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"Ein allgemeiner Rat, den ich selbst schon lange befolge, und ihr solltet es mir gleichtun, wenn ihr in Myra überleben wollt: Vertraut niemandem!" Die junge weiße Magierin Mary ist auf dem Höhepunkt ihres Lebens! Freudig fiebert sie ihrer Verlobungsfeier mit dem jungen adligen Jason entgegen. Doch auf einmal überschlagen sich die Ereignisse! Eine geheime Organisation tötet ihre Familie und lässt Mary einsam und verstört zurück. Großherzig nimmt sich die Königin von Myra ihrer an, doch nicht alle sind über Marys Anwesenheit im Palast begeistert! Der kaltherzige und hochmütige Prinz scheint es sich in den Kopf gesetzt zu haben, ihr das Leben schwer zu machen! Mary schwört sich, die Schuldigen am Tod ihrer Liebsten zu finden, doch deckt sie dabei tiefe Geheimnisse auf. Geheimnisse, die sie an ihrer Familie und sich selbst zweifeln lassen und sie auf einmal selbst in Lebensgefahr bringen! Wer ist Feind? Wer ist Freund? Wem kann Mary vertrauen?
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Seitenzahl: 302
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Widmung:
Wir alle erleben Höhen und Tiefen, doch es sind
die Menschen, die einen dadurch begleiten, die das
Leben lebenswert machen!
Ich möchte mich bei allen bedanken, die mich in
den vierzehn Tagen meines Schreibprozesses so
großartig unterstützt und begleitet haben!
Die mich ermutigt und angetrieben haben!
Danke!
Danke, dass ihr meine Verzweiflung und Euphorie,
meine Ungeduld und Redseligkeit ertragen habt!
Ein ganz spezieller Teil gilt meinen beiden Musen:
Lisa und Naim!
Das Leben ist paradox.
Wir lieben die, die uns zerstören und zerstören die, die uns
lieben.
Wir schenken Menschen Aufmerksamkeit, obwohl sie uns
ignorieren und ignorieren die, die uns Aufmerksamkeit
geben!
Prolog
Kapitel Eins
Kapitel Zwei
Kapitel Drei
Kapitel Vier
Kapitel Fünf
Kapitel Sechs
Kapitel Sieben
Kapitel Acht
Kapitel Neun
Kapitel Zehn
Kapitel Elf
Kapitel Zwölf
Kapitel Dreizehn
Kapitel Vierzehn
Kapitel Fünfzehn
Kapitel Sechzehn
Kapitel Siebzehn
Kapitel Achtzehn
~Es gab eine Zeit, in der ich dachte, ich würde dich für immer kennen ... ~
Kalt.
Die Kälte der Fliesen drang bleiern in ihre Glieder. So schmerzlich und klar. Wie kleine spitze Eiszapfen stach sie in ihre Haut.
Verzweifelt starrte sie auf das warme, rote und leicht dampfende Blut, das sich über ihre Hände ergoss.
Schmierig. Schlüpfrig.
Der anbiedernde Geruch von Eisen erfüllte die Luft.
Wie hatte sie so naiv sein können?
Warum hatte sie es nicht kommen sehen?
Nein. Sie war blind gewesen.
Geblendet.
So voller Gefühle.
Voller Vertrauen.
Eine Falle, die man sich selbst stellte, doch dieses Mal hatte sie zugeschnappt. Sich mit ihren Stacheln in sie gekrallt.
Langsam schmerzte die Kälte nicht mehr.
Sie konnte sie noch spüren, doch der Schmerz schien, verflogen.
Als sei alles in ihr gefroren. Jede Emotion zu Eis geworden.
Traurig schöne Skulpturen. Bittere Kunstwerke.
Zurück blieb nur eine gespenstige Leere.
Ein dunkles Loch.
Aber und abermals brachen weitere warme Wellen aus ihrem Körper. Stetig ergoss sich das Blut über ihre tauben Finger.
Tropfen für Tropfen zerrte an ihrer Kraft. Zerrte an ihrem Lebenswillen.
Vertrauen.
Die größte Waffe, die man jemandem geben konnte. Die schmerzlichste! Die tödlichste!
Langsam schloss sie die Augen. Sachte ruhten ihre Lider aufeinander.
Seine Stimme hallte in ihrem Kopf. Sein Gesicht verhöhnte sie.
Sie konnte das hämische Grinsen in ihren Gedanken deutlich sehen.
So echt. So verbittert.
Nicht einmal jetzt gönnte er ihr Frieden!
Selbst die letzte Ruhe nahm er ihr!
Sie wollte schreien, beißen, ihm die Augen auskratzen!
Doch eigentlich richtete sich ihre Wut gegen sich selbst. Es war ihre Schuld!
Vertrauen.
Wie töricht von ihr, ihm zu vertrauen! Sie hätte ihn einfach gehen lassen sollen! Doch das Kind in ihr hatte an ihn geglaubt. Hatte sich nach ihm verzerrt.
Sie spürte, dass ihre Zeit gekommen war.
Die finstere Leere hatte sich gefräßig in ihr ausgebreitet und sie fast vollständig eingenommen.
Bald war es vorbei!
Waren das Stimmen? Hände auf ihr?
Oder nur der Tod, der sie holte?
Fühlte es sich so an?
Wie hatte es so weit kommen können?
Ihre Erinnerungen hielten sie gefangen.
Ein fesselnder Strudel, dem sie nicht entrinnen konnte ...
~ Es sind nicht nur die Abschiede, die schmerzen, sondern die Rückblicke, die danach kommen ... ~
Mein geliebter Bruder,
Schon lange erreichte mich kein Brief mehr von dir.
Vater sagte, dass ihr viel zu tun habt. Dass ihr kurz davor ständet, die Verstoßenen zu zerschlagen. Aber auch, dass sich ihre Angriffe und Überfälle häufen.
Ich will ehrlich sein, es verängstigt mich, ihn von euren Schlachten sprechen zu hören. Daran denken zu müssen, was du erlebst. Was du durchmachen musst.
Rephael, ich hoffe inständig, dass ich dich bald wohlbehalten wieder in meine Arme schließen kann!
Auch kann ich es kaum erwarten, dir endlich Jason vorzustellen.
Ich glaube, ihr zwei würdet euch ganz prächtig verstehen.
Er behandelt mich, wie eine Prinzessin! Wie eine Königin!
Ständig erhalte ich kleine Aufmerksamkeiten und Überraschungen.
Er ist lieb, fürsorglich und unbeschreiblich zärtlich.
Rephael, er hat bei Vater um meine Hand angehalten und Vater hat eingewilligt!
Wir werden heiraten!
Kannst du dir das vorstellen? Ich werde heiraten! Ich bin so glücklich!
Ich wünsche mir so sehr, dass du zu unserer Hochzeit kommen kannst.
Vater hat mir bereits versprochen, alles Nötige zu veranlassen.
Manchmal hat es doch Vorteile, die Kinder des Hauptmanns zu sein!
Heute feiern wir erst einmal unsere Verlobung.
Selbstverständlich werde ich dir davon in meinem nächsten Brief berichten.
Gib auf dich acht!
Mary.
Ich hätte nie gedacht, dass ich mal so strahlen würde. Dass ich mal so glücklich sein würde.
Hätte mir nie ausmalen können, dass ein Mensch solche Regungen in mir hervorrufen würde.
Ich musste nur an Jason denken und mein ganzer Körper schien zu flattern, als beherberge ich einen Schwarm Schmetterlinge in meinem Bauch.
Da war so viel Energie in mir, ich wusste gar nicht, wohin damit. Als könne ich ganze Bäume ausreißen und Berge verschieben. Ich fühlte mich in seiner Nähe, als könnte ich einfach alles schaffen!
Unbesiegbar!
Allein die Vorfreude, ihn gleich wieder neben mir zu spüren ... Ihn in meine Arme schließen zu können ...
Kichernd ließ ich mich von meinen Gedanken treiben. Ich sah ihn schon vor mir. Sein breites offenherziges Grinsen und die kleinen Grübchen, die es ihm auf die Wangen zauberte ... Mein Verlobter!
Unser Haus war hübsch und festlich geschmückt worden.
All unsere Freunde und Verwandte waren erschienen.
Die Musiker spielten die schönsten Lieder und die Köche übertrafen sich bei ihren Speisen.
Es waren kulinarische Meisterleistungen.
Alle freuten sie sich über unser gemeinsames Glück! Es herrschte eine unbeschreibliche Stimmung. Einfach ungehemmt und ausgelassen.
Mit Jason an meiner Seite grinste ich über beide Ohren und ich konnte meinen Blick kaum von ihm abwenden.
Seine kurzen braunen Haare, die frechen dunkelbraunen Augen.
Sanft strich ich über sein Hemd. Fühlte die kleine Kuhle in seiner Brust.
Er war gut eineinhalb Köpfe größer als ich und ich konnte mir einfach niemand Attraktiveres ausmalen. Er war so perfekt!
Für mich war er einfach nur unübertrefflich!
Immer wieder zog Jason mich an sich, küsste mich auf die Stirn oder alberte herum und kitzelte mich.
Spielerisch kämpften wir gegeneinander.
Ich versuchte, es ihm so schwer wie möglich zu machen, mich zu besiegen, auch wenn ich gegen ihn chancenlos war.
Er war mein Glück! Mein ganzes Glück!
Meine Heimat! Mein Zuhause!
Plötzlich änderte sich die Musik und wir ließen voneinander ab. Unsere Gäste waren verstummt und blickten uns erwartungsvoll an.
Mein Vater trat vor und ich konnte in seinen Augen lesen, wie stolz er auf mich war. Auf uns war.
»Es ist für einen Vater immer schwer, seine Tochter, sein kleines Mädchen, in den Armen eines anderen Mannes zu sehen! Zu sehen, dass sie ihr eigenes Leben anfängt. Ihre Flügel spreizt und das heimische Nest verlässt. Doch mir wurde eine große Ehre zuteil! Ich habe meine Tochter nicht verloren, sondern einen wunderbaren Sohn dazugewonnen! Mary, Jason! Dieser Tanz ist euch!«
Vater hatte noch nicht fertig gesprochen, da forderte Jason mich bereits mit einer tiefen Verbeugung galant auf, ihm auf die Tanzfläche zu folgen.
Wie die Sonne strahlend, ließ ich mich von ihm in die Mitte des Festsaals führen.
Schritt um Schritt, getragen von den Klängen der Musik. Umhüllt von unserem Lied.
Alles um uns herum verschwamm. Da waren nur noch wir zwei.
Mein Märchenprinz und ich.
Sein breites, ehrliches Grinsen, dass mich schmelzen ließ. Seine großen Hände, die mich sicher hielten, wie ein Fels in der Brandung.
Sein Herzschlag war mein Taktgeber. Sein Duft war mein Kompass.
Runde um Runde wirbelten wir übers Parkett.
Ich hoffte, es würde nie enden. Diese Momente niemals verfliegen!
Immer mehr tanzende Paare gesellten sich zu uns.
Im Augenwinkel konnte ich meine Eltern sehen.
Jugendlich wirbelte Vater, Mutter durch die Luft.
Ich hatte sie schon lange nicht mehr so glücklich erlebt. Besonders das letzte halbe Jahr schienen sie nur wenige Gründe zum Lachen gehabt zu haben.
Es rührte mich.
Heimlich stahl sich eine Träne über meine Wange und Jason beugte sich besorgt vor. Lehnte seine Stirn an meine.
»Ist etwas nicht in Ordnung, Liebste?«
Liebevoll strich ich seine besorgten Gesichtszüge nach.
»Nein. Es ist besser als in Ordnung. Es ist perfekt!
Es überwältigt mich nur!«
Da war es wieder, das breite Grinsen, das ich so liebte.
Er unterbrach unseren Tanz und zog mich an sich.
Fest umschlungen wiegten wir uns zur Melodie.
»Du bist perfekt.« Flüsterte er mich leise zu, bevor er mir zärtlich einen Finger unters Kinn legte und mich liebevoll küsste. »Ich liebe dich, Mary!«
Ich wollte seine Bekundung gerade erwidern, als Unruhe im Saal ausbrach.
Verwundert darüber, was geschehen sein mochte, sah ich mich nach der Ursache um.
Die große Saaltür flog krachend auf. Die Wucht riss sie fast aus ihrer Verankerung.
Schreie ertönten! Voller Panik und Entsetzen!
Männer! Schwarz gekleidet, mit hässlichen Fratzen als Masken stürmten den Saal!
»Mary! Lauf!« Schützend stellte sich Jason vor mich. »Los! Lauf! Versteck dich!«
Kopflos sah ich mich um. Sie schlugen auf alles ein.
Hektisch versuchten unsere Gäste, sich zu retten.
Mein Vater und Jasons stellten sich ihnen in den Weg. Mit ihrer Magie versuchten sie, uns zu schützen. Behände beschworen sie einige Schilde hervor.
Ich konnte sie majestätisch schillern sehen. Wie feine Glasscheiben. Hoffentlich waren sie nicht genauso zerbrechlich!
»Jetzt lauf doch!« Ich konnte die Angst in Jasons Augen sehen.
»Ich lasse dich nicht zurück!«
Er nahm meine Hand und küsste sie. »Mir wird nichts geschehen, aber bitte bring dich in Sicherheit!«
Dann ließ er mich los und lief zu unseren Vätern, um ihnen zu helfen.
Wie angewurzelt blieb ich stehen und sah ihm nach.
Etwas in mir schrie.
Halt ihn auf! Das konnte nicht funktionieren! Es waren zu viele!
Mit einer ungeahnten Brutalität gingen die Maskenträger auf sie los. Hiebe über Hiebe prasselten auf sie ein.
»Los jetzt, Mary!« Meine Mutter zerrte an mir und ich stolperte ihr ungeschickt nach. Den Blick noch immer auf Jason und unsere Väter gerichtet.
Tränen rannen in Bächen über meine Wangen.
Das konnten sie niemals schaffen! Warum half ihnen denn keiner! Wo war die Garde? Unsere Wachen! Warum kam ihnen keiner zu Hilfe?
Das Schild von Jasons Vater versagte zuerst. Es zerbrach einfach in tausend kleine Teile und regnete auf den Boden.
Vor lauter Schreck stolperte er zurück, doch es war zu spät! Spitze dunkle Klingen durchbohrten seinen Torso und drangen auf seinem Rücken wieder hinaus.
Entsetzt schrie ich auf!
Wehrte mich gegen den Griff meiner Mutter!
Jasons Vater brach blutüberströmt und leblos zusammen. Es machte ein plumpes, ein dumpfes Geräusch, als er auf dem Boden aufschlug.
Unsanft manövrierte mich meine Mutter hinter eine der großen Statuen.
»Mein Kind! Egal, was geschieht, bleib hier! Rühr dich nicht! Mach keinen Laut! Bitte! Pass auf dich auf, mein Schatz!« Sie beugte sich vor und küsste mich auf die Wange. »Ich habe dich unendlich lieb und werde immer auf dich achtgeben!«
Dann zog sie den Vorhang über mich. Er nahm mir die Sicht.
Ich konnte Glas bersten hören, Splitter und Scherben, die zu Boden regneten, Menschen, die angstverzerrt und schmerzerfüllt schrien. Weitere dumpfe Schläge aufs Parkett.
Waren das Körper?
Entsetzt presste ich beide Hände auf die Ohren und schloss meine Augen.
Ich wollte es nicht mehr wahrnehmen. Konnte es nicht mehr ertragen!
Wer war so grausam?
Wir hatten niemandem etwas getan!
Was war mit Jason? Ob es ihm gut ging?
Ich hoffte, dass er sich in Sicherheit gebracht hatte!
Dass er wohl auf war.
Vater! Mutter!
Was war mit ihnen? Hatte man ihnen etwas angetan?
Warum rief denn niemand die königliche Garde?
Warum kam keine Hilfe?
Ich konnte mich doch hier nicht einfach feige verstecken!
Ich betete inständig, dass jemand Hilfe geholt hatte!
Jäh spürte ich einen festen Griff um mein Bein.
Grob zog man mich aus meinem Versteck.
»Da ist ja die kleine Schlampe!«
Einer der maskierten Männer beugte sich über mich. Seine scheußliche Maske verzerrte seine Stimme und machte es schwer, ihn zu verstehen.
»Dachtest du, dass wir dich nicht finden?«
Ich versuchte panisch, mich aus seinem Griff zu befreien, und begann, wild um mich zu schlagen und zu treten. Er ließ einfach nicht locker!
»Bitte nicht! Ich habe euch nichts getan!«
Der Mann lachte ein garstiges tiefes Lachen. Es jagte mir fiese Schauer über den Rücken. Was waren das für Barbaren? Es schien ihm Freude zu bereiten, mich so verängstigt zu sehen! Er erlab sich förmlich an meiner Hysterie.
»Lass mich es zu Ende bringen!«
Ein zweiter Mann gesellte sich zu uns.
Der Erste zögerte, doch er ließ von mir ab. Sein Gewicht verschwand von meinen Beinen und ich versuchte, mich zu sammeln. Ich musste mich beruhigen!
Mir etwas einfallen lassen, wenn ich diese Situation überleben wollte!
»Aber lass die Göre leiden!«
Das schwarze Gewand des Zweiten war blutgetränkt und an einigen Stellen zerrissen. Die beiden tuschelten angeregt miteinander. Ich verstand kein Wort, doch es lenkte sie von mir ab.
Schnell versuchte ich, auf allen vieren, ihnen unbemerkt zu entwichen. Es schien mir keiner mehr, großartig Aufmerksamkeit zu schenken. Sie waren sich ihrer Sache sicher. Zu sicher!
Dort war die Tür zu unseren privaten Gemächern.
Ich musste es nur bis zu dieser Tür schaffen! Dann könnte ich fliehen. Hilfe holen!
»Na, wo wollen wir denn hin?«
Brutal wurde ich an meinen Haaren zurückgerissen und knallte ungebremst mit dem Kopf auf den harten Boden.
Schwarze Punkte tummelten sich in meinem Sichtfeld. Schnell versuchte ich, sie wegzublinzeln.
Eine große Hand legte sich um meine Kehle. Der leichte Druck reichte aus, um mir das Atmen zu erschweren und eine Todesangst in mir zu wecken.
Wollte er mich erwürgen?
Ich schlug auf den Arm ein. Bohrte meine Fingernägel in sein Fleisch und riss es auf.
»Ruhig! Kätzchen! Jetzt beruhig dich!«
Doch ich dachte gar nicht daran! Immer wieder zog ich mit ganzer Kraft meine Nägel über seinen Arm.
Ich spürte, wie sich sein warmes Blut über meine Haut ergoss.
Sein Schlag kam hart und unerwartet. Heftig traf sein Handballen meine Stirn und benebelte mich erneut.
Doch ich konnte sehen, dass er tiefe Wunden an seinem linken Oberarm davongetragen hatte.
Tiefe Furchen, die sich zu einer langen bösartigen Narbe gesellten.
Kurz keimte in mir Stolz auf. Ich war nicht so wehrlos, wie er gedacht hatte!
»Jetzt bleib ruhig! Hast du verstanden?«
Der Mann hielt in seiner Bewegung inne und lockerte leicht seinen Griff um meinen Hals.
Was hatte er vor?
Wartete er auf eine Bestätigung von mir?
Verunsichert nickte ich.
Darauf verschwand die Hand um meinen Hals und er beugte sich vor.
»Auf mein Zeichen schreist du noch einmal schrill auf und bleibst dann reglos liegen. Reglos! Hast du mich verstanden? Ich will dir nichts tun!«
Nein! Ich verstand nicht!
War das ein Spiel? Wollte er, in mir Hoffnung sähen, bevor er es beendete? Erlaubte er sich einen Spaß mit mir?
Doch, was hatte ich für eine Wahl?
Also tat ich, wie man mir befahl, und schrie laut auf.
Das Gewicht des Fremden verschwand von mir.
Ich hörte, wie die Männer miteinander sprachen, doch konnte ich wieder nur undeutliches Nuscheln verstehen.
Auf einmal trat eine gespenstige Stille ein.
Waren sie verschwunden?
Ich traute mich nicht, mich zu bewegen.
Doch die Stille war unheimlich.
Wie lange sollte ich liegen bleiben?
Bis die Garde kam? Wenn sie überhaupt kam!
Ich hielt es nicht länger aus und öffnete vorsichtig die Augen.
Nichts rührte sich.
Misstrauisch richtete ich mich auf.
Mein Kopf schmerzte bei jeder Bewegung.
Ein unheilvolles Dröhnen erfasste ihn.
Die Männer schienen fort, doch um mich herum herrschte ein Schlachtfeld.
Leblose Körper, Trümmer, Scherben und Blut.
Jason! Mutter! Vater!
Ich taumelte unsicher umher, suchte verzweifelt nach meinen Liebsten und versuchte das Geschehene, zu begreifen.
Das konnte doch nur ein schlechter Traum gewesen sein! Ein Albtraum, verursacht durch die Aufregung vor dem großen Tag!
Ich hielt in meiner Bewegung inne.
Nein.
Nein!
Nein! Nein! Nein!
Meine Mutter! Mein Vater!
Man hatte sie umgebracht! Hingerichtet! Einfach abgestochen!
Mutter musste Vater zu Hilfe geeilt sein ...
Mit zittrigen Händen strich ich über ihr lebloses Gesicht. Meine Tränen benetzten ihre blasse Haut.
Ein lauter, schmerzerfüllter Schrei entfuhr mir.
Wie konnte man so gnadenlos sein?
Was brachte den Männern ihr Tod?
Sie war so eine gütige Frau gewesen und mein Vater der goldigste Mann, den ich kannte.
Ein weiterer quälend leidender Schrei bahnte sich aus mir seinen Weg. Vertreib für einen kurzen Augenblick die schweigsame Stille um mich.
Ich küsste meine Eltern und schloss ihre weit aufgerissenen Augen.
Hoffentlich waren sie vereint, dort wo sie nun waren. Hoffentlich waren sie zusammen und mussten nicht leiden!
Dafür würde jemand bezahlen!
Wenn Rephael davon erfuhr!
Er würde die Männer finden und leiden lassen!
Oh nein, Rephael!
Er wusste hier von noch nichts.
Wie würde er es erfahren? Wer würde es ihm sagen? Er war so weit fort! Draußen, hinter der Mauer auf Manöver.
Mein Bruder hatte unsere Eltern seit Monaten nicht mehr gesehen. Bald war es ein Jahr.
Man hatte ihm die Möglichkeit genommen, sich von ihnen zu verabschieden! Ihm seine Eltern einfach entrissen.
Bevor er aufgebrochen war, hatte es einen heftigen Streit gegeben! Ohne Versöhnung war er losgezogen.
Diese Möglichkeit war nun auch dahin ...
Wütend schlug ich auf den Holzboden.
Doch so schnell wie meine Wut gekommen war, verflog sie auch wieder.
Was wurde nun aus mir?
Ich traute mich gar nicht, mich weiter umzusehen.
Jason?
Was hatten sie wohl ihm angetan?
Tief atmete ich durch, bevor ich meine Kraft sammelte, meinen Blick weiter umherstreifen zu lassen.
Eigentlich wollte ich es gar nicht wissen. Wollte nicht sehen, was mir von ihm geblieben war, doch die Ungewissheit raubte mir den Verstand. Das letzte Flämmchen Hoffnung, das in mir brannte, er möge wohl auf sein ...
Doch er lag nicht weit von meinen Eltern entfernt.
Als ich seinen Leichnam erkannte, versagten mir meine Beine den Dienst.
Eine große Wunde zierte seine Brust. Genau dort, wo sein großes gutmütiges Herz gesessen hatte.
Mechanisch, nicht mehr Herr meiner Sinne oder meines Körpers, rutschte ich auf meinen Knien zu ihm und bettete ich seinen Kopf in meinem Schoß.
Strich mit zittrigen Fingern durch sein dunkelbraunes Haar und küsste ein letztes Mal seine weichen Lippen.
Schließlich rollte ich mich in seine Arme und ruhte neben ihm.
Ich bekam das Eintreffen der Garde nicht mehr mit. Nahm sie nicht wahr.
Ich lag einfach im Arm meines Liebsten und strich durch sein weiches Haar.
~ Jeder hinterlässt Spuren im Herzen, aber nur die wenigsten bleiben ... ~
Zwei Tage waren vergangen oder vielleicht waren es auch bereits drei. Ich konnte es nicht sagen.
Die Garde war gekommen und hatte sie alle weggebracht. Vater, Mutter und auch Jason.
Ich hatte mich gewehrt, ihn festgehalten. Mich an seinen leblosen Körper geklammert!
Geschlagen und getreten, doch es hatte nicht geholfen.
Ich war noch nicht bereit gewesen!
Hatte mich noch nicht ausreichend verabschiedet!
Er durfte nicht fort sein!
Wie sollte ich das jemals akzeptieren?
Noch immer hoffte ich, dass es nur ein schlechter Traum war und ich einfach nur aufwachen musste.
Ein böses Spiel meiner Fantasie!
Doch ich wachte nicht auf ...
Die Garde hatte auch mich fortgebracht.
Ins Spital.
Ich war von Heilern untersucht, gewaschen und gebettet worden. Sie hatten versucht, mit mir zu reden. Mich zu trösten, doch keines ihrer wohlgemeinten Worte konnte die Leere in mir füllen.
Man hatte mir Essen gebracht, aber ich hatte es nicht angerührt.
Ich hatte einfach da gelegen und versucht zu begreifen.
Es war so surreal. Einfach unwirklich.
Wenn ich einschlief, durchlebte ich den ganzen Horror erneut.
Jedes Mal brach mein Herz aufs Neue.
Es war mir nichts von ihm geblieben! Nur die schmerzlichen Erinnerungen ...
Ich hatte viel geschrien und geweint, doch irgendwann war ich heiser und meine Tränen erloschen.
Nun stand ich auf der großen Verbrennung.
Es waren viele Menschen gekommen, doch ich konnte sie nicht ansehen.
Fremde, wie auch Freunde. Wusste nicht, was sie von mir erwarteten. Was ich sagen sollte.
Es war mir einfach alles zu viel. Eigentlich wollte ich nur zurück in das Bett im Spital.
Mich verkriechen und die weiß getünchten Wände anstarren.
Insgesamt waren an meinem großen Tag elf von uns ums Leben gekommen.
Ja, auch sie hatten ihre Liebsten verloren und ich hatte das Gefühl, daran schuld zu sein.
Das Gefühl, es ist alles nur meinetwegen geschehen.
Geschehen, weil ich glücklich war.
Unser König trat vor und sprach einige Worte.
Vater war als Hauptmann der königlichen Garde einer seiner engsten Vertrauten gewesen.
Viele Jahre hatten sie zusammen regiert und gearbeitet und dennoch war er für mich nur ein Fremder.
Vater hatte seine Arbeit von seiner Familie immer strikt getrennt. Mich nie mit in den Palast genommen.
Neben dem König stand seine Frau, Königin Sophia und seine Kinder. Prinzessin Becca versuchte, ihre Tränen hinter einem Fächer zu verbergen.
Sie war so zierlich. Puppenhaft. Einfach zerbrechlich. Sie sollte so etwas Furchtbares nicht sehen.
Ihre ganze Erscheinung erweckte in mir den Wunsch, sie zu schützen. Fortzubringen.
Ich hatte Sorge, ihre Trauer könnte sie übermannen. Sie verwunden ...
Prinz Aaron stand mit eiserner, kalter Miene neben ihr und wirkte eher gelangweilt. Als würde er die Trauer und den Kummer, der Menschen um sich herum nicht wahrnehmen. Als sei er ihm gleich.
Ich hatte viele Geschichten über ihn gehört, doch in Wahrheit wirkte er noch viel arroganter. Verabscheuungswürdiger.
Als der König seine Rede beendete, schossen Schützen brennende Pfeile auf die aufgebahrten toten Körper.
Man hatte sie nebeneinander aufgereiht. Sie alle trugen das weiße Totengewand und hatten einen Strauß weißer Rosen in ihren Händen.
Eine lange, beklagenswerte Reihe.
Einer nach dem anderen verschwand in einem Meer aus Flammen und Hitze.
Nun waren sie endgültig fort. Es würde nichts von ihnen übrig bleiben. Nichts außer Asche.
Bewegung kehrte in die Trauernden um mich herum zurück. Arm in Arm verließen sie den Platz.
Sie alle hatten jemanden. Eine Schulter, an die sie sich lehnen konnten. Einen Anker, der ihnen Halt gab.
Nur ich nicht.
Ich blieb versteinert stehen.
Mein Blick haftete noch immer auf dem Feuer.
Die Flammen, sie tanzten.
Es hatte etwas Magisches. Etwas Einladendes.
Als riefen sie mir zu. Ich solle ihnen folgen. Schwerelos und ohne Furcht.
»Lady Mary.«
Sie streckten ihre kleinen heißen Hände nach mir aus und ich strauchelte einen Schritt auf sie zu.
Ich wollte ihnen folgen. Wollte mit ihnen tanzen und in ihnen aufgehen. Auch fortgehen!
»Lady Mary.«
Eine weibliche Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Königin Sophia trat vor mich. Sie stellte sich zwischen das Feuer und mich.
Gut erzogen, ließ ich mich in einen tiefen Knicks fallen.
»Das ist nicht notwendig. Wie geht es euch, mein Kind? Ihr seht furchtbar aus!«
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte.
Wortlos blickte ich sie an. Eine ausdruckslose Miene ruhte auf meinem abgemagerten Gesicht.
Ihre grünen Augen waren leicht gerötet und Schatten bedeckten sie, als habe auch sie geweint.
Ihr Lächeln war aufrichtig, doch aus ihrem ganzen Gesicht sprach die Sorge.
Eine offene, mütterliche Sorge.
»Verzeiht mir. Diese Frage war wohl mehr als unangebracht. Aber verratet ihr mir, wo ihr nun lebt? Habt ihr alles, was ihr benötigt?«
Da war sie. Die Frage!
Die Frage, vor der ich die ganze Zeit geflohen war.
Ich wusste es nicht. Zurück nach Hause?
Ein Teil in mir wünscht es sich so sehr. Zurückzukehren. In mein Nest. In die Geborgenheit.
Doch der andere Teil wusste genau, dass es diesen Ort nicht mehr gab.
Es waren nur noch Mauern. Mauern voller Möbel und dem Hab und Gut von Menschen, die ich verloren hatte.
Zu Rephael?
Ich wusste nicht, wo er war. Meine Hoffnungen, er würde es zur Verbrennung schaffen, hatten sich zerschlagen.
Ob man es ihm überhaupt schon berichtet hatte?
Nein. Rephael war Soldat. Selbst wenn er gekommen wäre, hätte er mich nicht mitnehmen können. Vor der Stadtmauer war kein Ort für eine junge Frau.
Sein Kampf gegen die Verstoßenen war gefährlich und forderte täglich Tribute.
Ich war eine Obdachlose. Ein Mensch ohne Heimat.
»Ich ... ich weiß es nicht.« Meine Stimme war rau und heißer. Sprechen schmerzte, doch der Schmerz zeigte mir wenigstens, dass ich noch am Leben war.
Die Königin legte mir tröstend eine Hand auf die Schulter.
»Vermutlich zurück in unser Haus.« Schob ich noch hinterher.
Etwas schämte ich mich vor ihr.
Sie war die mächtigste Frau in Myra und ich stand wie ein Häufchen Elend da.
Mein Kleid war noch immer das gleiche, wie an meiner Verlobung. Die Heiler hatten versucht, das Blut herauszuwaschen, doch auf dem feinen Weiß, waren rosafarbene Flecken zurückgeblieben.
Durch meine Auseinandersetzung mit den maskierten Männern war der Saum zerrissen und einige Nähte aufgeplatzt.
Man hatte mir angeboten, Kleidung für mich holen zu lassen, doch ich hatte es nicht gewollt. Nicht gewollt, dass Fremde unser Haus betraten.
Meine braunen Locken standen wild und ungezähmt vom Kopf ab und generell musste ich ein sehr armseliges Bild von mir geben.
»Nein! Das kann wohl kaum Euer Wunsch sein!
Außerdem schickt sich auch nicht für eine Lady, allein zu leben.«
Vorsichtig hakte sich die Königin bei mir ein und führte mich von den brennenden Leichen fort.
Sehnsüchtig warf ich einen Blick über meine Schulter. Ich wollte noch nicht gehen! Ich wollte wieder zu ihnen zurück!
Als ich die zarten Züge der Königin näher betrachtete, fiel mir auf, wie jung sie noch war.
Viel jünger als Mutter.
Sie musste noch ein Kind gewesen sein, als man sie mit dem König vermählt hatte.
In meinen Gedanken war sie immer eine alte griesgrämige Frau gewesen.
»Lady Mary, ihr braucht Ruhe und Erholung! Ich möchte Euch ein Angebot offerieren. Begleitet meine Familie und mich zurück in den Palast. Ihr könnt bei uns domizilieren. Solang es euch beliebt.
Nehmt euch die Zeit, zu heilen!«
Von der Güte ihres Angebots überrascht, stolperte ich ungeschickt über einen Stein und blieb stehen.
»Nein! Das kann ich nicht annehmen!«
Die Königin hakte sich erneut ein und führte mich weiter.
»Oh doch! Das könnt ihr und es wäre mir eine große Ehre! Euer Vater war ein wahrer Freund meines Gemahls.«
Prinzessin Becca und Prinz Aaron erwarteten uns an der königlichen Kutsche.
»Becca, Aaron, ich möchte euch Lady Mary vorstellen. Lord Henrys Tochter. Ich habe beschlossen, dass wir sie bei uns erst einmal beherbergen werden.«
Prinzessin Becca war das Schreckenspiel der Verbrennung noch immer ins Gesicht geschrieben, doch sie lächelte mich freudig an.
Auf einmal fiel sie mir übermütig um den Hals. »Ihr dürft mich Becca nennen! Ich wollte schon immer eine Schwester haben!« Dann hielt sie in ihrem Gebrabbel inne und schob mich eine Armlänge von sich weg. »Verzeiht, das war unpassend. Ihr habt eure Familie verloren ... Dennoch hoffe ich, dass wir bald Freunde werden!«
Der kindliche Übermut, den sie mit jeder Faser ihres Körpers ausstrahlte, hatte eine ansteckende Wirkung.
Sie musste gut zwei Jahre jünger sein, als ich und hatte blondes, langes und glattes Haar und die gutmütigen grünen Augen ihrer Mutter.
Ich quälte mir ein Lächeln auf die Lippen und erwiderte ihre Umarmung halbherzig. »Gewiss werden wir uns gut verstehen.«
Prinz Aaron schnaubte verächtlich. Seine dunkelblauen Augen würdigten mir keines Blickes. Er hatte nichts von seiner Mutter geerbt, bis auf sein braunes Haar, das er in kurzen Locken trug.
Genervt drehte sich die Prinzessin zu ihrem Bruder um. »Kannst du dich einmal benehmen?«
Doch er lächelte seine Schwester nur höhnisch an.
»Soll ich Mutters neuem Wohltätigkeitsprojekt auch stürmisch um den Hals fallen? Sie töricht an ihre Verluste erinnern und dann fragen, ob wir uns ein Freundschaftsband häkeln wollen?«
»Du bist so ein Arsch!« Fauchte seine Schwester bissig und ich hatte wirklich das Bedürfnis, ihr zuzustimmen. Die Königin schien die Streitereien ihrer Kinder zu ignorieren, doch ich konnte mir vorstellen, dass es ein Nachspiel haben würde.
In der Kutsche griff Becca nach meiner Hand.
»Hört nicht auf meinen Bruder! Ich freue mich wirklich!« Als wollte sie ihren Worten noch mehr Ausdruck verleihen, drückte sie zärtlich meine Hand.
»Becca, Mary ist vollkommen ausreichend. Ihr müsst nicht so förmlich mit mir sprechen.«
Als hätte ich ihr das schönste Kompliment gemacht, begann die Prinzessin zu grinsen und klatschte freudig in die Hände. »Dann beruht dies aber auf Gegenseitigkeit!«
Freudig plapperte sie die Fahrt über auf mich ein und es schien sie dabei nicht zu stören, dass ich nur spärlich antwortete.
Meine Gedanken waren woanders.
Sie waren bei Jason.
Die Königin hatte von Heilung gesprochen.
Von Zeit.
Doch aktuell konnte ich mir nicht vorstellen, wie lang es dauern sollte, bis ich heilte.
Dass ich heilte.
Ich hatte das Gefühl, nicht mehr komplett zu sein, als sei mit ihm ein Teil von mir gestorben.
Im Schloss zeigte man mir mein Zimmer und die Königin sorgte dafür, dass ich etwas Ruhe erhielt.
Wie befürchtet, wollte sie ihre Kinder sprechen und ich war ihr dankbar.
Dennoch hoffte ich, dass sie Prinzessin Becca nicht zu sehr tadeln würde. Ihre überschwängliche Art macht sie besonders! Das sollte ihr niemand nehmen. Königlich hin oder her. Es machte sie zu einem Unikat.
Mein Zimmer lag im gleichen Trakt, wie die Gemächer der Familie. Es war wirklich schön.
Groß und geräumig.
Ein Paravent teilte es in zwei Hälften.
In der vorderen stand ein großes Himmelbett.
Seine Vorhänge schienen mir aus Samt und Spitze zu sein. Sie waren in einem zarten Hellgrün und hingen in Bögen vom Baldachin hinab.
Auf den dicken Matratzen ruhte ein Berg aus Kissen und Decken, die sich ebenfalls in unterschiedlichen Grüntönen präsentierten, und ein leichter Duft nach Lavendel lag in der Luft.
Neben dem Bett befand sich ein hölzerner Schrank.
Er war mit kunstvoller Schnitzerei verziert worden.
Ich erkannte Pferde und einige Hunde darin.
Auf der anderen Seite des Paravents befand sich ein steinerner Kamin, in dem ein kleines Feuer loderte.
Zwei Sessel und ein Tisch bildeten eine Sitzgruppe und vor dem großen Bogenfenster aus Buntglas stand ein Schreibtisch. Alles war farblich perfekt aufeinander abgestimmt und schien von dem gleichen Schreiner geschaffen worden zu sein.
Es war ein wirklich schönes und gemütliches Zimmer.
Aber es war nicht zu Hause.
Nicht mein Zuhause.
Unsicher, was man von mir erwartete, ließ ich mich auf das Bett fallen und stellte fest, dass es tatsächlich so weich und gemütlich war, wie es aussah.
Die Königsfamilie lebte doch anders als wir übrigen Adligen. Dekadenter.
Beim Umsehen entdeckte ich, dass im Himmel meines Bettes eine Karte von Myra eingewebt worden war. Es war ein bezauberndes Kunstwerk.
Mittig imponierte der Palast. Um ihn konnte man deutlich den Ring der weißen Magier erkennen.
Intuitiv versuchte ich, zu schätzen, wo sich unser Haus, mein Haus befand. Selbst die Parks und der Verlauf unseres Flusses, die Myra, hatte man eingewebt.
Der weiße Ring wurde vom Ring der schwarzen Magier umschlossen. Danach folgte der grüne Ring.
In ihm lebten einfache Magier ohne besondere Fähigkeiten und einige wenige vermögende Menschen.
Der letzte Ring war der graue Ring. Er war der Dickste und Größte.
Der Ring der Menschen Von ihnen gab es am meisten.
Dann erhob sich die Mauer.
Ein dicker, tiefschwarzer Streifen.
Sie war ganz aus Obsidian gefertigt worden und ragte weit in den Himmel.
Als Kind hatte ich sie immer mit Vater besuchen wollen, doch Mutter hatte es verboten.
Zu groß war die Gefahr.
Hinter der Mauer lagen die Wälder und hinter den Wäldern?
Wer wusste das schon?
In den Wäldern herrschten die Verstoßenen.
Nephilim. Strigoi und Nachtmahre.
Kinder ungleicher Beziehungen.
Zeugten weiße und schwarze Magier ein Kind, wurde es ein Nephilim.
Sie wurden auch Engel genannt. Doch so bezaubernd ihre Erscheinung auch sein mochte, waren auch sie todbringend und bösartig.
So zierlich und zerbrechlich sie auch wirkten, galten sie als die brutalsten der Mischlingskinder.
Kaltblütig.
Über ihre Besonderheiten wurde nie viel erzählt, nur wenige hatten eine Begegnung mit ihnen überlebt.
Ließ sich ein weißer Magier auf einen Menschen oder niederen Magier ein, wurde ein Nachtmahr geboren. Eine Kreatur in menschlicher Gestalt, die sich von den Träumen der Menschen ernährte. Sie saugten sämtliche Lebensfreude aus den Menschen, bis diese sie anflehten, ihnen den Tod zu schenken.
Machten aus ihnen eine leere menschliche Hülle.
Sie galten als boshaft und rachsüchtig. Ihre Augen sollen pechschwarz sein. Schwarz wie ihre Seelen.
Strigoi waren Kinder von schwarzen Magiern und Menschen. Sie ernährten sich vom Blut ihrer Opfer und liebten die Jagd. Ihre Haut soll von schwarzen Schuppen überzogen sein. Wie eine Echse.
In Myra wurde das Gebären eines solchen Kindes mit dem Tod für Mutter und Kind gestraft. Oft wurden die Kinder aus Angst ausgesetzt oder von ihren Müttern kaum, dass sie das Licht der Welt erblickten, ermordet.
Zu groß war die Angst vor ihren vernichtenden Wesen.
Dennoch gab es Myra einige wenige gemischte Paare, die nicht im Schatten der Wahrheit lebten.
Sie wurden vom König geduldet, standen aber unter strenger Überwachung.
Die Mauer war gebaut worden, um uns vor den Verstoßenen zu schützen, doch las man in den Zeitungen immer wieder von den Versuchen der Verstoßenen, sie zu erklimmen.
Rephael jagte sie. Er gehörte einer speziellen Abteilung der Garde an, deren Ziel es war, die Verstoßenen endgültig zu eliminieren.
Rephael.
Wie gerne hätte ich ihn jetzt bei mir!
Er konnte die Ereignisse auch nicht ungeschehen machen, aber ich wäre nicht allein.
Ein Klopfen an meiner Tür holte mich zurück in die Realität.
Schüchtern wurde sie aufgesperrt und Becca lugte hinein.
»Schläfst du schon?«
Ich setzte mich auf und schüttelte mit dem Kopf.
Nein. Ich mied es zu schlafen. Zu groß war die Angst vor dem, was dann kam.
»Darf ich eintreten?«
»Gewiss.«
Wieder begann die Prinzessin wärmend zu lächeln.
Sie schien eine wahre Frohnatur.
»Ich wollte mich für das Benehmen von meinem Bruder und mir entschuldigen!«
Einladend klopfte ich auf das Bett neben mir und sie ließ sich, offensichtlich erleichtert nieder.
»Das ist nicht notwendig.«
»Doch! Doch! Aaron hatte recht, ich hätte dich nicht so überfahren dürfen. Nur ich wusste nicht ...
Also es fällt mir schwer, zu verstehen, wie es ist ...
Wie es sich anfühlt.«
Fragend musterte ich die Prinzessin.
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, wenn Vater und Mutter nicht mehr unter uns weilen.«
Ich seufzte innerlich auf.
Die junge Prinzessin hatte vermutlich noch nie Zurückweisung und Verlust erlitten.
Wohlbehütet und bestens umsorgt, war sie hinter den schützenden Mauern des Palastes aufgewachsen.
»Ganz ehrlich, Becca. Ich weiß auch nicht, wie es sich anfühlt. Es überfordert mich. Manchmal habe ich das Gefühl, es ist wie fallen. Man fällt und fällt, nur schlägt man einfach nicht auf. Irgendwann beginnt man es sich zu wünschen. Egal, ob es bitterlich schmerzen wird oder nicht. Man wünscht sich, dass etwas passiert, damit dieses Fallen endlich aufhört.«
Die Prinzessin schwieg einen beträchtlichen Moment.
»Aber was ist, wenn wir das rettende Segel sind, das deinen Fall stoppt. Wenn deine Zeit bei uns, dich behütet und auffängt, ohne dass du einen Schaden davonträgst?«
Becca griff nach meiner Hand. Ihre war warm und weich.
Darauf fiel mir keine Antwort ein.
So hatte ich das Ganze noch gar nicht betrachtet.
Sollte dies wirklich meine zweite Chance sein?
Wollte ich überhaupt eine zweite Chance?
Ich schloss die Augen. Spürte Beccas Wärme auf meine Hand und sah das Gesicht meiner Mutter.
Sie lächelte, nickte mir aufmunternd zu.
»Mein Kind! Egal, was geschieht, bleib hier! Rühr dich nicht! Mach keinen Laut. Pass auf dich auf, mein Schatz!
Ich habe dich unendlich lieb und werde immer auf dich achtgeben!«
Das war das Letzte, was sie zu mir gesagt hatte.
Sie lächelte noch immer.
Ihre Hand, die sich nach mir ausstreckte und für einen Moment den Platz von Beccas einnahm.
Wollte sie mich gerade ermutigen?
Mutter würde niemals wollen, dass ich mich so grämte.
Vielleicht war wirklich etwas Wahres an den Worten der Prinzessin.
Ich öffnete die Augen und atmete tief ein.
»Eines verstehe ich noch immer nicht. Ganz gleich wie oft ich darüber nachdenke ...«
Fürsorglich legte die Prinzessin mir ihren Arm um und bettete meinen Kopf an ihrer Schulter.
Sie roch nach einer sommerlichen Blumenwiese.
Frisch und natürlich.
Und tatsächlich tat mir ihre Nähe ungewohnt gut.
Ich konnte spüren, wie sie mir bei ihren zarten Berührungen die Anspannung ausstrich. Wie ein Gewicht von mir abfiel, das ich die ganzen Tage mit mir umhergetragen hatte.
»...Warum? Warum haben sie das getan? Warum ließ er mich am Leben?« Beendete ich leise meine Frage.
Die Prinzessin ließ wieder Zeit mit ihrer Antwort, doch sie hörte nicht auf, mir Trost zu spenden und dafür war ich ihr dankbar.
»Wenn ich es verstehen könnte, würde es mir vielleicht leichter fallen, es zu verarbeiten.«
Plötzlich hörte Becca auf, mir über den Rücken zu streichen, und sah mich aufgeweckt an.