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Vorsicht angeleckte Bücher! Drei lesebegeisterte Helden gegen eine Bande fluchender Hexen Ernest ist ein richtiger Bücherwurm und verbringt seine Zeit am liebsten mit seinen Freunden in der Bibliothek. Als er eines Abends dort einschläft, wird er versehentlich eingeschlossen. Für ihn eigentlich etwas Wunderschönes, doch dann tauchen um Mitternacht plötzliche jede Menge Hexen auf. Ernest bemerkt, dass sie fluchen, was das Zeug hält und die Bücher ablecken! Doch warum? Schnell wird ihm klar: Die Hexen wollen alle Bücher und Leser:innen vernichten. Wer eines der angeleckten Bücher aufschlägt, wird mit einem schrecklichen Fluch belegt. Das darf Ernest auf keinen Fall zulassen. Er muss handeln, und zwar schnell ...
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Seitenzahl: 150
Veröffentlichungsjahr: 2024
Pascal Ruter
Lesen auf eigene Gefahr!
Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Le Buveur de lait du crépuscule bei Didier Jeunesse, Paris.
Deutsche Erstausgabe
© der deutschsprachigen Ausgabe: Atrium Verlag AG, Imprint WooW Books, Zürich 2024
Alle Rechte vorbehalten
Text © Pascal Ruter
Cover und Illustrationen © François Ravard
Aus dem Französischen übersetzt von Julia Süßbrich
Lektorat: Barbara Schlichtmann
Alle Rechte vorbehalten
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
ISBN978-3-03967-021-5
www.WooW-Books.de
www.instagram.com/woowbooks_verlag
Für unseren lieben Abab.
In memoriam
Lieber Leser, liebe Leserin, ich weiß nicht, wie es bei dir ist, aber ich, ich bin verrückt nach Bibliotheken. Mir sind Bibliotheken angenehmer als Strände, Skipisten, Schwimmbäder, Freizeitparks, als jedes Restaurant oder Bonbongeschäft, natürlich wichtiger als jedes Fußballstadion und sogar, sogar!, als mein Bett, das ich wirklich sehr gernhabe. Um es auf den Punkt zu bringen: Bibliotheken sind meine Lieblingsorte auf der ganzen Welt. Also echt, ich verstehe ehrlich überhaupt nicht, was es Besseres geben könnte als eine Bibliothek. Wenn Madame Livre neue Bücher bekommen hat und ich diese durchblättere, reise ich innerhalb eines Nachmittags von den Tropen bis an den Nordpol und von der chinesischen Küste zum Ärmelkanal, überquere den Atlantik, den Golf von Bengalen und die Wüste von Judäa. Ich begegne Bären, stoße auf Wölfe, schwimme mit kleinen Tümmlern und entwische Löwen, Anakondas, Quallen sowie allerlei anderen Lebewesen, die stechen, beißen, zerreißen, lähmen. Und das alles ohne jegliche Gefahr, gestochen, gebissen, zerrissen oder gelähmt zu werden, schön im Warmen in den großen Kissen der Bibliothek.
Was will man mehr im Leben, als Tausende Abenteuer an nur einem Nachmittag zu erleben? Das soll mir mal einer erklären …?
Mal ganz davon abgesehen, wie unglaublich hoch die Zahl der berühmten Menschen ist, denen man in einer Bibliothek zwangsläufig begegnet. Eines Tages habe ich hinter einem Bilderbuch sogar Gott getroffen. Er war jung und sah zugleich dem berühmten alten französischen Schriftsteller Victor Hugo und dem modernen belgischen Sänger Stromae ähnlich.
Ich weiß natürlich, dass ich nicht der Mehrheit angehöre und für die meisten Kinder meines Alters – wenn du es genau wissen willst: Ich bin zehn zwei Drittel – ein Nachmittag in der Bibliothek aufs Gleiche herauskommt wie eine lange, sehr lange, unendlich lange Foltereinheit. Schlimmer als ein Besuch beim Zahn- arzt.
Die haben einfach Schiss. Und wovor? Ist doch klar, vor der Stille! Denn in einer Bibliothek redet man nicht. Man hält die Klappe. Das ist sogar das Einzige, wozu man in einer Bibliothek verpflichtet ist: Man hält den Mund, sonst fliegt man raus. Ruhe eben!
Und ich, ich liebe genau diese Ruhe. Man redet im Leben eh schon zu viel. Und durchs Reden wird man vom Denken abgehalten. Weil man nicht zwei Sachen gleichzeitig tun kann, das ist ja ganz bekannt.
Mir würde eher Gebrüll Angst machen, solches, wie es im Fußballstadion zu hören ist. Ich weiß nicht, warum die Leute so gerne herumschreien. Mir persönlich verursacht das zu viel Leid und Kummer. Dennoch erkenne ich natürlich an, dass Schreien sich manchmal als nützlich erweisen kann, unter gewissen Umständen sogar unumgänglich ist, wie du in dieser Geschichte selbst feststellen wirst.
Ansonsten ist in einer Bibliothek alles oder fast alles erlaubt. Das ist ja das Wunderbare. Du bist noch nicht einmal verpflichtet zu lesen. Du kannst einfach ein Buch nehmen und darin herumblättern und vor dich hinträumen. Zwischen deinen Gedanken brauchst du nur gelegentlich eine Seite umzublättern. Du kannst ein Buch anfangen, wieder liegen lassen, nicht zu Ende lesen oder, im Gegenteil, hinterher noch zwanzig Mal lesen, wenn dir danach ist. Du darfst sogar die Schuhe ausziehen, um es dir gemütlicher zu machen. Dann stinkt es manchmal ein bisschen, aber das ist nicht schlimm, denn, lieber Leser oder liebe Leserin, wenn du mir diese Offenheit gestattest: Ich mag Fußgeruch. Und ich bitte dich, mir noch etwas zu gestatten: Mir sind alle Menschen lieb, die gerne Bücher lesen. Deshalb fühl du dich bitte immer angesprochen, wenn ich dich gleich in meinem atemlosen Abenteuerbericht als ›Leser‹ anspreche, auch falls du eine Leserin oder nicht auf eins von beiden festgelegt bist.
Übrigens: Wenn du Lust hast, in der Bibliothek ein Nickerchen zu machen, wird dich niemand daran hindern.
Nur manchmal kann Einschlafen einem etwas ganz Übles einbrocken. Wie an diesem denkwürdigen Nachmittag, an dem ich in meiner Lieblingsbibliothek einnickte und alles seinen Anfang nahm.
Als ich die Augen wieder öffnete, hatte sich Dunkelheit im Lesesaal breitgemacht. Durch das Fenster sah ich, rund um den Vollmond, der zwischen zwei Wolken klemmte, die Sterne leuchten. An diesem Detail erkannte ich, dass ich stundenlang geschlafen hatte. Die Wanduhr stand auf Mitternacht, ihre Zeiger bewegten sich nicht mehr. Das war seltsam, denn Madame Annette Livre war gewissenhaft und achtete auf jedes winzige Detail: Sie duldete nicht den geringsten Mangel in ihrer Bibliothek und zeigte sich unnachgiebig bei wackeligen Stühlen, durchgebrannten Glühlampen, dreckigen Scheiben oder Büchern, die nicht alphabetisch einsortiert waren, sondern irgendwie anders. Die Achtsamkeit, mit der sie ihre Bibliothek, ihre Bücher und ihre lesende Kundschaft behandelte, hatte ihr den Preis als Beste Bibliothekarin Frankreichs eingebracht. Die Trophäe war auf ihrem Schreibtisch ausgestellt, schön sichtbar, denn Madame Livre war sehr stolz darauf.
Ich gestehe, dass ich mich für den Zeitraum einiger Sekunden fragte, ob ich nicht träumte oder in einer Art Parallelwelt gelandet war, die durch ein Zeit-Portal mit der unsrigen verbunden war. Schließlich hatte ich bereits recht viele Bücher gelesen, die von so etwas erzählten, und woher hätte ich wissen sollen, dass solche Dinge nicht wirklich passieren konnten? Bei Büchern muss man auf alles gefasst sein.
Die einzige Schlussfolgerung, die sich mir aufdrängte, war, dass Madame Livre die Bibliothek verlassen hatte, ohne meine Anwesenheit zu bemerken, trotz ihres sorgfältigen Kontrollgangs. Nur ein Notfall konnte die mögliche Erklärung für diese Nachlässigkeit sein.
Auf ihrem Schreibtisch herrschte perfekte Ordnung: Ihre Sachen waren mit einer solchen Sorgfalt aufgeräumt, dass es einem fast Angst machen konnte. Die roten Stifte befanden sich bei den roten Stiften, die grünen bei den grünen, die Bleistifte bei den Bleistiften (ich mache nicht weiter, du hast schon verstanden …).
Ich war allein, tatsächlich eingeschlossen. Du wirst mir sagen, lieber Leser, dass ich mich nicht zu beschweren brauchte, schließlich war ich ja an meinem Lieblingsort gefangen. Aber mir ließ vor allem keine Ruhe, wie meine Eltern, die sich bestimmt bereits riesige Sorgen machten, reagieren würden. Sie sahen es ohnehin schon nicht gern, dass ich mich dem Club der ansteckenden Leser (CaL) angeschlossen hatte, den Madame Livre leitete. Und jetzt erwartete mich die schlimmste aller Strafen: keine Bibliothek mehr.
In Dunkelheit getaucht, hatte der Lesesaal seine vertraute, heimelige und beruhigende Atmosphäre verloren. Ich hörte ein Knacken und Knarzen, der Wind rüttelte an den Fensterscheiben. Schatten schienen um mich herum durch den Raum zu gleiten, und eine Art unsichtbares Wesen musste wohl umherschleichen. Plötzlich schien es mir, als hörte ich langsame, raue Atemzüge in der Ferne, sowie tiefe Stimmen, die wirre Worte in einer unbekannten Sprache von sich gaben. Ich musste mich beruhigen, um wieder klar denken zu können, aber in meinem Kopf drängten sich all die Geschichten, die ich in den letzten Jahren verschlungen hatte: Darin ging es um Vampire, Gespenster, Mutanten, Zombies, Aliens und andere Untote. Ich fühlte mich beobachtet, belauert, und je mehr Minuten vergingen, desto mehr rechnete ich mit dem Auftauchen eines dieser angefaulten Wesen, die Romanseiten bevölkerten und darauf aus waren, sich aus meiner Haut einen Lendenschurz zu machen oder Halsketten aus meinen Zähnen!
Hatten meine Eltern letztlich doch recht? Hatte der Lesestoff, von dem ich mich nährte, mich um den Verstand gebracht?
Treuer Leser, was hättest du an meiner Stelle getan? Du hättest wahrscheinlich den Reflex gehabt, auf alle Schalter zu drücken, die sich dir in der Dunkelheit angeboten hätten. Genau das tat ich auch, doch leider fing keine Lampe an zu leuchten. Einzig das Licht des hereinscheinenden Vollmonds ermöglichte mir, mich zu orientieren.
Mir blieb nur noch eines übrig: Ich musste versuchen, auf Zehenspitzen den Ort zu verlassen. Leichter gesagt als getan!
Einige schmerzhafte Schulterstöße gegen die dreifach verriegelte Eingangstür bestätigten mir, dass ich weit davon entfernt war, stark genug zu sein, um sie einzuschlagen. Diesen Ausgang konnte ich, ach du tausendfaches Ojemine, abhaken. Blieben noch die Fenster. Aus dem ersten Stock zu springen war ein riskantes Unterfangen, aber wenn ich mich an irgendeine Regenrinne klammerte, sollte ich doch alle Chancen der Welt haben, den Boden heil und in einem Stück zu erreichen, schlimmstenfalls in zwei.
Leider waren auch die Fenster verriegelt. Ich war eingesperrt wie eine Ratte in ihrem Käfig. Daher wollte ich einen irren Schrei von mir geben, ein grässliches Gebrüll, aber stattdessen kam aus meiner Kehle nur ein lächerliches Quieken. Schreien erfordert schließlich eine gewisse Übung, die ich nicht hatte. Und wer hätte mich überhaupt gehört?
Ich hatte jedoch keine Zeit, mich über mein Schicksal zu beklagen, denn das Spektakel, das sich nun meinen Augen darbot, verschlug mir die Sprache.
Spiralförmige Schatten begannen durch den Raum zu wabern. Sie wurden langsam dichter und formten vier Silhouetten mit weichen Konturen, die über den Lesetischen schwebten. Diese Formen knisterten leise wie Glühlampen, die zwischen Angehen und Ausgehen schwanken.
Je mehr ich zu verstehen versuchte, was mir widerfuhr, desto unklarer wurde es mir. Die einzige plausible Annahme: Ich musste Opfer meiner verrückten Fantasie sein. War ich vielleicht sogar tot? Das Einzige, wozu ich noch fähig war, war, Angst zu haben, und diese Tätigkeit raubte mir all meine Energie. Zumal mir gerade ein neues Detail auffiel: Hinter der Fensterscheibe war ein zweiter Vollmond aufgegangen, etwas kleiner und bleicher als der andere. Hier wurde es immer unheimlicher!
Zum Glück kannte ich die Bibliothek wie meine Westentasche und schlüpfte unbemerkt in einen leeren Schrank (zwei Tage zuvor hatte ich Madame Livre beim Ausräumen geholfen). Die Tür ließ ich einen Spalt offen. Auf meinem Beobachtungsposten festsitzend, tat ich alles, was ich konnte, um mich zu beruhigen und zu konzentrieren. Mir durfte doch nichts von dem, was sich vor meinen Augen abspielte, entgehen!
Bald änderte sich etwas: Die unscharfen Formen wurden zu menschlich anmutenden Körpern, die sich zum Fenster wandten und ihr Antlitz dem milchigen Schein des zweiten Mondes entgegenreckten. Auf der fahlen Haut ihrer Gesichter erschienen rote Lippen, Wangenknochen und ein Kinn. Ihre Augen jedoch konnte ich nicht sehen, denn die Kreaturen hatten sich in der Zwischenzeit riesige schwarze Brillen aufgesetzt. Vielleicht brauchten sie die, um diesen zweiten Mond anzuschauen? Eines war sicher: Das gruselige Ballett ihrer Wandlung erfüllte mich von Kopf bis Fuß mit kaltem Schaudern, und meine furchtgekrümmten Gedärme schrien vor Schmerz.
Obwohl diese Kreaturen keine Menschen waren, sahen sie doch durchaus menschlich aus. Es handelte sich wohl um Frauen, wenn man dem leuchtenden Rot, das ihre Lippen bedeckte, Glauben schenkte, und auch der Feinheit ihrer Hände mit den genauso roten Nägeln … rot wie … Blut!
Ein kleines gruseliges Detail, das mir bis dahin noch nicht aufgefallen war: ihr kleiner Finger. Dieser war immer steif und besaß keine Gelenke; offensichtlich gelang es ihnen nicht, ihn zu beugen, während ihre anderen Finger ganz normal beweglich zu sein schienen. Als Krönung des Ganzen war der Nagel dieses ganz starren kleinen Fingers nicht mit knallrotem Lack bedeckt, sondern mit grünem. Zum Glück murmelten die vier Kreaturen, die glaubten, allein zu sein, einander etwas zu und konnten das Grummeln meiner gequälten Gedärme nicht hören. Sie sprachen alle gleichzeitig in einer seltsamen Sprache, die nichts ähnelte, was ich bis dahin jemals gehört hatte. Am seltsamsten war, dass auf die Bewegung ihrer roten Lippen der Ton erst mit einiger Verzögerung folgte.
Und genau da passierte es: Diejenige, die den Reigen dieser gruseligen Wesen anzuführen schien, streckte ihre beiden vom grünen Nagel gekrönten kleinen Finger dem Mond entgegen, als wollte sie dessen Energie anziehen.
Starke Krämpfe durchzuckten ihre Glieder, und ihr Mund verzog sich zu einem hasserfüllten Grinsen. Plötzlich schrie sie:
»Leserus kotzwürgius! Textis ekelatis! Massakra Legenda! Tutti la Bibliotheka! Finito Teatro basta! Ultima apokalyptika Kultura!«
Ihre Komplizinnen schauten in dieselbe Richtung und ihre kleinen Finger mit dem grünen Nagel zeichneten dabei komplizierte Kurven in die Luft. Dann verneigten sie sich folgsam vor ihr und säuselten:
»Ultima Zauberina! Grandiosa Hexa! Maximum Giftum!«
Die Oberhexe! Die Grandiose! Sie war diejenige, die den Tanz anführte.
Alle diese Details führten mich zu der Annahme, dass ich eine Hexen-Bande vor mir hatte. Ja, lieber Leser, du hast richtig gelesen: eine Hexen-Bande! Normalerweise glaube ich genauso wenig wie du an diese Art von Kreaturen, vor allem erwarte ich sie nicht in einer Bibliothek, aber das Spektakel, das sich vor meiner Nase abspielte, ließ keinen anderen Schluss zu.
Da hörte ich das Glockengeläut der Kirche, die sich nicht weit von der Bibliothek befand. Zwölf Schläge. Mitternacht. Die Kreaturen verharrten, senkten einige Sekunden andächtig ihre Kahlköpfe und rückten dann ihre dicken schwarzen Brillen auf der Nase zurecht, ehe sie im Chor zu singen begannen (und zwar schief, der Ausdruck »grölen« würde es wohl eher treffen). Jetzt verstand ich den Text, denn sie sangen nun in meiner Sprache.
Tod den Büchern und auch allen Leseratten!
Unerbittlich woll’n sie uns bekriegen,
uns göttliche Hexen gar listig besiegen!
Oh Schwestern, sie stell’n uns in den Schatten.
Im Sommer wie im Winter sind wir schrecklich,
immer stinkend, niemals freundlich,
Hakennase, Warzen überall!
So reiten wir auf unsern Besen,
in ihren Augen jämmerliche Wesen!
Schluss mit lustig, ihr abscheulichen Leseratten,
ihr Bücherwürmer habt uns Hexen jetzt im Nacken!
Bücher machen Freude, sollen Träume bringen?
Zu Recht sollst du wegen Büchern mit dem Tode nun ringen!
Und nun zu euch gar unermüdlich’ Schreiberlingen!
Husch, hopp! Ab in den Schrank mit euch,
zahlen sollt ihr für eure Albernheiten,
von welchen strotzen eurer Kultromane Seiten.
Ob Roald Dahl, ob Harry Potter, ob alte Märchenweiber,
Helden, Leser und Geschichtenschreiber,
alle ohne Unterschied hinein, in einen großen Topf!
Dieselbe Rache erwartet euch: Ab muss euer Kopf!
Ihre Stimmen klangen dermaßen grausam, dass ich mir die Ohren zugehalten hätte, wäre es mir nicht so wichtig gewesen, so viele Indizien wie möglich zu sammeln. Am unangenehmsten war ihr fauliger Atem, der des schlimmsten Mülleimers würdig gewesen wäre. Er roch so heftig, dass der Gestank sogar bis zu mir herüberströmte. Dieser widerliche Mief war sicherlich ein Abbild ihrer verdorbenen Seele.
Eine Wolke zog vor den zweiten Mond, was dem schrecklichen Geleier der Hexen ein Ende setzte. Sie sammelten sich einen Moment und überprüften, ob ihre schwarzen Brillen auch ganz bestimmt fest vor ihren Augen saßen. Dann schwebten sie gemeinsam auf die Regale zu und bildeten davor eine Kette wie Kämpfer vor dem Angriff. Ohne zu zögern, streckten sie ihre Arme aus, um nach bestimmten Büchern zu greifen, die sie dann vor ihren Augen öffneten. Aber sie wollten sie nicht lesen, sondern ablecken. Dazu schoben die Hexen aus ihrem stinkenden Mund eine riesige Zunge hervor, rosa und dick wie ein Stück Kalbsleber, schleimig wie eine Schnecke, wabbelig wie eine Kröte. Die Tat dauerte nur ein paar Sekunden. Als die Hexen die noch spucketriefenden Bücher zurückstellten, machten sie sich einen Spaß daraus, einander fröhlich die Zunge herauszustrecken. Sie war schwarz von der Tinte, die sie von den Seiten geschleckt hatten. Vampire! Tintenvampire!
Ich fragte mich, wozu sie die dunklen Brillen trugen, denn die Hexen versicherten sich unaufhörlich, dass diese auch wirklich fest auf ihrer Nase saßen. Daraus schloss ich, dass dieses Zubehör für sie sehr wertvoll sein musste.
Zwischen den Ableck-Einheiten gurgelte aus ihrer Kehle eine Art Gebet, etwas wie eine Zauberformel hervor. Ich spitzte die Ohren, um den Text zu verstehen:
Möge der faulige Atem, der uns Hexen entstieg,
entfachen einen gewaltigen Krieg,
auf dass jeder Leser dieser Seiten darin finde den Tod.
Möge durch all unsere Hexereien er erleiden allerlei Not,
soll doch vergehen sein Wissensdurst und Bildungsstreben
und die Lust zu träumen verschwinden aus seinem Leben.
Möge strohdumm er werden,
bald gar der schlimmste Dummkopf auf Erden,
und möge er sich in ein verhasstes kleines Tier …
Gerne hätte ich gehört, wie es weiterging, doch das Brett, auf dem ich im Schrank saß, brach mittendurch, sodass ich vorwärts hinausstürzte. Die Kreaturen drehten sich verdutzt in meine Richtung und nahmen in einer einzigen gemeinsamen Bewegung die Brillen ab, die ihre Augen verdeckt hatten.
Nie hatte ich etwas so Furchterregendes gesehen wie den Blick dieser vier im literarischen Ritual überraschten Hexen. Im Weiß ihrer Augen schwamm eine Pupille, die aussah wie vor Hass rot schimmernde Glut. Diese Pupillen waren unruhig und drehten sich um sich selbst wie ein Kreisel, während mein Herz gegen meine Rippen hämmerte wie ein verängstigter Vogel, der an die Gitterstäbe seines Käfigs schlägt. Meine Angst war so dicht und zäh, dass man sie zu Klumpen hätte formen können.
»Ich … Ich … Ich komme hier nur gerade kurz vorbei, lassen Sie sich nicht von mir stören.«
Als einzige Reaktion richteten die vier ihren kleinen Finger mit dem grünen Nagel auf mich.
Die Oberhexe der Bande, die die Anweisungen gab und Gesänge und Tänze anführte, begann zu brüllen:
»Kühner Leser! Schmutziger Bücherverschlinger! Unverbesserlicher Liebhaber von Wörtern und Sätzen! Komm her!«
Schnell wie der Blitz überprüfte ich meine Fluchtmöglichkeiten. Das war ganz leicht, es gab überhaupt keine. Ich konnte mich nur noch meinem Schicksal ergeben. Die Hexen berieten sich ein paar Sekunden lang, überwachten mich aber währenddessen aus dem Winkel ihrer rot glühenden Augen.
»Das Urteil ist gefallen!«, brüllte die Oberhexe. »Durch die Bücher hast du gelebt, durch die Bücher wirst du sterben!«
Ich brauchte mehrere Sekunden, um zu verstehen, was dieses Urteil wirklich bedeutete, und dann noch ein paar weitere Sekunden, um zu begreifen, dass dieses Ding in meiner Brust, das nun einer zermatschten Schnecke ähnelte, mein Herz war.
Die wenigen Härchen, die ich auf meiner Haut hatte, stellten sich sofort auf, und ein gewaltiger Schauder lief mir von meinen Ohren bis zu den Zehen hinunter.
Mein Selbsterhaltungstrieb befahl mir, die Trümpfe zu zählen, die ich in der Hand hatte. Erstens: Humor? Da diese Kreaturen offensichtlich eine Beeinträchtigung in diesem Bereich hatten, konnte ich meine Lieblingswaffe vergessen. Zweitens: Muskeln und Fäuste? Sehr witzig! Ich verfügte über so gut wie null Abschreckungsstreitmacht.