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Beide Romane mit Hobbydetektivin Cosma Pongs in einem Band
Band 1: Tot überm Zaun
Cosma Pongs heißt eigentlich Renate und ist mit Mitte 60 im besten Alter. Sie ist leidenschaftliche Krimiautorin und will nur eins: ihr Fachwissen in die Praxis umsetzen. Leider fehlt es im beschaulichen Düsseldorf an Verbrechen. Doch dann stößt Cosma beim Spaziergang in den benachbarten Schrebergärten auf eine Leiche. Endlich ein Mordfall für sie! Ihre Tochter, Kriminalhauptkommissarin Paula Pongs, sieht das jedoch völlig anders. Die verbietet sich jegliche Einmischungen in die Mordermittlungen. Davon lässt sich Cosma nicht abhalten, denn als erfahrene Krimiautorin weiß sie: Der Mörder kehrt immer an den Tatort zurück.
Band 2: Tot im Winkel
Ausgerechnet in einem einsamen Hotel im Moor führt die Düsseldorfer Kriminalpolizei einen Profilingworkshop durch. Da muss ja was passieren, glaubt Hobby-Krimiautorin Cosma Pongs und mietet sich in das Hotel ein. Sehr zum Unmut ihrer Tochter, Kriminalhauptkommissarin Paula Pongs. Und tatsächlich: Während Paula mit dem smarten Gerichtsmediziner Doc Fischgrät einen lauschigen Abend in der Hotelbar verbringt, stürzt der arrogante Star-Profiler vom Balkon seines Hotelzimmers und landet direkt vor Cosmas Füßen. Ein Mord, das steht für Cosma außer Frage.
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Seitenzahl: 763
ELLA DÄLKEN
TOD ÜBERM ZAUN
Kriminalroman
TOT IM WINKEL
Kriminalroman
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
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Das Buch
Cosma Pongs heißt eigentlich Renate und ist mit Mitte 60 im besten Alter. Sie ist leidenschaftliche Krimiautorin und will nur eins: Ihr Fachwissen in die Praxis umzusetzen. Leider fehlt es im beschaulichen Düsseldorf an Verbrechen. Doch dann stößt Cosma beim Spaziergang in den benachbarten Schrebergärten auf eine Leiche. Endlich ein Mordfall für sie! Ihre Tochter, Kriminalhauptkommissarin Paula Pongs, sieht das jedoch völlig anders. Die verbietet sich jegliche Einmischungen in die Mordermittlungen. Davon lässt sich Cosma nicht abhalten, denn als erfahrene Krimiautorin weiß sie: Der Mörder kehrt immer an den Tatort zurück.
Die Autorin
Geboren wurde Ella Dälken in einem malerischen Kurort am Rande des Teutoburger Waldes. Nach dem Studium der Germanistik, Geschichte und Geografie in Osnabrück und Nottingham zog sie 2001 nach Düsseldorf. Sie schreibt Fachpublikationen, Kurzgeschichten und Krimis. 2013 gewann sie den zweiten Platz beim Sylter Kurzgeschichtenpreis.
ELLA DÄLKEN
TOD ÜBERM ZAUN
Kriminalroman
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
COSMA
WIE ALLES BEGINNT
Es wird einen Mord geben, ich spüre es in meinem kleinen Finger. Vor uns liegt das Schrebergartengelände. Dunkle Tannen, meterhohe Hecken, hutzelige Häuser. Mehr verbrechensmäßig geht nicht. Herr von Itzenplitz sieht das anders. Er meint, das Gelände wäre hervorragend geeignet für einen inspirierenden Morgenspaziergang im August. Wir wohnen nämlich direkt um die Ecke, am Zoopark in Düsseldorf: Herr von Itzenplitz, Ewald Meier-Zuhorst, Gerda Rommstätter, Alfred und ich. Allesamt Kriminalschriftsteller über sechzig, die sich gegenseitig inspirieren. Wobei Alfred kein Autor ist, sondern unser Kater.
Herrn von Itzenplitz’ Spezialität sind historische Kriminalromane. Sein letzter hieß Tod an Fertigungsband 7 oder: Der Kampf des versklavten Proletariats in der kapitalistischen Gesellschaft gegen die besitzende Bourgeoisie. Der Roman – im Eigenverlag veröffentlicht – verkaufte sich weltweit zwölfmal. Fünf Verwandte, ein Nachbar und sechs unbekannte Leser, die über das Internet auf ihn gestoßen sind. Kein schlechter Erfolg.
Ich selbst schreibe Detektivgeschichten, die auf wahren Begebenheiten beruhen. Mehr oder weniger jedenfalls, denn die Mordrate in Düsseldorf ist bedauernswert niedrig. Es will einfach niemand eines unnatürlichen Todes sterben. Beschämend.
Ich deute auf die grüne Eisentür, die den Eingang in die Welt der Schrebergärten bildet. »Wir müssen hier durch!«, raune ich.
Herr von Itzenplitz zupft an seinem dünnen Bärtchen, das ihm so einen kecken Ausdruck verleiht, streicht die weißen Haare akkurat zurück und zieht seinen Anzug gerade. »Starten wir, meine Liebe.«
Ich schwinge mir mein kanariengelbes Cape um die Schultern, das ich vor sieben Jahren in London auf dem Camden Market erstanden habe. Es ist aus weicher Baumwolle und nicht nur bequem geschnitten, sondern auch ungemein praktisch. Auf der Innenseite sind geheime Taschen eingenäht. Da habe ich alles drin, was wichtig ist. Eine Gabel – Messer finde ich zu gewalttätig –, einen Dietrich und mein Diktiergerät, auf dem ich Impressionen für meine Krimis festhalte.
Ich atme tief durch, und wir durchschreiten das Tor. Sofort befinden wir uns in einem fremden Kosmos. Statt sicherer Schnellstraßen, Geborgenheit bietender Hochhäuser und vertrauenswürdiger Ampeln liegt vor uns ein Dschungel aus Grün. Überall Hecken, Bäume und Blumen. Als wir um eine Ecke biegen, kläfft uns ein Yorkshire Terrier an. Herr von Itzenplitz wehrt ihn mutig mit seinem Gehstock ab. Und mir ist jetzt schon klar: Schrebergärten sind eine Brutstätte der Gewalt.
Mit größter Vorsicht bewegen wir uns weiter. Kaum sind wir zwei Minuten unterwegs, erblicken wir eine Menschenansammlung auf dem feinen Kiesweg. Zuerst denke ich an eine ungenehmigte, gewaltgeladene Demonstration und bin sofort bereit, diese zu unterstützen. Aber dann wird mir klar, dass es sich um Schrebergärtner handelt. Einige Männer tragen grüne Hosen, die in unförmigen schwarzen Gummistiefeln stecken. Andere haben Jeans an, an denen so viel Erdreich klebt, als hätten sie sich von Australien bis hierher gegraben. Eine Frau im blutroten Strickjäckchen fuchtelt mit einer Minischaufel herum, während sie sehr bestimmt auf die anderen einredet. Ihre Gummihandschuhe fahren in der Luft hin und her, einige der Kleingärtner zucken zurück. Ich schnappe Satzfetzen auf. Fragwürdige Satzfetzen: Sommerfest … bloß keine Polizei … tot.
Ich wusste es! Irgendwann muss es auch in dieser Stadt ein Verbrechen geben.
Pflichtbewusst beenden wir unseren Spaziergang, damit ich mir ein Bild machen kann. Die Gärtner stehen an einem Eckgrundstück, das auf zwei Seiten von einem gepflegten Kiesweg umgeben ist. Die niedrige Hecke ist Liguster, wenn mich nicht alles täuscht. Hübsch. Leider etwas undurchsichtig. Denn irgendetwas muss dahinter sein, die Frau mit den Gummihandschuhen weist immer wieder in die Richtung.
An dem Weg abseits der Kleingärtner entdecke ich eine niedrige Eisenpforte. Sie steht ein Stückchen offen. Hm.
Die Gärtner diskutieren angeregt, nehmen uns gar nicht wahr. Ich nicke Herrn von Itzenplitz zu und husche los. Unbemerkt erreichen wir das Eingangstor. Darüber schwingt sich ein metallener Rosenbogen in die Höhe, an dem Geranienkörbe hängen. Ich stupse das Törchen auf, betrete den Garten. Herr von Itzenplitz folgt mir unauffällig. In Sekundenschnelle verschaffe ich mir einen Überblick: ein extrem kurz geschnittener Rasen, eine Leiche, hochgebundene Spalierobstbäume. Meine Augen wandern zurück. Tatsächlich. Eine Leiche! Ich sehe Herrn von Itzenplitz freudestrahlend an. Mein erster selbstentdeckter Toter. Meine Beine zittern sogar ein wenig, denn ich kann mein Glück kaum fassen.
»Möglicherweise ein Herzinfarkt«, überlegt Herr von Itzenplitz.
Ich ziehe die Augenbrauen zusammen. »Herzinfarkt. Sie können schrecklich profan sein, mein lieber Itzenplitz.«
Die Schrebergärtner haben uns noch nicht bemerkt. Gut so. Damit habe ich Zeit, die Leiche zu inspizieren. Ein toter Mann liegt auf dem Kartoffelbeet. Die Arme weit ausgestreckt. Das Gesicht ist bläulich angelaufen, und an den Lippen klebt Speichel. Leider steckt kein Messer in seiner Brust, auch gibt es kein Einschussloch in der Stirn. Trotzdem bin ich mir sicher: »Das war kein natürlicher Tod.«
»Dann müssen wir die Polizei rufen.« Herr von Itzenplitz klingt bestimmt. Bevor er vor einigen Jahren in Rente gegangen ist, war er Verwaltungsbeamter in leitender Position. Bedauerlicherweise hat sich diese Zeit als enorm prägend für seinen Umgang mit Vorschriften erwiesen. Er steht aufrecht vor mir, und ich sehe, wie sein Bärtchen zittert. Mir ist klar, dass er nicht nachgeben wird. Ich zücke mein Handy und drücke die Kurzwahltaste. Es dauert nur eine Sekunde, bis sich jemand meldet: »Polizeipräsidium Düsseldorf. Kriminalhauptkommissarin Paula Pongs am Apparat.«
Ich komme gleich zum Punkt. »Du musst herkommen. Es ist etwas passiert.«
»Mutter?«
»Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst mich nicht Mutter nennen. Das macht mich alt. Mein Name ist Cosma.«
»Du heißt Renate.«
»Meine Leser kennen und lieben mich als Cosma Pongs.«
»Mutter, ich hab zu tun.«
»Deswegen rufe ich ja an. Du musst herkommen. Wegen der Leiche.«
»Leiche?«
»Ja, Leiche.«
»Und die Leiche ist tot?«
Meine Tochter. Seit Jahren bei der Polizei. Kriminalhauptkommissarin. Und stellt so eine Frage. »Natürlich ist sie tot! Das haben Leichen so an sich.«
»Was macht dich so sicher?«
Immer diese Skepsis. Ich atme tief durch: »Die Leiche riecht. Zumindest etwas.«
Wieder ein Zögern. Dann: »Und du bist nicht auf dem Friedhof, im Krankenhaus oder an einem anderen Ort, an dem Tote ganz normal sind?«
»Wie kann man nur so misstrauisch sein? Du warst schon als Kind so. In der vierten Klasse hast du deinen Klassenkameraden Peter …«
»Mutter!«
»Nenn mich nicht Mutter! Wie oft muss ich dir das noch sagen?«
»Wo ist die Leiche?«
»Im Schrebergartenverein Zur guten Freundschaft, gleich um die Ecke von unserem Haus.«
»Ich komme. Und wehe, da ist keine Leiche!«
PAULA
KRABBELNDE KÄFER UND MADEN
Es ist eine Leiche. Paula kann es kaum glauben. Seit Jahren meldet ihre Mutter fast monatlich quicklebendige Tote. Und nun das. Tatsächlich eine Leiche. Jedenfalls soweit Paula es beurteilen kann, denn ihre Mutter verdeckt ihr die Sicht.
»Siehst du, Paula – ich hab es dir gesagt. Mord. Mindestens.« Cosmas knallgelber Umhang leuchtet vor dem Grün des Rasens. Nun zieht sie ein vorsintflutliches Diktiergerät daraus hervor und drückt auf die Aufnahmetaste. Quietschend setzen sich die Rädchen im Inneren in Bewegung. Cosma hält es direkt an ihre Lippen: »Eine männliche Leiche liegt vor mir. Die Augen sind offen, starren ausdruckslos ins Leere. Was mögen sie gesehen haben im Augenblick des Todes?« Sie drückt die Pausentaste und schaut auf: »Ihr solltet die Netzhaut ablösen. Vermutlich hat sich das Bild des Mörders darauf eingebrannt.«
Eine blonde Strähne fällt Paula ins Gesicht. Ungeduldig pustet sie sie weg. »Nein, mit Sicherheit nicht.«
Cosma zückt wieder ihr Diktiergerät. »Wie schon so oft zeigt sich die Polizei nicht bereit, die neuesten Erkenntnisse der Wissenschaft einzubinden. Hier ist ein Profi gefragt. Was für ein Glück, dass ich vor Ort bin. Cosma Pongs: Detektivin. Abenteurerin. Schriftstellerin. Selbstverständlich übernehme ich den Fall.« Sie beugt sich über den Toten: »Der Mann ist circa 49 bis 55 Jahre alt. Er hat ein eingefallenes Gesicht und eine ausgeprägte Halbglatze, über die er seine Haare von hinten nach vorne gekämmt hat. Kein sehr schöner Anblick, muss ich sagen, diese Frisur. Vermutlich arbeitet er bei einer Behörde. Völlig unkreativ. Davon zeugt auch sein Kleidungsstil: kariertes Hemd, grüne Gärtnerhose, grüne Schuhe.«
Paula weiß, dass es nur drei erfolgversprechende Methoden im Umgang mit ihrer Mutter gibt:
Vorgehensweise 1: Ignorieren. Dieser Weg erfordert ein hohes Maß an Selbstkontrolle, Ruhe und Gelassenheit und ist deswegen selbst nach jahrelangem Training nur bei einem kurzen Kontakt durchführbar.
Vorgehensweise 2: Auf ihre Bemerkungen bekräftigend eingehen. Schon als Kind hat Paula gelernt, dass ihre Mutter nichts mehr aus dem Konzept bringt, als wenn jemand sie vorbehaltlos in ihren Ansichten unterstützt. Allerdings ist genau das auch die Crux der Methode: Cosmas Ideen zu unterstützen ist kaum je angebracht.
Vorgehensweise 3: Dafür sorgen, dass Cosma woanders ist als man selbst. Der sinnvollste Weg, die Erfolgsquote spricht für sich.
Heute ist ganz klar ein Tag für Vorgehensweise 3. Entschieden schiebt sich Paula zwischen ihre Mutter und die Leiche: »Raus aus dem Garten!«
Leider hat ihre Mutter in den vergangenen Jahren eigene Strategien entwickelt. Paula bemerkt, wie sie sie mustert und sich dann ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitet. »Du bist so süß, wenn du dich aufregst. Kriegst richtige Apfelbäckchen. Wie das Kind in der Lebertranwerbung.«
»Ich bin vierunddreißig Jahre alt. Und ich werde nicht rot.« Zu ihrem Ärger merkt Paula, wie genau das jetzt passiert.
Cosma lächelt breit. »Du kannst sagen, was du willst: Du kommst ganz nach deinem Großvater, Gott hab ihn selig. Die Sommersprossen, die Stupsnase, ganz wie er.«
»Du gehst jetzt sofort zu den anderen Zivilisten.« Paula weist mit vor Wut zitternder Hand auf den Gartenweg, wo ihr Kollege Walter Körbchen gerade das Absperrband festmacht. Gelassen schreitet er den Weg ab, scheucht die Leute ein Stück nach hinten, befestigt die Absperrung. Anschließend faltet er seine Hände über dem Hawaiihemd und betrachtet lethargisch wie ein Koi-Karpfen die neugierige Menge aus Schrebergärtnern, die sich tuschelnd vor ihm drängt.
»Schau mal, hier! Das ganze Beet ist zertrampelt!« Cosma deutet auf den Boden. »Ich sehe es direkt vor mir: In seinem Todeskampf, gequält von Schmerzen und halb wahnsinnig vor Angst, versucht das Opfer, sich zu retten. Kurz bevor es das Tor zur Freiheit erreicht, bricht es zusammen.« Sie greift sich theatralisch ans Herz, gibt vor zu kollabieren.
Paula nimmt wortlos ihre Handschellen vom Gürtel, lässt sie um das Handgelenk ihrer Mutter schnappen und zieht sie wie einen widerspenstigen Welpen aus dem Garten, an Walter vorbei und unter dem Absperrband hindurch auf die Seite der überraschten Schrebergärtner. »Du! Bleibst! Hier!« Paula spürt ihren Pulsschlag am Hals pochen. Manchmal wünscht sie sich eine ganz normale Mutter. Eine, deren höchstes Ziel es ist, im Theaterabo einen Sitzplatz in der ersten Reihe zu ergattern. Gut, vielleicht nicht so eine Mutter, wie Walter Körbchen sie hat, die ihren Sohn noch heute zum Zahnarzt begleitet. Aber auf keinen Fall eine, die überall und ständig dem vermeintlichen Verbrechen auf der Spur ist und sich den Anweisungen der Polizei widersetzt. Unwillig schließt Paula die Handschelle auf und sieht ihre Mutter streng an. »Wenn du noch einmal unaufgefordert in den Garten spazierst, sitzt du heute Nacht in der Zelle.«
»Aber es ist meine Leiche!«, protestiert Cosma.
»Arrestzelle!«, konkretisiert Paula drohend. Dann wendet sie sich an ihren Kollegen. »Walter, pass auf, dass meine Mutter hinter der Absperrung bleibt. Wenn sie sich auch nur einen Zentimeter in Richtung Tatort bewegt, nimm sie in Gewahrsam.«
Walter blickt von Paula auf Cosma und wieder zu Paula. »Handschellen oder Kabelbinder?«
»Definitiv Kabelbinder. Fest zuziehen, sonst windet sie sich raus. Am besten, du lässt sie keine Sekunde aus den Augen. Wann kommt die Gerichtsmedizin?«
Walter schiebt das Metallgestell seiner Brille nach oben. »Müsste gleich hier sein. Er meinte, er wohnt um die Ecke.«
Paula runzelt die Stirn. »Dr. Nowak hat doch ein Haus in Benrath. Der braucht mindestens eine halbe Stunde.«
»Dr. Nowak ist seit gestern in Elternzeit. Ein Junge, 3543 Gramm, Natalia hat alles bestens überstanden. Dr. Nowak soll dagegen bei der Geburt geschwächelt haben. Na ja, Geburten sind nicht sein Fachgebiet. Jedenfalls kommt der Neue aus Hamburg, Doc Fischgrät.«
»Doc Fischgrät? Was ist das denn für ein Name?« Sie runzelt die Stirn. »Na ja, Hauptsache, er kann etwas Verlässliches zum Todeszeitpunkt sagen.«
Walter zuckt mit den Schultern. »Dafür brauchen wir ihn nicht. Der Vereinsvorsitzende sagt, der Tote hat gestern Abend noch gelebt.« Er deutet auf einen Mann mit hängenden Schultern, der direkt hinter dem Absperrband steht und das Gespräch zwischen Walter und Paula verfolgt.
Der Mann streicht sich über das schüttere Haar. »Korrekt, gestern Abend war der Roland noch putzmunter, da hab ich ihn im Garten werkeln sehen. Hat die Beete umgegraben. Heute Morgen war ich schon früh hier, so wie alle anderen auch. Ist noch so viel zu tun bis zum Sommerfest: Rasen mähen, Hecke schneiden, Unkraut jäten. Soll ja alles gut aussehen. Und dazu kommen noch die Vorbereitungen für das Fest an sich. Jedenfalls, als ich hier vorbeikam, habe ich einen Blick über die Hecke geworfen. Und dann lag er da. Tot.«
Paula sieht, wie Cosma erneut ihr Diktiergerät hervorholt. »Ein Zeuge gibt an, den Toten am Vorabend gesehen zu haben.« Cosma mustert den Vorsitzenden und spricht weiter auf Band: »Ist er der Mörder? Versucht er, durch einen falschen Todeszeitpunkt ein Alibi zu erlangen? Er wäre nicht der Erste. Ich denke an Mord im Pfarrhaus. Ein klassischer Fall.«
Der Vorsitzende schnappt empört nach Luft. »Was erlauben Sie sich?«
»Mutter, sei still!«
Die Frau in der blutroten Strickjacke schiebt sich vor. »Agnes Schulze mein Name. Ich bin die Frau des Vorsitzenden. Hören Sie – wir haben ein Fest auszurichten. Dass der Roland aber auch ausgerechnet jetzt sterben muss.« Sie presst die schmalen Lippen aufeinander. »Wie lange dauert das denn noch alles?«
Paula sieht, wie ein Mann über den Gartenweg heranschlendert, Doc Fischgrät, wenn sie nicht alles täuscht. »Ich komme später zu Ihnen, bitte warten Sie so lange hier«, sagt sie zu Frau Schulze. Die schnaubt verächtlich, weil sie nicht die notwendige Beachtung findet, mustert dann aber neugierig den Neuankömmling. Auch Paula lässt ihren Blick über den Gerichtsmediziner gleiten. Der kommt mit federnden Schritten näher, fährt sich durch die strubbeligen Haare, lächelt ein Grübchenlächeln. Oh je. Ein Schönling. Der letzte gutaussehende Gerichtsmediziner war der unfehlbare Steffen. Er sah aus wie eine junge Version von George Clooney und verfügte über ein nahezu unlimitiertes Selbstbewusstsein. Kam er an einen Tatort, legte er sich innerhalb von fünf Minuten auf eine Todesursache fest. Bis er vor zwei Jahren eine tödliche Vergiftung bei einem 93-Jährigen übersah. Damit war die Gerichtsmedizinerkarriere des unfehlbaren Steffen vorzeitig beendet. Kein Verlust, nach Paulas Meinung. Sie hofft nur, dass der Neue mehr Kompetenz und weniger Egomanie mitbringt.
Doc Fischgrät streckt ihr die Hand entgegen: »Hauptkommissarin Pongs, schön, Sie kennenzulernen.« Ein fester Händedruck, bernsteinfarbene, neugierige Augen.
Obwohl sie mit einem Meter sechsundsiebzig nicht ganz klein ist, muss sie zu ihm aufblicken. »Doc Fischgrät, freut mich auch.« Sie versucht ein Lächeln.
Ein Schmunzeln breitet sich im Gesicht des Mediziners aus, während er ihre Hand mit einem warmen Druck umschließt.
Sie zieht ihre Hand zurück. Was gab es da zu grinsen? Gott, ganz offenbar ein unfehlbarer Steffen 2. »Wir müssen hier entlang«, sagt sie kühl und weist in Richtung der Parzelle. Kurz darauf öffnet Doc Fischgrät eine altmodische braune Ledertasche, hockt sich neben den Toten und betrachtet die Leiche ausgiebig.
»Und?«, fragt Paula. »Was meinen Sie, Doc Fischgrät?« Sie versucht, jeden Unterton zu unterdrücken. Aber was grinst er nur schon wieder?
Fischgrät beugt sich über die Leiche und tippt sich nachdenklich an die Lippen. »Hm, eins kann ich schon mit Sicherheit sagen.«
Also doch. Ein neuer unfehlbarer Steffen. Na danke schön. »Und was wäre das?«
Er blickt auf. Seine bernsteinfarbenen Augen glitzern amüsiert. »Der Mann ist tot. Definitiv.«
Diesmal ist es Paula, die sich ein Grinsen nicht verkneifen kann. »Da bin ich aber beruhigt. Nicht auszudenken, wenn der wieder aufstehen würde.«
Der Doc lächelt, dann beginnt er konzentriert, die Leiche zu untersuchen. Ameisen huschen über das Gesicht des Toten wie bewegliche Sommersprossen. Fischgrät zückt sein Handy und spricht hinein: »Männliche Leiche, Totenstarre an sämtlichen Gelenken. Die Haut an den Extremitäten weist eine scharlachrote Färbung auf. Das Gesicht bläulich-rot.« Ein Insekt umschwirrt den Kopf des Toten, der Gerichtsmediziner folgt ihm mit den Augen. »Eine Schmeißfliege. Mal sehen, ob wir schon eine Made finden«, murmelt er. Er zieht seine Ledertasche heran, nimmt eine Pinzette heraus und schiebt sie vorsichtig an das Augenlid des Toten. Paula beugt sich vor, um besser sehen zu können. Sekunden später puhlt der Doc eine zappelnde Made hervor. Nicht schlecht, dazu braucht man schon etwas Übung.
Paula betrachtet das Insekt interessiert. »Lucilia, eine Goldfliege, nicht wahr? Wenn ich es richtig sehe, ist sie in einem frühen Entwicklungsstadium.«
Doktor Fischgrät nickt. »Stimmt. Sie interessieren sich für Maden?«
»Ich habe einige Fachvorträge zu forensischer Entomologie als Podcast heruntergeladen. Was meinen Sie, wie lange liegt der Tote hier?«
»Er ist dem ersten Anschein nach in den frühen Abendstunden gestorben, spätestens gegen Mitternacht.«
»Der Vereinsvorsitzende sagt, er habe ihn gestern Abend noch lebend gesehen und die Leiche erst heute Morgen auf dem Weg zum Vereinshaus entdeckt.« Sie deutet in Richtung eines größeren Hauses, das einige Gärten weiter die üblichen Lauben überragt. Auf dem Weg dazwischen haben sich die Gärtner versammelt und kommentieren jede Handlung mit aufgeregtem Murmeln. Paula sieht, wie ihre Mutter versucht, unter dem Absperrband durchzuschlüpfen. Doch Walter zieht sie mit einer überraschend schnellen Bewegung zurück. Kurz darauf hat er ihre Hand an den Zaun des Nachbargartens gekettet. Paula nickt ihm zu und hält anerkennend den Daumen nach oben. Walter ist einer der wenigen Polizisten, die Cosma gewachsen sind.
Der Rechtsmediziner steht auf, nimmt eine Plastiktüte und legt die Made vorsichtig hinein. Sein weißes T-Shirt mit dem Ramones-Aufdruck rutscht ein Stückchen hoch und gibt den Blick auf einen braungebrannten Bauch mit einem über den Blinddarm tätowierten Anker frei. Doch mehr als dieser Anblick interessiert Paula der schwarze Käfer mit blutroten Flecken, der just in diesem Augenblick auf dem Gesicht der Leiche landet. »Ist das ein Totengräberkäfer?«.
Der Doc folgt ihrem Blick. »Nicrophorus germanicus. Mit den gefärbten Malen handelt es sich um einen seltenen Typus. Schwer zu erkennen.« In seiner Stimme liegt eine Spur Anerkennung. Vorsichtig nimmt er ein Glas aus seiner Ledertasche und gibt den zappelnden Käfer hinein. »Die meisten Menschen finden Insekten abschreckend.«
Paula zuckt mit den Schultern. »Ich finde sie aufschlussreich. Je mehr wir durch sie erfahren, desto eher lässt sich der Fall aufklären.«
»Wow, was für ein Enthusiasmus.« Doktor Fischgrät grinst verschmitzt bei ihrer Antwort. Dann wird er wieder ernst: »Das hier ist bemerkenswert«, er deutet auf das Kinn des Toten. »Ein Hämatom mit Abschürfungen. Sieht so aus, als habe Ihre Leiche kürzlich eine Auseinandersetzung gehabt und Prügel bekommen. An den Händen sind auf den ersten Blick keine blauen Flecke oder Hautrisse zu sehen. Das heißt, er hat sich nicht gewehrt, nur eingesteckt.«
Ein Kampf. Das ist tatsächlich interessant. Sie mustert Fischgrät nachdenklich. Er erscheint deutlich cleverer als der unfehlbare Steffen. Deswegen wagt sie die Frage: »Haben Sie eine Vermutung, woran der Mann gestorben ist?« Wieder lässt sich ein Käfer am Mund des Toten nieder.
»Vermutlich plötzlich eintretender Atem- und Herzstillstand. Sehen Sie hier im Gesicht die bläulich-roten Flecke? Möglicherweise ein Herzinfarkt.« Er zögert. Dann fährt er fort: »Mein Bauchgefühl sagt mir allerdings etwas anderes.«
»Und was?«
Der Käfer verschwindet in der dunklen Höhle des Mundes. »Gift.«
COSMA
ALLES POTENZIELLE MÖRDER
Was glauben Sie, Frau Cosma, wer ist der Mörder?«, flüstert Herr von Itzenplitz. Wir stehen an dem geflochtenen Drahtzaun zum Nachbargarten. Ich gezwungenermaßen, weil festgebunden, Herr von Itzenplitz, weil er solidarisch ist. Jede unserer Bewegungen wird von Walter Körbchen beobachtet. Ich kenne ihn, seit er als Siebenjähriger vor unserem Haus mit der Zunge an der vereisten Laterne hing. Damals habe ich ihn befreit. Und nun das: Er erweist sich als williger Lakai meiner Tochter. Ich bin enttäuscht. Ich versuche, Paulas Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Aber die ist völlig von der Leiche eingenommen. Als der Mediziner ihr etwas zeigt, schiebt sie ihre Haare Agent-Starling-gleich nach hinten, ist fasziniert. Natürlich von der Leiche, nicht von dem Arzt. Kriminalfälle jeglicher Art begeistern sie seit frühester Jugend. Während andere Mädchen Pferde und Prinzessinnen zeichneten, malte sie Fahndungsfotos aus und stellte Tatorte mit Playmobilfiguren nach. Polizistin durch und durch. Fakten statt Kreativität. Das zeigt sich auch an ihrer Kleidung: mausgraues Sweatshirt und Jeans. Ich finde ja, etwas Farbe würde ihr gut zu Gesicht stehen. Erst letzte Woche habe ich ihr ein asymmetrisch geschnittenes Kleid mit aufregenden gelben Tupfen geschenkt. Sie hat sich schlichtweg geweigert, es auch nur anzuprobieren. Wenn sie an der Kleidung nichts machen will, könnte sie zumindest eine extravagante Frisur tragen. Aber nein: Die glatten hellblonden Haare hat sie zu einem schlichten Pferdeschwanz gebunden, aus dem sich immer wieder Strähnen lösen und ihr ins Gesicht fallen. Viel zu dezentes Make-up, das immerhin ihre großen blauen Augen betont. Ich verstehe nicht, warum sie sich in diesem Punkt nicht von mir beraten lässt.
»Was glauben Sie, wer ist der Mörder?«, flüstert Herr von Itzenplitz noch einmal. Gleichzeitig zieht er unauffällig sein Fahrtenmesser hervor, das er als Dreijähriger auf der Flucht aus Ostpreußen von einem Soldaten geschenkt bekam. Sekunden später bin ich frei.
Ich lasse meinen Blick über die Menschenmenge gleiten. Schrebergärtner. Meines Erachtens alles potenzielle Mörder. Am verdächtigsten erscheint mir der Vereinsvorsitzende. Führungspersönlichkeiten sind mir per se suspekt. Außerdem hat er dreckige Fingernägel. Vermutlich Erde, die sich so tief in die Haut gegraben hat, dass Waschen nicht hilft. Und dieser schwammige Blick. Aber ich will nicht vorschnell urteilen, zur Kriminalistik gehört es, neutral zu bleiben und nichts und niemanden auszuschließen. Etwa alle anderen Schrebergärtner. Vor allem die dürre Ehefrau des Vereinsvorsitzenden: um die fünfzig, verkniffener Gesichtsausdruck und Augen, die alles abfällig mustern. Sie sieht aus, als würde sie nachts auf Lockenwicklern schlafen. An den Händen hat sie auffällige rote Flecke. Sehr auffällige rote Flecke. Ich schaue genauer hin.
»Rote Bete«, flüstert Herr von Itzenplitz, der meinem Blick gefolgt ist. Selbstredend, das kann kein Blut sein. Als Kriminalautorin weiß ich alles darüber, habe die Fachliteratur studiert und außerdem sämtliche Folgen Columbo und CSI gesehen. Blut wird braun, wenn es trocknet.
Ich lasse den Blick weiter über die Menge schweifen. Eine Frau schluchzt auf. Wenn auch nicht sehr laut. Die Ehefrau des Toten, wie ich bereits ermittelt habe. T-Shirt mit glitzerndem Katzenmotiv, dazu ein keckes Halstuch. Sie friemelt ein Taschentuch aus ihrem Jeansrock, der sich um ihre drallen Oberschenkel spannt. Dafür, dass sie gerade Witwe geworden ist, wirkt sie recht munter. Sie müsste sich weinend auf dem Boden wälzen, meine ich. Aber so: eindeutig verdächtig.
Neben ihr steht ein Mann Mitte zwanzig. Seine schiefe Nase gibt ihm das verwegene Aussehen des jungen Mario Adorf. Als er einen Arm bewegt, spannen sich seine Muskeln unter einem Totenkopf-Tattoo mit gekreuzten Eishockeyschlägern. Das sieht so verdächtig aus, dass es schon wieder unverdächtig ist – und damit eindeutig verdächtig.
Mehrere Männer mit kariertem Hemd und Gummistiefeln unterhalten sich, hin und wieder werfen sie interessierte Blicke auf den Garten mit der Leiche.
Alles in allem: eine überaus verdächtige Gesellschaft.
Lediglich eine Frau scheint mir normal. Sie trägt eine Fransenweste, die hervorragend zu ihren kupferroten Haaren im Pudellook passt. Um ihren Hals baumelt an einer Lederkette mit Vogelfedern ein schwarzer Stein – ein Obsidian, wenn mich nicht alles täuscht. Sehr vernünftig. Schutz vor bösen Geistern. Hier im Schrebergarten mit Dutzenden potenziellen Mördern die einzig logische Verfahrensweise.
Ich frage mich, was wohl passiert, wenn ich die Schrebergärtner ein wenig provoziere.
PAULA
ROUTINE, REINE ROUTINE
Gift? Echt?« Doch bevor Paula dem Doc weitere Fragen stellen kann, wird sie von lautem Geschrei unterbrochen. »Mörder, das sind alles Mörder!« Cosma deutet anklagend auf die Schrebergärtner. Die weichen einen Schritt zurück.
»Frau Cosma, das sind ganz normale Menschen.« Walters sonore Stimme schallt herüber. »Schrebergärtner eben.«
»Was ist normal daran, jeden Samstag Rasen zu mähen und sich in diesem Grün zu verbarrikadieren? So was führt doch beinahe zwangsläufig zu Verbrechen und Gewalt. Aber die Polizei ist offenbar auf diesem Auge blind.« Sie hat sich vor Walter aufgebaut, die Arme in die Hüfte gestemmt. Ihr Cape flattert im Wind.
Der Doc blickt irritiert auf. »Was ist da denn los?«
»Nur das Übliche«, seufzt Paula. Dann geht sie eilig hinaus auf den Kiesweg, zu ihrer Mutter. »Ich sage es zum letzten Mal, wenn du nicht in der Arrestzelle landen willst, verhalt dich ruhig.«
»Ich ermittle doch nur. Sonst nichts.« Cosmas Nasenspitze ist in die Höhe gereckt. »Was sagt der Rechtsmediziner?«
Mit einem Blick auf Cosmas funkelnde Augen entscheidet Paula sich zumindest für eine kleine Information. Manchmal wirkt das beruhigend. »Es sieht alles ganz normal aus. Bislang keine Anzeichen für einen unnatürlichen Tod.« Unter den Schrebergärtnern macht sich Erleichterung breit. Der Vereinsvorsitzende schüttelt Paula mit großer Geste die Hand, als hätte sie gerade in der 100-Meter-Staffel bei Olympia Gold geholt. »Das sind gute Nachrichten, Frau Kommissarin. Wo doch morgen das Sommerfest stattfindet.« Er wendet sich an seine Frau: »Nicht wahr, Agnes? Das ist doch prima!«
Agnes Schulze zieht eine gezupfte Augenbraue hoch. »Prima würde ich das nicht nennen, Uwe. Ein Gartenfreund wurde aus unserer Mitte gerissen. Das ist tragisch, nicht prima. Aber in der Tat – ich bin erleichtert.« Sie rückt ihre Strickjacke gerade, die farblich auf ihre blutroten Fingernägel abgestimmt ist.
Etwas, das Paula noch nie geschafft hat. »Wir müssen die weiteren Ergebnisse abwarten. Der Garten des verstorbenen Herrn Baumann darf vorerst nicht betreten werden.«
»Aber das Sommerfest!« Agnes Schulzes Stimme ist schrill. »Was sollen denn die Gäste denken? Polizeiliche Ermittlungen in unserem Verein. Ich verlange, dass Sie wenigstens dieses alberne Flatterband entfernen.«
»Wir werden sehen, was sich machen lässt«, beschwichtigt Paula sie. »Das ist Routine. Wenn wir zu einem Toten gerufen werden, müssen wir der Sache nachgehen.«
Ihre Mutter nickt heftig. Sie strahlt über das ganze Gesicht.
Ein leises Schluchzen dringt aus der Menge. Gabriele Baumann, die Ehefrau des Toten. Paula hatte ihr angeboten, sie nach Hause bringen zu lassen. Das hatte die Witwe abgelehnt. Sie fühle sich im Kreis der Kleingärtner gut aufgehoben. Jetzt macht der Vorsitzende, Uwe Schulze, eine hilflose Bewegung in ihre Richtung, wird aber von seiner Frau abgedrängt. »Lass mich das machen, Uwe. Das kannst du nicht.« Sie legt ihren Arm um Gabriele Baumann.
Die schiebt den Arm weg. »Ist schon gut, Agnes. Ich komme klar.«
Im nächsten Moment tritt ein junger Mann nach vorne. »Jetzt lasst doch alle mal die Gaby in Ruhe.« Er nimmt sie in seine Arme, fährt ihr tröstend über die Haare.
»Es geht schon, Marcel. Es ist nur: Das hat Roland nicht verdient. Das nicht.« Sie schluchzt wieder auf.
»Wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«, fragt Paula den tätowierten Mann.
Nach einer Schrecksekunde antwortet er: »Marcel Schilling.«
Gaby löst sich von ihm, lässt aber ihre Hand in seiner. »Wir arbeiten beide für die DEG, den Düsseldorfer Eishockeyverein. Ich bin die Sekretärin des Vorstandes. Marcel Schilling ist unser Angriffsspieler. Ohne ihn wären wir in der letzten Saison nie in die Play-offs gekommen.« Sie dreht ihren Perlenohrring, den sie auf der rechten Seite trägt. Links das Ohrloch ist leer.
»Sie haben einen Garten?« Paula sieht ihn erstaunt an. Schrebergartenverein – nicht gerade die Freizeitbeschäftigung, die sie einem Eishockeyspieler zuschreiben würde. Aber die Geschmäcker sind ja bekanntlich verschieden.
»Ja, seit letztem Jahr. Da vorne.« Er weist auf die Parzelle gegenüber der des Toten.
»Der mit der hohen Hecke?«
Das Gesicht von Marcel wird finster. »Genau.« Paula bemerkt, wie Agnes Schulze die Hecke missbilligend betrachtet. Leise flüstert sie: »Viel zu hoch. Mindestens ein Meter achtzig. Und das Unkraut auf dem Weg hat er auch nicht weggemacht.«
»War Ihr Mann krank, Frau Baumann?«, kommt Paula auf ihr eigentliches Anliegen zurück.
Gabriele Baumann schüttelt den Kopf. »Nein, er war kerngesund. Er ist doch gerade erst 52 geworden, da rechnet man doch nicht damit, dass …« Sie bricht ab.
»Hatte er Feinde?«
Gaby Baumanns Augen werden groß. Gleichzeitig ziehen alle Umstehenden geräuschvoll die Luft ein. Eine Frau mit kupferrotem Haar hält ihre Halskette hoch, an der ein Stein mit einer Taubenfeder hängt. Sie murmelt: »Heilige Hekate, begleite seine Seele, und biete uns Schutz.«
Agnes Schulze zischt: »Siglinde! Halte deinen Hokuspokus woanders ab.« Dann wendet sie sich an Paula. »Roland Baumann war ein angesehenes Mitglied unseres Vereins. Gaby und er haben den Garten tipptopp auf Vordermann gebracht, als sie ihn vor zwei Jahren übernommen haben. Manche nehmen es ja nicht so genau«, ihr Blick huscht zu Marcel Schilling, »aber für Roland war das selbstverständlich. Er war ein sehr geschätzter Gartenfreund, und wir sind tief von seinem Tod betroffen.«
Aus dem Augenwinkel sieht Paula, wie Cosma ihr Diktiergerät aus der Tasche zieht: »Der Tote heißt Roland Baumann. Angeblich sehr geschätzt. Aber für jede Kriminalistin ist klar, was das bedeutet: Sie haben ihn gehasst.«
»Gehasst? Ich muss doch sehr bitten!«, empört sich Agnes Schulze.
»Geschätzter Gartenfreund«, antwortet Cosma gedehnt. »Wenn er so geschätzt gewesen wäre, läge er nicht ermordet im Kartoffelbeet.«
»Ermordet? Davon ist doch überhaupt keine Rede!« Die Stimme von Agnes Schulze überschlägt sich fast.
Paula zischt Cosma zu: »Hör auf, überall Mord zu wittern. Vor drei Monaten bei dem Obdachlosen auf der Königsallee hast du gesagt, er sei erwürgt worden. Von einer Frau mit Pelz. Die gesamte Düsseldorfer High Society, die auf der KÖ unterwegs war, hast du damit aufgewiegelt. Und dann hat sich rausgestellt, dass der Mann nur ein Nickerchen macht. Oder diese verschwundene Frau im Supermarkt vor sechs Wochen. Vermummte Räuber hätten sie in einen Wagen gezerrt. Nachdem wir eine Polizeistaffel alarmiert haben, taucht die Frau hinter der Fleischtheke wieder auf. Mit dem Wurstverkäufer. Und den Fall der kreischenden Kammer will ich gar nicht erst erwähnen.«
»Man darf das Böse nicht unterschätzen, es kann immer und ständig zuschlagen.« Cosma wirkt nicht gerade schuldbewusst.
»Halt dich zurück!«
Doch ihre Mutter denkt offenbar nicht daran. Sie wirft einen Blick in die Runde. »Sie sind bedauerlicherweise Laien. Aber ich bin eine erfahrene Kriminalschriftstellerin, die die Abläufe bei polizeilichen Ermittlungen sehr genau kennt. Und ich muss sagen: Das sieht nicht gut aus.« Sie macht eine Kunstpause, bis sie sicher ist, dass sie die volle Aufmerksamkeit aller Umstehenden hat. Dann raunt sie: »Das da vorne ist nicht irgendein Arzt. Das ist die Gerichtsmedizin.« Sie deutet auf den Doc, der just in diesem Moment seine Ledertasche zuschnappen lässt, zu ihnen hersieht und aufsteht. »Die wird nur gerufen, wenn die Polizei ein Verbrechen vermutet.«
Alle Augen richten sich auf Doc Fischgrät. Der klopft sich verlegen die Erde von der braunen Cordhose und verlässt den Garten. Sekunden später ist er bei ihnen. »Frau Pongs, ich bin so weit fertig. Die Kollegen transportieren den Toten gleich ab. Ich rufe Sie an, sobald ich das Ergebnis der Obduktion vorliegen habe.«
»Danke!« Cosma strahlt ihn an. »Das ist sehr zuvorkommend von Ihnen.«
»Mutter, er meint mich.« Paula schiebt sich vor ihre Mutter. Doch die drängelt sich im nächsten Augenblick wieder vor.
Der Doc sieht überrascht aus. »Das ist Ihre Mutter? Cosma Pongs?« Er streckt ihr die Hand hin. »Ihr Ruf eilt Ihnen voraus. Stimmt es, dass Sie im Präsidium durch die unterirdischen Geheimgänge gekrochen sind und den Polizeipräsidenten bei einem Tête-à-tête überrascht haben?«
Cosma winkt ab. »Das war doch nichts Besonderes.« Aber ihre Augen leuchten vor Stolz.
Paula fühlt, wie ihr Blutdruck steigt.
Natürlich realisiert Cosma das sofort. »So süß! Schon wieder Apfelbäckchen.«
Paula ballt die Hände zu Fäusten. Es kostet eine enorme Kraftanstrengung, sie wieder zu lösen. »Wann kann ich mit dem Ergebnis der Untersuchung rechnen, Doc Fischgrät?«, fragt sie betont ruhig.
Wieder das amüsierte Lächeln. »Morgen, vielleicht schon etwas eher. Ich rufe an. Hier ist meine Telefonnummer für alle Fälle.«
Paula nimmt die Visitenkarte entgegen und wirft einen kurzen Blick darauf. Mit einem Mal fühlt sie, wie ihre Wangen glühen. »Doktor Fischer?«
Der Gerichtsmediziner lacht. »Fischgrät finde ich auch gut, so hat mich noch niemand genannt.« Er zwinkert ihr zu. »Frau Hauptkommissarin Paula Pongs – Frau Cosma Pongs. Es war mir eine Ehre.« Die Tasche locker in der Hand schwingend, geht er davon.
Paula sieht Walter an. »Warum hast du gesagt, er heißt Doc Fischgrät?«
Der zuckt mit den Schultern. »Ich habe den Namen von Oskar gehört.«
»Oskar? Spinnst du? Du weißt doch, dass der für jeden einen Spitznamen hat. Ich sage nur Miss Sherlock und der Zuckerbäcker. Wie kannst du dich auf Oskar verlassen?«
Doch Cosma enthebt Walter einer Antwort. Sie springt unvermittelt nach vorne. »Warum haben Sie ihn ermordet?« Mit spitzem Finger sticht sie dem Vorsitzenden auf die Brust. »Gestehen Sie!«
Uwe Schulze tritt überrascht einen Schritt zurück. »Was … Aber ich habe gar nichts gemacht.«
»Mutter – Platzverweis.« Paula platzt der Kragen. Vorgehensweise 3. Sofort. Sie gibt Walter einen Wink. Der greift nach hinten, zieht seine Handschellen heraus und lässt sie blitzschnell um Cosmas Gelenke schnappen.
Herr von Itzenplitz taucht neben Paulas Mutter auf: »Ich muss doch sehr bitten! Die Freiheit des Einzelnen ist eine Grundfeste der Demokratie!«
Paula baut sich vor Cosma auf: »Polizeigesetz, § 27a: Die Polizei kann zur Abwehr einer Gefahr oder zur Beseitigung einer Störung eine Person vorübergehend eines Ortes verweisen oder ihr das Betreten eines Ortes verbieten«, zitiert sie. Sie weiß, dass Herr von Itzenplitz zwar das Herz eines Revolutionärs, aber das Temperament eines Verwaltungsbeamten hat. Zwiespalt spiegelt sich in seinem Gesicht wider. Schließlich siegt der Beamte in ihm. »Dann gehen wir. Wenn auch unter Protest.«
»Geben Sie nicht klein bei, Itzenplitz!« Cosma zerrt an ihrer Handschelle.
»Mutter, du hast für heute Platzverweis. Sei froh, wenn es dabei bleibt.« Paula ist selbst überrascht, wie laut ihre Stimme sein kann. »Walter – führ sie ab!«
Walter nickt, dann zerrt er Cosma in Richtung Ausgang. Kurze Zeit später kommt er schwer atmend zurück. »Auftrag erledigt. Sie steht vor dem Gelände.«
»Gut gemacht«, lobt Paula. »Herr von Itzenplitz wird dafür sorgen, dass sie bleibt, wo sie ist.« Sie atmet tief durch.
Dann wendet sie sich an die Schrebergärtner: »Wir nehmen Ihre Personalien auf, damit ist alles erledigt. Wie gesagt: Das ist reine Routine.« Sie wirft ein Die-Polizei-bringt-alles-in-Ordnung-Lächeln in die Runde. Dann zieht sie Walter beiseite, damit die Gruppe sie nicht hört. »Ruf Spusen-Ali an, er muss herkommen. Am besten gleich.«
Walter macht einen Schritt zurück. »Den rufe ich nicht an.«
Paula seufzt. Warum macht eigentlich keiner, was sie will? »Du bist aber dran.«
»Bin ich gar nicht. Ich habe ihn schon letztes Mal benachrichtigt.« Er verschränkt bockig die Arme.
»Hast du nicht. Du erinnerst dich: die Leiche im Hochhaus. Ich bin persönlich bei Spusen-Ali vorbeigefahren.«
Walter zögert, doch noch gibt er sich nicht geschlagen. »Schere-Stein-Papier?«
»Nein, du betrügst. Und zwar seitdem wir in der vierten Klasse mit Eltern und Lehrern auf dieser halbtägigen Schiffstour auf dem Rhein waren und du versehentlich mit Cosma eine Stunde im Maschinenraum eingesperrt warst. In der Zeit hat sie dir ihre gesamten Tricks verraten.«
Walter verzieht das Gesicht. »Du kannst nur nicht verlieren.«
»Walter! Du. Bist. Dran.«
Plötzlich glimmt ein Hoffnungsfunken in Walters Gesicht auf. »Ist Spusen-Ali nicht im Urlaub?«
»Nein, er wollte wegen des Ramadan einige Tage freinehmen, aber der Chef hat ihn nicht gelassen. Zu viel zu tun.«
»Oh Gott. Es ist Ramadan? Jetzt?«
»Jetzt. Kein Essen, kein Trinken.«
Walter überlegt. »Ich schreibe ihm eine SMS.«
»Dann bist du lebensmüde. Du weißt, dass er SMS nicht leiden kann. Er will persönlich benachrichtigt werden.«
Walter schüttelt den Kopf, dann zieht er sein Handy hervor und fängt an zu tippen.
Eigentlich hatte Paula gedacht, dass sich mit Aufnahme der Personalien die Versammlung der Schaulustigen auflösen würde. Aber Neugier scheint unter Schrebergärtnern verbreitet zu sein. Ausgiebig beobachten sie, wie die Leiche Roland Baumanns abtransportiert wird. Schließlich gibt es so was nicht jeden Tag zu sehen. Selbst Gaby Baumann wirkt eher interessiert als betrübt.
Doch irgendwann ist auch diese Episode der Kleingartengeschichte vorbei, und der Alltag kehrt zurück. Vorerst. Denn Paula denkt an das, was der Gerichtsmediziner gesagt hat: Gift.
COSMA
MEINE TOCHTER SOLLTE WIRKLICH AUF MICH HÖREN
Was ist das für ein herrlicher Tag! Ich kann es immer noch nicht fassen: eine richtige Leiche. Noch schöner wäre es allerdings, wenn ich meine Ermittlungen unbehelligt durchführen könnte. Platzverweis, tzzz.
Ich schaue auf Paulas Küchenuhr. Halb sieben. Wo bleibt sie nur? Die Leiche ist vor Stunden abtransportiert worden. Ich will schon aufstehen und mir einen Schokoriegel aus dem Schrank holen, da höre ich, wie die Wohnungstür geht. Paula kommt in den Flur, hängt ihren Schlüsselbund auf und streift sich die Schuhe ab. Als Erstes geht sie wie immer zu ihrem Aquarium, das steht im Wohnzimmer. Da sitzt Paula häufig und schaut ihren Fischen beim Schwimmen zu. Sie meint, das wäre eine wunderbare Freizeitbeschäftigung. Ich hab es auch mal probiert. Von wegen wunderbare Freizeitbeschäftigung. Die Fische schwimmen hin und her und her und hin. Was soll daran wunderbar sein?
»Hallo, ihr beiden. Seid ihr hungrig?« Paulas Stimme klingt weich, wie immer, wenn sie mit den Fischen spricht. Ich höre, wie sie den Aquariumdeckel aufschiebt und kurz darauf die Futterdose an den Rand klopft. Seit sie zehn ist, hat sie Fische. Zwei Goldfische, um genau zu sein. Ich hätte ein exotischeres Wesen bevorzugt, einen Papagei oder einen Affen. Zumindest eine Katze. Aber sie bestand auf Fischen. Immerhin sind es rot-weiße Goldfische und nicht eintönig graue Stichlinge. Als Mutter muss man sich schon mit kleinen Erfolgen zufriedengeben.
Jetzt kommt Paula summend über den Flur Richtung Küche. Die ist mein liebster Raum in ihrer Wohnung. Ein weiß gekachelter Tisch in der Mitte, drum herum Stühle, von denen keiner dem anderem gleicht. Ich nehme meistens den hellblau lackierten, der hat ein weiches Polster aus einem Quilt, den sie mit vierzehn auf Anweisung ihrer Hauswirtschaftslehrerin genäht hat. Weit ist sie allerdings nicht gekommen, nur ein paar Quadrate. Handarbeit ist nicht ihre Stärke.
Paula öffnet die Küchentür. Und bleibt abrupt stehen. »Was machst du hier?« Ihre Hand liegt an ihrer Pistole.
»Darf eine Mutter nicht ihr einziges Kind besuchen?«
»Schon. Wenn sie klingelt.«
»Die Tür war angelehnt. Vermutlich hast du vergessen abzuschließen.«
»Mit Sicherheit nicht.«
»Verdrängung ist ein typisches Symptom, um mit Schuld umzugehen.«
Paula rollt mit den Augen. »Du hast den Hausmeister bestochen. Was hast du ihm gegeben? Ein handsigniertes Exemplar des neuen Romans deiner Mitbewohnerin Gerda?«
»Wo denkst du hin!«, sage ich empört. Natürlich habe ich den Hausmeister nicht mit einem handsignierten Exemplar von Gerdas Krimi bestochen. Den kennt er doch schon längst. Es war ein Auszug aus dem noch unveröffentlichten Manuskript.
»Was willst du?« Paula lässt sich erschöpft auf einen Holzstuhl mit Korbgeflecht fallen und zieht eine Flasche Wasser zu sich ran.
»Wie kommst du darauf, dass ich etwas will?«
Paula schweigt. Aber ich kann Stille aushalten. Bedrückende Stille. Vorwurfsvolle Stille. Eisige Stille. Stundenlang, wenn es sein muss. »Ich will gar nichts. Nur wissen, was du inzwischen weißt.« Gut, das waren jetzt keine Stunden, höchstens fünf Sekunden. Aber ich habe schließlich nicht ewig Zeit. Der Fall wartet.
»Du weißt doch, dass ich dir nichts sage.« Ihr Blick geht hinüber zu der Tür zum Nebenzimmer, ihrem Büro. Mit einem Mal wirkt sie misstrauisch. »Warst du an meinem Schreibtisch?«
Verdammt. Ich wette, sie hatte einen Faden zwischen die Tür und den Rahmen geklemmt. Sie ist so durchtrieben. Vorsichtshalber halte ich meine Antwort vage: »Dein Schreibtisch ist für mich weit weniger attraktiv, als du vielleicht denken magst.« Ist er auch. Die wirklich interessanten Dinge versteckt sie in der Altpapierkiste vor mir.
»Ich war den ganzen Tag unterwegs. Ich will was essen und dann meine Ruhe. Also lass uns das hier abkürzen: tschüss!« Sie deutet zur Tür.
»Da komme ich extra her, um mit meiner Tochter zu plaudern, und du bist so abweisend. Du solltest dir endlich einen neuen Geliebten zulegen, dann hättest du nicht so schlechte Laune.«
Wortlos steht Paula auf, holt aus ihrem Küchenschrank mit den hübschen Gardinen Haferflocken, Sonnenblumenkerne, dann aus dem Kühlschrank eine Flasche Milch. Ich frage mich zum x-ten Mal, wie sie das essen kann. Doch bevor ich mich in diese Frage weiter vertiefen kann, erregt etwas anderes meine Aufmerksamkeit: Sie hat ihre Jacke über den Stuhl gehängt. An sich wäre das nicht weiter bemerkenswert. Aber sie hat auch ihr Pistolenhalfter ausgezogen. Und nun hängt ihre Walter PPK kaum zwei Meter vor mir. Ich werfe meiner Tochter einen Blick zu. Sie gibt gerade Milch in ihre Haferflocken. Während sie beschäftigt ist, rücke ich unmerklich ein winziges Stück vor. Die Pistole ist gut gepflegt, der Griff schimmert im warmen Licht der Deckenlampe. Ich beuge mich weiter vor. Meine Tochter nimmt einen Löffel und gibt eine Portion Sonnenblumenkerne in das schleimige Gemisch. Langsam strecke ich meine Hand aus, das Halfter ist nur noch wenige Zentimeter entfernt.
»Finger weg von meiner Waffe!« Sie hat sich nicht mal umgedreht. Verdammt.
Ich rücke mit meinem Stuhl wieder ab. Nie lässt sie mich an ihre Pistole. Dabei weiß sie ganz genau, wie wichtig es für eine Romanautorin ist, echte Erlebnisse einzubinden. Ich will die Waffe ja nur in der Hand halten. Und höchstens zwei-, dreimal schießen. Aber meine Tochter ist in solchen Dingen enorm engstirnig. Deswegen lasse ich das Thema außen vor. Stattdessen fahre ich fort: »Deine letzte Beziehung ist schon Monate her. Es ist Zeit für etwas Neues. Dann wärst du ausgeglichener. Ein Yin braucht ein Yang.«
»Ich fühle mich gut, so, wie es ist. Als alleinstehendes Yin ohne ständige Einmischungen.« Sie sieht mich bedeutungsvoll über ihre Schulter hinweg an.
Ich lehne mich zurück. »Dieses Mal solltest du dir aber mehr Mühe beim Aussuchen geben. Alexander Philipp zu Hohenlohe. Allein schon der Name.« Als ich den Burschen zum ersten Mal gesehen habe, war mir sofort klar, dass diese Verbindung nur einen Grund hat: Protest. Ein Steuerberater! Paula weiß, wie sie mich trifft.
»Alex war ein netter Kerl. Zuverlässig, ruhig …«
»Und vollkommen langweilig«, ergänze ich. Humorlos, nicht zu vergessen. Mitglied bei den Skeptikern. Hat ständig elaborierte Theorien hinterfragt. Etwa, dass 1947 Außerirdische in Roswell in den USA gelandet sind und die CIA es vertuscht hat. Dabei weiß das jeder. Aber dieser Steuerpedant hat gesagt, das sei ein urbaner Mythos. Ominöser Kauz.
»Er war bodenständig und gewissenhaft.«
»Trotzdem hast du ihn verlassen.«
»Was willst du?«
»Ich will nur mit dir reden. An deiner Gedankenwelt teilhaben. Wie Mütter es nun einmal tun.« Ich stehe auf und hole mir einen Schokoriegel aus der Schublade ihres alten Küchenschrankes. Den hat sie vom Flohmarkt, wie den Großteil ihrer Einrichtung. Wenigstens ist sie in dieser Hinsicht nicht so langweilig wie in ihren Männerbeziehungen.
Paula zieht eine Augenbraue hoch: »Hast du schon wieder Süßigkeiten angeschleppt?«
»Kein Mensch kann ernsthaft ohne langfristige Schäden von diesem Körner-Zeugs leben, das du in dich hineinschaufelst.« Ich riskiere einen Blick in die Schüssel, die sie in der Hand hält. Schon allein die Farbe des Ganzen ruft: Ich schmecke nach Schneckenschleim!
»Ich esse das gerne.« Sie verzieht den Mund, als sie es sagt. Glaubwürdig ist anders. Außerdem ist die Schublade mit Süßigkeiten jedes Mal leer, wenn ich komme. Paula würde es nie zugeben, aber sie liebt Schokolade. In allen Varianten. Am liebsten die mit Erdbeer-Stracciatella-Splittern.
»Der Arzt wäre ein interessanter Kandidat«, nehme ich den Faden wieder auf.
»Welcher Arzt?«
»Doc Fischgrät. Ein interessanter Mann. Ihr könntet euch abends beim Fernsehen über Maden und Leichen unterhalten.«
»Kein Bedarf.« Paula löffelt ihren Haferschleim. Ihr Blick klebt aber auf meinem Schokoriegel.
»Hast du nicht gemerkt, wie beeindruckt er von dir war?«
Statt zu antworten, sieht sie demonstrativ auf die Uhr. »Wolltest du nicht gehen?«
»Dafür, dass du Ermittlerin bist, hast du unfassbar wenig Empathie und Menschenkenntnis. Er hatte diesen besonderen Ausdruck, als er mit dir gesprochen hat. Er ist definitiv interessiert.«
Paula rollt mit den Augen. »Vor fünf Wochen wolltest du mich mit diesem angeblichen Kunstexperten aus Berlin verkuppeln. Einem gesuchten Trickbetrüger.«
»Warum musst du auch jeden potenziellen Liebhaber auf Einträge in der Kriminalakte überprüfen? Dabei war er begeistert von meinem Roman. Er hätte mir den Kontakt zu dem Verlag eines Freundes gemacht. Aber dazu ist es ja nicht mehr gekommen, weil du ihn unbedingt verhaften musstest.« Ich knuspere an meinem Schokoriegel. »Hast du bemerkt: Der Gerichtsmediziner trug keinen Ehering. Dein Freund Walter hat gesagt, dass er gerade erst aus Hamburg hergezogen ist. Und warum verlässt jemand die Stadt? Wegen einer zerbrochenen Liebe!«
»Oder wegen eines neuen Jobs, aus Neugier, um seiner Mutter zu entkommen …«
»Du müsstest dich nur mal etwas farbenfroher anziehen. Ich war neulich in der Altstadt und habe einen wunderbaren Hut gesehen. Mit breiter Krempe, hellgrünem Band und rosa Federn. Der wäre was für dich.«
Paula stellt ihre Schale mit dem Schleim etwas zu heftig ab. Milch schwappt auf die Arbeitsfläche. »Ich suche mir meine Kleidung und meine Männer selbst aus, Mutter! Der Doc ist ein Kollege. Mehr nicht.«
Hui. Sie kann ganz schön böse schauen. Gut, dass ihr Handy gerade klingelt, das auf dem Küchentisch liegt. Ich kann eben noch einen Blick auf das Display erhaschen. Doktor Fischer. Sage ich doch.
Ich werfe meiner Tochter einen vielsagenden Blick zu.
PAULA
ATROPOS, DIE SCHICKSALSGÖTTIN, GREIFT EIN
Fass hier nichts an!« Paula schnappt sich Waffe und Handy, geht ins Wohnzimmer und schließt sorgfältig die Tür hinter sich. Erst als sie sicher ist, dass ihre Mutter sie nicht mehr hören kann, nimmt sie den Anruf entgegen.
»Hallo, Doktor Fischer. Sie haben ein Ergebnis?« Sie lässt sich in ihrem Lieblingssessel nieder, einem alten Ohrensessel, den sie vom Sperrmüll gerettet und neu bezogen hat.
»Oh, plötzlich so förmlich? Mir hat Doc Fischgrät ganz gut gefallen.«
Paula presst ihre Lippen zusammen. Doch bevor sie etwas sagen kann, fährt der Gerichtsmediziner fort: »Tatsächlich habe ich ein sehr interessantes Ergebnis: Atropa belladonna im Magen des Toten.«
Paula richtet sich auf: »Belladonna – die Giftpflanze?«
»Ganz recht. Auch Tollkirsche genannt, wegen ihrer halluzinogenen Wirkung. Die Pflanze enthält die Alkaloide Atropin, Hyoscyamin und Scopolamin, eine sehr wirkungsvolle Mischung.«
»Atropin nach Atropos, der Schicksalsgöttin, nicht wahr?«
»Exakt. Während ihre Schwester Klotho den Lebensfaden spinnt, Lachesis ihn bemisst, schneidet Atropos den Lebensfaden durch. Ein sehr passendes Bild, wie ich finde.«
»Unbedingt«, stimmt sie ihm freudig zu. Mit Fachkenntnissen in griechischer Mythologie hatte sie nicht unbedingt gerechnet. Insgesamt ist der Doc ganz anders, als sie auf den ersten Blick vermutet hat. »Versehentliche Vergiftungen mit Tollkirsche sind recht häufig. Vielleicht hat unser Toter die Früchte verwechselt«, überlegt sie.
Sie kann förmlich durch das Telefon hören, wie sich der Doc lässig auf seinen Schreibtisch setzt und die Füße baumeln lässt. »Vergiftungen mit Belladonna treten tatsächlich jedes Jahr auf. Meist sind Kinder betroffen, weil die schwarzen Beeren der Kirsche ähneln und süß schmecken. Ein Erwachsener, noch dazu ein erfahrener Gärtner, sollte allerdings kaum versehentlich Tollkirsche essen.«
Paula folgt ihren Fischen mit den Augen. Bonnie und Clyde jagen eifrig nach dem Futter. Mit geschickten Bewegungen schnappen sie sich die feinen Blätter von der Oberfläche des Aquariums. »Die Pflanze wirkt halluzinogen. Was, wenn der Tote einen kleinen Rausch wollte? Er züchtet die Pflanze im Garten, und immer wenn ihm danach ist, nimmt er sich ein paar Beeren, nur leider verrechnet er sich dieses Mal bei der Dosis.«
»Das kommt vor, keine Frage. In diesem Fall würde ich das allerdings für sehr unwahrscheinlich halten, denn die Beeren wurden einer Torte untergemischt. Beeren-Sahne-Torte, um genau zu sein. Er hat ein recht großes Stück gegessen, darin waren mindestens zwanzig Tollkirschbeeren.«
Paula zieht scharf die Luft ein. »Zwanzig? Sind nicht schon Mengen von zehn bis zwölf für Erwachsene tödlich?«
Er pfeift durch die Zähne. »Wow, bei so viel Fachwissen würden Sie eine recht gute Giftmörderin abgeben. Tatsächlich kommt es aber auf die Konzentration des Giftes in der Beere an. Atropin wirkt ab 1,4 mg pro Kilogramm Körpergewicht letal. Unser Toter hat mit diesem Stück Torte 1,8 mg pro Kilogramm Körpergewicht aufgenommen, absolut tödlich.«
Ein besonders großes Stück Futter segelt vor Clyde hinunter. Gemächlich öffnet er sein Maul. Im gleichen Moment kommt Bonnie herangeschossen und schnappt es ihm weg. »Klingt, als wollte da jemand auf Nummer sicher gehen. Was können Sie mir über die Wirkungsweise sagen, Doc?« Paulas Gedanken gleiten kurz ab. Wie kommt Cosma nur darauf, dass sie sich für den Doc interessieren könnte? Er passt überhaupt nicht zu ihr. Viel zu extrovertiert, modebewusst, bestimmend. Alex, ihr letzter Freund, war das Gegenteil. Stundenlang hatte er mit Paula auf dem Sofa gesessen und Händchen gehalten. Eben ein ruhiger, zuverlässiger Typ, leider mit einer Vorliebe für hellblaue Hemden und Bundfaltenhosen. Cosma hatte ihn vom ersten Augenblick an gehasst. Bei den Gedanken lächelt Paula.
»Die Einnahme von Atropin führt zu Dehydrierung und einem Kratzen im Mund- und Rachenbereich bis hin zum Kehlkopf. Die Schleimhäute trocknen aus, es folgen Schluckbeschwerden und Sprachstörungen. Das Opfer bekommt Durst, den es aber nicht löschen kann, weil es nichts aufnehmen kann. Der Blutdruck steigt, und der Herzschlag erhöht sich. Zuerst setzt eine euphorisierende Wirkung ein, dann ein Rauschzustand, mitunter Tobsuchtanfälle. Wussten Sie, dass im Mittelalter die Beeren unbequemen Frauen unter das Essen gemischt wurden? Sie bekamen Halluzinationen und starben als Hexe auf dem Scheiterhaufen.«
Paula hört ein leises Knarzen. Die Küchentür. Sie drückt das Handy gegen ihren Pullover: »Mutter – geh zurück in die Küche!« Ein Seufzen auf dem Flur, kurz darauf knarzt die Küchentür abermals. Paula hält ihr Telefon wieder ans Ohr. »Tobsuchtanfälle. Daher vermutlich die Verwüstung im Kartoffelbeet. Seltsam, dass das keiner gehört hat. Die Kleingärtner übernachten doch auch in ihren Lauben. Und wo gibt es mehr soziale Kontrolle als auf so kleinen Parzellen?«
»Vermutlich war die halluzinogene Phase sehr kurz. Durch die hohe Dosis wurde das Opfer innerhalb kurzer Zeit bewusstlos. Der Exitus erfolgte durch Atemstillstand. Vermutlich gegen Mitternacht.«
Wieder ein Knarzen. Wieder Schritte. Die Wohnzimmertür öffnet sich ein winziges Stück. Eine Nasenspitze und weiße Haare werden sichtbar. Zeit, das Gespräch zu beenden. »Vielen Dank für die Information, Doktor Fischer.«
»Gern geschehen. Ihnen noch einen schönen Abend, abseits von Leichen und Belladonna.« Sie hört förmlich sein Schmunzeln.
Definitiv kein Mann, der sich mit stundenlangem Händchenhalten auf dem Sofa abgibt. Warum jagt ihr der Gedanke nur ein Kribbeln in den Bauch?
Kaum hat sie aufgelegt, stürmt Cosma herein. »Was hat er gesagt?«
»Wer?«
»Doc Fischgrät.«
Wortlos geht Paula an ihr vorbei in die Küche, widmet sich wieder ihrer Müslischale. Ihre Mutter kommt sofort hinterher. »Es war Mord, nicht wahr? Sonst hätte er heute Abend doch nicht noch angerufen. Er wollte dich so schnell wie möglich informieren.« Sie hebt den Zeigefinger und versucht, streng zu wirken. »Nun rede endlich, Tochter!«
Paula schiebt sich den Löffel in den Mund. Ihr Blick huscht zur Uhr. In fünf Minuten beginnt auf Arte die Dokumentation über Serienmörder, die sie sehen will. »Mutter, Zeit zu gehen.«
Cosma bleibt ungerührt stehen. »Ich will wissen, was er gesagt hat.«
»Nichts, was ich dir sagen würde.«
Ein listiger Ausdruck schleicht sich auf Cosmas Gesicht. »Dann war es Mord. Alles andere würdest du mir, ohne zu zögern, mitteilen.«
Verdammt. Warum musste ihre Mutter hin und wieder klare Momente haben? »Ich würde dir in keinem Fall etwas sagen. Du bist Zivilistin. Basta.« Paula stellt ihre Schale ab und schiebt Cosma über den Flur. Sie öffnet die Wohnungstür und deutet auffordernd nach draußen. »Gute Nacht, Mutter!« Sie lässt die Tür ins Schloss fallen.
Die Haferflocken sind pappig. Paula entsorgt sie in der Toilette. Dann nimmt sie sich einen Schokoriegel aus der Schublade.
Als sie sich in den Ohrensessel fallen lässt, haben Bonnie und Clyde ihre Mahlzeit beendet. Träge schwimmen sie im Becken herum. In der Wohnung ist es ruhig. Kein Mensch weit und breit. Paula beißt von ihrem Schokoriegel ab.
Ob der Doc wirklich wegen einer verlorenen Liebe nach Düsseldorf gekommen ist?
COSMA
HUNDERTPROZENTIG MORD
Ich bin so was von enttäuscht. Da wirft mich mein eigen Fleisch und Blut einfach aus der Wohnung. Aber mir macht sie nichts vor. Es war Mord. Vermutlich wurde das Opfer erschlagen. Oder erwürgt. Oder beides. Auf jeden Fall bedarf es weiterer Nachforschungen.
Ich gehe die zwei Straßen weiter, bis ich an unserem Haus angelangt bin. Was für ein Glück, dass wir so nah beieinander wohnen. Auch wenn Paula sich damals ein wenig angestellt hat, als Herr von Itzenplitz, Gerda Rommstätter und ich mit Eddi Mei-Zu die WG gegründet haben. Sie meinte, ich solle auf die andere Rheinseite ziehen. Oder noch besser gleich nach Köln. Das wäre nah genug. Aber dann hätte ich sie ja gar nicht so häufig besuchen können. Manchmal denkt sie wirklich etwas verquer, meine Tochter.
Die Jugendstilvilla mit den geblümten grünen und blauen Kacheln an der Fassade zählt zu den schönsten Häusern der Straße, finde ich. Sie gehört Eddi Mei-Zu. Eigentlich heißt er Ewald Meier-Zuhorst. Schon im Alter von zwölf Jahren begann er, Geheimdienst-Thriller zu schreiben. Sein Held ist ein japanischer Großmeister, Eddi Mei-Zu, den eine unglückliche Liebe an den Niederrhein verschlagen hat. Sein Widersacher Blofeldt versucht immer wieder aufs Neue, in Weeze am Niederrhein eine geheime Kommandozentrale für die Übernahme der Weltherrschaft einzurichten. Doch jedes Mal gelingt es dem heldenhaften Geheimagenten Eddi Mei-Zu, dies unter Einsatz seines Lebens zu vereiteln.
Sein Geld machte Ewald Meier-Zuhorst aber nicht mit Romanen, sondern mit Schweinen. Mit dreiundzwanzig übernahm er die Metzgerei seines Vaters und baute ein gigantisches Wurstimperium auf. Bis er irgendwann genug hatte. Er verkaufte seinen Betrieb, um sich ganz dem Schreiben widmen zu können. Doch der Durchbruch blieb aus. Wie auch ich musste er erkennen, dass die Verlage hierzulande revolutionären neuen Romanideen von aufstrebenden Nachwuchsautoren mit Ignoranz gegenübertreten. Nach der 498. erfolglosen Bewerbung kam Ewald Meier-Zuhorst auf die Idee, dass vielleicht ein Schreibkurs Anregungen bringen würde. Und tatsächlich, dort hat er mich kennengelernt. Und Herrn von Itzenplitz. Und Gerda Rommstätter. Schreibtechnisch gesehen, war es nicht ganz so erhellend. Dem Seminarleiter – ein ehemaliger Lateinlehrer – fehlte der fantasievolle Zugang zur Literatur. Gerdas Krimi nahm er auseinander, bis sie Tränen in den Augen hatte. Diese Rohheit konnten wir nicht tatenlos hinnehmen. Zugegeben, Eddi Mei-Zu hätte ihn nicht unbedingt Kopf voraus aus dem Fenster hängen müssen. Aber der Seminarleiter wollte sich partout nicht entschuldigen. Jedenfalls haben uns die folgenden Stunden in der Polizeiwache zusammengeschweißt. Damals haben wir beschlossen, eine Schriftstellerkommune zu gründen. So wie einst die Kommune 1 in der Wohnung von Hans Magnus Enzensberger und in der Wohnung von Uwe Johnson. Nur ohne so einen debilen Namen. Kommune 1 – wirklich, das klingt nach Graf Zahl von der Sesamstraße. Jedenfalls hat Eddi Mei-Zu sein Haus zur Verfügung gestellt, das war ihm sowieso viel zu groß. Hanne, seine Frau, lebt schon seit Jahren getrennt von ihm auf Gran Canaria. Er hat uns Bilder von ihr gezeigt, sie gleicht einer Schildkröte, scheint aber ansonsten sehr nett zu sein.
Als ich in den Hausflur komme, höre ich bereits die übliche Geräuschkulisse: Udo Jürgens, begleitet von einer weiblichen Stimme. Aus dem anderen Zimmer dringen Schüsse und das Quietschen von Autorreifen.
Kaum bin ich in der Wohnung, erstirbt die Musik. Übrig bleiben Geballer und Explosionen. Im nächsten Moment kommt auch schon Gerda aus ihrem Zimmer gestürmt. Sie trägt einen Bademantel mit dem aufgestickten Konterfei Udo Jürgens’. »Haben Sie etwas herausbekommen, Frau Cosma?« Gerda sieht mich mit großen Augen an. Diese Augen beherrschen ihr Gesicht und geben ihr einen immerzu erstaunten Ausdruck. Einige Jahre bevor wir uns begegnet sind, hat sie sich in einen älteren Herrn verliebt, den sie zufällig auf unserer Prachtmeile, der KÖ, getroffen hatte. Otto, so sein Name, lud sie zu einem Stück Torte ein, später zu einem Sekt und mehr. Bald trafen sie sich regelmäßig. Irgendwann überlegten sie, auf eine einjährige Kreuzfahrt zu gehen. Leider hatte es kurz zuvor ein Erdbeben in der Karibik gegeben, und Otto kam nicht an sein Geld, das dort auf einer Bank lagerte. Natürlich streckte ihm Gerda einen großzügigen Betrag vor. Für die Reise, für die Auflösung der Wohnung, die Versorgung seiner dementen Mutter in einem Pflegeheim. Am Tag der Abreise stand sie in Rostock-Warnemünde am Hafen und wartete. Vergeblich. Sie hat ihn nie wiedergesehen. Ihn nicht und ihr Geld auch nicht. Damals ist sie allein auf Kreuzfahrt gegangen. Und irgendwo zwischen den Azoren und Südamerika beschloss sie, Krimis zu schreiben. Blutrünstige Splatterkrimis. Ich habe einen angefangen, konnte aber nach den ersten Seiten zwei Nächte nicht schlafen.
Nebenan im Zimmer erstirbt das lautstarke Explodieren von Booten, Autos oder was auch immer. »Wat hat dat Mädsche jesacht?« Eddi Mei-Zu steht vor mir. Seine Körperformen erinnern an einen Schneemann. Einen ziemlich kleinen Schneemann wohlgemerkt, Eddi Mei-Zu reicht mir gerade bis zur Nasenspitze. Dabei bin ich auch nur 1,59 Meter groß.
»Was hat das Mädchen gesagt«, berichtige ich. Eddi Mei-Zu versucht Hochdeutsch zu lernen, aber die fünf Generationen Rheinland dringen immer wieder durch.
»Was hat das Mädschen gesagt«, wiederholt er ernst. Naja, »Ch« kann er einfach nicht.
»Lagebesprechung.« Ich winke Eddi und Gerda, mir in die Küche zu folgen. Dort sitzt Herr von Itzenplitz an dem Besprechungstisch aus Schiffseiche und liest. Vermutlich Nietzsche. Oder Marx. Jedenfalls ist Herr von Itzenplitz schwerhörig, aber er lehnt es ab, sich damit auseinanderzusetzen. Er sagt, wir reden zu leise. Dabei kann man von uns viel sagen, aber zu leise sind wir bestimmt nicht.
Erst als wir uns alle zu ihm setzen, registriert Herr von Itzenplitz, dass ich von meiner Mission zurück bin. Er legt das Buch weg, nimmt seine goldene Lesebrille ab und sieht mich ruhig an: »War es Mord?«
»Mit Sicherheit.«
Eddi Mei-Zu lehnt sich zurück, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. »Een Mord. Ist dat die Möglischkeit!«
Gerdas Stupsnase kräuselt sich. »Wie wunderbar!«
Nur Herr von Itzenplitz runzelt die Stirn: »Was hat Frau Paula denn genau gesagt?«
»Nichts. Wie üblich. Aber der Gerichtsmediziner hat angerufen. Außerhalb der Dienstzeit. Das ist eindeutig.«
»Unbedingt!« Das Bärtchen von Herrn von Itzenplitz zittert.
»Fan–tas–tisch! Ein rischtiger Mord!« Eddi Mei-Zus Augen strahlen.
»Und was machen wir jetzt?«, fragt Gerda.
Ich bin mir bewusst, welche Last auf meinen Schultern liegt. Diese Männer – und diese Frau – erwarten, dass ich die Führung übernehme, den Weg zum Mörder weise. Und ich weiß sofort, was zu tun ist.
»Wir steigen in den Garten ein. Heute Nacht.« Denn der Täter kehrt immer an den Tatort zurück. Immer.
COSMA
KEINE TOTENSTILLE IM GARTEN DES TOTEN
Gut. Ich hätte gedacht, dass der Täter etwas schneller zurückkehrt. Inzwischen warten wir seit einer halben Stunde, und nichts passiert. In den Garten zu gelangen war gar kein Problem, die Versiegelung der Polizei ein Witz: Kein Zugang. Kriminaltechnische Ermittlung. Also bitte. Genauso gut kann man schreiben: Treten Sie ein, hier gibt’s richtig was zu sehen.
Wir haben uns strategisch günstig verteilt. Ich stehe bei der Regentonne am Haus. Herr von Itzenplitz bei den Stockrosen seitlich am Gartenrand und Eddi Mei-Zu neben dem Kompost ganz hinten in der Ecke. Gerda wartet hinterm Apfelbaum. Der Mörder kann uns nicht entwischen.
»Ist Ihnen auch langweilig?« Gerda hat sich Blätter ins Haar gesteckt und knabbert an einem Apfel. Sie hat ihre blassgelbe Lieblingsbluse an, die sie von uns zu ihrem letzten Geburtstag bekommen hat. Auf den Ärmel haben wir in rosa Schreibschrift einsticken lassen: Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an.