Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Agatha Christie, Graham Greene und Hollywood machten ihn zum Mythos. Bis heute beflügelt der "König der Züge" die Sehnsucht nach Abenteuern und romantischen Erlebnissen. Doch was ist seine Geschichte, welche Vision steckte dahinter ? Der Mann, der den Orient-Express und über 180 weitere Nachtzugverbindungen durch ganz Europa auf die Gleise stellte, ist Georges Nagelmackers (1845–1905). Das Ringen um seinen Traum entwickelte sich zu einem dramatischen Auf und Ab zwischen Hoffnung und Verzweiflung, Scheitern und Triumph, erlittenem Spott und großer Verehrung. Georges Nagelmackers' Lebenswerk ist ein Plädoyer für die hartnäckige Verfolgung einer Vision, das raffinierte Spiel über die Bande und den Glauben an den Umweg : geografisch, politisch und menschlich. "Georges Nagelmackers hat etwas komplett Neues für Europa eingeleitet : Er hat es vollbracht, Grenzen zu überwinden, ohne Krieg zu führen." — Baudouin Nagelmackers, Mitglied der Familie
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 296
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Gerhard J. Rekel
Wie es Georges Nagelmackers gelang, Welten zu verbinden
1 Londres–Paris–Constantinople
2 Die letzte Chance
3 Die Welt ist Eisenbahn. Und Eisenbahn die Welt
4 Amour fou
5 Schaufelrad
6 In die Kurven mit Bogies
7 Die Neue Welt
8 Luxusschiff auf Rädern
9 Eisenbahnaufmärsche
10 Queen’s Messenger
11 Supplément de wagons-lits
12 Der Retter
13 Der schwarze Freitag
14 Der übermächtige Gegner
15 Der Schlafwagenkrieg
16 Neugründung
17 Der Umweg
18 Speisen auf Reisen
19 Eine Revolution: Paris–Konstantinopel
20 Alles oder nichts
21 Der König der Züge
22 Straßburg–München
23 Wien–Budapest
24 Budapest
25 Des Teufels Feuer
26 Bukarest und Sinaia
27 Giurgiu–Varna
28 Am Schwarzen Meer
29 Gemälde mit Möwen
30 Schafe und Straßenbahnen
31 Der Thron des Schahs von Persien
32 Zurück nach Paris
33 Die Veränderung des Denkens durch das Reisen
34 Zum Nabel der Sonne
35 Durch die Mangel
36 Die Zäsur
37 Wettrennen
38 Grands Hôtels
39 Die Methode Nagelmackers
40 Das Fiasko
41 Der Canossagang
42 Der Goldschürfer
43 Auf Messers Schneide
44 Das Ultimatum
45 Die Galgenfrist
46 Damoklesschwert
47 Nachklang
Zeittafel
Dank
Literaturverzeichnis
Anmerkungen
Als Jugendlicher liebte ich den Duft des Bahnhofs. Die Parfüms der gepuderten Damen mischten sich mit dem Schweiß der Kofferträger und dem Geruch von Schmieröl und Kohle. Der Duft des Bahnhofs war ein Versprechen. Ein Versprechen auf Ferne. Auf das Fremde. Etwas Geheimnisvolles. Eine andere Stadt. Ein anderes Land. Andere Menschen. Schon als Kind saß ich am liebsten auf der Bahnsteigkante. Mit den Zehenspitzen berührte ich die rostige Schiene und fühlte mich so verbunden mit einer anderen Welt.
»Dieses Werk der Harmonie, des Friedens und des Fortschritts wird nicht fruchtlos bleiben.«
— Staatspräsident Émile Loubet zur Eröffnung der Pariser Weltausstellung am 14. April 19001
Ein Gewitter kündigte sich an. Dunkel aufziehende Wolken und eine Windböe auf der Place de la Concorde ließen die vielen Damen in eleganten Kostümen und ihre Begleiter in feinen Gehröcken einen Schritt zulegen.
Auch der 54-jährige Georges Nagelmackers beeilte sich, als er an diesem 15. April 1900 auf eine 30 Meter hohe Eisenkuppel zuging, die von zwei Minaretten flankiert wurde und das Tor zur Welt symbolisierte: Der monumentale Haupteingang der Exposition Universelle de Paris. Stündlich konnten bis zu 40 000 Besucher eingelassen werden. Nachts erstrahlte das Tor durch tausende grüne und blaue Glühbirnen und wurde zu einem leuchtenden Ungeheuer.
Der großgewachsene Belgier2 im feinen Zwirn betrachtete einen Moment lang die Frauenstatue auf der Spitze der imposanten Kuppel. Nagelmackers hatte den Eindruck, als hieße das Lächeln der steinernen Dame die Besucher willkommen.
Als Generaldirektor der Compagnie Internationale des Wagons-Lits(CIWL) sprach Georges Nagelmackers fließend Französisch, Englisch, Deutsch und Niederländisch. Er dirigierte in seinem Unternehmen mehr als 6 250 Mitarbeiter und 180 Schlafwagen-Verbindungen in ganz Europa und darüber hinaus.3
Der Times-Reporter Opper de Blowitz beschrieb Georges als einen Mann, der »trotz seiner rein belgischen Herkunft ein wenig dem arabischen Typus entsprach: Groß, drahtig, mit schwarzem Haar und Vollbart, dunklen Augen, einer schlanken Nase und festen, oft lächelnden Lippen. Innerlich nervös und äußerlich völlig ruhig.«4
Vom österreichischen Kaiser hatte Georges kürzlich für seine Verdienste den Franz Joseph-Orden erhalten, vom Osmanischen Sultan den Mecidiye-Orden; er war zum Offizier der französischen Ehrenlegion ernannt worden und der deutsche Kaiser hatte ihm den preußischen Krone-Orden verliehen.5 Kaum ein Unternehmer in Europa war in den letzten Jahren euphorischer gefeiert worden. Es schien, als stünde Nagelmackers auf dem Höhepunkt seines Erfolgs.
In Wahrheit stand Georges das Wasser bis zum Hals. Nur der engste Mitarbeiterkreis wusste um den bedrohlichen Zustand; sein Firmen-Konglomerat raste direkt auf den Abgrund zu. Und Georges war klar: Er hatte nur noch eine Chance – die Weltausstellung!
Zu diesem pompösen Fest des Fortschritts wurden 50 Millionen Besucher erwartet. Für Georges die ideale Gelegenheit, um in den nächsten Wochen das Steuer herumzureißen.
Unzählige Neugierige strömten auf das prächtige Eingangsportal zu. Nagelmackers entdeckte in der Menge zwei bekannte Gesichter, Männer mit frisch gebürsteten Zylindern und in schwarzen Mänteln, Aufsichtsräte seiner Compagnie. Sie kamen, um sich seine neuen Projekte anzusehen. Um sich dezent zu erkundigen. Nach den Kosten. Dem Gesamtaufwand. Der zu erwartenden Rendite. Sie taten es, um ihn bei der nächsten Aufsichtsratssitzung mit ihren Fragen zu traktieren. Fragen, die in Wahrheit keine waren. Denn die Männer versuchten ihn zu maßregeln, sie wollten seine Aktivitäten auf der Weltausstellung beobachten, um ihm später die Kosten dafür vorrechnen zu können.
Seinen perlgrauen Zylinder tiefer ins Gesicht rückend, ging Nagelmackers den Aufsichtsräten aus dem Weg. Bis vor drei Jahren hatten sie ihn noch in Ruhe arbeiten lassen. Denn nach der Premierenfahrt des Orient-Express im Jahr 1883 war Georges von Erfolg zu Erfolg geeilt. Siebzehn Jahre lang hatte er sein Netz ständig erweitert. Er betrieb 776 Schlaf- und Speisewagen sowie 120 Gepäckwaggons, hatte neue Verbindungen von London bis nach Luxor und von Berlin bis nach St. Petersburg geschaffen.6
Dazu eröffnete er ab 1892 Palasthotels in Nizza, Lissabon, Kairo und an fünfzehn weiteren Endstationen seiner Schlafwagen-Verbindungen.7
Nun aber hatte er sich entschlossen, noch einen Schritt weiter zu gehen. Georges wollte nicht mehr nur Europa, nein, er wollte die ganze Welt verbinden! Sein neuestes Ziel: Eine Linie mit seinen Waggons von Paris nach Peking. Die längste Bahnverbindung der Welt. Über 8 000 Kilometer. Durch ganz Sibirien. Er taufte den Zug Transsibérien-Express, manche bezeichneten ihn auch als Extrême-Orient-Express.8
Auf Wunsch könnten die Fahrgäste dann mit seinen Zügen von London, Paris oder Wien nach Moskau reisen. Und von dort mit seinem neuen Transsibérien nach Peking. In der chinesischen Hauptstadt bot seine Agentur Anschlüsse nach Tokio, Yokohama und Schanghai an.
Enorme Entfernungen, die viele Menschen als beängstigend empfanden, wären damit in gerade einmal dreizehn Tagen zu überwinden. Unkompliziert und komfortabel. Auf diese Weise würden Europa und Asien keine abgegrenzten Kontinente mehr sein. Erstmals!
Viele hielten seine Idee für verrückt. Allein Sibirien war über dreimal so groß wie Europa und eisenbahntechnisch kaum erschlossen.9
Doch als Nagelmackers die Idee des Orient-Express hatte, war er ebenso beschimpft worden: von seiner Familie, von Politikern, von Finanziers. Sie bezeichneten seinen Plan, zweimal wöchentlich einen Zug von Paris nach Konstantinopel zu schicken, als »zu investitionsintensiv« und »aufgrund bürokratischer Hürden und nationaler Grenzen nicht realisierbar.«10
Nicht einmal sein Vater, Besitzer der größten belgischen Privatbank, wollte ihm ausreichend Geld leihen. Alle hielten ihn für einen Narren.11
Trotzdem konnte er den Orient-Express nach einer jahrelangen Odyssee auf die Schienen stellen. Der Zug erfreute sich größter Beliebtheit, seine anderen Verbindungen ebenso.
Vor dem Tor der Weltausstellung entdeckte Georges in der Menschenmenge Eduard Salomon von Oppenheim. Der Mitbesitzer des Bankhauses Sal. Oppenheim in Köln war einer der maßgeblichen Kreditgeber der Compagnie Internationale des Wagons-Lits. Der 69-jährige Baron saß im Aufsichtsrat und galt als eines der meinungsstärksten Mitglieder. Und das für Nagelmackers gefährlichste. Oppenheim hatte in den letzten Jahren seine Beteiligung an der Compagnie zum Bedauern von Georges reduziert. Mehrfach!12 Der Bankier stand auf der Bremse, hatte Angst um sein Geld.
Nagelmackers nickte Oppenheim freundlich zu und führte ihn zum russischen Pavillon, wo der Baron von Nagelmackers’ Mitarbeitern empfangen wurde.
Es war die dritte Weltausstellung, auf der Georges für sein Unternehmen warb, nach Wien 1873 und Paris 1889.13 Doch diese war anders. Ganz anders. Niemals zuvor wurden so zahlreich Exponate aus Kunst, Technik und Wissenschaft an mehreren Orten entlang der Seine gezeigt. Über 83 000 Aussteller nahmen teil. Aus 43 Ländern. Auf 112 Hektar in der größten Metropole Europas. Ein dem Fortschritt gewidmetes Panorama der Superlative.14
Die Macher sahen in der Veranstaltung zur Jahrhundertwende ein Prisma der europäischen Aufklärung, es herrschte Aufbruchstimmung: Maschinenbauer revolutionierten die Arbeitswelt, im Palast der Elektrizität verwandelte elektrische Energie die Nacht zum Tag und Kupferleitungen ermöglichten in neuer Qualität Sprechverbindungen über weite Entfernungen.
An diesem außergewöhnlichen Ort wollte Georges beweisen, dass die Fahrt ans andere Ende der Welt ab sofort keine Qual, sondern ein Vergnügen war!
Trotzdem sorgte sich Georges. Zwei Wochen zuvor hatte ihm sein engster Mitarbeiter Napoléon Schroeder die Vorjahresbilanzen auf den Tisch gelegt. Der 47-Jährige war in Deutschland geboren und aufgewachsen. Fleißig, zurückhaltend, sachlich. Mit einem stets korrekt gestutzten Backen- und Kinnbart leitete der korpulente Schroeder die Betriebsabteilung.15 Während die Compagnie Internationale des Wagons-Lits bis 1895 noch Gewinne erwirtschaftet hatte, lasen sich die letzten Geschäftsberichte ernüchternd:
1896 – erste Verluste.
1897 – Verluste verdreifacht.
1898 – Verluste verachtfacht.
1899 – Verluste neuerlich verdoppelt.16
Um der sich anbahnenden Katastrophe entgegenzusteuern, hatte Georges zwei ungewöhnliche Dinge durchgesetzt: Erstens wurden Verluste im Geschäftsbericht als »Investitionen in die Zukunft« ausgewiesen. Und zweitens zahlte die Compagnie trotz hoher Verluste eine großzügige Dividende. 1899 waren es sogar 7,5 Prozent gewesen.17 Nagelmackers wollte damit die Aktionäre trotz schlechter Zahlen bei der Stange halten.
Doch Schroeder wusste es. Und Nagelmackers auch: Bald würde die Finanzierung der laufenden Geschäfte über immer neue Aktien kollabieren und wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrechen.
Georges war auch nicht entgangen, dass die Mitglieder des Aufsichtsrats bereits über ihn diskutierten. War er noch der richtige Geschäftsführer für einen so großen Konzern mit Aktivitäten in über 20 Ländern?
In vielen Firmenbereichen fehlte es an Einnahmen. Obwohl sich Georges massive Kritik wegen zu hoher Ausgaben anhören musste, setzte er jetzt alles auf eine Karte. Statt wie vom Aufsichtsrat gefordert, das Unternehmen zu verkleinern, einige Hotels und Waggons zu verkaufen und bei der Werbung radikal zu sparen, wagte er einen Schritt nach vorne. Vielleicht seinen letzten. Sein Meisterstück.
Er setzte alles daran, um Besucher und Presseleute auf den Transsibérien-Express aufmerksam zu machen. Dafür hatte Georges die letzten Reserven aktiviert. Er wollte nicht bloß mit dem Versprechen einer aufregenden Reise ans andere Ende der Welt werben, nein, die Besucher sollten eine »bahnbrechende Reise erleben«. Hier und jetzt. Auf der Messe.
Georges inszenierte ein seit Monaten vorbereitetes Schauspiel. Ein magisches Reisespektakel. In Original-Waggons. Vor sibirischer Landschaft. Mit bester russischer und chinesischer Küche. Denn für ihn war klar: Ein Erlebnis ist überzeugender als eine Behauptung!
In Wahrheit hatte Nagelmackers einen Coup eingefädelt. Seine Inszenierung im russischen Pavillon sollte zum Höhepunkt der Weltausstellung werden. Dafür hatte er neun vierachsige Waggons mit exquisiter Ausstattung auf das Gelände der Weltausstellung bringen lassen. Die Waggons waren die schwersten und geräumigsten, die es zu dieser Zeit in Europa gab.
Weil die Pavillons jedoch über keine Gleisanschlüsse verfügten, versuchten Nagelmackers’ Ingenieure, jeden der 35 Tonnen schweren Wagen von seinen Werkstätten auf einem rollenden Spezialgestell zur Weltausstellung zu ziehen. Mit je 36 Pferden. Gelenkt von 15 Reitern und Kutschern. Die Pferdegespanne entpuppten sich als zu schwach, die Straßen von Paris als zu eng. Schließlich setzten Nagelmackers’ Mitarbeiter einen bulligen Scotte-Traktor ein. Das mit eisernen Reifen ausgestattete Vehikel wurde von einer Dampfmaschine angetrieben. Es konnte viereinhalb Tonnen mit sieben Kilometern pro Stunde über Kopfsteinpflaster ziehen.
Der Dampftraktor schleppte die schweren Waggons zum Trocadéro am rechten Seineufer, wo der russische Pavillon direkt gegenüber dem Eiffelturm stand.18
Nagelmackers hatte an den wuchtigen Türmen des Pavillons in übergroßen Lettern die Aufschrift »TRAIN TRANSSIBÉRIEN« und »MOSCOU-PÉKIN« anbringen lassen.19
Zusätzlich platzierte er überall in Paris farbige Plakate von seiner Präsentation des »TRANSSIBÉRIEN AU TROCADÉRO«. In den großen Pariser Zeitungen schaltete er Anzeigen: »Der Transsibérien steht am Trocadéro!« Und auf dem gesamten Messegelände ließ er aufwendig gestaltete Broschüren verteilen.20 Darin bewarb er seine vielen Direkt-Verbindungen und belegte, wie sicher seine Waggons waren. Bei einem Unfall in Rumänien im letzten Jahr waren zum Beispiel alle Waggons der nationalen Eisenbahngesellschaft zerstört worden – nicht jedoch jener der Compagnie Internationale des Wagons-Lits. Der stand als einziger noch auf dem Gleis, Passagiere und Waggon blieben unversehrt.21
Am Eingang des russischen Pavillons bewarb Nagelmackers den »Transsibérien«
Der Aufwand, den Georges betrieb, war enorm: Er hatte für seine geladenen Gäste nicht nur 25 000 Eintrittskarten auf sein Risiko zum Weiterverkauf für die Weltausstellung übernommen, sondern auch das Elysée-Palace-Hotel und vier Gebäude des Grand Hôtel du Trocadéro mit insgesamt 2 400 Betten in 1 500 Zimmern fertigstellen lassen, die er im britischen Magazin »The London Illustrated News« mit halbseitigen Anzeigen bewarb.22
Zusätzlich betrieb er das große Restaurant »La Lune« im »Palais de l’Optique«, wo unter seiner Mithilfe ein Refraktor-Teleskop von gigantischem Ausmaß mitten im Ausstellungsgelände platziert wurde. Zwanzig Tonnen schwer. In den Nachthimmel gerichtet. Das Abbild des Mondes fiel durch zwei Röhren von je 60 Metern Länge auf eine riesige Leinwand, vor der 3 200 Menschen Platz fanden.23 Jeder Betrachter sollte den Eindruck haben, er sei nur einen Meter vom Erdtrabanten entfernt.24
Das »Palais de l’Optique« sollte zusätzlich Besucher anlocken
Vor allem aber hatte Georges in allen wichtigen Länder-Pavillons seine Waggons positioniert. Kein Besucher der Weltausstellung sollte an der Compagnie Internationale des Wagons-Lits vorbeikommen: Im belgischen Pavillon stand sein allererster Wagen Nr. 1 mit Compartiments so klein wie Mönchskammern und so luxuriös wie die Zimmer eines Grandhotels. Im italienischen konnte der wunderschöne Restaurantwagen Nr. 760 besichtigt werden, im österreichischen die imposanten Schlafwagen 680 und 681 mit Rauchersalon, und im französischen der für Ägypten weißlackierte Nr. 778.25
Den absoluten Höhepunkt aber inszenierte Nagelmackers im russischen Pavillon. Er nutzte eine Rekonstruktion des Kremls mit 50 Meter hohen Türmen und zinnenbewehrten Backsteinmauern.26
Unter dem reich verzierten Dreiecksgiebel empfing Nagelmackers am ersten Tag der Weltausstellung die Crème de la Crème aus Politik, Wirtschaft und Adel: Den Präsidenten des französischen Ministerrats Pierre Waldeck-Rousseau, den Marquis von Montebello, seines Zeichens französischer Botschafter in St. Petersburg, Journalisten, Ehrengäste und auch jene Mitglieder des Aufsichtsrats, die Nagelmackers entmachten wollten. Manchmal hatte er den Eindruck, die Herren in den schwarzen Anzügen verfolgten ihn wie seine Henker – immer auf der Suche nach Fehlern. Besonders, seit die Compagnie Verluste schrieb.
Auch Nagelmackers’ Frau Sophie Françoise Marguerite Mermet war gekommen. Die hübsche, um drei Jahre jüngere Schweizerin stammte aus Genf.27 Sie ließ sich den Besuch nicht nehmen, denn sie sorgte sich um die Gesundheit ihres Mannes. Georges hatte sich in letzter Zeit oft schlecht gefühlt. Marguerite vermutete, dass es an der enormen Arbeitsbelastung lag. Wenn Georges neue Pläne schmiedete und Veranstaltungen organisierte, überließ er nichts dem Zufall. Er schlief zu wenig und kümmerte sich persönlich um jedes Detail. Der Drang nach absoluter Perfektion und seine akribische Detailversessenheit prägten Nagelmackers’ gesamtes Leben.28
Im russischen Pavillon führte er die Besucher zu dem von der Compagnie nachgebauten Bahnhof von Moskau. Dort hatte er einen ganzen Zug aufstellen lassen: zwei Restaurantwagen, einen Salonwagen und einen Schlafwagen – den Transsibérien-Express.29
Die Besucher bestaunten den im Empirestil eingerichteten Salon des Waggons Nr. 724 mit Möbeln aus weißlackiertem Lindenholz und einem Piano, das auf Wunsch automatisch spielte. Noch mehr beeindruckte das Badezimmer: darin eine Wanne mit nach innen gebogenem Rand. So wurde beim Ruckeln und Schlingern des Zugs ein Überschwappen des Wassers verhindert. Im hinteren Teil des Waggons erwarteten die Fahrgäste ein Friseursalon und ein Gymnastikraum mit Hanteln und einem Fitness-Fahrrad.30 Nagelmackers entging nicht, wie ein Mitglied des Aufsichtsrats den Kopf schüttelte.
Kaum hatten die Besucher im Speisewagen auf Samtstühlen Platz genommen, wurde der Waggon durch eine maschinelle Vorrichtung sanft gerüttelt, um die Fahrbewegungen zu simulieren. Die russischen Kellner in weißen Tatarentrachten und mit hyazinthfarbenen Schärpen servierten Borschtschsuppe, frischen Kaviar und Champagner.31
Während die Ehrengäste im Waggon dinierten, waren durch die Fenster 950 Meter lange, vorbeiziehende Panorama-Leinwände zu sehen. Auf drei Ebenen. Und in drei Geschwindigkeiten. Im Vordergrund zogen Gleisbett, Büsche und Gestrüpp vorbei. In der Mitte, etwas langsamer, realistisch gemalte Impressionen von Moskau, sibirischen und mandschurischen Landschaften und der Baikalsee. Darüber, noch langsamer, eine Wolkenformation vor blauem Himmel. 12 Reisetage, zusammengefasst in 45 Minuten.
Georges hatte für diese Reise-Illusion eigens den Chefdekorateur der Pariser Oper engagiert; Monsieur Jambon war nach Russland gefahren, um seine Eindrücke auf sechshundert Skizzen und über zweihundert Meter Leinwand zu bannen. Straßen, Berge und Seen. Die Besucher sollten den Eindruck gewinnen, im Zeitraffer von Moskau nach Peking zu »fliegen«.32
Nach 45 Minuten endete die Show und es schien, als hätte der Schwung der Bilder die Journalisten und Premierengäste mitgerissen.33
Georges pries Russland, China und Japan als Länder der Zukunft. In den nächsten Jahren schon würden sich Scharen von Händlern, Diplomaten und betuchten Touristen in seinen Schlafwaggons Richtung Osten und zurück bewegen.
Werbepostkarte für das Panorama des Transsibérien mit Porträt des Direktors
Trotzdem entgingen Nagelmackers die kritischen Blicke der Aufsichtsräte nicht. Umso mehr versuchte er mit Euphorie zu überzeugen: Die Compagnie Internationale des Wagons-Lits werde in Kürze die einzige durchgehende, komfortable Verbindung auf die andere Seite der Welt anbieten. Mit französisch-, deutsch-, englisch- und russischsprechendem Personal.
Ein Journalist fragte, warum denn nur Luxuszüge? Georges entgegnete: Der Bedarf an günstigeren Reisen werde komplett von normalen Bahngesellschaften abgedeckt. Nur im oberen Segment wären Staaten bereit, ihm Schienenbenützung und Lokomotiven für seine Züge zur Verfügung zu stellen, weil den staatlichen Bahngesellschaften diese Angebote zu komplex und zu investitionsintensiv seien. Außerdem wollten und konnten nur wenige Leute überhaupt so weit reisen. Jene eben, die Komfort zu schätzen wussten. Perfekten Komfort!
Ein anderer Reporter wollte von Nagelmackers wissen, wie er es denn überhaupt geschafft hatte, das größte private Eisenbahnunternehmen der Welt aufzubauen. Welche »geheime Formel« er gefunden hätte, um die bürokratischen Bahnverwaltungen zu überzeugen, die komplizierten Regularien der Nationalstaaten zu berücksichtigen und eine Vielzahl von Beamten und Investoren von seinem Geschäftsmodell zu überzeugen.
Statt zu antworten, lenkte Nagelmackers den Fokus auf sein neues Projekt, denn ihm war klar: Um weiterhin Erfolg zu haben, musste er dieselben Methoden anwenden, die ihm geholfen hatten, aus einem 30-Quadratmeter-Büro in Lüttich und einem geliehenen Waggon ein europaweit aktives Unternehmen mit über 6 000 Mitarbeitern aufzubauen.34
Gelungen war ihm das dank einer speziellen Methode, die er hier nicht verraten wollte. Vielmehr fragte er sich, ob diese Methode auch weltumspannend funktionieren würde. Deshalb beendete er seine Ansprache mit einem Angebot: Die Weltausstellung biete die einzigartige Möglichkeit, in sein Projekt einzusteigen und mit der Compagnie zu kooperieren sowie Tickets oder ganze Kontingente im Voraus zu buchen.
Er verbeugte sich und erhielt Applaus. Es schien, als hätten die meisten seine Idee verstanden, als wäre die Veranstaltung ein Triumph. Einen Moment dachte Georges an seinen verstorbenen Vater. Wie schön wäre es gewesen, wenn gerade er, der immer eine kritische Haltung zu den Eisenbahn-Projekten seines Sohnes gehabt hatte, diese Zustimmung hätte miterleben können. Hätte es ihn beeindruckt?
Natürlich registrierte Nagelmackers auch die skeptischen Mienen. Von Baron Oppenheim und den anderen Männern aus dem Aufsichtsrat. Er wich ihren Blicken aus, seine Augen suchten Marguerite. Als er seine Frau fand, stand sie etwas abseits bei einem Journalisten mit Champagner. Sofort hatte er den Eindruck, dass sie ihn besorgt ansah.
Wenn Georges von Gegnern kritisiert wurde, konnte er einigermaßen damit umgehen. Bei Freunden fiel es ihm schon schwerer. Am schlimmsten empfand er es, wenn seine Frau ihn tadelte; bei ihr war er am verletzlichsten. Dann bedurfte es keines bösen Wortes, da reichte ein ganz bestimmter Blick – und er fühlte sich zutiefst verunsichert.
Plötzlich erschütterte ein heftiger Knall den Waggon – unvermittelt saßen alle im Dunklen, auch die Panorama-Leinwände stoppten.
Aufgeregt liefen mehrere Techniker umher. Georges sprang aus dem Waggon und sah sich besorgt um. Nach einigen Minuten gingen die Lampen in den Waggons wieder an, doch die Panorama-Leinwände bewegten sich nicht.
Georges trat vor seine Gäste und entschuldigte sich: Die Elektrizitätsanlagen konnten für die Weltausstellung nicht ausreichend Strom liefern, deswegen käme es immer wieder zu Ausfällen.35
Schließlich stiegen die Premierengäste auf der anderen Seite des Waggons aus, wo Nagelmackers eine dem Pekinger Bahnhof nachempfundene Pagode hatte aufbauen lassen. Seine Mitarbeiter reichten in chinesischen Kostümen ein Dessert.
Alles würde nun für Georges davon abhängen, wer und wie viele Besucher bei diesen täglich stattfindenden Präsentationen auf ihn oder seinen Mitstreiter Napoléon Schroeder zukamen und an Kooperationen interessiert wären.
Da näherte sich Nagelmackers’ Frau Marguerite, sie plauderte mit Baron Oppenheim. Georges wusste, sie wollte jetzt nach Hause, am liebsten mit ihm. Und sie hatte Recht, denn er hatte in den letzten Nächten kaum geschlafen und fühlte sich erschöpft. Nicht nur wegen der Weltausstellung. In den letzten Wochen spürte er immer öfter eine tiefe Müdigkeit, Falten hatten sich über Nase und Stirn gebildet, seine Haare waren ergraut. Die vielen Reisen, das Ringen mit Geldgebern, Politikern und Mitarbeitern hatte Kraft gekostet. In letzter Zeit war er manchmal so beunruhigt gewesen, dass er sogar ein Testament hatte aufsetzen lassen, um im Falle seines Ablebens jene beiden Menschen großzügig zu versorgen, die er am meisten liebte: seine Frau Marguerite und seinen 22-jährigen Sohn René, der bereits in der Firma mitarbeitete.36
Plötzlich trat Baron von Oppenheim mit einem süffisanten Lächeln an Nagelmackers heran. Georges kannte Oppenheim seit Jahren und wusste, dass sich hinter dieser Süffisanz Vorbehalte verbargen.
Oppenheim hatte sich zuvor auf dem Gelände umgesehen und in einigen Pavillons die Schlafwaggons der Compagnie entdeckt. Er gab sich erstaunt ob des gewaltigen Aufwands und wollte erfahren, wie sich das zu Buche schlagen würde.
Georges befürchtete, Oppenheim würde nun auf die in den letzten Jahren aufgelaufenen Verluste anspielen.37
Für Nagelmackers stellte Oppenheim jedoch die falsche Frage. Richtig gewesen wäre es, sich danach zu erkundigen, welch einzigartige Chance die größte Ausstellung der Welt für die Compagnie biete.
Trotzdem war Georges natürlich bewusst: Die zunehmenden Verluste würden ihn demnächst erdrücken. Er benötigte Geld. Frisches Geld. Viel Geld. Nur damit konnte er seinen Kopf aus der Schlinge ziehen, die der Aufsichtsrat bereits um seinen Hals gezogen hatte und die immer enger wurde. Sein Lebenswerk, ja vielleicht sogar sein ganzes Leben standen plötzlich auf dem Spiel.
»Wer sich dem Bahnhof nähert, erwartungsvoll den Bahnsteig und dann das Abteil betritt, der löst sich aus der Enge seiner Verhältnisse, ergreift Besitz von der Ferne, ist versetzt in eine transitorische Welt.«
— Hermann Glaser, Kulturhistoriker38
Im Südosten Belgiens, am Fuße des waldreichen Mittelgebirges der Ardennen, das durch lange, nicht allzu hohe Plateaus und steil abfallende Hänge geprägt ist, liegt vor den Toren Lüttichs der kleine Ort Angleur. Unweit davon mäandert der schmale Fluss Ourthe in engen Schleifen auf seinem Weg in die Maas. Da und dort sind in der Landschaft die Spuren von Kohleabbau und Eisenhütten zu erkennen.
In einem Haus am noblen Boulevard de la Sauvenière, der um Lüttichs Altstadtkern führte, wurde am 25. Juni 1845 um neun Uhr abends Georges Lambert Casimir Nagelmackers geboren.39
Die ursprünglichen Nagelmackers waren im 13. Jahrhundert Nagelfabrikanten in Brabant im Süden der Niederlande gewesen. Im Laufe der Jahrhunderte wandten sie sich der Stahlindustrie und schließlich den Geldgeschäften zu und zogen nach Belgien.
Häufig besuchte Georges seine Großeltern, die in Angleur ein kleines Schloss bewohnten, das noch heute »Schloss Nagelmackers« heißt.
Kohleabbau und Eisenhütten in Angleur, Mitte des 19. Jahrhunderts
Zwischen diesem Anwesen und der elterlichen Villa in Lüttich verlief eine Bahnstrecke. Auf dem Weg zu den Großeltern konnte Georges oft die schnaufenden Dampfrösser beobachten, die am Château Nagelmackers vorbeifuhren.
Im Jahr 1843, zwei Jahre vor Georges’ Geburt, hatte die Rheinische Eisenbahngesellschaft zusammen mit den Belgiern die weltweit erste grenzüberschreitende Bahn-Verbindung eröffnet. Sie verband Aachen mit Lüttich und verlief nahezu geradlinig durch das Tal der Vesdre, ermöglicht aufgrund zahlreicher Brücken und Tunnel. Für diese neue Linie mussten zwei der ältesten Steilstrecken Europas überwunden werden. Die Steigung war so stark, dass die noch leistungsarmen Lokomotiven nur mit einem parallel zum Gleis gespannten Seil hochgezogen werden konnten – und zwar mittels einer stationären Dampfmaschine am höchsten Punkt.
Stolz diskutierten in diesen Jahren die Bürger über den Erfindungsreichtum der Eisenbahn, die Zeitungen berichteten ausführlich. Auch bei Familie Nagelmackers waren die Arbeiten an der Strecke ein Thema. Immer deutlicher entpuppte sich die Eisenbahn als der Beginn einer neuen Ära, denn durch das Überwinden von Flüssen und Bergen verkürzten sich die Entfernungen. Viele Menschen hofften, die neuen Bahnen könnten die Verbindungen zwischen den Regionen erleichtern und Europa in ein Mosaik von Nachbarschaften verwandeln. Noch aber war das Reisen mühsam, denn es existierten nur Teilstrecken.
Aus der frühen Kindheit von Georges Nagelmackers ist wenig bekannt. Dank einiger Hinweise seiner Verwandten und anderer Berichte können wir jedoch nachempfinden, dass Georges – wie viele seiner Zeitgenossen – von der Eisenbahn fasziniert gewesen sein muss.40 Heute setzen sich Politiker gerne mit digitalen Projekten in Szene, damals präsentierten sich die Herrscher vor neuen Eisenbahnbrücken, Tunneln oder internationalen Verbindungen, um als moderne Regenten wahrgenommen zu werden.41
Das Haus der Großeltern lag unmittelbar an der Bahnstrecke; so konnte Georges das Schnaufen der Dampflokomotiven von Weitem hören. Oft muss er wohl den nahen Bahnübergang besucht haben, wo ein Bahnwärter seinen Dienst versah.
Georges konnte beobachten, wie der Mann in seiner schicken Uniform ständig den Kopf nach links und rechts drehte, um die Gleise zu beobachten. In beiden Richtungen befanden sich in einiger Entfernung neben dem Bahndamm jeweils hohe Masten mit einem geflochtenen, roten Ballon – Korbsignale.42
Wurden diese Ballons von dem nächsten Bahnwärter hochgezogen, so wusste der Kollege, dass in wenigen Minuten ein Zug auftauchen würde. Dann ließ er die Schranken herunter, um Fuhrwerke, Fußgänger und Viehherden aus beiden Richtungen aufzuhalten.
Vielleicht stellte sich Georges gerne an die Gleise und wartete, bis das schwarze Ungetüm fauchend an ihm vorbeidonnerte, um es zu bestaunen. Womöglich entstand auf diese Weise eine Sehnsucht nach der Bahn und den damit verbundenen Sinneseindrücken. Denn die verbrannte Kohle, das Schmieröl und der Wasserdampf mischten sich zu einem ganz bestimmten Duft. Eine Art Eisenbahnparfüm. Es könnte Georges geprägt haben, denn auch später suchte er gerne die Nähe von Bahnhöfen und Lokschuppen.
Vor allem war Georges begierig zu erfahren, wie die neuen Maschinen funktionierten. Er quälte seine Eltern mit Fragen: warum, wie genau, weshalb. Für viele Erscheinungen suchte er eine Gesetzmäßigkeit, eine innere Logik. Er verschlang Bücher, die sich mit Technik und Physik befassten. Ihn begeisterten Apparaturen, mit denen die Welt voranschritt: das erste von einer Dampfmaschine angetriebene Luftschiff, der erste elektrische Generator, der erste Bunsenbrenner. Seit 1858 berichteten die Zeitungen von der spektakulären Verlegung des ersten Transatlantikkabels von Irland nach Neufundland. Eine telegrafische Verbindung in die Vereinigten Staaten sollte hergestellt werden. Der damals berühmteste Universalgelehrte, Alexander von Humboldt, konstatierte: Durch Erfindungen wie Eisenbahn, Dampfschiffe und Telegrafenapparate »verschwindet gegenwärtig der Raum«.43
Mit elf Jahren besuchte Georges den humanistischen Zweig des Gymnasiums Athénée Royal in Lüttich, mit fünfzehn scheint er ein wissbegieriger Schüler gewesen zu sein, denn die Lütticher Tageszeitung »La Meuse« meldete,44 dass eine Kommission im August 1860 Auszeichnungen an Schüler vergeben hatte, darunter auch an Georges, dessen Arbeiten in Griechisch, Latein, Deutsch, Englisch, Geschichte und Geografie gewürdigt wurden.
Am Ende seiner Schulzeit wurde er für seine sprachlichen Leistungen gelobt.45 Wer Latein und Griechisch beherrscht, so sind Linguisten heute überzeugt, versteht nahezu alle romanischen Sprachen, insbesondere auch Italienisch und Spanisch. Von diesen umfangreichen Sprachkenntnissen profitierte Georges später bei seinen internationalen Verhandlungen.
Georges’ Vater Edmond gehörte die größte Privatbank Belgiens, das Bankhaus Nagelmackers.46 Seine Mutter Eugénie Orban stammte aus einer Politiker- und Industriellenfamilie.
In gehobenen Kreisen war es damals üblich, dass die Kinder nicht mit den Eltern zusammen speisten, sondern mit dem Personal. Frühstück, Mittag- und Abendessen erfolgten zumeist im Dienstbotentrakt. Georges und sein um zehn Jahre jüngerer Bruder Jules haben Edmond Nagelmackers mit »Herr Vater« angesprochen, die Kinder hatten ihre Eltern zu siezen, sie galten als Respektspersonen.
In dieser Zeit war der Vater die Galionsfigur der Familie, in der bürgerlichen Gesellschaft dominierte er das berufliche und private Leben. Alle Familienmitglieder trugen dazu bei, seine Autorität zu untermauern.47
Georges’ Vater führte nicht nur erfolgreich seine Bank, sondern war auch an mehreren belgischen Industrieunternehmen beteiligt und saß in vielen Aufsichtsräten.48 Es ist davon auszugehen, dass er nicht viel Zeit für seine Kinder hatte und das Verhältnis zu Georges eher distanziert war. Belegt ist: Die Familie hatte ein katholisches und politisch konservatives Weltbild.49 Möglicherweise empfand Georges als Jugendlicher diese konservative Strenge als einengend und er entwickelte deshalb eine Sehnsucht nach Ferne und Weite, die ihn ein Leben lang begleitete. Oft hielt er sich in der Schulbibliothek auf und verschlang Reiseberichte, mit denen er sich in ferne Regionen träumte. Mit dem Zeigefinger verfolgte er dann die Strecken auf der Landkarte: Lüttich, Brüssel, Amsterdam, Paris – wie die Menschen dort wohl waren?
Hin und wieder besuchte Georges’ Cousine die Familie Nagelmackers. Die um neun Jahre ältere, aufgeweckte Marie Joséphine muss Georges beeindruckt haben. Nach solch einer mehrtägigen Visite brachte die Familie die Cousine zum Bahnhof.
Während Mutter Eugénie und Vater Edmond ihre Nichte umarmten und der Vater intensiv auf die junge Frau einredete, fielen Georges die riesigen Antriebsräder der majestätischen Crampton auf. Doch nicht nur die Dampflokomotive begeisterte, der gesamte Express-Zug war deutlich besser ausgestattet als die Personenzüge, die normalerweise in Lüttich hielten. Georges betrachtete durch das heruntergelassene Waggonfenster die gepolsterten Bänke, das edle Furnierholz und die zahlreichen Spiegel. Die weiblichen Fahrgäste trugen ausladende, mit Federn geschmückte Hüte und die neueste französische Mode. Sie hatten wuchtige Lederkoffer dabei, lachten und plauderten. Es mag Georges vorgekommen sein, als kämen die Passagiere aus einer anderen Welt. Einer Welt voller Geheimnisse. Und seine Cousine reiste mit diesem Zug ab, winkte aus dem Waggon, bis Georges den Express aus den Augen verlor.
»Bahn fahren ist gewissermaßen eine Dehnungsfuge im hektischen Hamsterrad, das wir Alltag nennen. Da können wir unsere Perspektive wechseln und mit anderen ins Gespräch kommen.«
— Stephan Grünewald, Psychologe50
Je mehr sie redete, umso weniger konnte sich Georges auf das Gesagte konzentrieren, und umso mehr wollte er sie küssen. Georges kam sich vor wie bei einem Tanz: jeder Schritt ein Wagnis. Liebeswerben und Liebessehnen. Sträuben und Ergeben. Begierde und Verweigerung. Amouröse Nähe und familiäre Vorbehalte. Nie zuvor hatte in ihm eine Frau solch ein Begehren ausgelöst.
Mit 18 Jahren hatte sich Georges für das Studium auf der École des Mines entschieden.51 Er freute sich darauf, neue Menschen kennenzulernen. Dieser Zweig der Universität in Lüttich verfügte über einen exzellenten Ruf und bot ihm zwei Möglichkeiten: Eine Abteilung für Berg- und Hüttenwesen und eine weitere für Gewerbe und Industrie.
Georges wählte die zweite Option, die vielseitigere Ausbildung gefiel ihm besser.52 Es faszinierten ihn nicht nur die Newtonsche Mechanik und Keplers Sonnensystem, sondern auch die grafischen Darstellungen dieser Phänomene. Er liebte es, kunstvoll gefertigte Skizzen zu betrachten, die eine technische Anlage präzise erklärten. Noch mehr gefiel ihm, mit Kohlestiften die eine oder andere Zeichnung selbst zu gestalten. Peu à peu bildete sich eine Liebe zur Ästhetik heraus. Jedem Detail eines technischen Apparats versuchte er eine Form zu geben, deren Sinn die Funktionalität der gesamten Anlage erhöhte.
In den Vorlesungen, die Georges verfolgte, entwickelte sich die Eisenbahn mehr und mehr zum Thema. Es wurde sogar über die Einrichtung eines Studiengangs für »Eisenbahnbetrieb« diskutiert. Dazu wurde ein Kongress abgehalten.53 Denn mit der Eisenbahn konnten die Menschen erstmals Zeitungen rasch von der Hauptstadt in entlegene Orte transportieren. Neue Gedanken verbreiteten sich so schneller und weiter.
Georges konnten die an der Universität kursierenden Schriften des französischen Ökonomen Constantin Pecqueur kaum entgangen sein: »Die Eisenbahnen werden mehr leisten für die Gleichheit als die übertriebenen Prophezeiungen der Volksredner der Demokratie.«54 Der Wirtschaftswissenschaftler gelangte zu der Überzeugung, dass bald alle gesellschaftlichen Klassen von der Eisenbahn profitieren würden. »So verringern sich nicht nur die Entfernungen zwischen den Orten, sondern gleichermaßen die Abstände zwischen den Menschen.«55
Im ersten Jahr erhielt Georges an der Uni exzellente Noten, im zweiten ließen seine Leistungen nach. Sogar die Lütticher Zeitung »La Meuse« reihte ihn in ihrem Bericht an letzter Stelle, spricht von »zufriedenstellenden Leistungen«.56 Er schaffte also gerade noch den Abschluss.57
Der Leistungsabfall könnte mit einer Begegnung zusammenhängen: Georges hatte sich verliebt. Die Angebetete war um neun Jahre älter. Diese Amour fou schien mehr als nur eine flüchtige Avance gewesen zu sein, denn schon bald strebten die beiden eine Verlobung an. Und wollten heiraten.
Der Technikstudent hatte kaum Erfahrung mit dem weiblichen Geschlecht. Er musste sich nach einer Frau gesehnt haben, mit der er über Dinge reden konnte, die ihn bewegten: Zum Beispiel über die sensationelle Erfindung der Gaslaterne oder Belgiens politische Ambitionen, neutral zu bleiben, oder die widersprüchlichen Nachrichten aus der Neuen Welt. Jene Damen, die ihm seine konservative Familie als mögliche Partnerinnen nahelegte, plauderten über die Skandale im belgischen Königshaus, den neuesten Konditor im Quartier oder die Tanzschulen von Lüttich.
Diese Frau aber scheint anders gewesen zu sein, ihre selbstbewusste Art muss Georges fasziniert haben. Nur ein Aspekt bereitete ihm Unbehagen: Marie Joséphine war seine Cousine.
Er versuchte, die Gedanken an das biblische Inzuchtverbot zu verdrängen; vielleicht betraf es ja ohnehin nur Verwandte in direkter Linie und nicht Cousins und Cousinen. Dass Marie Joséphine um neun Jahre älter war, störte ihn nicht, im Gegenteil, ihre Erfahrungen imponierten ihm.
Als Georges’ Vater von den Heiratsabsichten seines Sohnes erfuhr, reagierte er prompt: »Niemals, das wäre eine große Dummheit!«58
Doch Georges schien es damals, als wäre Marie Joséphine die Liebe seines Lebens. Die Appelle seiner Familienmitglieder prallten an ihm ab, er wollte sich eine Hochzeit keinesfalls ausreden lassen.
Auch seine Mutter Eugénie Orban stammte aus einer streng katholischen Familie. Ihr Bruder León war Abgeordneter, ihr Schwager Walthère Frère-Orban sogar Premierminister. Nicht nur aus religiösen Gründen kämpfte die Mutter gegen die beabsichtigte Eheschließung ihres ältesten Sohnes, die gesamte Familie empfand Georges’ Vorhaben als Skandal.
Insbesondere für Vater Edmond war der Gedanke unerträglich, dass sein Sohn ausgerechnet die Tochter seines Bruders Charles heiraten wollte, der ebenfalls in der Bank Nagelmackers arbeitete.
Der sich zuspitzende Konflikt und der Liebeskummer müssen Georges arg zugesetzt haben. Dem Vater entging die Verzweiflung seines Sohnes nicht, mehrmals versuchte er, Georges von seinen sehnsuchtsvollen Gedanken abzulenken.
Nachdem Georges sich in vielen Vater-Sohn-Gesprächen keinen Millimeter bewegte, sah Edmond Nagelmackers nur noch eine Lösung. Er musste seinen Sohn fortschicken. Weit weg. In ein anderes Land. Aber wohin? Wenn Georges siebzehn oder achtzehn gewesen wäre, hätte er ihn auf ein Internat nach Brüssel oder Paris entsenden können, aber Georges war bereits zweiundzwanzig. Er musste ihn mit etwas locken, wovon Georges schon immer geträumt hatte. Und da gab es nur ein Ziel: eine Reise in die Neue Welt. Am besten unter Aufsicht.
In seiner Not schenkte der Vater dem Sohn eine Passage in die Vereinigten Staaten von Amerika.59 Zwei Männer sollten Georges begleiten und ihn von seiner verrückten Liebe abbringen: Der um vier Jahre ältere, mit dem Vater befreundete Graf Guy de Berlaymont und Maurice Albert, ein Jurist und Kollege aus Georges’ Kindertagen.60 Die drei Männer hatten kürzlich ihr Studium zusammen abgeschlossen.61
Erst haderte Georges, dann gab er nach; Briefe an Marie Joséphine schreiben konnte er von überall. Der Reiz, einen neuen Kontinent entdecken zu dürfen, von dem er schon so viel gehört hatte, besänftigte den Trennungsschmerz. Er hoffte, auf dieser langen Reise von Liverpool nach New York und quer durch Amerika mit seinen Begleitern gut auszukommen.62
Mit dem Zug fuhren die drei von Brüssel nach Calais. Dabei bemerkten sie an der Strecke zahlreiche neue Bahnhöfe und Industrieanlagen. Der belgische König hatte den Ausbau der Eisenbahn massiv unterstützt.
Gegen 12 Uhr mittags erreichten sie Calais, wo die France um ein Uhr auslaufen und sie nach Dover bringen sollte. Doch der Dampfer war zuvor in einen Sturm geraten, ein Wellenbrecher hatte Schaden angerichtet. Plötzlich zweifelte Georges. Er überlegte umzukehren und seine geliebte Marie Joséphine zu besuchen. Doch seine Begleiter ließen es nicht zu. Am Abend legte die France schließlich Richtung England ab.63
Als die Männer im Zentrum von London endlich den Bahnhof Charing Cross erreichten, muss auch Georges von der Kathedrale des Fortschritts beeindruckt gewesen sein: Ein riesiges, schmiedeeisernes Dach überspannte sechs Bahnsteige in einem einzigen Bogen. Große Glasflächen ermöglichten eine lichtdurchflutete Halle. Alle paar Minuten hielt ein Dampfross mit Waggons. An kaum einem anderen Ort rannten so viele Menschen umher.
Der junge Georges als Torero