mir gewünscht hatte. Erst versuchte ich, es ganz vorsichtig zu öffnen, aber am Ende riss ich doch ungeduldig das Papier ab. In den Händen hielt ich ein Buch, gebunden in angeraute Pappe von einem tiefen Dunkelblau, das mir sehr vertraut war. Ich fuhr mit den Fingern über die geprägten Buchstaben auf dem Cover.

OZYMANDIAS CALAVERA

und das Grab der Lügen

von

SIMON BRUMA

»Vielen Dank, Mama«, war das Einzige, was ich herausbrachte. Ich hätte sie so gern umarmt, und ich glaube, sie mich auch, aber mit dem Block aus Eis, der die Mitte ihres Körpers lähmte, schaffte sie es kaum, meine Schulter zu tätscheln.

»Vierzehn Jahre alt, und noch immer liest er so einen Unsinn«, murmelte Hektor. »Der Junge muss endlich aus seiner Traumwelt aufwachen und nicht den halben Tag mit so einem Quatsch verbringen, sonst wird nix aus ihm!«

Ich weiß nicht, was mich dazu brachte, darauf einzugehen. Vielleicht Bibis enttäuschter Blick. Vielleicht die Tatsache, dass sie mir vierzehn bunte, stinkende Wasserbomben an den Kopf geworfen hatten. Dass Mama mich nicht umarmen konnte. Oder dass ich nur dreizehn Kerzen ausgeblasen hatte und eine schadenfroh weiterbrannte … Wahrscheinlich war es das, denn ich dachte, dass ich selbst einen Beitrag leisten musste, damit mein Wunsch in Erfüllung ging. Sonst würde er es nie tun. Also sagte ich: »Was geht es dich überhaupt an, was aus mir wird? Was geht dich unsere Familie an?«

»Bitte, fang nicht damit an, Oskar«, flehte Mama, aber die Eidechse sprang sofort darauf an.

»Es interessiert mich eben, ihr seid mir alle wichtig: du, deine Schwester und deine Mutter. Ihr tanzt ihr auf der Nase herum, weil ihr zu lange ohne Vater aufgewachsen seid, aber jetzt bin ich ja da – und eure Mutter ist nicht mehr allein mit allem.«

»Vorher war sie auch nicht allein. Sie hatte uns zwei und sie hat uns immer noch. Nur du hattest niemanden. Wahrscheinlich lässt du uns deshalb nicht in Ruhe, weil dich sonst niemand liebt.«

»Oskar, das geht zu weit!«, warnte Mama.

Bibi starrte peinlich berührt auf ihren leeren Teller und schluchzte. Das machte mich gleich noch wütender.

»Du bist nicht unser Vater und keiner will dich hier haben!«

»Oskar!« Der Schrei meiner Mutter ließ meine Wut in sich zusammenfallen.

Hektor war bleich geworden. Er presste die Lippen aufeinander und sein Bart zitterte vor Ärger. »Das passiert, wenn man die Kinder an der langen Leine lässt, Clara. Ich gehe schlafen.«

»Hektor, bitte.« Das Eis um meine Mutter herum wurde härter, es kletterte bis zu ihrem Kopf hinauf und umklammerte sie noch fester. »Iss wenigstens ein bisschen was von der Torte.«

»Esst ihr sie ruhig, dafür habe ich sie gekauft«, sagte Hektor und stapfte aus der Küche.

Wenige Sekunden später flossen die Tränen, die Bibis Schluchzer bereits angekündigt hatten.

Mama funkelte mich an. »Bist du jetzt zufrieden?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Hektor ist ein guter Mann. Er hilft uns, wo er kann. Und er liebt mich sehr, weißt du?«

»Ja, aber er …«

»Ich weiß, dass er nicht euer Vater ist – und das will er auch gar nicht sein. Er will nur das Beste für uns. Papa ist nicht mehr da. Er schon.«

Bibi hörte gar nicht mehr auf zu weinen – und auch ich musste nun ein paar Schluchzer herunterschlucken. Es war mein Geburtstag, es war der erste Tag des Sommers, der alles verändern würde – und mir fiel nichts anderes ein, als das Buch zu schnappen und mich damit in unserem Zimmer einzuschließen.

In dieser Nacht verschlang ich das neue Ozzy-Calavera-Buch in einem Atemzug. Simon Bruma hatte sich selbst übertroffen: Ozzy und der Ritter Levíticus machen sich auf die Suche nach dem Ort, an dem alle Geschichten der Welt vergraben sind. Auf dem Weg dorthin werden sie von den fliegenden Nacktschnecken aus Wildwasser gefangen genommen. Bianca Wasserlilie schleicht sich – verkleidet als Puppenspielerin – in ihr Lager und rettet die beiden. Den Helden gelingt es, Preter Naturalis‘ Gedächtnis, das er im letzten Band verloren hat, zurückzugewinnen – und sie erleben mehr Abenteuer, als eigentlich in ein Buch passen. Cliffhanger und mehr als eine überraschende Wendung ließen mich mit offenem Mund weiterblättern – bis ich bei der letzten Seite ankam und sich dasselbe Gefühl in mir ausbreitete wie jedes Mal. Es war wie Abschiednehmen: ein Abschied von Freunden, die realer und zahlreicher waren als die in meinem echten Leben.

Tränen stiegen mir in die Augen, denn es tat weh, sie loszulassen. Ich hatte Angst, dass dies das letzte Buch sein könnte. Dass Simon Bruma die Reihe nicht weiterschreiben würde. Dann würden sich Ozzy und Bianca nie ihre Gefühle füreinander eingestehen. Und Levíticus würde nie herausfinden, dass Preter Naturalis sein leiblicher Vater war. Niemand anders als Preter würde je den wahren Namen des fliegenden Albtraums erfahren – denn der Weise hatte geschworen, dieses Geheimnis erst mit seinem letzten Atemzug weiterzugeben. Die Vorstellung war unerträglich für mich.

Ich seufzte und streckte mich. Dabei streifte ich die Jeansjacke, die am Bettpfosten hing. Meine Finger fuhren über den Kragen und fanden den Anstecker – den mit dem schlecht gezeichneten Totenkopf, den Ozzy als Tätowierung im Gesicht trug. Das Symbol für die ganze Legende. Derselbe Anstecker, den mein Vater sogar an seinem Hochzeitstag getragen hatte – das hatte Mama zumindest erzählt.

Ich konnte nur hoffen, dass Das Grab der Lügen nicht der letzte Teil sein würde. Ich wusste nicht, wie alt Simon Bruma war. Mein Vater hatte seine Bücher jahrelang gelesen, schon vor meiner Geburt, also musste der Autor ziemlich alt sein. Doch lange hielt ich es nie ohne die Gesellschaft von Ozzy und seinen Freunden aus. Ich nahm mir deshalb vor, gleich am nächsten Tag noch einmal den ersten Band von vorn zu lesen.

Fast zärtlich schloss ich das Buch und tastete nach dem Lichtschalter, als eine müde Stimme sich durch die Schatten des Zimmers zu mir nach oben schlängelte: »Hast du es etwa schon fertig gelesen? Ist es gut?«

Ich streckte den Kopf über die Bettkante und schaute auf das blonde Haar, das sich hell von der Dunkelheit unter mir abhob.

»Es ist sehr gut, Maus. Wir lesen es morgen zusammen.«

»Warum nicht jetzt?«, piepste sie.

»Es ist viel zu spät, mach die Augen wieder zu.«

»Du bist ein Langweiler!«

»Okay, dann spoiler ich eben das Ende …«

»Nein.« Bibi hielt sich die Ohren zu: »La, la, la … Ich hör gar nix. La, la, la.«

Ich ließ meine Lippen vibrieren, denn das Furzgeräusch konnte meine kleine Schwester nicht ausstehen. Sie kletterte die Leiter nach oben und warf ihr Kissen nach mir. Ich konnte es gerade noch abwehren, aber dabei fiel mir das Buch aus den Händen – und landete mit einem lauten Knall auf dem Boden.

»Jetzt gibt’s Ärger«, flüsterte ich. »Wir haben bestimmt Mama geweckt. Ab ins Bett mit dir!«

Aber Bibi hörte mir gar nicht mehr zu, sie hatte etwas entdeckt. Ich kletterte zu ihr nach unten. »Was ist?«

Das Buch lag geöffnet da. Eine Seite, die mir vorher gar nicht aufgefallen war, war aufgeschlagen. Die Blätter mussten an der Stelle aneinandergeklebt haben. Ich hob es auf, um den Text in dem verzierten Rahmen zu lesen:

Möchtest du Geschichten wie die von Ozymandias Calavera erzählen? Dann ist das deine Chance! Schreib die beste Lüge auf, die dir einfällt, und schick sie an die angegebene Adresse. Nimm an unserem Wettbewerb teil: Der Gewinner erhält ein Stipendium für einen Fantasy-Schreibkurs im Sommer. Du könntest der nächste Simon Bruma werden!

»Ein Wettbewerb«, sagte ich im Flüsterton. »Und der Gewinner wird lernen, Abenteuer wie die von Ozzy zu schreiben.«

»Das klingt nach einer exzellenten Idee! Was muss man machen?«

»Eine Lüge aufschreiben und sie per Post einsenden.«

»Ich will! Ich will mitmachen!«

»Du kannst doch kaum lesen.«

»Stimmt gar nicht! Ich kann besser lesen als du, aber wenn du meinst … dann schick du doch eine Lüge hin!«

»Lieber nicht«, sagte ich, fuhr jedoch mit den Fingern über die Seite. »Ich kann das nicht. Das ist was für Leute, die das besser können.«

»Aber du denkst dir doch ständig Sachen aus.«

Vor dem Licht der Nachttischlampe sah ich nur ihre Umrisse. Eine neugierige Maus. Ein siebenjähriges Mädchen. Aber wie man Lügen schrieb … Was wusste ich schon vom Schreiben? Nichts. Ich verbrachte die meisten Tage damit, die Bücher zu lesen, die meinem Vater gefallen hatten.

»Na los, wir gehen jetzt schlafen. Morgen ist auch noch ein Tag. Gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Ich kletterte nach oben, tastete nach dem Schalter der Bettlampe, machte das Licht aus. Dann machte ich es wieder an.

»Ich wusste es!«, prahlte das Stimmchen von unten.

Vorsichtig stieg ich die Leiter hinab, das Gestell des Stockbetts knarzte bei jedem Tritt. Ich schaltete die Schreibtischlampe ein, die ich mir bald mit Bibi teilen würde, wenn auch sie mehr Schulaufgaben mit nach Hause bringen würde. Dann schnappte ich mir einen Kugelschreiber und sah mich um.

»Haben wir kein Papier mehr?«

Bibi zuckte verdächtig mit den Schultern und ich durchbohrte sie mit meinem Blick.

»Hast du etwa alles, was noch da war, zum Basteln benutzt?«

Sie sagte nichts, doch ihre aufgesetzte Unschuldsmiene verriet sie. Ich seufzte und wollte gerade ins Bett zurückgehen, da fiel es mir ein: Im Papierkorb lag das Geschenkpapier mit den Sternen, in das das Buch eingewickelt war. Es war total zerknittert, aber ich nahm es trotzdem heraus.

»Ich schätze, es ist egal, auf was für ein Papier man die Lüge schreibt.«*Während ich nachdachte, kaute ich auf dem Kuli herum. Dreißig lange Sekunden vergingen, bevor ich murmelte: »Ich habe keine Ahnung, was ich schreiben soll.«

Bibis Kopf tauchte hinter meiner Schulter auf.

»Was ist?«

»Willst du nicht lieber schlafen?«

»Nein. Was ist los?«

Ich seufzte. »Mir fällt nichts ein. Mein Kopf scheint leer zu sein, weit und breit keine Idee in Sicht.«

»Hast du sie denn auch an ihrem Ort gesucht?«

»Wie meinst du das?«

»Wenn du eine Sache suchst, musst du an ihrem Ort nachsehen.«

Ich drehte mich zu Bibi um und sah sie an. Eine Welle der Erkenntnis rollte heran und streifte mein Bewusstsein, aber es sollte noch Jahre dauern, bis ich ihr einen Namen geben konnte. Also widmeten sich meine Zähne wieder dem Kugelschreiber, und ich gab mir Mühe, alles andere auszublenden. Ich versuchte, Bibi zu vergessen. Ich versuchte, Mama und Hektor zu vergessen. Ich versuchte sogar, die Bücher von Simon Bruma und das Symbol von Ozzy Calavera zu vergessen, das auf den Postern an unserer Wand und auf dem Anstecker an meiner Jacke prangte.

Schließlich kritzelte ich einen Satz auf das Geschenkpapier. Ich legte den Kuli zur Seite und las noch einmal, was ich geschrieben hatte.

»So ’ne Scheiße«, sagte ich.

»Du hast Scheiße gesagt«, murmelte Bibi schläfrig.

»Na komm, lass uns ins Bett gehen. Wir taugen nicht zum Schreiben!«

»Wozu taugen wir dann?«

»Jetzt gerade? Zum Schlafen!«

Bibi legte sich hin, ohne zu protestieren. Ich kletterte in mein Bett und löschte das Licht. In weniger als einer Minute war auch ich eingeschlafen.

* Zum Glück gab es keins!!!

* Damals dachte ich, dass ein Leben ganz schön traurig sein musste, wenn man es freiwillig in Kisten packte.

* Das sagte ich eher, um mich selbst zu überzeugen, als dass ich es wirklich glaubte, aber in jenem Moment hatte ich nichts anderes zur Hand.

Kapitel 2

Es wäre einfach zu behaupten, dass ich von Anfang an wusste, was danach passieren würde, aber es wäre gelogen. Ich hatte keine Ahnung. Um ehrlich zu sein, vergaß ich das Ganze ziemlich schnell wieder.

Der Sommer pflanzte Samen der Langeweile in der ganzen Stadt, aus denen Tage voller langer und leerer Stunden sprossen. Die Hitze kroch mit der Geduld einer Kletterpflanze an den Wänden nach oben. Klimaanlagen summten und brummten wie ein Schwarm betrunkener Bienen. Und wir schlugen die Zeit mit Fernsehen, Zocken und Lesen tot. Manchmal hatten wir Glück und sie ließen uns ins Schwimmbad gehen. Wenn Bibi ins Wasser sprang – Dinosaurierschwimmflügel an den Armen, die Hände bereit zu paddeln – kratzten ihre Schreie an meinen Trommelfellen. Abends gingen wir mit Mama zur Erfrischung Eisshakes trinken, und die Trägheit, in die wir wegen der Hitze verfielen, schwächte sogar unseren Hass für Hektor ab. Ich hätte schwören können, dass wir ihn einmal fast angelächelt hatten, aber das wäre wahrscheinlich übertrieben.

Die allermeiste Zeit verbrachte ich mit meinen Büchern. Ich las und las und las noch mehr. Ich spielte weder Fußball noch Basketball noch sonst irgendwas. Einmal versuchte ich, ein paar Jungs aus meiner Klasse zu überreden, Dungeons and Dragons zu spielen, aber sie lachten mich bloß aus. Und so lautete mein Plan: lesen … und nichts weiter. Ich zog die Gesellschaft von Figuren, die gar nicht wirklich existierten, der von echten Menschen vor. Die Charaktere würden ihr fantastisches Gefängnis aus Papier nie verlassen – und deshalb wusste ich genau, woran ich war.

Ich hatte aber auch nicht wirklich eine andere Wahl, keine engen Freunde – und die, mit denen ich ab und zu etwas unternahm, waren in den Urlaub gefahren. Also machte ich es mir auf dem Bett oder dem Sofa bequem, setzte mich in die Schatten der Orangenbäume im Park gegenüber von unserem Haus oder unter die Lichtkuppel der Stadtbibliothek und verbrachte die endlosen Sommerstunden damit, die Ozzy-Calavera-Reihe noch einmal zu lesen.

Bis der Brief kam.

Mama musste mit Bibi zum Zahnarzt gehen – und ich sollte die beiden begleiten. Meine Schwester weinte ununterbrochen: von dem Moment, als sie den Fuß aus der Tür setzte, bis zu dem, als wir sie endlich überreden konnten, auf dem Behandlungsstuhl stillzuhalten. Erst die Maske des Arztes schüchterte sie genug ein, um ihr Geheul zu stoppen. Doch der Zahnarzt schien stattdessen aus Versehen ihren Quasselstrippenmodus aktiviert zu haben.

Als wir die Praxis verließen, sagte Bibi jedes einzelne Rätsel auf, das sie den Sommer über bei den Pfadfindern gelernt hatte: »Was ist das Erste, was Kühe werfen, wenn die Sonne aufgeht? Was ist der beste Platz für ein Schaf, um sich zu verstecken? Welches Tier kann so hoch springen wie ein Haus?«

»Schatten. Mitten in der Herde. Und Häuser können nicht springen«, antwortete ich schnell hintereinander, bloß um sie zu ärgern. »Ich wusste gar nicht, dass deine Pfadfinder nur langweilige Rätsel kennen.«

»Wir haben die besten Rätsel!«

»Lass deine Schwester in Ruhe«, ermahnte Mama mich, während sie einparkte.

»Mal sehen, ob du das errätst, Besserwisser: Wenn es draußen dunkel ist, steh ich drinnen auf dem Tisch. Wer bin ich?«

»Eine Kerze!«

»Guck mal, Oskar, es ist ein Brief für dich angekommen.«

Ich blieb im Flur stehen. Ein Brief? Ich hatte nichts bestellt, weder Bücher noch Spiele. Gar nichts. Trotz der Hitze war der Eisblock, der meine Mama gefangen hielt, hart wie immer. Ihre freie Hand reichte mir einen kleinen Umschlag.

»Vielleicht hast du eine heimliche Verehrerin. Oder einen Verehrer.«

»Ja, genau …« Der Gedanke ließ meine Ohren heiß werden.

»Okay. Noch eins. Wie viele Monate haben neunundzwanzig Tage?«

Dieses letzte Rätsel traf mich unerwartet. Ich hätte nicht die offensichtlichste Antwort geben sollen, denn die ist ja immer falsch, aber der Brief nahm meine komplette Aufmerksamkeit ein, und da rutschte es mir heraus: »Ähhh … einer, Februar, alle vier Jahre.«

»Nein! Du bist blöd, du kennst dich gar nicht mit Rätseln aus!«

Meine Schwester rief noch irgendwas anderes, aber ich hörte sie nicht mehr. Mein Hirn war wie ausgeschaltet, denn ich hatte gerade den Absender entdeckt. Er bestand aus zwei handgeschriebenen Buchstaben:

SB

»Von wem ist der?« Mama streckte ihren Kopf aus dem Eis. »Worum geht es?«

Ich hatte den Umschlag aufgerissen und öffnete ihn nun mit zwei Fingern wie jemand, der heimlich durch eine Jalousie späht: Ein Blatt Papier steckte darin. Ich zog es heraus und betrachtete es eingängig. Das Papier war irgendwie grob, fast wie recycelt, aber rauer und ein bisschen bräunlich, und darauf stand geschrieben:

Herzlichen Glückwunsch, Oskar! Du hast das Stipendium für den Schreibkurs gewonnen, der diesen Sommer in meinem Haus stattfindet. Bitte finde dich morgen Mittag mit diesem Schreiben am Bahnhof von Neblina ein. Ich werde dort auf dich warten.

Guten Tag und gute Bücher!

Simon Bruma

Vermutlich stammelte ich etwas, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern.

»Was steht da? Was steht da? Was steht da?«, wiederholte Bibi ihre Frage immer wieder und klang dabei wie eine von Papas alten, zerkratzten CDs.

»Oskar hat den Wettbewerb gewonnen«, erklärte Mama ihr.

»Juhuuu!«, kreischte Bibi.

»Aber … ich hab gar nichts gemacht«, protestierte ich, als hätte mir jemand die Schuld in die Schuhe geschoben.

»Also, so würde ich das nicht formulieren.« Ein Lächeln schlich sich auf Mamas Gesicht. »Du hast eine Lüge geschrieben und damit ein Stipendium für einen Schreibkurs gewonnen. Ist das etwa nichts?«

Ich war kurz davor zu antworten, dass das gar nicht sein konnte, weil ich das Papier zerknüllt und in den Papierkorb geworfen hatte, aber ganz so blöd war ich dann doch nicht. Ich starrte die beiden an. Es war das erste Mal, dass mir auffiel, wie ähnlich sie sich sehen.

»Wer von euch hat sie eingesendet?«

»Ich nicht«, sagte Bibi und verschränkte die Arme hinter dem Rücken.

»Wirklich nicht«, sagte Mama. »Bibi hat mir den Zettel gegeben und ich habe ihn verschickt. Sei froh, denn sonst hättest du den Wettbewerb nie gewonnen, du Glückspilz!«

»Ihr zwei … ihr zwei seid …« Die Worte schafften es nicht aus meinem Mund.

»Wir sind sehr stolz auf dich, Oskar.«

»Mein Bruder, der Glückspilzautor! Exzellent!«

Am liebsten hätte ich Bibi gepackt, sie in den Arm genommen, hochgehoben und mich dann mit ihr auf Mamas Schoß fallen lassen, damit uns eine Umarmung zu dritt von innen wärmen konnte. Aber wie ich bereits erwähnt habe, war da leider dieser Block aus Eis, der aus Umarmungen schon eine ganze Weile lang ein Ding der Unmöglichkeit machte. Ich trat einen Schritt nach vorn, einen zurück und schließlich sagte ich einfach: »Danke!«

»Du wirst sehen, auch Hektor wird sich für dich freuen.«

Und mein Lächeln erlosch mit einem Mal.

»Das ist doch Unfug!«

Ich hatte gewusst, dass er das sagen würde. Doch was mich wirklich nervte, war, dass Bibi es nicht gewusst, ja nicht mal geahnt hatte. Und als sie diese vier Worte hörte, fing sie an zu schluchzen.

»Mama«, war das Einzige, was ich sagte.

»Was denn Mama?«