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Durch eine „Notlüge“ gefährdet Christian Selikowsky, der Held des Buches, das Leben seiner Liebsten. Seither verfolgen ihn brutale Albträume. Der junge Architekt beschließt, wahrhaftig zu leben, will reinen Tisch machen. Auch mit seinem Vater, für dessen Firma er zwar arbeitet, dem er sich aber entfremdet hat. Christian reist von Wien nach Tirol, wo sein Vater in einem idyllischen Dorf das traditionsreiche Modeimperium leitet. Doch als Christian eintrifft, liegt der Patriarch tot am Schreibtisch. Angeblich Herzinfarkt. Kurz zuvor hatte der alte Herr Besuch von einer chinesischen Dame. Was wollte die attraktive Managerin? Christian stößt auf Lügen. Seine Nachforschungen führen ihn nach Schanghai und in die chinesische Provinz, wo er Wahrheiten über den Vater, die Beziehung zu seiner Verlobten, seiner Familie und sich selbst entdeckt, die er niemals erwartet hätte. „Du sollst nicht lügen“, heißt es in der Bibel. Konfuzius aber entgegnet: „Die Wahrheit ist ein tödliches Schwert!“ Wie viel Wahrheit erträgt der Mensch?
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Seitenzahl: 321
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Gerhard J. Rekel
Die chinesische
Dame
Ein Roman über Lügen, die verletzen, und Wahrheiten, die töten
IMPRESSUM
ISBN 9783990401880
© 2013 by Styria Premium
in der Verlagsgruppe Styria GmbH & Co KG Wien · Graz · Klagenfurt
Bücher aus der Verlagsgruppe Styria gibt es in jeder Buchhandlung und im Online-Shop
Lektorat: Rainer Lendl
Buchgestaltung: Bruno Wegscheider
Coverfoto: iStockphoto/Shutter Worx (Stoff) iStockphoto/itsskin (Dame)
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013
Alle Rechte vorbehalten
Cover
Titel
Impressum
Zitate
Das biblische Versprechen
Der Gang nach Canossa
Schanghai der 1940iger
Der Kannibale
Able bodys
4000 Zeichen
Drunken Sauna Shrimps
Sex & Leidenskreis der Zeitlichkeit
Enklave der Dunkelheit & Rentner-Jazz
Barfußärzte & I Ging
Weiqi & Triestiner Lloyd
Klein Wien & Kaiser Qin
Feuerspeiender Drache & Mandarin-Sauce
Laozi & Lariam
Opossum & Shikumen
Dank
Weitere Bücher
Du sollst kein falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
Darum leget die Lügen ab und redet Wahrheit.
8. Gebot – Epheser 4.25
Die Wahrheit ist eine Waffe, die wie ein Schwert wirkt.
Konfuzius
Als Kindsvater wollte Christian bei der Geburt dabei sein. Er saß neben Sonja im Kreißsaal, hielt ihre Hand. Sonjas engelsgleiches Gesicht war blass, unter ihren hellblauen Augen lagen dunkle Schatten. Sie atmete schwer, röchelte, zuckte. Besorgt schauten ein Arzt und eine Schwester auf den EKG-Bildschirm. Plötzlich begann Sonja zu schreien. Immer lauter. Der Arzt zog einen Wagen mit OP-Besteck heran. Zwei Helfer in blauen Kitteln drängten Christian von ihrem Bauch weg. Presswehen. Der Arzt zückte ein Skalpell. Christian rückte zu ihrem Gesicht, wollte ihr nahe sein. Die Blaukittel schoben ihn auf einen Stuhl. Sonja brüllte. Christian sprang hoch. Die Helfer drückten ihn nieder. Sonja bäumte sich auf. Verzweifelt rückte Christian mit dem Stuhl heran, er beugte sich nach vorne, griff nach ihrer Hand. Die Blaukittel stülpten ihm eine Zwangsjacke über, fixierten ihn. Eine Schwester stellte einen Metalleimer zwischen Sonjas Beine. Christian konnte ihre Scham nicht sehen, nur den Eimer. Der Arzt griff zu einem größeren Skalpell. Blut spritzte. Auf die Kittel. Auf den Boden. Auf Christians Füße. Sonja hechelte, stöhnte, verstummte. Das EKG zeigte einen Strich und piepte. Sofort wollte Christian zu ihr, doch die Zwangsjacke fesselte ihn. Je mehr er zuckte, umso fester. Sonja atmete nicht, ihre Augen starrten zur Decke, leblos. Da bemerkte Christian: Etwas kam aus ihrem Bauch, flutschte in den Metalleimer. Es war klein und bewegte sich. Schwarz. Oval. Faltig. Mit dünnen Beinen. Und langen Fühlern. Eine Kakerlake. Und noch eine. Sie fielen in den Eimer. Wenn ihr Panzer am Metallboden auftraf, hörte Christian ein „Klong“. Jedes Mal. „Klong, klong, klong.“ Bis ihm die Schwester den vollen Eimer brachte. Brutal riss der größere Blaukittel Christians Kiefer auf. Jetzt erst sah Christian das Gesicht des Mannes: Es war sein Vater. Im kleineren Blaukittel erkannte er die Gesichtszügeseiner Mutter. Sie klemmte Christian einen Metallspreizer in den Mund. Über seinem geöffneten Schlund ließ die Mutter eine Kakerlake zappeln. Der Vater grinste ihn verächtlich an: „Mörder!“ Die Schabe fiel auf Christians Zunge. Er spürte, wie sie in seinen Hals krabbelte, ihm den Atem nahm, in seine Arterie eindrang, sein Herz fraß.
Nacht für Nacht quälte Christian diese Szene. Und jedes Mal starb Sonja! Seit Wochen war er mit dem Albtraum aufgewacht. Zumeist gegen drei Uhr früh. Schweißgebadet wälzte er sich dann im Bett.
Neben ihr.
Einmal bemerkte Sonja sein Zittern, sein Hochfahren, seine nasse Stirn. Besorgt fragte sie, was los sei.
Christian konnte es nicht erzählen, wollte sie nicht kränken, niemals. Er hatte sich vor wenigen Monaten mit ihr verlobt, wollte sein Leben mit ihr verbringen. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und ging zu einer Psychotherapeutin: Was hat der Albtraum zu bedeuten, warum diese Qual jede Nacht?
Die Frau residierte in einer Villa im noblen Grinzing am Rande Wiens. Die fünfzigjährige Dame war ihm nicht sympathisch; zu schrill ihre Stimme, zu unverblümt ihre Neugierde, der Habitus eines Kindes im Körper einer reifen Frau. Sie appellierte: Er müsse Geduld haben, eine schnelle Lösung sei unwahrscheinlich.
Christian aber hoffte zumindest auf eine Linderung, auf längere Abstände zwischen den Albträumen, auf ein Verblassen der Bilder. Und eine Antwort, warum ihn gerade jetzt, im Alter von 37 Jahren, nach abgeschlossenem Architekturstudium, mit sicherem Einkommen in der väterlichen Firma und mit einer wunderbaren Frau an seiner Seite, eine solche nicht enden wollende Albtraumserie überfiel.
Die Therapeutin erforschte mit ihm innerhalb einiger Wochen das vermutlich ursächliche Erlebnis: Vor einem Jahr hatte er sich in einer Hautklinik ein Muttermal entfernen lassen. Die Voruntersuchung seines HIV-Tests war positiv. Christian konnte es nicht fassen: Ja, er hatte Sonja einmal mit einer Praktikantin betrogen. Ein Fehler, für den er sich tags darauf schämte. Die hübsche Neunzehnjährige galt als schüchtern, war alles andere als promiskuitiv. Christians Vater hatte eingeladen zum 30-jährigen Firmenjubiläum, die Mitarbeiter machten den Abend zu einem bacchantischen Fest. Christians höflich-galante Art, sein jugendliches Aussehen und seine Position als Sohn des Patriarchen halfen ihm, schnell die Sympathien der Gäste zu gewinnen. Spätnachts musste er die Praktikantin nach Hause fahren. Vor ihrer Wohnung fragte sie, ob er noch mit auf einen Espresso komme: „Nach so einer Party kann ich Alleinsein einfach nicht ertragen … verstehen Sie doch, oder?“ Verschämt lächelte sie, weiße Zähne blitzten, an ihren Ohren baumelten rote Perlen, tiefschwarze Augen strahlten ihn an.
In Christian tobte ein Kampf. Er versuchte, ihr Begehren abzuschmettern. „Ich glaube, meine Verlobte würde das nicht so gut finden“, sagte er lachend.
Doch in der Art, wie er sie dabei ansah, und in der Stille, die darauf folgte, musste sie seine Zweifel geahnt haben.
Hatte Christian sich bei ihr angesteckt?
Der Arzt beruhigte, die Analyse sei nicht hundertprozentig, eine weitere Blutabnahme nötig. Das Ergebnis würde in zwei Tagen vorliegen.
An diesem Abend kam Sonja von einem philosophischen Seminar aus Salzburg zurück, die beiden hatten einander vier Wochen nicht gesehen. Ihre Sehnsucht war groß, sie konnte Alleinsein kaum ertragen, wollte mit ihm schlafen. Er gab vor, Kopfschmerzen zu haben. Sie versuchte ihn zu trösten, liebkoste und verführte ihn. Christian gelang es nicht sie abzuweisen. Im letzten Moment griff er zu einem Präservativ, obwohl er wusste, dass sie den Geruch des Gummis nicht mochte und die beiden seit ihrer Verlobung auf Kondome verzichtet hatten.
„Warum plötzlich?“, fragte Sonja lauernd, „hast du mich betrogen? … Oder glaubst du gar, ich war dir in Salzburg nicht treu?“ Er schüttelte den Kopf.
„Na dann …“ Sie schob das Kondom zur Seite.
Er schaffte es nicht, ihr die Wahrheit zu sagen. Schlief mit ihr. Dachte an seine Lüge. Mühte sich ab. Kam ins Schwitzen. Zwang sich durchzuhalten. Ertrug es kaum. Verdammt, warum hatte er bloß bei der Praktikantin nicht nein gesagt? Er quälte sich, bis sie endlich kam. Und hasste sich dafür.
Am nächsten Tag zitterte er dem Kliniktermin entgegen. Der Arzt lächelte, der HIV-Kontrolltest war negativ. Auch davon erzählte er Sonja nichts.
Die Therapeutin aber meinte: Christians Problem liege tiefer, er sei nicht ehrlich. Mit sich und anderen. Er habe ein zu schwaches Selbstwertgefühl. Mitten in der Sitzung durchflutete ihn eine unangenehme Hitze, sein Herz pochte.
Später las er, wie die meisten Psychologen ihre Behandlungen strukturieren: Erst zeigen sie Empathie, dann werden sie normativ. Die Therapeutin mit der kindlichen Mimik sah Christian in die Augen: „Sie sind zu nett, Herr Selikowsky!“
Der Satz ärgerte ihn. Einen Moment lang wollte er die Therapie abbrechen, doch noch mehr ärgerte ihn, dass sie Recht hatte: Er war tatsächlich zu nett. Zu seiner Familie, zu seinen Freunden, ja sogar zu Praktikantinnen. Manchmal verleugnete er sich, bloß um im Moment zu gefallen. Wäre er tatsächlich mit Aids infiziert gewesen, hätte er aus Angst vor der Wahrheit in dieser Nacht seine Verlobte angesteckt. Seine Lüge hätte ihn zum Mörder gemacht!
Vielleicht war es ein Wink des Schicksals, ein Schuss vor den Bug. Deshalb legte er in der letzten Therapiesitzung ein Versprechen ab: Er verinnerlichte das achte Gebot und nahm sich vor, nach der Wahrheit zu leben, sich von Lügen fernzuhalten, den eigenen und den fremden.
Doch dieses Versprechen beruhte auf einem Irrglauben. Einem fatalen.
˘ ˘ ˘
Mit eingeschäumten Wangen stand Christian vor dem Spiegel. Die Rasierklinge schuf glatte Bahnen. Je mehr er sich vom Schaum befreite, umso zweifelnder betrachtete er sein Gesicht: Ja, seine schlanke Nase, seine blauen Augen und sein schwarzer Wuschelkopf gaben ihm einen jugendlich-verspielten Charme, doch an den Koteletten entdeckte er Silberfäden und seine wilden Locken verschleierten kleine Geheimratsecken.
Als er am späten Morgen über den Stephansplatz schlenderte, wehte ihm der kalte Märzwind entgegen. Er stellte den Kragen seines Wolljacketts hoch und wickelte den roten Kaschmirschal fester um den Hals. Weil die Espressomaschine im Büro gerade in der Reparatur war, steuerte er auf ein Café zu. Gleichzeitig mit ihm kamen drei chinesische Touristinnen ins Geschäft. Einer fiel das Halstuch zu Boden. Reflexartig beugte sich Christian danach und zögerte mitten in der Bewegung: War er schon wieder zu nett? In diesem Moment griff auch die Chinesin nach dem Tuch – die beiden stießen ums Haar zusammen. Die junge Frau kicherte, die beiden anderen Chinesinnen lächelten; schüchtern, verlegen, naiv. Irgendwie alle nett. Nicht nett sein, konnte doch unmöglich bedeuten, wie ein Rüpel durchs Leben zu trampeln. Nein, er wollte nett im Stil und ehrlich in der Sache sein, das war’s!
Er ließ sich zwei Becher mit Cappuccino geben, querte den Stephansplatz und ging auf das Haas-Haus zu, auf dessen Glasfassade sich die Morgensonne über mehrere Etagen spiegelte. Im sechsten Stock betrat er das Büro mit der Aufschrift Selikowsky – Abteilung Marketing & Werbung. Seine Sekretärin stand von ihm abgewandt am Fenster und telefonierte. Jenny bemerkte ihn nicht, lachte, flirtete, plauderte. Ihrer bequemen Haltung nach zu schließen schon sehr lange.
Sollte er einfach in sein Büro huschen und ihr Privatgespräch ignorieren? Das wäre nett. Und verlogen!
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