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Hannover 1868: Sophie Brinkhoff erarbeitet sich heimlich und gegen den Willen ihrer Familie eine eigene berufliche Existenz. Doch die Summe ihrer Geheimnisse droht sie in den Untergang zu ziehen, als ihr Ehemann Ernst sie vor ein Ultimatum und damit vor die größte Herausforderung ihres bisherigen Daseins stellt: Sie soll ihr Leben in Hannover aufgeben und mit ihm nach Oldenburg ziehen, um die für ihren gesellschaftlichen Stand katastrophale Scheidung ihrer Ehe zu verhindern. Sophie will frei sein von gesellschaftlichen und privaten Zwängen. Und so kämpft sie für ein selbstbestimmtes Leben – und für ihre Liebe zu dem Arbeiter Karl.
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Seitenzahl: 517
Buch
Hannover 1868: Sophie Brinkhoff erarbeitet sich heimlich und gegen den Willen ihrer Familie eine eigene berufliche Existenz. Doch die Summe ihrer Geheimnisse droht sie in den Untergang zu ziehen, als ihr Ehemann Ernst sie vor ein Ultimatum und damit vor die größte Herausforderung ihres bisherigen Daseins stellt: Sie soll ihr Leben in Hannover aufgeben und mit ihm nach Oldenburg ziehen, um die für ihren gesellschaftlichen Stand katastrophale Scheidung ihrer Ehe zu verhindern. Sophie will frei sein von gesellschaftlichen und privaten Zwängen. Und so kämpft sie für ein selbstbestimmtes Leben – und für ihre Liebe zu dem Arbeiter Karl.
Autorin
Martha Sophie Marcus, geboren 1972 im Landkreis Schaumburg, studierte Germanistik, Soziologie und Pädagogik und verbrachte anschließend zwei Jahre in Cambridge. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Lüneburg. Mit »Herrin wider Willen«, ihrem ersten Roman, feierte sie ein grandioses Debüt, dem weitere erfolgreiche Romane folgten.
Martha Sophie Marcus
Die Blüte der Novemberrosen
Roman
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Copyright © 2021 by Martha Sophie Marcus
Copyright© dieser Ausgabe
2021 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München
Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung der literarischen Agentur Peter Molden, Köln
Umschlagfoto: Archive World / Alamy Stock Photo; Arcangel / ILDIKONEER; FinePic®, München
Redaktion: Eva Wagner
BH • Herstellung: ik
Satz: Mediengestaltung Vornehm GmbH, München
ISBN: 978-3-641-25142-0V001
www.goldmann-verlag.de
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Vorbemerkung
Die Familie Brinkhoff wurde nach dem Vorbild einer damals real existierenden Lindener Unternehmerfamilie geschaffen, doch bitte ich Folgendes unbedingt zu beachten:
Während die Darstellungen der Geschichte des Unternehmens und der Geschichte des Ortes Linden, die untrennbar miteinander verwoben sind, den historischen Begebenheiten folgen, ist die im Roman erzählte Familiengeschichte dennoch fiktiv. Die handelnden Personen, ihre persönlichen Eigenschaften, Handlungen und privaten Verstrickungen sind der Fantasie der Autorin entsprungen. Bitte verwechseln Sie die Familie des Romans nicht mit ihrem historischen Vorbild.
Personenliste
Familie Brinkhoff und Ehegatten
Georg Brinkhoff: Oberhaupt der Familie und des Brinkhoff’schen Unternehmens
Dora Brinkhoff: Georgs Ehefrau, genannt Dörchen
Großmama Grete: Georgs Mutter
Die Töchter der Brinkhoffs:
Dorette: geb. 1827
Sophie: geb. 1830
Minna: geb. 1836
Luise: geb. 1837
Johanna: geb. 1839
Sophies Sohn:
Alexander: geb. 1852, Sophies Sohn
Dorettes Kinder:
Agnes: geb. 1849
Paul: geb. 1853
Minnas Kinder:
Fritzchen: geb. 1857
Hanne: geb. 1858
Grete: geb. 1860
Alfred Lonard: geb. 1826, Jungingenieur im Brinkhoff’schen Unternehmen
Ernst Drave: geb. 1817, Mitarbeiter der Hannöverschen Eisenbahnkommission
Fritz Drave: geb. 1821, Ernsts jüngerer Bruder, Maschinenbauingenieur
Henri Villuc: geb. 1834, Buchhändler
Wilhelm Ehlerding: geb. 1833, Soldat im Königlich-Hannoverschen Regiment
Die Behlings
Karl: geb. 1826, Arbeiter in den Brinkhoff’schen Werken, ausgebildeter Schmied
Lina: geb. 1826, Karls Ehefrau
Theo Repke: geb. 1828, Linas Bruder, Karls Freund
Marie: geb. 1852, Karls und Linas Tochter
Andere
Arne Hansen: Freund von Theo
Birte Hansen: Arnes Frau
Konrad: Bekannter von Theo
Herbert: Arbeiter aus Karls Kolonne
Lotte: eine Frau aus Karls und Linas Nachbarschaft
Krischan Haase: Arbeiter, der nach Feierabend seine kranken alten Eltern pflegt
Margot Kramer: Tagesmutter, die Arbeiterkinder betreut
Matthias Hansen: Anführer der Bürgerwehr
Hellmann: Eisengießergeselle; einer der Anführer des Streiks
Gümmer: Hellmanns Freund
Klemens Riegler: Offizier der militärischen Schutztruppe
Probst: Eigentümer der Weberei, in der Theo arbeitet
Heinz Kohlmeyer: Vorarbeiter in der Werksschmiede bei Brinkhoff
Hanne Kohlmeyer: Heinz’ Ehefrau
Herr Gutbrod: Übersetzer in der Brinkhoff’schen Maschinenfabrik
Mr Newman: Fachmann für den Dampfhammer, zu Gast aus England
Heinrich: Brinkhoffs Kutscher und Stallknecht
Fräulein Becker: Alexanders Kindermädchen
Familie Niemeier: Gründer der Konkurrenzsaline
William von Harder: Reiter- und Pferdeausbilder bei der hannoverschen Kavallerie
Emilie Eddelbüttel: Johannas gleichaltrige Freundin
Elisabeth Heinemann: Besitzerin einer »Damenpension«
Dr. Hebel: Sophies Arzt
Nelli: Draves Hausmädchen
Gerta Mechtersen: Großmamas Freundin
Dr. Pauly: junger Arzt, Bekannter von Minna
Frau Rehse: religiöse Frau, die im Rosenhaus hilft
Johann Friedrich Kramer: Käufer des Rosenhauses
Erich: Bauer aus Ronnenberg, Bekannter von Lina
Jule: Sophies Mieterin
Bärbel: Jules Tochter
Kätchen: Bärbels Freundin
Hans und Gitta: zwei alte Leute, die im Rosenhaus Kinder betreuen
Herr Behrens aus Kassel: Inhaber einer mechanischen Weberei
Regierende Könige
König Ernst August von Hannover (1771 – 1851): König von Hannover seit dem Ende der Personalunion 1837
König Georg von Hannover (1819 – 1878): Sohn und Nachfolger von König Ernst August. König von Hannover von 1851 bis zum Ende des Königreichs 1866
König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen (1795 – 1861): König von Preußen ab 1840. Er lehnte 1849 die vom Parlament angetragene Kaiserwürde ab.
König Wilhelm (Friedrich Ludwig) von Preußen (1797 – 1888): Bruder und Nachfolger von König Friedrich Wilhelm. Er wurde 1871 erster Deutscher Kaiser.
1. Kapitel
Hannover und Linden, Anfang August 1852
Seit den ersten Anzeichen ihrer Schwangerschaft hatte Sophie in Angst gelebt. Und es war nicht leichter geworden, seit ihr Sohn auf der Welt war. Es kam ihr vor, als stünde sie mit ihm in den Armen in der Mitte eines zugefrorenen Sees auf einer brüchigen Eisdecke.
In jeder wachen Stunde hatte sie damit gerechnet, dass ihr Ehemann vor sie hintreten und sie damit konfrontieren würde, dass er die Wahrheit erkannt hatte. Dass er sie und ihr Kind verfluchen und aus dem Haus werfen würde. Doch die Tage vergingen, ohne dass das Furchtbare geschah. Ernst konnte wenig mit dem Säugling anfangen und beschäftigte sich selten mit ihm. Von Misstrauen war ihm jedoch nichts anzumerken.
Auch ihre Eltern, ihre Schwestern und die Großmutter, die Alexander oft in den Armen hielten, schöpften keinen Verdacht. Niemand betrachtete den Kleinen stirnrunzelnd und merkte an, dass er statt seinem angeblichen Vater viel stärker einem anderen Mann ähnelte.
Sophie hatte sich selbst wohl tausendmal gesagt, dass so eine Ähnlichkeit noch lange nicht zu erkennen sein würde. Dennoch hatte sie in den ersten Wochen täglich danach gesucht. Erst vor Kurzem hatte sie eingesehen, dass ihr Urteil nicht zählte. Sie würde den Mann, den sie liebte, jederzeit in ihrem Sohn erkennen, weil sie wusste, dass er der Vater war. Und deshalb, weil seine Züge ihr so viel vertrauter waren als allen anderen, die mit ihrem kleinen Alex zu tun hatten. Sie glaubte nicht, dass irgendjemand aus ihrer oder Ernsts Familie sich jemals einen Fabrikarbeiter so genau angesehen hatte, dass er ihn aus dem Gedächtnis hätte zeichnen können – so wie sie es bei Karl gekonnt hätte.
Dennoch blieb die Angst, und nach und nach hatte Sophie verstanden, dass sie von nun an für lange Zeit Teil ihres Lebens sein würde. Sie konnte sich von ihr lähmen lassen und stocksteif in der Mitte des Sees auf dem Eis stehen bleiben. Oder sie bewegte sich behutsam voran, vertraute auf ihr Glück und setzte darauf, dass sie eines Tages wieder sicheres Land erreichen würde.
Zwei Wochen nach Alexanders Taufe lieferte ein Stellmacher einen eigens nach Sophies Wünschen angefertigten kleinen Wagen zur Villa der Draves. Er war einer englischen Neuheit nachgeahmt und ähnelte dem Stubenwagen, den sie, wie die meisten bessergestellten Familien, für ihren Säugling besaß. Mit seinem gut gefederten kleinen Fahrgestell und dem wetterfesten Verdeck eignete er sich jedoch dafür, sich damit im Freien fortzubewegen.
Sophie hatte das kleine Gefährt noch vor ihrer Niederkunft bestellt, als sie sich durch die Schwangerschaft bereits von der aufgezwungenen Enge ihres Bewegungsspielraums zermürbt gefühlt hatte. Die Aussicht, das Kind von Anfang an ohne großen Aufwand mit sich nehmen zu können, auch wenn sie einmal ohne Begleitung ausgehen wollte, hatte sie unwiderstehlich gefunden – obwohl ihre Mutter über ihre sonderbare Idee missbilligend den Kopf geschüttelt hatte. Für Kinder, die schon sitzen konnten, war zwar ein Wägelchen durchaus üblich, liegende Säuglinge wurden hingegen in der Regel auf ihrem Kissen getragen, wenn man mit ihnen ausging. Häufiger ließ man sie zu Hause und stellte sie allenfalls mit ihrem Körbchen oder Stubenwagen in den Garten. Ihre Mutter hielt das für die einzig richtige Art, mit den Kleinen umzugehen. Um ihr das Gegenteil zu beweisen, beschloss Sophie, gleich am Nachmittag die erste Probeausfahrt zu ihrem Elternhaus zu machen und ihre Mutter mit einem Besuch zu überraschen.
Sie hatte allerdings unterschätzt, wie viel Vorbereitung nötig war, um für diesen einfachen, kurzen Nachmittagsbesuch mit dem Säugling gewappnet zu sein, doch irgendwie gelang es ihr mit Unterstützung durch ihr Dienstmädchen, alles Notwendige im Korb des Wagens zu verstauen. Glücklicherweise brauchte ihr fünf Wochen altes Söhnchen noch nicht viel Platz.
Sie wurde rasch zur Attraktion, als sie in der Sommersonne mit dem neuartigen Kinderwagen und einem aufgespannten Sonnenschirm in der Hand losschob. Bekannte und ihr völlig fremde Personen beäugten sie, und einige sprachen sie darauf an, ob diese Art der Fortbewegung für so ein kleines Kind nicht ungeeignet sei. Neugierig spähten sie in den Korb, wo Alexander lag und anfangs noch munter mit den Händchen wedelte, bald jedoch selig schlief. So wurde der Weg von der Drave’schen Villa am Rand von Hannover über die Ihmebrücke zur Brinkhoff’schen Villa am Rande des Nachbarorts Linden fast schon zum Spießrutenlauf. Beinah bereute Sophie ihren Entschluss, doch am Ende entschädigten sie die überraschten Gesichter ihrer Mutter und der Großmutter.
Zu Sophies Bedauern verflog die Freude über ihren Besuch jedoch bald. Großmama war müde und musste sich für ein Schläfchen zurückziehen, und ihre Mutter fand allzu bald zu ihrem derzeitigen Lieblingsthema: die Verfehlungen ihrer erstgeborenen Tochter Dorette gegen ihr Kind und ihren Ehemann. An anderen Tagen hätten Sophies jüngere, noch unverheiratete Schwestern möglicherweise für Ablenkung gesorgt, doch die drei waren noch in der Schule, wo sie für die Aufführung eines Theaterstücks probten.
Der Nachmittag zog sich in die Länge, dennoch konnte Sophie sich nicht aufraffen, sich einfach zu verabschieden. Bis sie sich schließlich eingestand, dass es ihr an diesem Tag noch um etwas anderes gegangen war als nur darum, ihre Mutter und die Großmutter zu sehen. Der Besuch war ein willkommener Anlass gewesen, um allein mit Alexander nach Linden und damit in die Nähe der väterlichen Fabrik zu spazieren.
Nach einem Blick auf die neue Standuhr mit den vergoldeten Schnitzereien erhob sie sich eilig und küsste ihre Mutter auf die Wange.
»Sei mir nicht böse, wenn ich jetzt so hastig aufbreche, aber mir kam gerade der Einfall, dass ich es noch schaffen könnte, Vater zu überraschen, wenn er aus dem Kontor kommt. Alex und ich werden bei der Fabrik auf ihn warten. Anschließend gehe ich von dort rasch nach Hause.«
Ihre Mutter schlug die Hände zusammen und verdrehte die Augen zur Decke. »Du und deine Einfälle. Du könntest deinen Vater auch hier überraschen, wenn er heimkommt. Dazu müsstest du nicht in die Nähe der grauenhaften Fabrik gehen. Und später könnte dich Heinrich zurück nach Hannover kutschieren. Ich muss sagen, je älter ich werde, desto abstoßender finde ich alles, was mit den Fabriken und ihren ewig qualmenden Schornsteinen zu tun hat. Es werden immer mehr, und sie werden immer größer! Der Rauch dringt ja inzwischen sogar schon bis hier ins Haus, wenn der Wind ungünstig steht. Ich verstehe nicht, warum du dir und dem Kleinen das antun willst. Aber ich weiß schon, jede Gegenrede meinerseits fällt bei dir auf unfruchtbaren Boden.«
Sophie zwang sich zu einem unbeschwerten Lachen. »Du übertreibst, Mutter. Ich schätze deinen Rat. Aber was die Fabrik angeht, sind wir nun einmal unterschiedlicher Ansicht. Ich bin bereit, die Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen. Und Alex wird später den größten Teil seines Lebens in den Werksgebäuden verbringen, wenn es nach Vater geht. Er darf also ruhig schon einmal einen Blick darauf werfen. Wir werden ja nicht lange bleiben.«
In Wahrheit hatte sie nicht vor, mit Alex auf der Straße zu warten, doch darüber wollte sie mit ihrer Mutter nicht diskutieren müssen. Sie baute darauf, dass die Begeisterung ihres Vaters über den Überraschungsbesuch seines ersten Enkelsohns größer sein würde als sein Unwille über die Störung bei seiner Arbeit und ihre Anwesenheit in der Fabrik.
Den Kinderwagen ließ sie vor dem Eingang des Verwaltungsgebäudes stehen. Sie ging mit Alex auf dem Arm hinein und stellte sich der Welle von Gratulationen und erstaunten Entzückensäußerungen der Angestellten, um sich zu ihrem Vater durchzufragen. Er war mit seinen Ingenieuren in einem Besprechungszimmer, und ein wenig unwohl war Sophie nun doch zumute, weil einer der Bürodiener die Besprechung unterbrechen und ihn zu ihr herausrufen musste. Sie hatte angeboten zu warten, war aber überstimmt worden.
»Herr Brinkhoff, verzeihen Sie bitte die Störung, aber Sie haben Besuch«, sagte der junge Mann, nachdem er angeklopft und den Kopf zur Tür hineingesteckt hatte.
Verlegen rückte sie Alex in ihrer Armbeuge zurecht und richtete sich gerade auf. Ihr Vater kam mit gerunzelter Stirn und finsterer Miene aus dem Zimmer. Doch als er sie sah, ging ein Leuchten über sein Gesicht.
»Na, das ist nach dem ganzen Ärger heute endlich mal eine schöne Überraschung!« Er öffnete die Tür zum Besprechungszimmer weit und wandte sich kurz den Männern darin zu. »Meine Herren, ich habe das Vergnügen, Ihnen den zukünftigen Lenker des Brinkhoff’schen Imperiums vorzustellen: mein Enkelsohn Alexander. Meine Tochter kennen Sie bereits: Sophie, verehelichte Drave. Komm zu uns herein, mein Schatz, damit die Herren euch Guten Tag sagen können!«
Sophie tauschte höflich Grüße mit den Anwesenden aus, während ihr Vater Alex auf den Arm nahm und herumzeigte. Schließlich trat sie an die Seite ihres Vaters und ließ sich ihren Sohn zurückgeben.
»Kann ich eine Minute mit dir sprechen, Vater?«
Er runzelte die Stirn, ging aber ohne Einwand mit ihr vor die Tür.
»Ist es am Ende doch etwas Schlimmes, was dich hergetrieben hat?«
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein, ganz und gar nicht. Ich dachte nur, wo ich schon einmal hier bin … Ich wollte doch so gern einmal den Salonwagen sehen, den ihr für König Georg baut. Bisher hatte ich ja keine Gelegenheit dazu. Meinst du, ich kann einen kurzen Blick darauf werfen?«
Ihr Herz klopfte heftig, und sie musste sich Mühe geben, damit ihre Stimme sie nicht verriet. Ihr Vater durfte auf keinen Fall ahnen, dass weder er noch der Salonwagen der wahre Grund für ihren Besuch waren.
Er schüttelte den Kopf. »Hm, der verfluchte Salonwagen! Ich muss wieder hinein, Sophie, sonst dauert die Sitzung bis morgen und endet dennoch ohne Ergebnis. Ich kann dich jetzt nicht herumführen.«
»Aber das musst du ja nicht. Ich kenne mich gut genug aus. Mit deiner Erlaubnis gehe ich mit Alex allein. Wo steht der Wagen denn?«
»Ganz ehrlich, ich wünschte, er stünde nirgends. Das Ding bringt mir mehr weiße Haare ein als alle anderen Sorgen zusammengenommen. Dein Mann hat es mit dieser Idee gut gemeint, aber die Sache droht die größte Pleite zu werden, die ich je erlebt habe. Sei’s drum! Ansehen kannst du ihn dir trotzdem. Wir haben den hinteren Teil der neuen Montagehalle mit Leinwand abgehängt. Da steht er. Viel Vergnügen! Aber bleib mit dem Kleinen nicht so lange, verstanden?«
Sie küsste ihn auf beide Wangen. »Nur ein Blick, und wir sind wieder fort, versprochen. Bis bald, Vater.«
Während sie mit ihrem Sohn auf dem Arm durch die Fabrikhallen ging und dabei die Orte mied, wo der Lärm am lautesten und die Luft am schlechtesten war, kam es ihr vor, als würde sie die Anwesenheit des Mannes bereits spüren, wegen dem sie in Wahrheit gekommen war, obwohl sie ihn nicht sah. Ihr war zumute, als hätte sie neben den üblichen fünf Sinnen noch einen weiteren, der eigens dazu diente, seine Nähe wahrzunehmen. Ganz unwillkürlich lenkte sie ihre Schritte so, dass sie dieser unerklärlichen Ahnung folgte, und zielsicher fand sie ihn: den leiblichen Vater ihres Sohnes, der sein Kind bis zu diesem Tag nicht gesehen hatte. Den sie selbst seit drei Monaten nicht gesehen hatte. Den sie besser niemals hätte wiedersehen sollen.
Karl Behling stand neben seinem Kolonnenführer Heinz Kohlmeyer an einer Werkbank in der alten Montagehalle. Offenbar untersuchten sie eine Reihe von gleichen Bauteilen auf Abweichungen und machten sich gegenseitig auf Fehler aufmerksam. Kohlmeyer scherzte, beide lachten, und dann stand sie auch schon hinter ihnen.
»Guten Abend, die Herren.«
Karl fuhr herum, als hätte ihn etwas gestochen, Kohlmeyer drehte sich gemächlicher um, allerdings kaum weniger erstaunt.
»Wenn das nicht unser zukünftiger Brotherr ist«, sagte Kohlmeyer breit grinsend, während Karl sie nur sprachlos anstarrte.
Lächle, Sophie, befahl sie sich. Lächle, wie du die beiden auch früher angelächelt hast, als deine Besuche in der Fabrik noch einfach und unschuldig waren.
Doch es gelang ihr nicht, sie fühlte sich zu ängstlich. Würde Karl ihr diesen Überfall verzeihen, der gegen ihre stillschweigende Übereinkunft verstieß, einander fernzubleiben? Würde er verstehen, dass sie es nicht ertragen hatte, ihm seinen Sohn nicht wenigstens für einen flüchtigen Moment zu zeigen? Dass sie nicht einfach weiterleben konnte, ohne ihm auf diese Art mitzuteilen, wie es um ihr Herz stand?
Nein, wie früher konnte sie nicht lächeln, doch die scheue Andeutung eines Lächelns gelang ihr, und das war für eine kaum zweiundzwanzigjährige junge Mutter schließlich durchaus angemessen.
»Keine Sorge, Herr Behling, Alexander sieht furchteinflößender aus, als er ist. Bisher ist er nicht besonders streng. Wir sind nur hier, um den Salonwagen zu bewundern«, sagte sie.
Er legte das Eisenteil hinter sich auf der Werkbank ab, ohne hinzusehen. »Das ist …« Seine Stimme war so rau, dass er sich räuspern und neu ansetzen musste. »Das ist uns eine Ehre, Frau Drave. Ich konnte Sie ja noch gar nicht beglückwünschen. Also … Alles Beste für den Kleinen.«
»Auch von mir«, ergänzte Kohlmeyer gut gelaunt und spähte dem inzwischen leise nörgelnden Alexander ins Gesicht.
»Vielen Dank. Aber Ihre Frau hat mir Ihre guten Wünsche ja schon ausgerichtet, Herr Behling. Hätten Sie vielleicht Zeit, mich zu dem Salonwagen zu begleiten? Ich möchte ihn besichtigen, doch ich kenne die Leute nicht, die dort arbeiten.«
Sie bemerkte, dass er schwankte und sich hastig bemühte, es zu verbergen, indem er sich gegen die Werkbank lehnte. »Oh. Es arbeitet gerade niemand an dem Ding. Aber … Ich … Was meinst du, Heinz? Brauchst du mich hier noch, oder können wir es für heute gut sein lassen?«
Kohlmeyer zuckte mit den Schultern. »Geh ruhig. Wir können dem kleinen Herrn Drave doch die Führung durch sein Geschäft nicht ausschlagen.«
Sophie musste lachen. »Sollte er Ihre Freundlichkeit bis zu seiner Volljährigkeit vergessen haben, werde ich ihn daran erinnern.«
Karl ging ihr voraus, ohne mit ihr zu sprechen, und ihr Herz hämmerte noch stärker. War er wütend auf sie, weil sie ihn überrumpelt hatte? Aber wie hätte sie ihn vorwarnen sollen?
Der Salonwagen, der zum Vorschein kam, nachdem sie durch die provisorische Hallenwand aus Sackleinen geschlüpft waren, sah von außen kaum anders aus als die üblichen Personenwagen, die wirkten wie Kutschen ohne Deichseln und mit zu kleinen Rädern. Nur die ungewöhnliche Länge sowie die prunkvollen Vergoldungen und das aufgemalte Wappen wiesen darauf hin, dass er etwas Besonderes war.
Als sie bei der Wagentür angekommen waren, machte Karl die Geste eines Zirkusdirektors, der seinen zahmen Elefanten präsentiert.
»Bitte sehr, gnädige Frau, ich präsentiere hier das einzigartige Werk unserer Luftschlossbaumeister. Eines Königs gute Stube auf Rädern, der zur Vollkommenheit nur der passende König fehlt.«
Als hätte ihn das seine letzte Kraft gekostet, setzte er sich mit auf die Oberschenkel gestützten Ellbogen auf eine Holzkiste, die neben dem Wagen stand, sah zu Boden und atmete tief aus. Was unter anderem bedeutete, dass sie unter sich waren. Andernfalls hätte er sich in ihrer Gegenwart nicht einfach hingesetzt, während sie stand. Unsicher trat sie näher.
»Bist du mir böse? Ich musste dich sehen und wusste nicht, wie ich es anders einrichten sollte.«
Er hob den Blick. »Ich war mir sicher, dass du mich nicht mehr sehen willst, und habe versucht, mich damit abzufinden. Als du eben plötzlich hinter mir gesprochen hast, blieb mir fast das Herz stehen. Und das, obwohl ich ständig an dich und den Kleinen denke. Ist er gesund?«
Sophie spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten, und sie musste sich Mühe geben, um weiter mit fester Stimme zu sprechen. »Ja, das ist er, und er wird schnell schwerer. Ich habe schon lahme Arme. Möchtest du ihn eine Weile für mich tragen? Du hast ja Erfahrung damit, nicht wahr?«
Er schnaubte – halb belustigt, halb verzweifelt – , und sie wollte ihn küssen, ihn umarmen, mit ihrem Kind zwischen ihnen, so wie es eigentlich hätte sein sollen.
Sitzend streckte er ihr die Arme entgegen. »Den einen Abend habe ich mich heidnisch besoffen, weil ich glaubte, dass ich dieses Kind niemals in den Armen halten würde. Gib ihn mir. Dann hatte ich wenigstens das, falls ich euch beide danach nicht wiedersehe.«
Sie reichte ihm behutsam das Kissen, auf dem ihr Sohn lag und unzufrieden das Gesicht verzog. Karl legte ihn sich so auf die Knie, dass er ihm in die Augen sehen konnte, und versank in seinem Anblick.
Sophie wurden die Knie weich. Sie hatte sich so sehr gewünscht, die beiden zusammen zu sehen, doch nun konnte sie es kaum ertragen. Wie sollte sie es verkraften, dass dieser Moment so bald wieder enden musste? Wie konnte sie ihm den Kleinen wieder abnehmen und gehen, ohne zumindest in Tränen auszubrechen? Sie quollen ihr ja jetzt schon aus den Augen, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte.
Schließlich hob Karl den Kopf, und sie sah, dass es bei ihm ebenso war.
»Was ist, soll ich dir den Wagen auch von innen zeigen?«, fragte er mit weicher Stimme. »Ist noch nicht zugeschlossen, soweit ich weiß. Dein Vater hatte die Hoffnung, dass heute ein Abgesandter Seiner Majestät kommt, um ihn zu begutachten. Habe gehört, dass stattdessen nur ein Brief mit einer Absage kam. Klang nach schlechten Neuigkeiten.«
Sie nickte wortlos und streckte die Hände aus, um Alexander zurückzunehmen, doch er schüttelte den Kopf.
»Lass ihn mir noch eine Weile. So lange können deine Arme sich ausruhen. Sieh dir an, wie er in die Luft schlägt. Sieht etwas verärgert aus, der Knilch. Und er hat deine Augen. Mein Gott, er ist viel größer und schwerer, als Marie in dem Alter war. Ich will gar nicht wissen, wie er klingt, wenn er schreit. Falls er damit anfängt, musst du ihn nehmen. Ich will nicht riskieren, dass sein Zorn mich trifft.«
Sie hörte seiner Stimme an, wie schwer ihm das Scherzen fiel, und war ihm dankbar dafür, dass er es dennoch tat. Mit dem Kind im Arm stieg er die Stufen zur Wagentür empor, öffnete die Tür und trat einen Schritt ins Innere, um Sophie hineinzubitten. Sorgsam auf ihre Röcke achtend, die durch die weite Krinoline Gefahr liefen, am Türrahmen hängen zu bleiben, folgte sie ihm.
Der Geruch von frischem Holz, Farbe und Leder war überwältigend in dem geschlossenen Raum, und er wurde obendrein noch von einer exotischen Note durchzogen. Die edlen Stoffe der Polster, Wandbespannungen und Vorhänge verströmten den Duft würziger und süßer Aromen, die sie wohl schon auf der Schiffsreise aus dem Orient aufgesogen hatten.
Jede sichtbare Holzfläche der Möbel war mit Intarsien gestaltet oder vergoldet. Sophie gingen die Augen über. Seit sie für die Einrichtung ihres eigenen Heims zuständig war, kannte sie sich recht gut mit den Preisen solcher Extravaganzen aus. Nie hätte sie gedacht, dass ihr Vater sich auf eine so teure Vorleistung einlassen würde, ohne ganz sicher zu sein, dass sie am Ende auch entsprechend bezahlt wurde. War ihm die Gunst von König Georg wirklich so viel wert? Würde sich diese Investition jemals auszahlen? Grundgütiger, der König war doch blind! Er würde diese Pracht niemals mit eigenen Augen sehen, sondern nur durch Dritte davon erfahren oder vielleicht noch das würdigen können, was er mit den Händen ertasten konnte.
Alexander greinte inzwischen stetiger, wurde aber wieder still, als Karl ihn sanft auf und ab wippte.
»Weißt du, was mit dem Wagen geschieht, wenn der König ihn nicht annimmt?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube, deinem Vater ist erst heute der Gedanke gekommen, dass das geschehen könnte. Wird ein großes Loch in den Geldbeutel reißen, wenn er nicht schnell einen anderen zahlenden Abnehmer dafür findet, nehme ich an. Jedenfalls wäre es auch Unsinn, ihn hier noch lange stehen zu lassen. Diese Halle wurde schließlich gebaut, weil wir sie für die echten Aufträge brauchen, und das Ding blockiert sie schon zu lange.«
Sie lächelte, obwohl ihr bei dem Gedanken an die Schulden, die ihr Vater für den Bau des Wagens bei den Zulieferern gemacht haben musste, mulmig zumute war.
»Ich hätte nichts dagegen, aus dieser bescheidenen Hütte ein Gartenhäuschen zu machen. Stell dir vor: ein versteckter Garten am Stadtrand mit diesem Wagen darin. Das wäre doch ein angenehmer Ort, um Sonntagnachmittage dort zu verbringen, meinst du nicht?«
Ebenfalls lächelnd ging er auf ihre Spinnerei ein. »In dieses Gartenhäuschen käme ich gern gelegentlich zu Besuch. Rundherum Vorhänge und … Du hast das Schlafzimmer noch gar nicht gesehen. Mach mal die Tür da auf!«
Sie ging dem Hinweis nach und bewunderte das prachtvolle Doppelbett, das sich hinter der Schiebetür verbarg. Ihm fehlten nur Kissen, Laken und Daunendecken. Karl kam näher und blickte ihr über die Schulter.
»Das Bett ist aus Mahagoni und Ebenholz, und was da überall glänzt, ist echtes Blattgold. Ich frage mich, ob sich Schlafen anders anfühlt, wenn man in so einem Gestell liegt.«
Sophie trat näher ans Bett, um sich die Nachtschränke genauer anzusehen, Karl blieb an der Tür stehen und wiegte weiter den Kleinen im Arm. Alexander hatte sich beruhigt, gerade fielen ihm die Augen zu.
»Wenn du in diesem Bett liegst, während der Zug fährt, schläfst du sicher schneller ein. Ich finde ja, dass kaum etwas schläfriger macht als eine Fahrt mit der Eisenbahn«, sagte sie.
»Wirklich? Ich dachte, so eine Reise wäre aufregend. Gibt es durchs Fenster nicht jede Menge zu sehen?«
»Anfangs fand ich es auch aufregend. Aber in Wahrheit gleitet alles so schnell vorüber, dass es unerreichbar fern erscheint. Mir kommt es immer bald so vor, als wäre es gar nicht die echte Welt und hätte nichts mit mir zu tun. Als wären es nur die Bilder einer Laterna magica oder ein Diorama. Kannst du dir vorstellen, was ich meine?«
»Ja. Nur weiß ich nicht, warum sich das anders für dich anfühlt, wenn du in der Kutsche sitzt und hinaussiehst. Da zieht die Landschaft doch auch vorbei, ohne dass du sie anfassen kannst«, sagte Karl.
Behutsam rückte er Alexanders Kissen zurecht, und auf einmal schien sein Blick sich wieder am Gesicht des Kindes festzusaugen, und die frühere Fassungslosigkeit kehrte in seine Miene zurück. Als könnten ihn seine Beine nicht mehr tragen, setzte er sich auf das vornehme Bett und legte das Kissen neben sich, ohne den Blick von seinem einschlummernden Sohn abzuwenden.
»Sophie«, flüsterte er. »Wie soll ich das bloß schaffen? Ich kann euch doch nicht einfach wieder gehen lassen.«
Karl war sechsundzwanzig Jahre alt, nur wenige Jahre älter als sie. Wie konnte ein Mensch gleichzeitig so jung und hilflos und doch so alt und gebeugt wirken? Sophies Herz lief über, und sie konnte sich nicht länger zurückhalten. Hastig hockte sie sich vor ihn hin, so gut ihre aufgebauschten Röcke es zuließen, und ergriff seine Hände.
»Deine Frau wollte mir das Versprechen abnehmen, dass ich mich von dir fernhalte. Ich habe es ihr zwar nicht gegeben, aber ich habe ihr gesagt, dass ich weiß, dass du sie und eure Tochter nie im Stich lassen wirst. Du wirst es nicht tun, und das ist richtig so. Mir hingegen bleibt nichts anderes übrig, als bei meinem Mann zu bleiben. Es gibt keinen anderen Weg. Ich kann dir nur versprechen, dass ich alles tun werde, damit das nicht zu Alexanders Schaden ist.«
Er entzog ihr seine Hände und legte sie zärtlich um ihr Gesicht. »Das weiß ich doch. Trotzdem … In letzter Zeit fühle ich mich, als würde ich verdursten, wenn ich an dich denke. Du fehlst mir so.«
Alle weiteren Worte küsste sie ihm von den Lippen, und nur eine Sekunde später lagen sie sich in den Armen und klammerten sich aneinander, als bestünde doch eine Hoffnung, dass sie sich nicht wieder trennen mussten, wenn sie sich nur fest genug hielten.
»An den Mittwochabenden ist Ernst so gut wie nie zu Hause. Angeblich geht er in seinen Club. Glaubst du, du könntest mich gegen neun Uhr im Park bei unseren Bäumen treffen? Wenn ich nicht kommen kann, stecke ich einen unbeschriebenen hellblauen Zettel in die alte Spechthöhle in der Buche. Dann weißt du, dass du nicht warten musst«, flüsterte sie schließlich, als sie widerstrebend voneinander abließen.
»Was soll ich hineintun, wenn es mir umgekehrt so geht und ich nicht auf dich warten kann? Ich habe nie Papier dabei.«
Sophie zwang sich dazu, aufzustehen und ihre Kleidung zurechtzuzupfen. »Ein paar geflochtene Grashalme oder etwas Ähnliches? Ich werde es dann schon erkennen. Nun muss ich gehen. Ich will auf keinen Fall Vater verärgern. Sonst lässt er mich nie mehr in die Fabrik zurückkommen.«
»Möchtest du das denn? Du hast doch nun für den Kleinen zu sorgen.«
»Wenn er ein wenig älter ist, wird meine Mutter ihn nur zu gern gelegentlich für ein paar Stunden hüten. Außerdem werden wir immer ein Kindermädchen haben. Ernst ist davon überzeugt, dass sich das so gehört.«
Er beugte sich über das Bett und hob Alexander auf. »Ein Kindermädchen, ja? Was ist das für eine Frau? Taugt sie etwas?«
Sophie ließ ihn vorausgehen und schloss die Tür zum Schlafzimmer hinter sich. Dann ging sie ihm voraus, verließ den Wagen vorsichtig über die steilen Behelfsstufen, die für den König und seine vornehme Begleitung bei Bedarf durch eine anstellbare Treppe ersetzt werden würden.
Sobald sie unten war, drehte sie sich zu Karl um, um zu sehen, ob er ihr das Kind lieber geben wollte. Doch er kam auch mit dem kostbaren Bündel im Arm flinker und sicherer die Stufen herunter als sie. Manchmal wünschte sie sich, auch als Frau Hosen tragen zu dürfen. Das hätte so manches einfacher gemacht.
Sie sahen einander in die Augen und suchten nach den passenden Abschiedsworten, als die Stimme ihres Vaters an Sophies Ohr drang. Ihr Puls beschleunigte sich, und sie dankte dem Himmel, dass er nicht früher gekommen war.
»Da sind sie ja. Hast du dich sattgesehen, Sophie? Dann werde ich das elende Ding jetzt abschließen, und wir können gemeinsam gehen. Danke für Ihre Hilfe, Behling. Sie können mir meinen Enkel nun geben und Feierabend machen.«
Karl überreichte ihm den Kleinen, ohne die Miene zu verziehen, und deutete eine Verneigung an. »Sehr wohl, Herr Brinkhoff. Schönen Abend noch. Frau Drave. Ihnen ebenfalls.«
Dann ging er und sah sich nicht noch einmal um.
Der stolze Großvater reichte das Enkelkind an Sophie weiter, um den Wagen abzuschließen. »Mir war nicht wohl dabei, dass du allein hier herumläufst. Ich bleibe dabei: Weder eine Dame noch ein kleines Kind haben in einer Fabrik etwas verloren.«
Sophie zwang sich, Karl nicht nachzublicken. Stattdessen küsste sie ihren süßen Sohn sacht auf die Stirn, bevor sie antwortete.
»Gerade vorgestern war der Bankier Meyer bei uns zu Gast. Er ist mit seinem Kompagnon dabei, Kapital für die Gründung einer ›Hannoverschen Baumwollspinnerei und -weberei‹ aufzubringen. Herr Meyer machte keinen Hehl daraus, dass er vorhat, fast nur Frauen und Kinder einzustellen, weil das viel billiger ist. Er ist also keineswegs der Ansicht, dass sie in seiner Fabrik nichts verloren haben.«
»Das ist etwas völlig anderes. Du willst dich doch nicht mit den Weibern vergleichen, von denen er spricht. Kind, ich bin dir zwar dankbar, dass du uns damals so schön mit den Übersetzungen geholfen hast und so weiter, aber inzwischen wünschte ich, dass ich dich nicht darum gebeten hätte. Das hat dir doch eine Menge Flausen in den Kopf gesetzt.«
»Bitte, sag das nicht. Die Arbeit hier hat mir so viel Freude gemacht! Ich wäre sehr glücklich, wenn ich dir irgendwann einmal wieder helfen dürfte. Ich bedaure auch, dass ich nicht mitverfolgen konnte, wie ihr den Salonwagen gebaut habt. Er ist herrlich geworden, und du hast jeden Grund, stolz darauf zu sein. Auch wenn der Empfänger die Mühe offenbar nicht zu schätzen weiß.«
Er winkte ab. »Lass uns nicht davon sprechen. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie mich die Sache wurmt. Aber ich will mir davon nicht den Abend verderben lassen. Es war eine schöne Überraschung, dass du hergekommen bist. Lass uns ganz gemütlich mit deinem grandiosen Kinderwägelchen zurückspazieren. Ich bringe dich bis nach Hause.«
Seine Freude war so echt, dass sie einen kleinen Gewissensbiss verspürte, weil nicht er der eigentliche Grund für ihren Besuch in der Fabrik gewesen war.
Als sie ins Freie traten, fiel ihr zudem auf, wie ungewöhnlich erschöpft ihr sonst nimmermüder Vater wirkte. Obwohl ihr Verstand wusste, dass er alterte wie alle anderen Menschen auch, sah sie zum ersten Mal klar, dass er nicht vor dem natürlichen Nachlassen seiner Kräfte und schließlich dem Tod gefeit war. Diese Erkenntnis traf sie tiefer, als sie hätte begründen können, und überflutete sie mit einer Welle von Zuneigung zu ihm. Es mochte an ihrem schlechten Gewissen liegen, oder daran, dass sie durch die Begegnung mit Karl aufgewühlt war, oder auch daran, dass sie schon seit Beginn der Schwangerschaft auf vieles empfindlicher reagierte als früher – jedenfalls kamen ihr erneut die Tränen. Sie konnte sie gerade noch verbergen, indem sie das Gesicht abwandte und sich fest bei ihm unterhakte, während er es übernahm, mit der freien Hand den Kinderwagen zu schieben.
Mit aller Kraft zwang sie sich, die trüben Gefühle beiseitezudrängen, ihm die Tochter zu sein, die er sich wünschte, und ein möglichst heiteres Gespräch anzuspinnen, das ihn von seinen Sorgen um das Unternehmen ablenkte.
Immerhin hatte das die wohltuende Nebenwirkung, dass sie noch für eine Weile nicht daran dachte, wie sehr sie der Gedanke an den Rest des Abends bedrückte, den sie in Gesellschaft ihres Ehemannes würde verbringen müssen.
4. August 1852
Die Macht, die Sophie am Mittwochabend zu Karl in den Park zog, war, wie schon so oft zuvor, stärker als ihre Vernunft und ihr Gewissen. Sobald sie ihrem Sohn seine abendliche Mahlzeit verabreicht hatte, verabschiedete sie sich so gelassen wie möglich von ihm und Fräulein Becker, dem Kindermädchen. Dabei musste sie sich zwingen, sich nicht ausführlich zu rechtfertigen und eine größere Lüge zu erzählen als nötig.
»Ich gehe noch aus. Vielleicht besuche ich kurz meine Schwester. Länger als zwei Stunden werde ich wohl nicht fortbleiben. Sie wissen ja, was zu tun ist, falls Alexander aufwacht.«
Außer Sichtweite des Hauses bedeckte sie in einem blickgeschützten Winkel Kopf und Schultern mit einem unauffälligen Schaltuch, das sie sonst nie trug, und wanderte dann auf Umwegen zum Park und zu dem Wäldchen, in dem sie und Karl sich zum ersten Mal geliebt hatten. Immer wieder blickte sie sich unterwegs verstohlen um, um sicherzugehen, dass sie nicht beobachtet wurde.
Karl war da, stand im Schatten gegen einen Baum gelehnt, die Hände in den Hosentaschen. Ihre Freude darüber löschte jedes ungute Gefühl aus. Wortlos fielen sie sich in die Arme und hielten einander eine ganze Weile nur fest, bevor ihnen wieder einfiel, dass es ja noch viel mehr wundervolle Berührungen gab, nach denen sie sich sehnten.
Da die Gartenlaube, in der sie früher untergeschlüpft waren, seit der Rückkehr der Eigentümer nicht mehr als Versteck für sie infrage kam, wussten sie nicht, wohin sie gehen konnten. Deshalb verweilten sie eine ganze Stunde lang unter den Bäumen, küssten sich, flüsterten sich zu, wie sehr sie einander vermisst hatten, berührten einander gierig, bis die Lust kaum noch auszuhalten war, ließen wieder voneinander ab, berieten sich, suchten nach einem Weg für ihre Zukunft, begannen von vorne.
Als Sophie sich schließlich wieder ins Haus schlich, versuchte sie, nicht wahrgenommen zu werden, gleichzeitig aber nicht so zu wirken, als ob das ihr Ziel war. Vorsorglich hatte sie den Hausschlüssel mitgenommen, sodass sie sich selbst die Tür öffnen konnte.
Ernst war wie erwartet noch nicht zurück. Sein Stock, die Schuhe und der Mantel, mit denen er aufgebrochen war, fehlten in der Garderobe beim Eingang.
Sie hatte das Gefühl, am ganzen Leib zu glühen. Von Karl träumend entkleidete sie sich für die Nacht. Erst als sie mit der Haarbürste in der Hand im Schein der Petroleumlampe in den Spiegel sah und bemerkte, was für ein Bild sie abgab, mit ihrem fiebrigen Blick, den vom Küssen geschwollenen Lippen und den roten Wangen, erschrak sie und kam zu sich. Hastig untersuchte sie ihre abgelegte Kleidung auf Spuren ihres Ausflugs, rieb das Grün der Baumrinde aus der Seide, zupfte Kletten aus dem Saum und Laub aus dem Rock. War sie bei ihren früheren Treffen auch so unvorsichtig gewesen? Dann war es ein Wunder, dass sie nicht längst Verdacht erregt hatte. Oder musste sie befürchten, dass das Personal schon über sie tuschelte?
Mit klopfendem Herzen lauschte sie auf Geräusche im Haus. Von Alex und dem Kindermädchen im Zimmer nebenan hörte sie keinen Laut, sie schliefen beide. Aus der Küche hatte sie beim Hereinkommen noch die üblichen Geräusche des abendlichen Aufräumens gehört. Doch weder Köchin noch Dienstmädchen waren herausgekommen und hätten sie bemerken können. Der Hausdiener hatte sich vermutlich auch schon hingelegt. Er würde möglicherweise in den frühen Morgenstunden für Ernst zur Hand sein müssen, wenn der von seinen eigenen ausschweifenden nächtlichen Abenteuern zurückkehrte. Ihm würde das im Gegensatz zu ihr niemand zum Vorwurf machen.
Nein, dieses Mal war es gut gegangen. Aber beim nächsten Mal musste sie vorsichtiger sein. Sie fuhr damit fort, ihre Haare zu bürsten, und berührte mit der freien Hand ihre Lippen, bereits wieder in ihrem Tagtraum von der nächsten Begegnung mit Karl versunken.
2. Kapitel
15. August 1852
Um Sophies zweiundzwanzigsten Geburtstag herum, etwa eine Woche nach ihrer Besichtigung des Salonwagens, stand fest, dass der König ihn in der gegenwärtigen Form nicht annehmen würde. Der Grund dafür war, dass ihm ein anderer Entwurf vorgelegt worden war, von dem alle in seiner näheren Umgebung entzückt waren – allen voran seine Gemahlin. Er war durchaus geneigt, diesen hochgelobten Entwurf von der Brinkhoff’schen Maschinenfabrik umsetzen zu lassen, doch die Zeichnungen unterschieden sich zu stark von dem bereits vorhandenen Wagen, als dass bloße Anpassungen genügt hätten.
Sophie war erleichtert, dass ihr Vater auch diese Enttäuschung letztlich in neuen Vorwärtsdrang umwandelte. Aus dem fertigen Wagen wurden die beweglichen wiederverwendbaren Teile und Einrichtungsgegenstände entfernt, bevor er vorerst in einem Schuppen eingelagert wurde. Gleich darauf begann der Bau des neuen Prunkstücks, dieses Mal in der Gewissheit, dass Seine Majestät ihn abnehmen würde und auch beabsichtigte, ihn zu benutzen und nicht nur in einer Remise einstauben zu lassen.
»Wie viel hat dich die Sache denn nun gekostet?«, wagte Sophie ihren Vater bei einem Sonntagsessen eine Woche nach ihrem Geburtstag zu fragen.
»Ach, die Kosten!«, sagte er. »Die Größe eines Rückschlags lässt sich nicht immer in Zahlen ausdrücken. Und glaube mir und meiner Erfahrung, mein Phinchen: Dieser Rückschlag war nur ein sehr kleiner. Der erste stolpernde Schritt auf einem langen Weg, auf dem wir weit kommen werden. Das ist alles erst der Anfang! Die Saline hat uns dieses Jahr wieder fette Überschüsse gebracht. Ich muss jetzt nur zusehen, dass mir die Niemeiers mit ihrer neuen Saline nicht ernsthaft zur Konkurrenz werden. Die Lüneburger hingegen habe ich schon recht gut in die Schranken verwiesen.«
Das Letzte sagte er schon nicht mehr zu ihr, sondern zu Ernst und Alfred, die mit am Tisch saßen und verständnisinnig nickten.
Sophie fragte sich, ob sie die Einzige war, der auffiel, dass Alfred Lonards frühere Begeisterung für das Brinkhoff’sche Unternehmen stark nachgelassen hatte. Ernst hingegen horchte stets auf, wenn es um Gewinne ging und um das ausgeklügelte System von Verknüpfungen und Querfinanzierungen zwischen den verschiedenen Betrieben ihres Vaters. Ihr gegenüber betonte er allerdings immer wieder, dass er dieses System für zu kompliziert und kaum durchschaubar hielt. Tiefergehendes Interesse brachte er nur für das Eisenwerk und die Maschinenfabrik auf, und auch dort vorwiegend für die Aspekte des Eisenbahnbaus, die ihn als Angehörigen der Königlich-Hannöverschen Eisenbahnkommission direkt betrafen.
Kurz nach dem Gespräch erhob sich die ganze Familie vom Tisch, wo sie ein leichtes Mittagsmahl eingenommen hatte. Sie stiegen in die schon bereitstehenden Kutschen, um zu den Stallungen nahe der Eilenriede zu fahren, wo Dorette, deren Reitbegeisterung nach wie vor all ihre anderen Interessen in den Schatten stellte, ihre Pferde hielt. Ihr Ehemann hatte ihr kürzlich eine als überaus edel geltende Zuchtstute geschenkt, die sie ihnen vorführen wollte. Sophie hielt es für möglich, dass die wiederbelebte Wärme ihrer Schwester Alfred gegenüber vor allem mit diesem Geschenk zu tun hatte.
Die Lonards fuhren in ihrem eigenen Wagen voraus, und während Dorette eigenhändig die Zügel führte, halfen Sophies nächstjüngere Schwester Minna und ihre Mutter hinten im Wagen Alfred dabei, auf seine und Dorettes nun fast dreijährige Tochter Agnes achtzugeben, die lieber herumklettern wollte, als auf ihrem Sitz zu bleiben.
Der Wagen ihrer Eltern folgte, gelenkt von ihrem Kutscher Heinrich und besetzt mit Sophies Vater, ihren jüngsten Schwestern Luise und Johanna sowie Großmama. Als Letzte in der Reihe fuhr die Berline der Draves. Ernst hatte sich an diesem Tag ebenfalls entschieden, den Kutschbock selbst zu übernehmen. Er hielt nicht viel von Pferden, genoss es aber, sich gelegentlich als schneidiger Fahrer zu präsentieren.
Sophie saß mit Alexander und dem Kindermädchen, auf dessen Begleitung Ernst bestanden hatte, hinter ihm und zwang sich zu lächeln, als wäre sie stolz und glücklich darüber, von ihrem gutaussehenden Gemahl durch Hannover und die von zahlreichen Reitern, vornehmen Kutschen und Spaziergängern belebte Eilenriede kutschiert zu werden.
In Wahrheit war sie müde, weil sie die halbe Nacht wach gelegen und darüber nachgedacht hatte, wie es mit Karl und ihr weitergehen konnte, ohne dass ihnen ihr ganzes Leben »um die Ohren flog«, wie Karl es ausgedrückt hatte. Sie musste einen guten Grund finden, der es ihr erlaubte, abends allein das Haus zu verlassen, und einen möglichst sicheren Ort, wo sie sich treffen konnten.
Bevor der Wagen auf die Ihmebrücke einbog, sah sie zu ihrer Rechten in der Ferne einen frisch eingeebneten Platz, wo neue Arbeiterhäuser gebaut werden sollten. Noch immer strömten Menschen vom Land nach Linden, um hier Arbeit zu finden, und die zahlreichen Unternehmensgründungen der letzten Jahre machten es möglich. Die Not allerdings schien mit dem Ort zu wachsen. Obwohl neue Häuser gebaut wurden, lebten die Arbeiter weiterhin beengt, und bei allem wirtschaftlichen Fortschritt hinkte das insgesamt noch immer dörfliche Linden der Stadt Hannover in vielerlei Hinsicht hinterher. Ein taugliches Kanalsystem für die Abwässer gab es nicht, auch keine moderne Beleuchtung der Straßen, von denen nur die größten zum Teil gepflastert waren. Immer wieder breiteten sich bösartige Krankheiten wie die Cholera aus, und stets drohte den Arbeitern bei der geringsten Verknappung und Teuerung die Hungersnot. Viel zu viele Kinder starben infolge von Mangel oder Verwahrlosung.
Beschämt stellte Sophie fest, dass sie seit ihrer Heirat ihr Wissen um die herrschende Ungerechtigkeit zum größten Teil verdrängt hatte. Ihr neues Leben mit seinen Herausforderungen und gefährlichen Heimlichkeiten hatte sie völlig vereinnahmt, sodass sie sich kaum noch Zeit genommen hatte, irgendetwas zu hinterfragen. Dabei hatte sie doch über die Lebensverhältnisse der unteren Schichten schon weit mehr erfahren als so manche andere junge Dame ihrer Klasse. Und es war noch nicht allzu lange her, da hatte sie tatkräftig dabei helfen wollen, die Lage für die Arbeiter zu verbessern. Wo war ihr Enthusiasmus geblieben?
Zuerst war er hinter der Arbeit in der Fabrik und der Aufregung um ihre Hochzeit und ihren eigenen Haushalt zurückgetreten, dann hinter den Anfängen der Affäre mit Karl und schließlich hinter der Schwangerschaft. Aber nun?
In der Fabrik wollte ihr Vater sie nicht haben. Wollte sie ihren ganzen Lebensinhalt weiterhin darin sehen, sich nur um ihr Kind zu kümmern und das Lügengebilde ihrer Ehe aufrechtzuerhalten, während sie heimlich einem anderen Mann nachschmachtete? Konnte sie inmitten all ihrer eigennützigen Wünsche und Ränke nicht noch etwas Besseres schaffen? Und war das Engagement für die Ärmeren und Schwächeren nicht ein ausgezeichneter Grund, um das Haus zu verlassen?
Bei ihrer Ankunft am Reitstall wurde Dorette wie so oft zum Mittelpunkt eines ganzen Hofstaats von Bewunderern. Es war offensichtlich, wie sehr man sie hier verehrte. Stallknechte und Sattelknechte flogen zu ihrer Unterstützung herbei, andere Anwesende – fast ausnahmslos Zylinder tragende Pferdebesitzer und -besitzerinnen – grüßten wenigstens aus der Ferne vom Rücken ihrer Rösser, wenn sie ihre Tiere nicht sogar näher heranlenkten, um ein paar Sätze in der ureigenen Sprache der Pferdeliebhaber mit ihr zu wechseln und nebenbei höflich ihrer Familie zuzunicken, die von den Geheimnissen der Pferdewelt bemitleidenswert wenig verstand.
Sophie hatte Dorette schon oft genug zu den Ställen begleitet, um diese besondere Atmosphäre zu kennen. Deshalb versuchte sie gar nicht erst mitzureden, obwohl auch sie immerhin die Grundlagen des Reitens im Damensitz gelernt hatte. Sie überließ das Gespräch dem Rest der Familie und begnügte sich damit, die Szenerie zu beobachten und herumzuwandern, um sich einzelne Pferde durch die offenen Fensterklappen ihrer Stalltüren hindurch genauer zu betrachten.
Es überraschte sie, als sich ihr ein Herr in militärischem Reitdress näherte und sich verbeugte.
»Frau Drave, wenn ich mich nicht täusche? Ich hatte schon einmal die Ehre. William von Harder, wenn Sie gestatten.«
Sie wandte sich ihm zu und erkannte nun den Mann, der sie auf Dorettes erstem eigenen Ball unbeabsichtigt darauf aufmerksam gemacht hatte, dass ihr Gatte lasterhafte Gewohnheiten und Affären hatte, die er vor ihr geheim hielt.
»Gewiss. Guten Tag, Herr von Harder. Ich wusste nicht, dass Sie auch hier sein würden. Ist das ein Zufall?«
Ein Grinsen huschte über seine Miene, bevor ihm offenbar einfiel, dass Belustigung unpassend sein könnte, und er wieder ernst dreinblickte.
»Zufall kann man das wohl nicht nennen. Ich habe oft hier zu tun. Meine Dienste als Reitlehrer und Ausbilder von jungen Pferden sind gefragt. Auch Ihre Schwester zieht mich gelegentlich zurate. Ich gestehe allerdings, dass es kaum noch etwas gibt, worin ich ihr voraus bin. Sie hat einen ausgezeichneten Pferdeverstand, eine sichere Hand, einen hervorragenden Sitz und genug Mut, um auch vor schwierigen Fällen nicht zurückzuscheuen. Es ist ein Jammer, dass sie bald wieder kürzertreten muss. Man wird sie hier vermissen.«
Verwirrt zog Sophie die Brauen zusammen. »Hat sie gesagt, dass sie das vorhat?«
»Nun, auch als sie das letzte Mal guter Hoffnung war, hat sie es ja so gehalten, nicht wahr? Und mit gutem Grund, ich unterstütze das völlig und habe bereits angeboten, ihre Pferde solange in bester Form zu halten.«
Sie tat ihr Bestes, um ihre Überraschung zu verbergen. Warum wusste dieser Mensch, dass ihre Schwester guter Hoffnung war, während sie selbst es noch nicht wusste? Hatte Dorette es allen anderen schon gesagt, und sie war die Letzte, die es erfuhr? Oder steckte etwas anderes dahinter?
»Eine Geste, die meiner Schwester gewiss sehr willkommen ist. Gerade jetzt, mit der neuen Stute.«
»Ein Prachttier. Haben Sie sie schon gesehen? Großartig, dass Do… dass Frau Lonard sich für sie entschieden hat. Ich hatte ihr dazu geraten. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen? Ich möchte Ihren Gatten und Ihre Familie noch kurz begrüßen, bevor ich mich wieder ans Werk mache. Habe mir heute einen wilden Dreijährigen vorgenommen, der sich schon beim Satteln wehrt.«
Huldvoll nickte Sophie. »Selbstverständlich. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg.«
Erleichtert darüber, sich nicht verraten zu haben, beobachtete sie unauffällig, wie er zu Ernst hinüberging und unverbindlich ihn und den Rest der Familie begrüßte. Dorette hatte sich soeben von den anderen getrennt und verschwand im Stallgebäude, ohne von Harder zu beachten, und er bemühte sich nicht, sie auf sich aufmerksam zu machen. Sehr wohl folgte er ihr aber kurz darauf durch dieselbe Tür, obwohl die Stallungen weitläufig waren und zahlreiche Zugänge hatten.
Sophie hatte nicht vergessen, wie sie die beiden damals auf dem Ball zusammen gesehen hatte: einander zu nah, zu erhitzt, zu angespannt. Und es gelang ihr nicht, den Verdacht, der mit dieser Beobachtung einhergegangen war, noch einmal beiseitezuwischen. Und wenn Dorette tatsächlich Alfred mit William von Harder betrog, was hatte es dann zu bedeuten, dass der möglicherweise der Erste war, der von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte? Sie wurde den Gedanken nicht mehr los.
Dorette dabei zuzusehen, wie sie ihnen auf dem zur Bekämpfung von Staubwolken regelmäßig mit Wasser besprühten sandigen Reitplatz ihre neue Fuchsstute vorführte, so wunderschön im Sattel wie auch im Ballsaal, war auf einmal ein ganz anderes Gefühl. War ihre stets so überlegene Schwester verwundbarer, als sie wirkte? Sie musste unbedingt mit ihr unter vier Augen sprechen.
17. August 1852
Die Gelegenheit, mit Dorette zu sprechen, ergab sich für Sophie erst zwei Tage nach ihrem Besuch bei den Stallungen. Gemeinsam mit ihrer Mutter besuchten sie die Aufführung des von ihren jüngeren Schwestern mit vorbereiteten Theaterstücks an der Schule für höhere Töchter, wo Luise und Johanna derzeit ihren Unterricht erhielten. Die inzwischen sechzehnjährige Minna war zwar schon seit dem Vorjahr dort keine Schülerin mehr, hatte aber bei der Anfertigung des Bühnenbilds und der Kostüme geholfen.
Während Johanna nur als Mitglied des Hintergrundchors mitwirkte und es schaffte, sogar beim Singen noch so verträumt auszusehen, dass man befürchten musste, sie würde ihren nächsten Einsatz verpassen, spielte Luise eine kleine Nebenrolle, in der sie in einer Szene zwei Sätze sprechen durfte. Zu Dorettes und Sophies Belustigung absolvierte Luise diesen winzigen Auftritt mit einem Pathos, als wäre ihre obstverkaufende Marktfrau die tragende Rolle des Stücks. Ihrer Mutter war das sichtlich peinlich, sie betupfte ihr Gesicht nach Luises Abgang verlegen mit einem Tüchlein.
Nach der Vorstellung brachten sie zuerst ihre Mutter mit Luise und Johanna im Drave’schen Wagen nach Linden. Anschließend fuhr Sophie mit Dorette zum Haus der Lonards an der Eilenriede, um auch sie nach Hause zu bringen. Kaum hatten sie das Abschiedswinken vor dem Haus ihrer Eltern beendet, platzte Sophie mit ihrer Frage heraus.
»Ich will dich das schon seit Sonntag fragen, Dorette: Ist es wahr, dass du wieder guter Hoffnung bist?«
Ihre selbstsichere Schwester zuckte zwar nicht buchstäblich zusammen, aber sie versteifte sich sichtlich. »Wie kommst du darauf?«
Ein wenig genoss Sophie es, Dorette aus der Fassung gebracht zu haben. Das wollte sie gern noch eine Weile auskosten.
»Herr von Harder hatte die Freundlichkeit, mich in diesen Umstand einzuweihen. Wir haben uns am Sonntag nett unterhalten. Ich dachte zuerst, ich wäre die Einzige, der du die frohe Botschaft noch nicht verkündet hast. Aber soweit ich beobachten konnte, wissen auch die anderen noch nichts davon. Hast du denn wenigstens Alfred schon in Kenntnis gesetzt? Oder war es wichtiger, dass William von Harder Bescheid weiß?«
Sophie hätte nicht erklären können, warum ausgerechnet sie, die sie ein ähnliches Geheimnis hütete, glaubte, Dorette auf diese Weise attackieren zu dürfen. Warum verspürte sie den unwiderstehlichen Drang, ihre Schwester in die Enge zu treiben? Konnte sie doch selbst nur hoffen, dass Dorette mit ihr umgekehrt niemals das Gleiche tat!
Ihre Schwester richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und starrte sie empört an. »Was bist du nur für ein Biest! In der Tat: Ich bin guter Hoffnung, und Alfred weiß noch nichts, denn er ist empfindlich in diesen Dingen, und es hätte ihm Kummer bereitet, wenn meine Ahnung sich als falsch herausgestellt hätte. Zumal ich noch nicht bereit war, das Reiten wieder aufzugeben. Wenn ich es ihm gesagt hätte, und es wäre dann doch nichts gewesen, hätte er ganz sicher geglaubt, dass ich bloß zu unvorsichtig war. Obwohl das so unsinnig ist, wie es nur sein kann. Und selbstverständlich konnte ich daher auch euch anderen noch nichts erzählen, denn irgendeiner hätte sich Alfred gegenüber ganz sicher verplappert. Herrn von Harder habe ich ins Vertrauen gezogen, weil ich für meine Pferde nun einmal langfristig Vorsorge treffen muss und er mir dabei hilft. Offenbar hätte ich ihm stärker einschärfen sollen, dass er meine Situation nicht preisgeben darf, bis ich es selbst getan habe. Das ist die ganze Erklärung. Und wenn du es wagen solltest, irgendjemandem sonst deine fantasierten Unterstellungen auch nur entfernt anzudeuten, dann werde ich dich nicht mehr als Angehörige meiner Familie betrachten. Und möglicherweise fiele mir auch darüber hinaus noch das eine oder andere Detail ein, das leicht zum Keim für interessante Gerüchte über dich werden könnte.«
Wenn Dorette es bei der Erklärung belassen und nicht eine so gemeine Drohung angehängt hätte, dann wäre Sophie ihr auf den Leim gegangen und hätte sich möglicherweise sogar für ihre falsche Annahme geschämt. Nun jedoch überlief sie ein Schauder, weil sie erkannte, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. Gleichzeitig begriff sie, dass sie diesen Streit unbewusst wohl gerade deshalb vom Zaun gebrochen hatte, weil sie erfahren wollte, ob Dorette etwas über ihre eigenen Verfehlungen wusste. Ahnte ihre Schwester etwas? Hatte sie etwas beobachtet oder von anderen gehört? Ihr wurde bewusst, wie schlecht sie die Ungewissheit ertrug, ob sie sich bereits verdächtig gemacht hatte. Schließlich konnte sie niemanden direkt danach fragen. Betont gelassen lehnte sie sich zurück.
»Was für Details sollten das bitte sein?«
»Aus deiner seltsamen Vorliebe für die unteren Schichten unserer Gesellschaft ließe sich so einiges machen. Es gibt genug Zeugen, denen deine auffallend enge Bekanntschaft mit dem einen oder anderen Arbeiter aufgefallen sein dürfte. Wenn man erst einmal beginnt, darüber zu sprechen, werden sie reichlich Bestätigung für einen Verdacht finden.«
Das klang vage, dennoch spürte Sophie eine leichte Übelkeit aufkommen. »So weit würdest du gehen?«, fragte sie.
Noch nie hatte sie ihre Schwester so aufgebracht erlebt. Sie durchschaute, dass Dorettes Wut nicht nur ihr galt, sondern ihrer gesamten Lage und gewiss auch dem schwatzhaften von Harder.
»Ich würde es tun, wenn du deinen Mund nicht hältst. Misch dich einfach nicht in meine Angelegenheiten ein, dann mische ich mich auch nicht in deine ein.«
Auf einmal kam Sophie sich schäbig vor. Falls Dorette wirklich Alfred mit von Harder betrogen hatte und nun mit den Folgen kämpfte, war ihre Lage verzweifelt genug. Selbstverständlich würde ihre Schwester auch ihr gegenüber zu jeder erfolgversprechenden Drohung Zuflucht nehmen. So traurig war es um ihr schwesterliches Verhältnis nun einmal bestellt, und das war nicht allein Dorettes Schuld.
»Ich hatte nicht im Sinn, mit jemandem außer dir darüber zu sprechen«, sagte sie und gab sich Mühe, einfach nur versöhnlich und beschwichtigend zu klingen. »Es tut mir leid, dass ich dich aufgezogen habe. Es war nur … Vielleicht war ich gekränkt, weil du von Harder ins Vertrauen ziehst, aber nicht mich.«
Dorette stieß ein kurzes, harsches Lachen aus. »Richtig. Wie konnte ich nur? Was für ein Frevel, die Familie nicht jederzeit über alles im Bilde zu halten, was ich tue und lasse, was ich denke und plane! Sei doch ehrlich: Wenn wir das stets tun würden, dann würden wir bald ersticken. Ich habe schon früher versucht, dir beizubringen, wie man zu etwas Freiheit gelangt, aber du hörst immer nur halb zu. Das Wichtigste ist und bleibt, dass man über manche Dinge nicht spricht. Niemals. Und dass man sich seinen Umgang sorgfältig auswählt.«
Verwirrt nahm Sophie zur Kenntnis, dass Dorette die Richtung ihres Gesprächs geändert hatte und sie ihr nicht ganz folgen konnte.
Sie räusperte sich. »Gut. Sprechen wir also nicht weiter von dieser ganzen Angelegenheit. Darf ich dich denn wenigstens beglückwünschen? Immerhin erwartest du ein Kind, und das bleibt doch eine gute Nachricht.«
Kopfschüttelnd lehnte Dorette sich nun ebenfalls zurück. »Lieber Himmel. Ich erinnere mich noch, wie ich dir von meiner ersten Schwangerschaft erzählt habe. Den Tag damals hast du mir auch schon verdorben. Dennoch: Danke, ja, du darfst mir gratulieren. Aber denk daran, dass es meine Sache ist, wann ich die anderen einweihe.«
»Alfred wird glücklich sein. Sicher wünscht er sich noch einen Sohn, oder nicht?«
Dorette nickte. »Das tun wir beide. Schon allein, um nicht hinter dir und Ernst zurückstehen zu müssen. Es ist ja kaum auszuhalten, wie Vater euren Sohn vergöttert. Höchste Zeit, dass ein weiterer männlicher Enkel ins Spiel kommt.«
3. Kapitel
September 1852 bis Dezember 1853
Leichter als erwartet gelang es Sophie, den alten Wohlfahrtsverein wiederzubeleben, den sie mit ihren Schwestern gegründet hatte. Sie hatte den Hebel bei ihrem Vater angesetzt, der ihr dank seiner Glückseligkeit über Alexanders Geburt kaum mehr etwas abschlug, solange es innerhalb seines Verständnisses von einem ihr angemessenen Leben lag. Nachdem er ihren Plänen zugestimmt hatte, ließ auch Ernst sich davon überzeugen, ihr Vorhaben großzügig zu unterstützen. Wie ihr Vater betrachtete er die Armenpflege als Sphäre, die für das Engagement von Damen ihrer Kreise grundsätzlich geeignet war.
Da auch Alfred und Dorette sich breitschlagen ließen, ihren Teil beizusteuern, gelang es Sophie, Mitte September in Linden nicht weit von der Fabrik ein kleines Haus zu kaufen, das sie zum Mittelpunkt der Hilfsmaßnahmen machen wollte, die sie sich im Laufe der Zeit überlegen würde. Dass sie sich im Obergeschoss ein eigenes kleines Refugium einrichten wollte, verriet sie vorerst niemandem, doch es war ein wichtiger Teil ihres Plans. Ein oder zwei Zimmer für sich allein zu haben, in die nicht täglich mehrere Male ein Dienstmädchen oder Kindermädchen oder Mitglieder ihrer Familie eindrangen – das stellte sie sich himmlisch vor. Und dabei ging es ihr durchaus nicht nur darum, einen Ort zu erschaffen, wo sie Karl treffen konnte.
Das zweigeschossige Ziegelhaus war einmal eine Bäckerei gewesen, bevor ein aufstrebender, aber kürzlich gescheiterter Kurzwarenhändler es halbherzig zum Ladengeschäft umgebaut hatte. Deshalb gab es im hinteren Teil des Erdgeschosses eine große, uralte Küche mit Tür zum Garten und im Garten drei alte, von Rosen überwucherte, gemauerte Backöfen aus verschiedenen Epochen.
Die zur Straße hin liegenden beiden Räume hingegen waren an jeweils zwei Wänden mit Regalen ausgestattet, die vom Boden bis zur Decke reichten. Eine beschädigte Schneiderbüste stand verwaist in der Ecke des rechten Raums, ein zurückgelassener Ladentisch mit schmiedeeisernem Gestell im linken. Er war so schwer, dass Sophie ihn keine Handbreit bewegen konnte. Ein paar schäbige, mit einem unansehnlichen Sammelsurium von Knöpfen und Litzen gefüllte Schachteln und Kästchen bevölkerten die Regale – offenbar so wertlos, dass sie bei der Geschäftsauflösung auch zum noch so günstigen Preis keinen Abnehmer gefunden hatten.
Im geräumigen Hinterzimmer gegenüber der Küche, das vom Vorratsraum der Bäckerei zur Werkstatt für die Kunstblumenmanufaktur des Kurzwarenhändlers geworden sein musste, gab es gemauerte Schränke und eine Kollektion von sechs verschiedenen altersschwachen Stühlen und Hockern. Hier und da lagen noch farbige Seiden- und Papierfetzchen herum, die es nicht mehr zum Blütenblatt geschafft hatten.
Das Obergeschoss war weitgehend leer. Nur die Teile eines zerlegten Bettgestells lehnten an einer der Wände. Sie waren so wurmstichig, dass Sophie sie am liebsten gleich verbrannt hätte. Ein Feuer im Ofen hätte dem Häuschen ohnehin gutgetan, denn es war klamm, und es roch überall etwas modrig.
Das Zimmer mit dem Bettgestell hatte ein Fenster mit Blick auf den Garten. Obwohl der Sommer schon fast zu Ende war, blühten die verwilderten Rosen noch und ließen Sophie an das Märchen von Dornröschen denken. Der romantische Anblick fesselte sie, und sie nahm sich vor, dass sie den Garten nicht so gründlich aufräumen lassen würde, dass er seinen zauberhaften Charakter verlor. Der Blick aus diesem Fenster war es, der ihre Entscheidung zum Kauf endgültig machte und dem Haus später seinen Namen gab: »Das Rosenhaus«.
Als Tochter des berühmten Georg Brinkhoff, dem ohnehin auf die eine oder andere Weise die Hälfte von Linden gehörte, bedurfte es nicht einmal der Anwesenheit ihres Ehemannes, damit sie den Handel abschließen konnte. Nur auf den schriftlichen Vertrag musste er später seine Unterschrift setzen, was er aus Zeitmangel tat, ohne das Gebäude mit eigenen Augen zu begutachten. Er verließ sich auf den Gutachter, auf den Sophie sich mit ihrem Vater geeinigt hatte.
Mitte Oktober konnte Sophie nach dem Abschluss einiger grundlegender Reparatur- und Erneuerungsarbeiten das Haus einrichten. Die vorderen Räume des Erdgeschosses stattete sie mit Tischen und Stühlen aus wie eine Gastwirtschaft, einen davon allerdings auch mit einer Schultafel und einem Regal für Bücher und Ernsts ausgelesene Magazine und Zeitungen. Den hinteren, ehemaligen Vorrats- und Manufakturraum machte sie zum Lagerraum für andere Materialien, von denen sie glaubte, dass sie nützlich sein konnten. Einen Grundstock von Lehrbüchern, Kochbüchern, Schreibzeug, Tafelkreide und einfachen Handarbeitswerkzeugen schaffte sie bereits an.
Die Backstube ließ sie zu einer funktionsfähigen großen Küche umbauen, in der interessierte Frauen den Umgang mit Gerätschaften erlernen und erproben konnten, die sie im eigenen Heim nicht zur Verfügung hatten.
Ihre eigenen Räume richtete sie sparsam ein. Sie achtete darauf, zwar alles von guter Qualität auszuwählen, vermied aber luxuriöse Gegenstände, die bei den Arbeiterinnen und Arbeitern den Eindruck hätten erwecken können, dass sie mit ihrem Reichtum protzen wollte. Auch wollte sie nicht unnötig Diebe in Versuchung führen.
Eines der zwei freien Zimmer im Obergeschoss sah sie als nur mit dem Notwendigsten ausgestattete Unterkunft für zwei bis drei Personen vor, über deren Verwendung sie sich noch nicht ganz im Klaren war. Im anderen Zimmer standen abschließbare Schränke und Truhen, in denen sie gespendete Gegenstände verwahrte, die sie bei passenden Gelegenheiten diskret an Bedürftige weitergeben wollte.