Die Brücke - Heinrich Oppermann - E-Book

Die Brücke E-Book

Heinrich Oppermann

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Beschreibung

Meine Geschichten sammelten sich über viele Jahre meines Lebens und werden nun ausgeschüttet, sie ergießen sich über alle Lebensbereiche meines privaten wie Berufslebens, mit Freunden und Kollegen in den unterschiedlichsten Lebenssituationen.

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Titelbild: K.T. Csontváry, die Brücke von Mostár, Ausschnitt, Csontváry Museum, Pécs

Meinen Freunden

Inhalt

Das wollte ich vorher sagen

Vom Newski bis Abai

Kaffee vom Newski

Entlang der Inja

Skiausflug

Eisangeln vor Taiwan

Geli Andrejewitsch

Krankenbesuch

Pelmeni

Fuchsfellschapka

Einkaufen in Novosibirsk

Tbilissi

Am Tag des Chemikers

Kirchgang in Alma Ata

Schafskopf

Begegnung mit Abai

Freundschaften

Im Ruhestand

Bärensteins Esel

Zigeunersiedlung

Das Innere

Moselfahrt

Eine Dreiecksgeschichte

Heinzens schwarze Löcher

Peter

Marias Leberknödel

Lederrausch in Marokko

Traumschaukel

Der Doktor

Der Dompteur

Vierzig Getreue

Nachsitzung

Abschied

Dreigeteilter Dimido

Stimulation

Promotionsordnung

Simons Haus

Vom Kuchensingen zum Kosmos

Kuchensingen

Bjong Gol

Hjong Bä

Bei Grün-Gelb

Wieder zum ABV

Die Notbremse

Zwischen Vitte und Kloster

Wannenbad in Bad-Elster

Durst in Bad Elster

Saunaperle

Knispel Opa

Am Tag der Ernennung

Verwechslungen

Die Frauenkirche im Riesling

Urknall

Der alte Naumann

Mittagsruhe am Kleinen Horn

Am Vogelhaus

Das Manometer

Fritz–Max

Die Tafel im Kosmosrummel

Paul Dufner

Der Fahrer

Wehret den Anfängen

Wehret den Anfängen

Ausläufer des Prager Frühlings

Zu Gott

Maibier

Die Brücke

Verhinderte Indienreise

Der diktierte Brief

Westreise

ZV- Einsatz

Deutschlandlied bulgarisch

Die Stasiakte

Erinnerung mit fadem Beigeschmack

Wendepunkt

Deutsche Farben

Unser Erbe

Niklas’ Bomben

Niklas’ NSA - Verdacht

Das wollte ich vorher sagen

Meine Geschichten sammelten sich über viele Jahre meines Lebens und werden nun ausgeschüttet, sie ergießen sich über alle Lebensbereiche meines privaten wie Berufslebens, mit Freunden und Kollegen in den unterschiedlichsten Lebenssituationen.

Die Geschichten meiner jüngeren Jahre, der Jugend und meiner Geburtsheimat Ungarn habe ich bereits in "Die Enkel der Donauschwaben" ausgebreitet und offenbart. Viele Erlebnisse mit Freunden und ausländischen Kollegen sollen hier berichtet werden, die nicht immer der offiziellen Zensur der Zeit standgehalten hätten und in Schubkästen lagen und aufbewahrt blieben, bewahrte Geschichten, wahre Geschichten. Die menschlichen Beziehungen aber waren sehr freundschaftlich, kameradschaftlich, ja familiär, was offiziell aber nicht gewollt war, für das "westliche Ausland", worunter auch die Bundesrepublik, die nur "Westdeutschland" oder "der Westen" genannt wurde, verstanden wurde, geradezu verboten war. Besonders intensiv waren meine Beziehungen zu Kollegen und ihren Familien in Akademgorodok bei Novosibirsk, die aus den wissenschaftlichen Kontakten und der Zusammenarbeit zwischen den Instituten der Akademien erwuchsen.

Die wissenschaftlichen Probleme und Fragestellungen sind aus den Geschichten weitestgehend ausgeblendet, manchmal nur angedeutet, auch um die menschlichen Kontakte, unser Leben leichter zugänglich zu machen. Meine Mitarbeiter waren in die Zusammenarbeit mit einbezogen und wussten um meine wissenschaftlichen wie menschlichen Kontakte und meine politische Haltung. Probleme erwuchsen uns daraus nicht, die Truppe war echt dicht. Umso verwunderter waren die Mitarbeiter und unmittelbaren Kollegen darüber, dass ein Kosmosexperiment in aller Stille und in ihrer Mitte vorbereitet wurde, ohne dass auch nur ein Fünkchen breit sprühte. "Die Tafel im Kosmosrummel" soll den Eingeweihten Dank sein und den Rummel ausführlich vorstellen, den die Obrigkeit mit uns im All und irdisch zu ihrem Glanz veranstaltete. Wenige Namen sind dabei geändert.

Die Namen aus dem Familien- und Freundeskreis sind authentisch, die Geschichten mit und von ihnen, meist überhöht, sprechen für unsere Verbundenheit. In den meisten Geschichten habe ich mit einem etwas leichteren Ton versucht Distanz zu den Zeiten und Ereignissen zu finden. Nur bei „Vierzig Getreue“ kommt auch Emotion durch und lässt ahnen, wie gehetzt, verhetzt und gnadenlos Menschen als Kollegen und Akteure der Wende in der Wende agierten und handelten, vor einem „neuen Gericht“ nicht bestehen könnten.

Der letzte Abschnitt widerspricht diesem Duktus etwas und ist mit vollem Bewusstsein und Lebensbejahung ans Ende gesetzt, um den Schluss mit:

"Wehret den Anfängen"

herauszuheben, quasi als Grundpfeiler „Die Brücke“ zu tragen, zu stützen und zu unterstreichen, was aus unserem Erleben am und um den 17.Juni 1953 und in den Folgezeiten erwuchs und auch heute noch gilt.

Meinen Freunden danke ich für ihre Einwilligung zum Abdruck ihrer "Geschichten" und meinen „Computer-Helfern“ für ihre Mühe und Hilfe bei der Endfertigung zur Drucklegung.

Heinrich Oppermann

Dresden, im Herbst 2014

Vom Newski bis Abai

Ostwelten

Kaffee vom Newski

Meine erste dienstliche Auslandsreise führte über Moskau nach Leningrad (Sankt Petersburg). Es war Anfang der sechziger Jahre und der Kaffee bei uns in der DDR rar. In der Sowjetunion war der Kaffe zu dieser Zeit nicht so gefragt, fast unbekannt und billig. Es lag daher nahe, neben Spielsachen für die Kinder, vom eingesparten Dienstreisegeld etwas Kaffe mit nach Hause zu bringen.

In dem großen Kolonialwarenladen der guten alten Zeit am Newski Prospekt, der in großer Aufmachung alle Arten Lebensmittel, Obst und Genussmittel anbot, stellte ich mich in die erste Reihe. Bei einer jungen und hübschen blonden Verkäuferin verlangte ich drei Kilo Kaffee. Sie schrieb, mich von unten anlächelnd, auf einen kleinen Zettel 4,50 Rubel und wies mich zur Kasse. Nach der kurzen Kassenschlange, das Gedränge am Newski war damals noch nicht so touristisch dicht wie heute, zahlte ich bei einer fülligen Dame und erhielt einen Bon. Damit schlängelte ich mich zu meiner blonden Sympathisantin zurück. Sie nahm den Bon lächelnd entgegen und faltete aus grau-braunem Packpapier einen großen Kegel, zog unter dem Ladentisch eine Kiste hervor, größenvergleichbar mit Großmutters großer Wäschetruhe, und schaufelte mit einer Holzmulde, aromatisch duftende, mulattenbraun glänzende Kaffeebohnen in den Papiersack. Beim Austarieren lächelte ihr linkes, leicht eingekniffenes Auge schelmisch und ihr herzgewölbter Mund murmelte ein Fragezeichen an mein Ohr. Damals glaubte ich, es waren meine geringen Sprachkenntnisse, heute weiß ich, dass ich von ihrem Feuerstrahl so gefesselt und gehemmt war, dass ich ihr, sprachlos überrumpelt, dennoch ein gutartikuliertes: „da, da“ über die Ladentafel schickte. Mit einem Ruck wanderten drei mal zigtausend wohlgeformte Kaffeebohnen in ein mühlenartiges Ungetüm und mit einem Knopfdruck zu Pulver zermalmt wieder in die blässliche Tüte. Mein Gesicht muss sich zu einer männlich starren Blässe moduliert haben, als meine Schöne mir das Paket mit einem spitzbübisch neckischen Mund überreichte, der

„Privet doma“ (Gruß zu Hause)

in meine rot anlaufenden Ohren hauchte. Ihre wärmestrahlenden Augen durchbohrten mich bis zur Tür und ließen mich hellrot glühend fliehen.

Aus meinem Hotelzimmer duftete der Kaffee über alle Etagen. Ich wickelte ihn in mehrere Prawdalagen, umhüllte die Geruchsquelle mit allen meinen Wäsche- und Kleidungsstücken, um den Duftsprudel zu dämmen. Bis zum Abflug blieb mein Koffer duftneutral, oder die Aufregung und der Flugplatzgrundduftpegel in Leningrad waren so groß, dass ich ihn nicht wahr nahm. In Berlin am Flugplatz duftete mein Kaffee aber schon weit vom Band. Die Sättigung der Prawda und meiner Kleidungsstücke im Koffer hatte offenbar stattgefunden und der Flug einige Duftlöcher und Duftkanäle aero-dynamisch freigeflogen, so dass der Zollvorraum wie eine von Elefanten zertrampelte und geröstete Kaffeeplantage gerochen haben muss. Als ich den Koffer zur Zollschlange trug, schob die brünette Zöllnerin ihre Stupsnasennüstern in die Kaffeeplantagenwolke und schnippste:

„Hier hat einer einen Zentner Kaffee mit.“

Und sie stellte ihren Geruchsdetektor auf Kurz-, Mittel- und Langwelle und horchte in die Schlange:

„Haben sie Kaffee?“

Und einer nach dem anderen zog an ihrem radarstrahlenden Blick mit den vibrierenden hochgeklappten Nüstern vorbei:

„Nein.“

Nun kam ich an die Reihe. Ein Blick in den Pass, der durchdringende Radar und die Frage. Und welche Ähnlichkeit hatte der Mund mit dem meiner Schönen am Newski und doch diese Augenstrahlen so völlig durchbohrend? Ihre Strahlen waren aber offensichtlich niederfrequenter, energieärmer, denn Ohren und Nacken behielten die normale Färbung. Mein autogenes Training war damals in Hochform, und mein Mund formte in gleichmäßigem Rhythmus:

„Nein.“

Dabei schaute ich ihr ruhig, aber tief in die Augen. Zwei kleine Brennflecke, mehr nach ultrarot, und ihr zum Lächeln hin verzogener Mund signalisierten mir, wir lagen auf gleicher Welle. Schon hinter der Tür, hörte ich ihre abknisternden Nüstern und wie meine Brünette, sich wieder in der Dienstgewalt, laut rief:

„Der Kaffee ist weg.“

Entlang der Inja

Früh um fünf holten Anatoli und Igor mich ab, sie kamen mit drei riesigen Rucksäcken, begutachteten meine Schuhe, die Hosen, das Wams und die Mütze, warfen mir eine Pelerine und einen Rucksack über und waren mit mir zufrieden. Am Eingang zum Park, in Richtung Bahnhof, trafen wir auf Viktor. Er saß ruhig neben dem vierten Rucksack und schlief. Es begann zu schneien.

Wir fuhren von Akademgorodok nach Novosibirsk hinein und bestiegen die Elektrische Schnellbahn, die entlang der Inja fast parallel zur Transsib nach Togutschin, in Richtung Taiga fährt. Wir wählten den ersten Zug, weil jeden Sonnabend ein unaufhaltsamer Menschenstrom hinaus in die Wälder und Gärten entlang der Bahn getragen wird, im Sommer und Winter, der aber erst richtig nach sieben Uhr einsetzt. Die Elektrische war auch nur mäßig gefüllt und leerte sich nach dreißig, vierzig Kilometern zusehends. Links und rechts der Bahn stiegen spärliche Rauchfontänen aus einigen Gärten. Auf den Waldwiesen lag ein dünner weißer Schneeteppich. Unsere Unterhaltung war stockend. Viktor und Igor schliefen. Anatoli erklärte mir die Gegend, die hinter den Gärten aus Birkenwäldern bestand und an einigen Stellen einen Durchblick auf den Fluss freigab. Wir stiegen bald aus und zogen entlang eines morastigen Weges in Richtung Fluss. Der schwarze Lehm ließ uns bis zu den Knöcheln einsinken, der Rucksack drückte. Die Entfernung bis zum Fluss könnte an dieser Stelle in Luftlinie 4 bis 5 km betragen haben. Der Weg zog sich im weiten Bogen um eine kleine, jedoch weitgestreute Siedlung. Viktor war der Spähtrupp und hatte bereits ein kleines Lagerfeuer entfacht, als wir am Ufer der Inja ankamen. Der Fluss war an dieser Stelle keinen Steinwurf breit, nabeltief und wälzte sich eilig hin zum Ob. In Stromrichtung, im milchigen Nebel, zog eine Frau, das Netz voller Fische an Land und eilte davon. Weiter hinten, am Rande des Waldes zwei Holzhütten in malerischen Farben. Die Sonne kam hervor und vernaschte die ersten Krumen Schnee des Herbstes. Wir packten aus. Den Rucksäcken von Viktor und Anatoli entquollen je ein Schlauchboot, aus Igors und meinem kamen die Zelte und die Marschverpflegung. Die Schlauchboote wurden gerüstet und zu Wasser gelassen. Viktor vollführte steile Manöver und kippte ins Wasser. Die Abfahrt verzögerte sich und wir frühstückten am Lande. Zur Erwärmung wurde Tee mit Wodka gereicht. Wir langten kräftig zu und leerten zwei Flaschen. Dieses steile Tempo war selbst Anatoli überraschend und er erkundete, wie viel Proviant wir mit hätten. Meine Flasche wurde als eiserne Reserve betrachtet. Dann paddelten wir los. Vornweg Viktor und Igor. Dann Anatoli mit mir. Die Rucksäcke boten herrliche Sitzmöglichkeiten. Die Strömung war schnell, wir hatten nur wenig zu paddeln, mehr zu steuern. Es begann eine herrliche Fahrt. Die Sonne schien und wärmte von außen.

Mal ein Sturmangriff der Boote mal im friedlichen Konvoi, sangen und lärmten wir den Fluss hinunter, der mit uns mal reißender, mal flacher dahinrollte. Keine menschliche Seele in Hör- und Sichtweite. Entlang des Flussbettes Weiden- und Birkengestrüpp in goldenen Herbstfarben. Nach zwei Stunden etwa erreichten wir eine Brücke. In der Nähe ein Angler, der Auskunft gab, dass über der Brücke im Dorf ein Magazin sei. Wodka gebe es auch, fügte er schmunzelnd hinzu. Wir legten an und zogen über die Brücke. Die Häuser reihten sich entlang der asphaltierten Straße bis an den Waldrand, als wären sie so errichtet worden, wie die Birken fielen. Inmitten der Reihen, in moderneren Formen aus Stein, das Dorfmagazin, mit Waren des täglichen Bedarfs. Wir holten ein jeder eine Flasche.

Dann trieben unsere Boote weiter flußab. Wir bräunten bei einigen Graden über Null in der Mittagssonne. In einer Flussbiegung, auf einer Art Halbinsel, machten wir Rast, zogen die Boote ein und stellten unsere Zelte auf. Igor entfachte das Biwakfeuer, ich sammelte Reisig. Anatoli zeigte mir, wie man hier ganze Birkenstämme aus dem Wald zieht und zum Lagerfeuer türmt. Viele umgebrochene Stämme türmten wir auf und schürten so das Lagerfeuer. Während Igor sich an der Feuerstelle zu schaffen macht, gehen Viktor und Anatoli angeln, es soll eine Fischsuppe bereitet werden. Aus den Rucksäcken kommen Kochtöpfe, Kartoffeln, Büchsen und allerlei Hausrat hervor, das alles von Anatoli vorsorglich verpackt worden war. Igor kocht in drei Geschirren. In einem Kartoffeln, dem zweiten Tee, im dritten einen Fleischsud. Er ist kein Koch, schon gar kein Feldkoch. Ich springe ihm bei und schon überlässt er mir das Terrain. Jetzt widmet er sich nur noch den Flammen und geht schließlich lange nach Holz. Nach dem Ordnen der Töpfe improvisiere ich einen Kesselgulasch in die Taiga, der die Bären schnuppern machte. Fische gingen nicht ein. Zum Abendmahl aber angeln Viktor und Anatoli noch einen Zwiebel-Tomatensalat, neben anderen leckeren Bissen aus den Büchsen und das Taigadinner beginnt. Ein köstliches Mahl. Vier Männer im Kreis auf Birkenstämmen, das Laub als Tafeltuch, der Tee aus befreiten Büchsen, Wodka aus Emailletöpfen. Die Toste sind hier draußen kürzer als in der Stadt, die Schlucke dafür länger. Langes Debattieren über die raue Natur, undurchdrungen vom Menschen, die sich selbst heilt und reinigt. Wie der Menschenstrom immer weiter hinaus sich schiebt, hin zur Taiga. Die Wilderer über Hand nehmen und eine Schonung der Wälder sei angebracht. Und ich frage, wann wohl die ersten Datschen in diese Einsamkeit und Ruhe hineinwachsen werden. Unser kultiviertes Biwak ist ja schon der Anfang.

Männer-Abend-Stimmung am Rande der Taiga. Lieder, getragen, gezogen, erst leise angestimmt, dringen immer lauter in die Nacht und vier Männer tanzen und stampfen im Bärenschritt um das Lagerfeuer, für Wild und Menschen weit hörbar. Bis die Nacht sich in der Weite verliert.

Skiausflug

Um 10 Uhr wollten wir starten. Geli Andrejewitsch besorgte noch ein Paar Schuhe, Größe 43. Die Ski waren von der Sportivnaja Basa entliehen worden und standen mir nun für die gesamte Zeit meines Aufenthaltes in Akademgorodok zur Verfügung. Geli kam halb elf. Natascha rief uns hinterher, dass zum Essen Tatjana und Serjoscha eingeladen seien, die zwischen 2 und 3 kämen.

Gleich hinter der Häuserzeile beginnt der Wald und wir wählten die Spur „Sportivnaja“. Geli Andrejewitsch legte ein scharfes Tempo vor. Es ging vorbei an den Gärten, mit den kleinen Lauben, die am Sonnabend alle Rauchfahnen ausstießen und belegt waren. Es war mein erster Skiausflug in diesem Jahr, Anfang Oktober, und meine Kondition sehr schwach. Je weiter wir von Akademgorodok wegkamen, umso schmaler wurde die Spur und mein Atem ging schwer. Schweißtropfen standen auf der Stirn. Geli versuchte mich zu ziehen und ließ nur so viel Abstand, dass ich ihn gerade um die nächste Biegung verschwinden sah. Nach 2 Stunden die erste Rast. Wir lehnten an dem Geländer einer Viehkoppel. Ein Bauer zog mit Pferdegespann ins Gehölz, in der Ferne tauchte ein Traktor auf. Ausflügler verirren sich von der Spur um die Stadt kaum hierher. Es begann zu schneien.

Geli Andrejewitsch drängte weiter. Nach einer halben Stunde durch dichten Birkenwald stieg die Spur über eine Anhöhe. Oben war die Spur verweht, ein Vorankommen im dichten Schneetreiben erschwert. Geli schlug vor, im nächsten Tal links in Richtung Stadt zurückzugleiten. Sein Tempo war gemäßigter, er zog in Hörweite ins Tal, aus der Talsohle stieg Rauch. Die kaum zu ahnende Spur führte zu einer kleinen Hütte, vor der vier Paar Ski lehnten. Die Stadt war weit, unser sportlicher Drang angenagt, wir klopften an. Ein starker Nebel drang durch die Tür. Innen lagen vier nackte Leiber auf Reisig und staunten uns an. Eine Banja. Nach kurzen Erklärungen luden die Männer uns ein, Platz zu nehmen. Beide sind wir Sauna gewöhnt und nahmen die Einladung an. Die Wärme stieg von den Steinen, das Reisig war von Schweiß getränkt. Die Männer reichten uns selbstgebrautes „Bier“ und schoben uns Brotkanten zu. Die Hütte barst vor Wärme und Männerlachen. Jan, Walja, Wjatscheslav und Sascha machten jedes Wochenende einen Ritt zu dieser Banja und waren kerngesund.

Nach Stunden traten wir den Rückzug an. Geli Andrejewitsch zog den Hang hinan, gab aber bereits nach einer halben Stunde die Führung ab. Es schneite immer noch. Der Wind war schwächer geworden, oder unsere Haut empfand ihn nicht mehr so eisig. In Hörweite stampfte Geli hinter mir her. Mein Befinden war jetzt ausgezeichnet, keine Atemnot, kein Schweißausbruch, keine Müdigkeit. In gleichmäßigem Takt schob ich Brett vor Brett und hinterließ mit den Stöcken, wie ein Bär, meine rhythmischen Tapsen. Hinter einer Wegbiegung wartete ich auf Geli. Wir schoben uns in Richtung Stadt. Geli zeigte erste Schwächen. Mein Vorsprung wurde immer größer, die Wartepausen länger. Den Hang im Goldenen Tal, kurz vor der Stadt, konnte er nur mit mehreren Pausen erklimmen. Sein Gesicht war gequält, sein Atem kurz, so zog und schleppte ich ihn bis vors Haus und war letztendlich selber völlig erschöpft und schweißgebadet.

Die Nacht war inzwischen hereingebrochen. Natascha empfing uns mehr staunend als freudig und schalt uns, ihre Kochkunst missachtet zu haben. Tatjana und Serjoscha seien bereits vor 2 Stunden traurig gegangen und sie glaube, dass wir ihnen den schönen Tag verdorben hätten. Uns war alles gleich. Wir fielen aus dem Korridor ins Bad und verschmähten auch später Nataschas Suppe und Plow und saßen völlig ermattet am Tisch. Die Hausfrau ging weinend hinaus, brachte Wodka und Bier und taute uns allmählich wieder auf. Ab dem dritten Glas musste ich angeben, wie viel wir noch trinken und versprechen, die nächste Tour selber zu bestimmen, ihr Andrjuschka kenne seine Grenzen nicht.

Spät in der Nacht geleiteten sie mich in mein Hotel und wir zogen weite Spuren durch den sibirischen Schnee.

Eisangeln vor Taiwan

Die Zeit der Eisangler war dieses Jahr zeitig gekommen. Schon zum Jahrestag unserer Republik, am 7. Oktober 1976, überzog sich das Obsker Meer mit einer dünnen Haut und erreichte am Tag der Oktoberrevolution, nur vier Wochen später, eine Stärke von vierzig bis fünfzig Zentimeter. Das Wachsen der Eisdecke konnte man täglich an der Badestelle verfolgen, wo die Decke in einem Umkreis von einigen Metern gebrochen und die Schollen im Halbkreis aufgetürmt wurden und die Badenden im brodelnden Dampf verschwanden. Am Wochenende strömten die Eisangler hinaus und bezogen ihre Position vor „Taiwan“. „Taiwan“ wird liebevoll die kleine Insel inmitten des Obsker Meeres südwestlich von Akademgorodok genannt. Im Sommer ein nahegelegenes Ausflugsziel über das Wasser, im Winter Windschutz der Eisangler.

Mit Jan und Mila zogen wir auf Ski hinaus, um Alexander in seiner Eishöhle zu besuchen. Den Steilhang hinab schlug uns ein eisiger Wind entgegen. Jan ermahnte mich, den Kragen hoch und die Mütze tief zu ziehen. Um den Wind nicht frontal anzugehen, zogen wir eine Schleife westlich und weit draußen südöstlich. Von der Stadt her zogen viele Trupps, wie Karawanen, über die weite Schneefläche. Am Horizont zogen acht Mann einen ganzen Palast über das Eis, von Kindern und Hunden umschwärmt. Die Siedlung der Eisangler zog sich entlang der Insel. Pyramidenförmige Eisjurten unterschiedlicher Größe erhoben sich aus dem Schnee. Die Angler saßen oder standen in dicke Mäntel, Mützen und Filzstiefel gehüllt, einzeln, zu zweien, selten zu dritt und starrten auf die kleinen runden dunklen Flecke im Eis. Die Burgen standen in Abständen von zwanzig bis fünfzig Metern voneinander, in Hör- und Sichtweite. Halbkreisförmig waren die Löcher von einer Wand aus Eis und Schnee umgeben. Die ausgehobenen Eisbrocken ergaben mit dem lockeren Schnee, mit Wasser angeteigt einen dichten windundurchlässigen Verbund, der in meisterhafter Weise zu kleinen Behausungen verarbeitet wurde. Diese Burgen standen bis ins zeitige Frühjahr, ein Tauen setzt zwischenzeitlich nur selten ein. Die mittleren Temperaturen liegen bei minus fünfzehn bis minus fünfundzwanzig Grad, Temperaturen bis minus vierzig Grad sind selten. Die Burgen sind alle in Richtung Festland offen und bieten Windschutz von der Insel und einen Ausblick auf den „Touristenstrom“ vom Land.

Auf halbem Wege zu den Eisanglern musste meine Nase bearbeitet werden, sie hatte einen leichten Gelbschimmer, der auf Frostschaden hinwies. Bei starkem Wind und grimmiger Kälte wird man auch in der Stadt nicht selten von Passanten darauf hingewiesen, die Nase nicht aus den Augen zu verlieren. Alexander erwartete uns, er sah, wie wir uns gegen den Wind heranarbeiteten. An zwei Stöcken mit Querbalken wurde in einer Kasserolle über Petroleumtabletten Wasser heiß gemacht und Tee zum Erwärmen, verdünnt mit Sibirskaja Wodka, gereicht. Wir liefen eine Runde durch die Anglersiedlung. Überall das gleiche Bild. Starkvermummte Männer, selten Frauen, umringt von einem Eiswall, vor einem kaum zwanzig Zentimeter rundem Loch verharrend. Beim Näherkommen wurden wir oft eingeladen, einen Schluck zu nehmen, uns zu erwärmen. Die großen Fänge standen bei allen noch aus. Sie angelten auf Stör, Sterlet oder Weißlachs und waren froh, wenn sich am Tag ein oder zwei „Jünglinge“ an ihren Angeln verirrten. Die großen Brocken hätten ohnehin nicht durch ihre engen Röhren hindurchgepasst und Unterstützung per Hand oder Kescher konnte nicht gegeben werden. Ihr Anglerlatein, das munter gegen den eisigen Wind stand, berichtete von Zeiten, wo sie täglich mehrere Pfund schwarz-blauen Kaviar dem Meer entnahmen und ihre Hütten aus gefrorenem Störfleisch bauten. Dieses Latein klang wie eine alte Sage, obgleich der Ob erst wenige Jahre gestaut und dieser Sport hier ein Kind der Erbauer des Wehrs und der Stadt ist.

Während unseres Eis-Stadtbummels hat Alexander eine würzige Fischsuppe über seinem Petroleum bereitet. Die Siedlung hat für den Besuch einige Reserven freigemacht. Schmunzelnd wird hinzugesetzt, dass nicht alle Tage solch 'hoher Besuch aus Deutschland' vor „Taiwan“ erschiene. Die Suppe ist ein Gericht zwischen der Halászlé der Ungarn und Pablo Nerudas chilenischer Seeaalsuppe, aus der die ganze Liebe und menschliche Weite der sie zubereitenden Fischer dem Verzehrenden in einem nuancierten, individuellen Arom entgegenströmt, über die eisige Burg Wärme und Behaglichkeit bereitet.

Voll getankt mit diesem Feuer des Obsker Meeres zogen wir unsere Schleifen zur Stadt zurück, unsere Umrisse in kristallener Watte verhüllt. Vom Anstieg am Ufer sahen wir dünne Rauchfahnen von „Taiwan“ aufsteigen, Freundesgrüße herüberschwenkend.

Geli Andrejewitsch

Bei meinen Reisen nach Novosibirsk wurde ich vom Flughafen von meinen Freunden – meist zu zweit oder zu dritt – abgeholt. Diesmal wartete Geli Andrejewitsch Kokovin allein mit einem jungen Fahrer und einem allradgetriebenen Fahrzeug, mit Bänken einander gegenüber und Fahrgastraum vom Fahrerhaus getrennt. Wir wollten drei Monate zusammen sitzen, die thermischen und thermodynamischen Daten der Wolfram- und Molybdänhalogenide, - oxidhalogenide und –oxide, zu denen wir auf beiden Seiten gearbeitet und uns habilitiert hatten – Kokovin in Leningrad – zu sichten, wichten und zusammenzustellen.

Geli Andrejewitsch, schon zweimal in Dresden zu kurzen Aufenthalten, schlug beim Einsteigen vor, dass wir nicht auf geradem Wege nach Akademgorodok fahren, sondern einen kleinen Umweg machen sollten durch das neuerbaute Wohnviertel in Novosibirsk und er erzählte:

„ In Novosibirsk leben jetzt anderthalb Millionen Einwohner, während zur Zeit des Baues der großen Eisenbahnbrücke über den Ob, Anfang bis Mitte der zwanziger Jahre, nur etwa 30 Tausend Menschen hier siedelten. Bedingt durch die Verlagerung von Produktion und Menschen während des zweiten Weltkrieges, stieg die Bevölkerungszahl sprunghaft an und die Stadt wuchs über sich hinaus. Natürlich sind da Kulturbauten und städtebaulich architektonische Gesichtspunkte wenig berücksichtigt worden. Du hast das große Theater in der Stadt ja schon das letzte Mal gesehen, es fasst viele Zuschauer und ist zu jeder Veranstaltung ausverkauft, aber vergleichbar mit den Semperbauten in Wien oder Dresden ist es natürlich nicht.“

Wir kamen an alten Katen, Holzhäusern, die ebenerdig und nicht sehr regelmäßig standen, vorbei und er bat den Fahrer etwas langsamer zu fahren und führte mit Gestik zu den Holzhütten fort:

„Vom Flugzeug konntest du sicher sehen, dass sich durch die Stadt grüne, jetzt weiße, Gürtel ziehen mit kleinen Häusern. Das sind die noch stehenden alten Holzhäuser, meist ohne fließendes Wasser und Stromanschluss. In diesen Behausungen wohnen noch etwa Hundert-tausend Menschen. Aber bald werden diese Siechen verschwunden sein und die Menschen in moderneren Hochhäusern leben. Die zweistöckigen und dreistöckigen Holzhäuser im Inneren der Stadt haben ja schon Komfort, sind rekonstruiert und sollen erhalten bleiben. Die Hochhäuser hier in diesem neuen Distrikt“

und er wies auf eine breite, beidseitig dreispurige Chaussee hinauf, die links und rechts mit endlosen acht- bis zehngeschossigen Wohnhauszeilen – untergliedert mit 12-15 Geschossern – flankiert war –

„sind geräumig und mit Fahrstühlen und allem Komfort ausgestattet. Hier wohnt und wächst das neue Sibirien heran. Als ich hier Sechzig ankam, war das noch alles Taiga, wie das Akademgorodok, unser Städtchen der Wissenschaft selbst. Und jetzt, nach knapp zwanzig Jahren, sieh was da geworden ist. Unsere Großstadt pulsiert und lebt und wächst mit einem Tempo, wie an keiner zweiten Stelle der Welt. Natürlich haben wir noch nicht alles im Griff, sind wir nicht überall gut genug und schnell genug vorangekommen. Die Landwirtschaft Sibiriens haben wir z.B. nicht im Griff. Ähnlich, wie die Chemiker und Physiker, sind damals junge, dynamische und gut ausgebildete Landwirtschaftler und Agrarökonomen hergekommen, aber außer ein paar Kartoffelfelder wirst du wenig antreffen. Und auch die moderne Produktion ist im Argen. Die militärisch wichtigen Produktionen, ja die florieren. Der Flugzeugbau, der LKW-und Traktorenbau nebst Panzerbau arbeiten und funktionieren. Unsere Stahl- und Eisenindustrie, der Kranbau, die gesamte Kohle und Schwermaschinenindustrie nebst Chemieindustrie laufen, aber im alten Stil. Kaum sind neue Werke, geschweige denn moderne, automatisierte, nach dem Kriege entstanden. Auch die Halbleiterindustrie ist verzögert hochgekommen, natürlich, Silizium und Germanium werden beherrscht, die Militärtechnik braucht sie, aber die Konsumindustrie kommt zu langsam, für sie bleiben wenig Reserven.“

Wir schlängelten aus dem Großstadtgewirr langsam heraus, die Häuserzeilen wichen weiter zurück und waren nicht mehr so erdrückend hoch.

„Da, siehst du die Aufschrift, Banja?, eine sehr gut eingerichtete Sauna, hier müssen wir mal unbedingt her. Du musst jede Banja um Akademgorodok kennen, du siehst, wir haben außer unserem wissenschaftlichen Vorhaben, über das wir erst morgen sprechen sollten, viel vor.“

Er holte tief Luft, und fuhr mit umarmender Gestik fort:

„Ja, man müsste vieles zur gleichen Zeit können, möchtest du das nicht auch? Man möchte da und dort zur gleichen Zeit sein, mit mehreren Frauen zur gleichen Zeit schlafen, den gestrigen, heutigen und morgigen zusammen ziehen können und auf mehreren Stellen zugleich sein. Die eigenen Gedanken anderen projizieren und Gedanken aus der Ferne gleichzeitig einfangen können, durch Wände sehen können, die Welt umarmen und befrieden. Allen Bildung angedeihen lassen, Wohlstand und Freiheit. Ja, die Wissenschaft hat noch viel zu tun, um einen Raumzeitraffer, einem neuen Demokratie-Bildungsraffer und Wohlstandsraffer zu überlagern oder aneinander zu koppeln, wie eine amerikanische Weltraumkapsel Skylab an die russische Salut andocken kann und die Mannschaften schwerelos und gleichwertig ineinander schwimmen, der Raum allen gehört. Müsste nicht auch das Leben auf der Erde so möglich sein, die Güter so verteilt sein, aber auch der Geist? Und man möchte noch so viel schaffen, doch merke ich eine abnehmende Aktivität als Vorbote von Gebrechlichkeit und mir ist manchmal, als ob die Zeit zu schnell verrinnt, mir wegläuft, das Leben mir aus den Fingern gleitet“.

Um Geli von seinem hohen Flug auf die Erde zurückzuholen, fragte ich:

„Und das Liebesleben im All, wie stellst du dir das vor und vor allem, wo nur eine Frau in der Kapsel ist?“

„Ja, du hast recht, kehren wir in unsere reale Welt zurück, zumal wir kurz vor dem Hotel sind. Hier hat sich nicht viel verändert, wie du schnell erkennen wirst und du wirst dich schnell wieder einleben.“

Nach dem Ausstieg und der Anmeldung im Hotel, gab er mir zwei bis drei Stunden zur Erholung und Erfrischung und fügte hinzu:

„Gegen drei Uhr erwartet dich Natascha zum Mittagessen, ich hole dich kurz vorher ab.“

Die Straße vom Hotel, das ‚Goldene Tal’ hinauf zum Dom Utschonich, dem Haus der Wissenschaft, war tief verschneit, aber sonst unverändert. Zum Sonntagnachmittag saßen alte Mütterchen, tief vermummt und in Filzstiefel auf Bänken mit ihren Enkeln und die schleckerten Eis. Jugend schlenderte die breite Allee entlang, ebenfalls Eis leckend. Moroschenoje Moskowskoje, das sahnige Moskauer wurde vor dem Staatlichen Kaufhaus an zwei Ständen angeboten, auch bei minus zehn bis minus zwanzig Grad, wie ich empfand. Auch der große Ring, vom Haus der Wissenschaftler bis zur Wohnhauszeile, wo G.A. und Natascha wohnten, war zu dieser Tageszeit stark bevölkert, man schlenderte und genoss den windfreien schönen und „warmen Wintertag“, wie Geli meinte.

Natascha empfing mich strahlend und mit einem Korb voll Fragen, die als Wasserfall auf mich niedergingen und mich, wie ihre Umarmung, herzten und drückten. Erst wurden die Grüße ausgeschüttet und von der guten Ehefrau und den lieben Kindern berichtet, die allmählich erwachsen wurden, um dann von ihren Söhnen Sergej und Andrej zu hören, die ihr Studium gerade beendeten und in Leningrad verbleiben wollten,

„…denn die Mädchen sind dort halt sehr schön und lange Sommernächte und die Großeltern sind in der Nähe…“.

Und so gingen wir dann alle unsere gemeinsamen Bekannten durch. Natascha, die ebenfalls in Leningrad studierte und am geologischen Institut in Akademgorodok tätig war, hatte Geli auf seiner zweiten Reise nach Dresden begleitet, die Stadt und Umgebung durchwandert und viele Freunde aus der Studienzeit wiedergesehen und neue kennengelernt und war neugierig und saugte alle Neuigkeiten in sich hinein und sprudelte dafür ihre Speicher leer. Derweil hatte Geli Getränke angefahren und in der Küche die Flammen reguliert, um die Gänge Nataschas am Köcheln zu halten.

Während des russischen Mittagstisches mit kalter Vorspeise, wo die Salate, kleine und größere Schüssel vielfältig in Art, Farbe und Konsistenz, die Getränke, mit Bier, Wein, Sekt, Wodka und Kognak umrahmen und keiner Stecknadelkuppe mehr Platz lassen, der folgenden warmen Boulon, dem mehrschichtigen Fleischgericht mit Reis, Hirse oder Bratkartoffeln und dem abschließenden Teegebäck nebst Torte und Kuchen und obligatorischem Tschai, Kaffee nur auf ausdrücklichen Wunsch der Gäste, wurde die leichte Unterhaltung gestückelt und in Etappen weiter von Natascha getragen und dominiert. Das Essen über Stunden, die schweren und vielfältigen Speisen drückten wie die Kugeln aus Steinwerfern und Haubitzen, wogegen die Getränke erst wie leichtes Gefecht und Spähtrupp erschienen, das andauernde Sperrfeuer aber doch ermüdete und zur Feuerpause gemahnte.

Diese Pause kam in Form eines kurzen Rundganges mit Geli bis zum Institut und zurück, um mir den Weg wieder in Erinnerung zu rufen. Bei unserer Rückkehr fanden wir die Stube umgekrempelt, der große Tisch stand zusammengeschrumpft in der Ecke und die Sessel waren vor den Fernseher gerückt, in die wir von Natascha genötigt wurden.

„Bier, Wodka oder Kognak, steht alles hier auf dem Schrank!“

bemerkte sie, mehr fragend noch und zog sich zurück, um bekannte Geräuschwellen aus der Küche herüberzumorsen.

Der Fernseher lief mit einem Programm, das keiner weiteren Konzentration bedurfte. Wir unterhielten uns ganz locker, ich kam zunächst noch mal auf unser Gespräch im Taxi, auf der Fahrt am Morgen, zu sprechen und sein Gefühl, über die verrinnende Zeit und das Schaffensvolumen. Mehr scherzhaft und unsere Situation herausstellend, merkte ich an, dass wohl die Zeit nicht wegliefe, wenn wir sie mehr krümmten und festhielten, in dem wir uns öfter zurücklehnten und sie mehr in solchen Gesprächen hereinzögen und memorierten, sie teilhaftig werden ließen und mehr in Liebe genössen. Und wir stießen erneut auf unser Zusammentreffen an und kamen mehr auf gegenwärtige Probleme zu sprechen. Wir unterhielten uns, etwas träge zwar, über die neue ökonomische Politik, die nach Ulbricht mit Honecker in der DDR eingezogen war, aber kaum größere Verbesserungen gebracht hatte und verglichen diese mit den neuen Tönen, die nach Chrustschow und Kossygin mit Breschnew in der Sowjetunion Neues bewirken sollten und fanden übereinstimmend, dass damit keine generelle ökonomische Änderung zu erwarten war. Eher, so meinten wir, hätten die Ungarn mit ihrem Weg eine Chance.

Wir verglichen die Entwicklung von Ost und West mit Exponentialfunktionen und fanden, dass der exponentielle Faktor der Entwicklung des Westens (Amerikas, West-Europas und Japans vor allem) deutlich größer sei als der des Ostens (gemeint waren die sozialistischen Länder und die Sowjetunion). Daraus resultierten aber Exponentialfunktionen, die mit fortschreitender Zeit deutlich auseinander klafften. Die Westkurve verliefe damit deutlich steiler und die Ostkurve deutlich und zwangsläufig flacher. Auch wenn man entgegenhielte, wie Gelis Sohn Sergej, der Ökonomie studierte, dass diese Funktionen einen Wendepunkt und eine Sättigung erreichen würden, so könne mathematisch gefolgert werden, zu welchem Zeitpunkt die Kurve West, der Kurve Ost um Größenordnungen vorauseilte, die ökonomische und damit militärische Überlegenheit des Westens die des Ostens erdrückte und die Länder des Ostblocks, trotz erhöhtem prozentualem Einsatz an Volksvermögen, dem Wettrüsten nicht standhalten könnten. So eilten und stritten wir in unseren Sesseln um Jahre den Gorbatschows voraus.

Zehn Jahre später, im Herbst 1986, kam ich mit Sergej Geliewitsch Kokovin, der seit einigen Jahren in Gorbatschows Riege ein um- und mitdenkender Ökonom in Novosibirsk war und dem die Gorbatschowschen Schlussfolgerungen noch nicht weit genug gingen, auf die vorausschauenden Diskurse mit seinem Vater zu sprechen:

„Ja, diese Weitsicht in diesem Höhenflug, die sie damals zusammen hatten, ähnelte mehr einem Ballonflug, der leicht platzen aber damals keinesfalls landen konnte.“

Leider konnte diese bewundernde und anerkennende Einsicht des Sohnes, der Vater nicht mehr hören, er lag schon außer Hör- und Sichtweite.

Wir aber lagen damals immer träger in den Sesseln und vom Bildschirm strahlten uns zahllose Augen einer Renntierherde an, aus der sich die Umrisse eines Hirten unseres Alters schälten, der mit seinen Hunden über die nicht überschaubare große Zahl schöner Tiere wachte. Und wir kamen überein, dass dieser Mann es doch einfacher und irgendwie schöner hatte, weit ab von der Zivilisation, dürfte ihm wohl einerlei sein, ob Chrustschow mit Schuh auf den Tisch der Vereinten Nationen oder Breschnew auf den Putz ungeputzter Paläste im Kreml in Moskau haute, seine Jurte ziehe mit der Herde und diese mit der Jahreszeit, die noch nicht von Moskau aus gesteuert werden könne.

Vor unseren Augen auf dem Schirm landete ein Hubschrauber, drei Männer in roten Jacken mit weißem Kreuz eilten der Jurte zu und trugen, nach geraumer Zeit, derweil die Kamera über die Weite schwenkte, eine stöhnende Frau zum Helikopter und die Kommentatorstimme ließ uns erfahren, dass die schwangere Frau von zwei Sanitätern und einem Arzt begleitet, in das Krankenhaus nach Chabarowsk zur Entbindung geflogen würde. Und es brach geradezu aus Geli heraus:

„Hast du das gesehen?, das gibt es nur einmalig bei uns in der großen Sowjetunion, diese Weite und doch diese soziale und medizinische Sicherheit, die gibt es sonst nirgendwo“.

Mich drückte es förmlich tiefer in den Sessel, woher kam denn dieser Absturz? Oder war das ein Ausbruch aus einem tragenden Gedankennetz, oder ein nicht ausgegorener Jugendtraum stalinscher Prägung? Es traf mich, wie ein Erdbeben in einer erdbebenfreien Zone auftritt. Wie war nach dem vorangegangenen sicheren Gleiten über das Eis ein solcher Ausrutscher möglich? War es die jahrzehntelange Einprägung und Betonung von Größe und Reichtum, die demagogische Erziehung und Überhöhung allen Russischen und Sowjetischen, des Sieges über den Faschismus, des ersten Weltraumfluges und damit verbundenen Eintrichterung von Unfehlbarkeit, Unbesiegbarkeit und Unübertreffbarkeit, die da ausbrachen aus einem hochintelligenten und talentierten Gelehrten, wie eine heiße Lava aus einem Vulkan, der jahrelang friedfertig, unvorhersehbar, ausbricht, wie ein großes Erbrechen nach schwerem Gelage?

G.A. Kokovin, ein begabter, sympathischer, und sensibler Wissenschaftler und wahrer Typ des russischen Gelehrten, starb jung an seiner Größe, die Leiden und Schmerzen nicht wahrnehmen wollte, und an der „Größe“ der sowjetischen Medizin, die in Novosibirsk Darmbluten als Vorboten eines Magen- und Darmleidens nicht erkennen und später nicht lindern oder gar heilen konnte. An einem bescheidenen Grabstein auf dem gepflegten städtischen Friedhof in Akademgorodok sind nur Name, Geburts- und Sterbedatum eingraviert, wo ringsum große Obelisken prangen. Von einem grauen Stein erfuhr ich, dass mein Freund Geli Andrejewitsch Kokovin, an meinem 50. Geburtstag, mitten aus einem Leben für die Wissenschaft gerissen wurde. Wir konnten miteinander, trotz anderer Wege und der Weite. Oder gerade deshalb? Wir wurden beide von der Politik nicht gefördert, wurden auch nicht gefordert und oder gehindert und ich stelle mir die Frage, können Menschen, Persönlichkeiten eines bestimmten Schlages und eines einheitlichen Terrains, einer geistigen Verbundenheit, unter gewissen einschränkenden Bedingungen am besten miteinander?

Krankenbesuch

Am Sonntagvormittag reiste unsere kleine Delegation nach Dresden zurück und wir begleiteten sie zum Flugplatz, der von Akademgorodok nach Novosibirsk auf halbem Wege liegt. Wir beschlossen, Natascha zu besuchen, die sich bei ihren Eltern in der Stadt erholte. Sie lag über vierzehn Tage im Bett. Die Mädchen erzählten, sie hätte eine leichte Lungenentzündung. Und,

"…es wäre ja kein Wunder, sie trägt auch bei grimmiger Kälte keine Kopfbedeckung und einen sehr kurzen Mantel".

In Geli Andrejewitsch’s Rechenkollektiv fehlt sie aber sehr, sie bringt Schwung und Leben in die trockenen Werte und Programme.

Am Flugplatz angelten wir einen Strauß Nelken und eine Schachtel Konfekt und glaubten uns gut gerüstet. Im knirschenden Schnee auf dem Wege zur Wohnung der Korneews stellten wir fest, dass uns der Abschied in einer drückenden Stimmung zurückließ und Nataschas Wesen die richtige Aufheiterung sein könnte. Unser Besuch löste Freude und Überraschung aus. Wir wurden mit einem Korb voll Fragen überschüttet, bevor wir uns unserer Mäntel entledigt hatten. Die Eltern freuten sich, dass auch ich, Nataschas „Onkel“ aus Dresden mit kam, von dem sie so beiläufig erzählte und dessen Mitarbeiter in den letzten Jahren schon alle Gast dieses Hauses waren. Fragen nach den jungen Leuten und meinem Befinden konnten kaum beantwortet werden, da standen neue Fragen, die keine Rücksicht auf meine Sprachschwierigkeiten nahmen. Die Korneew Eltern stehen ebenfalls hoch in der Chemie und arbeiten als Dozenten an der Universität. Georgina Georgewna liest über Faserstoffe, Sergej Elisejewitsch ist Erdölspezialist. Aus ihren Gesichtern strahlt aufrichtige Freude über unser Kommen. Während Sergej Elisejewitsch uns seine Erdölsituation erläutert und uns von vorn attackiert, tischen die Damen auf und überfallen uns von hinten. Wir heben die Hände und versuchen abzuwehren, zu erläutern, dass wir die ganze Nacht unsere Kollegen verabschiedet, Jan und Mila einen schönen Abend arrangiert hatten und wir nicht in der Lage seien, Weiteres zu uns zu nehmen. Seitdem sind aber schon einige Stunden vergangen und Männer in den besten Jahren werden doch eine Kleinigkeit nicht abschlagen. Und schon brutzelt es in der Küche.

Nach dem zweiten Glas sieht Natascha an unseren Gesichtern, dass unsere Gebärden kein Vorwand sind und versucht einzulenken. Georgina Georgewna ist aber sichtlich verärgert, dass wir ihre Hausfrauenkunst abschlagen wollen und tischt uns auf. Wir kommen in innere Schwierigkeiten, der Magen kämpft mit dem fehlenden Schlaf und gemeinsam, wenn auch höflich, stehen sie gegen die Hausfrau. Die Waren von Sergej Elisejewitsch sind ein leichtes Scharmützel gegen die ihren. Wir kämpfen uns über den Teller, im Kriechgang nach allen Seiten spähend und mit Scherzen unseren schnellen Abgang vorbereitend. Wir werden von Georgina gefesselt. Nach dem Schnitzel ein Kotelett naturalni, mit pikanter Rotwein-Nelken-Soße. Dazu fährt Vater Sergej grusinischen Wermut auf und schnürt uns zu. Mein flehender Blick zu Geli Andrejewitsch, den Kampf durch einen Sprung aus dem Ring zu beenden, bringt uns beide die Rettung.

Plötzlich entsinnt er sich, dass wir in einer Stunde zum Wettkampf um den Institutspreis, der Klasse alte Herren, vor der Sportivnaja Basa antreten müssen, was wir völlig vergaßen. Das gewinnt uns Sergej Elisejewitsch, der selbst ein begeisterter Läufer war und uns Beifall zollt zu so viel Aktivität. Diese Zwei- zu Eins-Situation lässt uns vom vollen Tisch in unsere Mäntel springen und in einem gekonnten Rückzug die klare Schneeluft atmen, einen inneren Umbruch und Ausbruch verhindern. Georgewna brach in Tränen aus und schluchzte herzzerreißend über unsere grobe Missachtung ihrer Gastfreundschaft und unser herzloses Benehmen. Am späten Nach-mittag schickten wir an Korneews ein Telegramm, dass wir uns im Lauf den ersten und zweiten Platz teilten und tränken auf ihr Wohl. Natascha berichtete uns später, dass dies unsere volle Rehabilitierung war und wir uns so das Herz ihrer Mutter zurückerobert hätten.

Pelmeni

In Akademgorodok bei Novosibirsk wohnt unser Freund Alexander Phillippowitsch Koretzki – genannt Pelmeni. Er war bereits mehrmals in der Republik, mit und ohne Familie, und ist dienstlich seit Jahren mit meinem Freund Peter verbunden. Jedes Mal wenn Alexander Phillippowitsch in Dresden weilt, gibt es bei unseren Freunden einen Pelmeni-Abend. Diese Abende sind immer ein Erlebnis. Nach ersten „Hallos“ und „wie geht es“, werden die Erlebnisse der letzten Jahre, des Urlaubs, der Reisen erzählt, Eindrücke vermittelt und über Ereignisse debattiert, die in unseren und seinen Breiten die Menschen bewegen. Dias und Bilder werden gezeigt, um das Geschilderte, das Erlebte dem anderen näher zu bringen und mit erleben zu lassen. Er ist ebenso ein ausgezeichneter Erzähler, wie er auch ein faszinierter Zuhörer sein kann. Die Abende reichen immer bis tief in die Nacht, weil ihm einfach die Puste nicht ausgeht. Doch von allen war der erste Pelmeni-Abend der Schönste.

Wir kamen zu unseren Freunden und aus der Küche schlug uns ein kräftiger Geruch entgegen. Dort stand am Herd, mit einer Schürze männlich anzusehen, Alexander Phillippowitsch Koretzki und strahlte uns an. Nach kurzer Begrüßung wurden wir eingewiesen. Der Eine hatte den Teig, der Andere das Fleisch zu besorgen, der Dritte die Boulon, der Vierte die Gewürze und das Beiwerk. Die Küche, die Stube, ein einziges Schlachtfeld. Oberkommandierender war Alexander Phillippowitsch Koretzki. Die Hausfrau war die Marketenderin, die Kinder ihr Tross. Als die Einzelwerke nach exakter Anweisung von Alexander Phillippowitsch gefertigt waren, setzten wir uns um den großen Tisch.

Auf den Tisch kam der breitgewalzte Pelmeniteig, auf einer Konsole stand eine Schüssel mit dem scharf gewürzten Fleisch. Jeder hatte mit einem Glas so viel Pelmeni auszustechen, wie er glaubte verzehren zu können. Die Scheiben wurden mit Fleisch belegt und zu einer Rosette gefaltet. Die fertigen Pelmeni auf einem Teller gesammelt und von Alexander Phillippowitsch in die Küche befördert, wo die Oma das Feuer und das Kochen der Boulon überwachte. Derweil wurden neue Pelmeni gefertigt. Die erste Runde wurde mit Boulon gegessen, sie schmeckten herzhaft angenehm. Die zweite Runde war mit Tomatensoße und Korn, die dritte mit roter Rübe und Kognak. Bei den weiteren Runden hatte jedes Mal ein anderer im Voraus zu entscheiden, wie die Pelmeni eingenommen werden. Mit Smetana, Essig, Butter, Cetschop, Rum u. a. Getränke. In den Kochpausen wurden die Teigreste neu verformt, gewalzt und ausgestochen. Daneben flossen muntere Geschichten. Die Rezepturen waren einmalig, kein Menükoch kann so erfinderisch sein, wie eine ausgelassene Gesellschaft, trotz sprachlichen Schwierigkeiten Der Getränkevorrat unserer Freunde war zwar mächtig, aber am Ende der 'Schlacht' mächtig dezimiert, die Wohnung von Mehl, Teig und Knoblauch fast unbewohnbar gemacht. Die Marketenderin war echt, sie hing an allen und ihre Kinder hingen an ihr oder schlüpften barfuss im Nachthemd durch das Chaos, ihre Augen voll freudigem Unverständnis. Und zwischen diesen Ruinen stand wie ein unbezwingbarer Feldherr, Alexander Pelmeni. Von den Frauen angehimmelt, den Kindern umschmeichelt und den Männern bewundert.

Fährt einer nach Novosibirsk, oder kommt ein Gast, so heißt es:

„Grüße an Alexander Phillippowitsch Pelmeni“, kurz: „Grüß Pelmeni“!

Neulich war ich zu einem Aufenthalt in Akademgorodok, von September bis Dezember. Natürlich hatte ich Grüße an Pelmeni zu bestellen. Es kam aber nicht dazu. Zunächst war er nicht im Lande. Ich hatte viele Einladungen und kam nicht um die Runden. Neben viel Arbeit, Ausflügen und Unternehmungen aller Art, verlor ich Alexander aus den Augen.

Auf dem Rückflug von Novosibirsk musste die Maschine, wegen schlechten Witterungsverhältnissen über Moskau, in Gorki zwischenlanden. Beim Aussteigen aus der Maschine fiel mir ein bekanntes Lachen auf. An der Gangway sprach ein Mann mit einer Frau, ihre Antwort konnte ich schon hören:

„Ja, er war 3 Monate bei uns im Institut“.

Er schaute auf mich, ich zu ihm. Er war es. Seine ersten Worte:

„Wie ist es möglich, dass ein Freund bei Freunden weilt und seine Freunde nicht besucht?“.

Meine Ausreden waren ein jämmerliches Stottern. Alexander Pelmeni hat die Maschine nach Moskau verpasst, um nicht mit einem Menschen gemeinsam auf engem Raum zu sein, der ihn so enttäuscht hat.

Jahre später, als ich Pelmeni diese Geschichte vortrug, nannte Alexander Phillippowitsch sie „Die Beichte“. Dass er die Maschine aus einem anderen Grund genommen habe, ändert nichts an der Geschichte.

Fuchsfellschapka

Udo Gerlach

Die Dienstreisen nach Novosibirsk verliefen nach Schema F. Der Flug von Berlin nach Moskau-Tscheremetjewo erfolgte in den Morgenstunden, in Tscheremetjewo stieg man in den Bus zum Aerobahnhof am Ende der Gorkistraße, stieg um in den Bus nach Domodjedowo und flog von dort nach Novosibirsk, wo Freunde mit einem Taxi warteten, das den Weg ins Hotel Zolotaja Dolina in Akademgorodok kannte. Das Problem war, dass Ausländer von Moskau nach Novosibirsk nur mit der Nachtmaschine befördert wurden, um am Tage nicht die vielen militärischen Objekte entlang der Flugstrecke auszukundschaften. Die Wartezeit auf dem Flughafen Domodjedowo war lang, ein zeitraffender Stadtbummel lohnte sich nur im Sommer.

Eine meiner Reisen, es war wohl die zweite, erfolgte im Spätherbst. In Moskau schneite es und für Novosibirsk war Schneetreiben angesagt. Die Wartehalle Domodjedowo wirkt allgemein kalt und war an dem Tag von eisigem Wind durchzogen. Die Halle füllte und leerte sich in unregelmäßigen Abständen, die Maschinen flogen, meine aber erst gegen Zehn, um nach viereinhalb bis fünf Flugstunden am frühen Morgen – mit vier Stunden Zeitunterschied zu Moskau – in Novosibirsk nach Sonnenaufgang zu landen. Immer wenn eine Maschine abgeflogen war, schien die Halle menschenleer, ich fühlte mich verlassen und mein Wärmebedürfnis stieg. In einer kleinen Cafeteria gab es neben Butterbrodi, mit grauem Wurstbelag, Tee, Kaffee und Wodka. Der Nachmittag war noch lang und das zweite Problem tauchte auf. Dienstreisende nach Novosibirsk erhielten ihr Dienstreisegeld erst am Zielort. Privat konnten sie nicht tauschen. Die Restrubelbestände der Familie klingelten nicht weit, Rubelscheine durften nicht aus- und konnten folglich nicht mitgeführt werden. Mein Bestand von fünf Rubel zwanzig musste sorgsam eingeteilt werden. Am Buffet erstand ich zwei Butterbrote und ein Glas Tee für einen Rubel und setzte mich an einen Tisch zu einem Reisenden mit offenem Mantel und offenem Gesicht und einer Fuchsfellschapka auf dem Kopf. Er trank Tee und hatte ein Glas mit Sto-Gramm dabeistehen. Er war mir schon in der Halle aufgefallen und hatte kurz vor mir die Wärme aufgesucht. Nach kurzem Blickkontakt stand er auf, ging zum Buffet und stellte mir ein Glas Sto-Gramm hin und meinte:

„Dieser Tee ist anders nicht zu genießen und wärmt auch nicht.“

Wir stellten uns vor, gossen den Wodka in einem Zuge hinunter und fanden uns wohler. Serjoscha kam aus Litauen und wollte über Novosibirsk nach Irkutsk. Auch er flog mit der Nachtmaschine und musste sich aufwärmen. Und so wärmten wir uns mit Tee und Wodka, abwechselnd zum Buffet schreitend, mal er, mal ich. Meine Rubel gaben drei Runden her, sein Kleingeld reichte eine Runde weiter, dann war auch er ausgebrannt. Aber der Wind pfiff draußen weiter und der Kehlenbrand nahm zu. Er schlug der Dame am Buffet vor, anzuschreiben und wenn wir wieder vorbeikämen, zu zahlen. Sie lächelte mitleidvoll und spendierte uns je ein Glas Tee, brachte sich selbst eines mit und setzte sich an unseren Tisch. Wir plauderten so dahin und erzählten von unseren Wegen und dabei fiel auch, dass ich im Koffer immer ein bis zwei Flaschen Schnaps, in der Regel Doppelkorn, mitnähme, die Novosibirsker Kehlen wollten ja auch Mal mit was milderem verwöhnt werden. Serjoscha sprang sofort an:

„Lusja, hörst du das, unser Freund hat Schnaps im Koffer und wir dursten und frieren hier. Aber wie kommen wir da ran, die Koffer sind ja schon halb auf der Laderampe!?“

Auf meinen Einwand:

„Nein, nein, ich kann meine Freunde in Akademgorodok nicht enttäuschen und ohne kommen.“

Serjoscha darauf:

„Doch nur eine, ich spendiere dir dafür meine Pelzmütze, die wirst du ohnehin dort in der Taiga dringend brauchen.“

„Na und du, du fliegst ja noch weiter nach dem Osten, du frierst da wohl nicht?“

„Nein, erstens ist es durch den Baikal da lokal wärmer und zweitens, gibst du mir dafür deine Baskenmütze!“

Lusja war begeistert, musste aber erst zwei weitere Gäste bedienen und kam an den Tisch zurück:

„Ich spreche mit Kolja von der Abfertigung, der bringt dir deinen Koffer noch mal vor, da gibt’s keine Ausrede, der Handel ist perfekt.“

Und so war das Geschäft beschlossen. Lusja verhandelte mit Kolja und Kolja kam mit dem Koffer und verschwand auch wieder unauffällig und schnell. Die Flasche unterm Mantel zur Kantine getragen, die Mützen getauscht, Handschlag und Flasche auf den Tisch. Serjoscha stöhnte: „Nicht übel, Freund!“

Lusja kam und stellte vier Gläser hin und durch die Türe trat Kolja, er wollte das Geschäft offiziell besiegeln. Er half uns auch später ins Flugzeug und ich winkte ihm zum Abschied von der Gangway, mit meiner seidenweichen, leichten und strahlenden Fuchsfellmütze, in den Nebel und Dunst aus Wodka und Schnee.

Serjoscha trottete in Novosibirsk - zu mir kurz herüberblickend - dem tiefverschneiten Ausgang mit meiner abgeschabten Baskenmütze zu. Ich wurde von einem kleinen freundlichen Intouristmädchen in oranger Weste abgefangen und zu meinen vermummten Freunden geleitet. Mein Koffer war schon bei ihnen. Als ich den Koffer im Hotel öffnete, um mit ihnen anzustoßen, merkte ich, dass ich die Schapka mit zwei Flaschen Doppelkorn doppelt und damit gut bezahlt hatte, wobei eine wohl eher der Preis für Lusjas und Koljas Kofferhandel war.

Einkaufen in Novosibirsk

Das Einkaufen in Novosibirsk - Akademgorodok in den siebziger und achtziger Jahren war problematisch und einfach zugleich. Problematisch, weil der Gast nur einfache Bedürfnisse in Bezug auf Einkauf hat, aber nicht weiß, in welchem Magazin 1) es gerade was gibt. Einfach, weil es manches nicht gab. Im zentralen Magazin auf der Hauptstrasse kauften die Gäste der Akademie in der Lebensmitteletage ein. Brot und Milchprodukte waren in reicher Auswahl vorhanden, aber Wein und Wodka waren knapp, die Lebensmittelhalle groß. Das Fleischregal war leer. In einer Kühltruhe lag über Monate der gleiche Schweinskopf.

Ein riesiges Weinregal, über die gesamte Länge der Halle, war nur teilweise gefüllt und enthielt immer zwei Sorten Wein, eine Sorte roten und eine Sorte weißen. War eine Lieferung algerischer Rotwein eingetroffen, so war das Regal über vier Stapelhöhen mit „Kamelmilch“ gefüllt, derweil zog der ungarische weiße „Boglári Muskotály“ im Regal die Füße ein. Nach Tagen war nur der Rotwein vorrätig und wenn dann eine Lieferung Bulgarischer „Hemus“ die Regalbretter zum Stöhnen brachte, zog sich der Algerier zurück und machte dem ungarischen „Stierblut“ Platz. Aber Wodka gab es zu der Zeit in der Kaufhalle nicht. Armenischen Kognak, mit mehreren Sternen, ja, in einer Seitenabteilung mit Verkäufer davor. Doch den kauften nur wenige Sibirjaken und einzelne Dienstreisende. Touristen kamen in den Jahren vereinzelt in Akademgorodok vor. War man bei Familien zu Besuch, so gab es immer Wodka und Fleisch- und Wurstwaren verschiedener Art, auch Weine. Woher hatten sie diese Waren des abendlichen Bedarfs? An den Preisen lag es nicht, die Lebensmittel und Getränke waren billig. Bier gab es immer, Schigulowskoje, von dem Geli Andrejewitsch Kokovin meinte, man sei sich nur nicht sicher, ob an der Anlage vorher Sekt oder Limonade oder Quas abgefüllt worden wären, oder gar die Fässer vertauscht oder verwechselt worden sind.

Wodka gab es in Schüben und in kleineren Magazinen hinter dem Ladentisch. Der Preis war gut zu merken, ein halber Liter drei Rubel zwanzig, wie die Zigaretten F6 in der DDR drei Mark zwanzig kosteten. Öfters stand ein Mann im Laden, seitlich am Verkaufspult, hielt einen Rubel und zwanzig Kopeken in der Hand und zwei Finger hoch und schnippte mit dem Zeigefinger der Rechten an die Kehle: „Trojom!“ (zu dritt). Hatte ein zweiter schon einen Rubel in der Hand, oder auf das Pult gelegt, so hielten sie beim Eintreten des nächsten Mannes je einen Finger hoch und schnippten mit der rechten zur Kehle. Der dritte trat heran, legte den Rubel aufs Pult, die Verkäuferin reichte die Flasche über den Ladentisch und zu dritt tranken sie die Flasche im Laden oder vor der Türe aus, mit Daumen und Zeigefinger die Schütthöhe markierend. Der "Durstälteste" legte quasi als Einsteiger zwanzig Kopeken zum Rubel, und es funktionierte schnell und reibungslos und unter den Augen der sonstigen Kundschaft.

Das höhere wissenschaftliche Personal bezog die „seltenen“ Lebensmittel aus dem „Stol Sakasow“ (Tisch der Bestellung), wo es alles, aber kontingentiert gab und für die normalen, üblichen Ladenpreise. Hierauf hatten aber nur wenige Zugriff, wie die Akademiemitglieder, die Direktoren und Professoren. Gastwissenschaftler kamen da nicht heran und wurden nicht oder nur andeutungsweise in das System eingeweiht. Die dringenden Einkäufe für größere Abende, Nachsitzungen und Festlichkeiten erfolgten auf dem Basar. Drei, vier und mehr Familien legten zusammen und gestalteten den Abend. Ein oder zwei Männer besorgten den Einkauf auf dem Basar, Frauen taten das selten. Bei meinem Aufenthalt im Herbst 1976, als ich schon familiären Einblick hatte, nahm mich Jan Wasiljew zu einem solchen Einkauf auf einem Basar am Rande von Novosibirsk mit. Vier leitende Kollegen waren zu Diskussionen einer Zusammenarbeit mit dem Institut zur Kristallzüchtung angereist und die Abteilungsleiter des Labors Kuznezow 2)