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Ein einsamer Landgasthof. Ein Moor, das alles verschluckt. Ein Ermittlerduo wider Willen.
Ausgerechnet in einem einsamen Hotel im Moor führt die Düsseldorfer Kriminalpolizei einen Profilingworkshop durch. Da muss ja was passieren, glaubt Hobby-Krimiautorin Cosma Pongs und mietet sich in das Hotel ein. Sehr zum Unmut ihrer Tochter, Kriminalhauptkommissarin Paula Pongs. Und tatsächlich: Während Paula mit dem smarten Gerichtsmediziner Doc Fischgrät einen lauschigen Abend in der Hotelbar verbringt, stürzt der arrogante Star-Profiler vom Balkon seines Hotelzimmers und landet direkt vor Cosmas Füßen. Ein Mord, das steht für Cosma außer Frage.
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Seitenzahl: 397
Das Buch
Ausgerechnet in einem einsamen Hotel im Moor führt die Düsseldorfer Kriminalpolizei einen Profilingworkshop durch. Da muss ja was passieren, glaubt Hobby-Krimiautorin Cosma Pongs und mietet sich in das Hotel ein. Sehr zum Unmut ihrer Tochter, Kriminalhauptkommissarin Paula Pongs. Und tatsächlich: Während Paula mit dem smarten Gerichtsmediziner Doc Fischgrät einen lauschigen Abend in der Hotelbar verbringt, stürzt der arrogante Star-Profiler vom Balkon seines Hotelzimmers und landet direkt vor Cosmas Füßen. Ein Mord – das steht für Cosma außer Frage …
Die Autorin
Geboren wurde Ella Dälken in einem malerischen Kurort am Rande des Teutoburger Waldes. Nach dem Studium der Germanistik, Geschichte und Geografie in Osnabrück und Nottingham zog sie 2001 nach Düsseldorf. Sie schreibt Fachpublikationen, Kurzgeschichten und Krimis. 2013 gewann sie den zweiten Platz beim Sylter Kurzgeschichtenpreis. »Tot im Winkel« ist ihr zweiter Roman bei Heyne.
Lieferbare Titel
Tot überm Zaun
ELLADÄLKEN
TOTIMWINKEL
Kriminalroman
WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN
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Copyright © 2018 by Ella Dälken
Copyright © 2018 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81637 München
Printed in Germany
Redaktion: Susann Rehlein
Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München, unter Verwendung von Shutterstock (John D. Sirlin, Mariya Velieva, Evannovostro, Chansom Pantip); Bigstock (iko, Sergey Vasutin)
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN 978-3-641-19847-3V001www.heyne.de
COSMA
AUFZUMGALGENVENN
Stellen Sie sich doch nur vor: Wir entdecken eine Moorleiche!« Ich schüttle mich mit freudigem Grausen und sehe es direkt vor mir: In meinen hübschen rot gepunkteten Gummistiefeln wate ich durch das modrige Wasser, auf einmal blubbert es, und ein halb vermoderter Kopf taucht neben mir auf. Ein perfektes Wochenende. Und dass die nächsten Tage genau das werden, steht außer Frage. Denn ich bin mit meinen Mitbewohnern – allesamt Kriminalschriftsteller – auf dem Weg zu einem Schreiburlaub am Galgenvenn, einem der schaurigsten Moore am Niederrhein. »Natürlich würden wir den Fall sofort übernehmen«, lege ich fest.
Mein Mitbewohner Herr von Itzenplitz streicht nachdenklich über sein Bärtchen. Er sitzt neben mir auf der Rückbank des Wagens, sein grauer Anzug hebt sich kaum von den Polstern ab. »Frau Cosma, der Tod der aufzufindenden Person dürfte bereits vor Hunderten von Jahren erfolgt sein. Glauben Sie, wir können nach so langer Zeit den Tathergang rekonstruieren?«
Hm, da hat er recht. »Vielleicht passiert ja etwas anderes. Immerhin findet im Hotel gleichzeitig der Workshop der Mordkommission statt. Was wirkt anziehender auf Verbrecher als die Polizei?«
Ich sehe an Herrn von Itzenplitz’ Gesichtsausdruck, dass er meiner Argumentation nicht folgt. Dabei ist er wie ich eng mit der Materie verbunden, er schreibt nämlich Arbeiterkrimis. Gerade hat er ein Manuskript beendet mit dem Titel Glückauf in den Tod. Mord an einem kapitalistischen Ausbeuter im Umfeld der proletarischen Genossenschaft. Ich bin nicht sicher, ob der Titel glücklich gewählt ist.
»Sie haben die Information erhalten, dass ein echter Profiler vor Ort sein wird, Frau Cosma?«, unterbricht Herr von Itzenplitz meine Gedanken.
»Absolut, mein Lieber. Und zwar kein Geringerer als Ralf Maria Kleinert. Er ist eine absolute Koryphäe, hat den Düssel-Würger dingfest gemacht und die Kölner Giftmischer überführt. Ich bin wirklich gespannt, ihn kennenzulernen.« Wie gut, dass ich aus zuverlässiger Quelle weiß, dass er in diesem Landhotel in der Nähe des Galgenvenn einen Vortrag halten wird. Sofort haben wir für unsere WG ein Autorenwochenende in dem Hotel arrangiert, und jetzt sind wir auf dem Weg dorthin. Unsere Mitbewohnerin Gerda hat heute Morgen ihr silberfarbenes Mercedes Cabrio aus der Garage geholt, und inzwischen liegt Düsseldorf ein gutes Stück hinter uns.
»Vielleicht hat der Profiler Anregungen, wie ich mein Opfer möglichst lange leben lassen kann, während ich es zerstückele.« Gerda lächelt entrückt und überholt schnittig auf der rechten Seite einen Porschefahrer. Ihre grauen Löckchen wirbeln im Fahrtwind, und sie winkt ihm freundlich zu.
»Es war wirklisch Jlück, dat Sie von dem Polizeiseminar jehört haben«, unterbricht Ewald Meier-Zuhorst meine Gedanken. Er wendet seinen kleinen runden Körper zu uns, sodass wir endlich mehr von ihm sehen als nur sein Resthaar, das wie ein Lorbeerkranz um seinen Kopf liegt. Offenbar hat er beschlossen, sein eingeschnapptes Schweigen zu unterbrechen. Den ganzen Morgen hat er nämlich keinen Ton gesagt, und das nur, weil er den Mercedes nicht aus der Garage fahren durfte. Ewald Meier-Zuhorst fährt unheimlich gerne. Egal womit. Genau wie Eddi Mei-Zu, der Held seiner Agententhriller, der mit müheloser Eleganz jedes noch so abwegige Gefährt lenkt. Ob Rennwagen, Panzer oder Zeppelin, am Ende hat der Agent immer den Bösewicht vertrieben und das niederrheinische Weeze vor dem Untergang gerettet. Der echte Eddi verfügt dagegen nicht über ganz so viel Talent. Bei seinem letzten Ausflug mit einem Bagger zerstörte er einen kompletten Schrebergarten. Seitdem halten wir alle fahrbaren Geräte von ihm fern.
»Lieber Eddi, es war kein Glück, dass ich von dem Seminar im Moorhotel erfahren habe. Das war knallharte Ermittlungsarbeit«, stelle ich klar.
Eddi nickt anerkennend. »Dat hab isch mir schon jedacht.«
Eigentlich könnte es ganz einfach sein, an solche Informationen zu kommen. Meine Tochter arbeitet nämlich bei der Mordkommission der Düsseldorfer Polizei. Aber Paula will mit mir nicht über ihre Arbeit reden, sie leidet geradezu unter Verfolgungswahn. Ihren Arbeitsschreibtisch hat sie mit einem dreifachen Schloss gesichert. Völlig paranoid, meiner Meinung nach. Und zudem nutzlos. Ihr Kollege Walter Körbchen ist nämlich viel sorgloser im Umgang mit sensiblen Daten. Er verwendet gedankenlos den Papierkorb. Und genau darin habe ich die Einladung zu dem Polizeiworkshop gefunden.
»Glauben Sie wirklich, dass wir mit dem Profiler werden sprechen können?«, reißt mich Herr von Itzenplitz aus meinen Gedanken.
Nun ja. Das ist so eine Sache. Meine Tochter will partout nicht einsehen, wie wunderbar wir die Polizei als externe Berater unterstützen könnten, und ich fürchte, sie wird alles versuchen, den Profiler von uns fernzuhalten. »Wir werden einen Weg finden«, antworte ich nachdenklich. »Wie groß kann so ein Hotel schon sein? Irgendwann muss uns der Mann über den Weg laufen. Ob er will oder nicht.«
Eddi dreht sich wieder zu uns um: »Wenn allet nicht hilft: Isch habe die Abhöranlage einjepackt.« Vor einigen Wochen hat Eddi bei der Recherche für sein Buch einen Fernsehbericht gesehen, in dem ein Reporter mit vorwurfsvoller Stimme berichtete, dass Spionagegeräte mittlerweile für jedermann frei im Internet erhältlich seien. Nur einen Tag später richtete ein pickliger Junge in Eddis Zimmer einen hyperschnellen Internetzugang ein, und Eddi tätigte erste Einkäufe. In den nächsten Tagen kamen Pakete über Pakete. Einen Großteil davon hat Eddi heute Morgen in den Kofferraum gepackt, womit kein Platz mehr für unsere Koffer war. Da wir nicht den Eindruck hatten, dass Eddi Argumenten zugänglich ist, habe ich ihn abgelenkt, indem ich mir von ihm die Vorteile von Pistolen gegenüber Revolvern erläutern ließ. Während er mir einen durchaus interessanten Vortrag hielt, haben Herr von Itzenplitz und Gerda zwei seiner fünf Seesäcke aus dem Wagen herausgeräumt und unsere Koffer hinein.
»Gerda, wie wäre es mit ein wenig Musik?«, frage ich, um vom Thema abzulenken. Gerda nickt begeistert, schiebt eine Kassette in den Rekorder, und kurz darauf beginnen die ersten Takte von Siebzehn Jahr, blondes Haar, Gerdas Lieblingslied. Eddi hat unser Ablenkungsmanöver nicht durchschaut, sein Fuß wippt entspannt zur Musik.
Eine Stunde später biegen wir von der Autobahn ab. Unser Wagen bebt vom voll aufgedrehten Aber bitte mit Sahne. Gerda und ich ahmen absolut naturgetreu Udo Jürgens’ Stimme nach, Eddi und Herr von Itzenplitz singen den Backgroundchor. Es ist herrlich.
Die Dörfer, die wir durchfahren, werden immer kleiner, bis sich schließlich kilometerlang kein Haus mehr zeigt. Nur noch Landschaft. Birken, kahle Büsche und Wiesen, über denen bedauernswerterweise nicht ein Hauch von Nebel liegt. Ich ziehe mein Diktiergerät hervor, um die Impressionen für einen späteren Roman festzuhalten. Ich drücke die Taste, und quietschend setzen sich die Räder in Bewegung. »Es ist stockduster, als wir uns unserem Ziel nähern. Kein Vogel ist am Himmel zu sehen, schwarze Ödnis umgibt uns. Mein untrügliches Gespür sagt mir: Es wird ein Mord geschehen.«
»Liebe Frau Cosma, hier ist keine schwarze Ödnis. Wir haben hellen Sonnenschein, perfektes Herbstwetter«, wirft Herr von Itzenplitz ein. »Es ist alles völlig unverdächtig.«
»Realismus mag gut und schön sein, ist aber langweilig«, antworte ich. Bevor wir diesen Dialog weiter vertiefen können, wird unser Auto langsamer, Gerda biegt von der Hauptstraße ab. Wir überqueren eine winzige Brücke über einen Bachlauf. Ein Holzschild weist den Weg: Landhotel Zum toten Winkel. Ein seltsamer Name für ein Hotel. Zumal für eines, das am Galgenvenn liegt.
»Sollte diese Brücke einstürzen, sind wir vom Rest der Welt abgeschnitten«, überlege ich, denn als erfahrene Krimiautorin weiß ich, was alles passieren kann. »Ausgeliefert den Gefahren dieses Urwaldes. Tödliche Sumpflöcher, gnadenlose Schlingpflanzen, bissige Rehe.«
»Bissige Rehe?«, fragt Gerda von vorne.
Warum muss eigentlich jeder meine Worte mit diesem Unterton wiederholen? »Rehe sind heimtückische Geschöpfe«, erkläre ich mit Nachdruck.
Eddi Mei-Zu schaut aus dem Seitenfenster in den Wald. »Isch finde, dat sieht hübsch aus«, sagt Eddi Mei-Zu. »Die bunten Blätter in der Sonne, dat jrüne Moos. Schön.«
»Sie haben vollkommen recht, mein lieber Eddi«, pflichtet Gerda ihm bei. Sie hält an und sieht sich mit entrücktem Blick um. Plötzlich deutet sie aufgeregt zu einer Lichtung. »Bambi!« Sie ist völlig aus dem Häuschen. Ich folge ihrem ausgestreckten Finger. Tatsächlich grasen dort einige Rehe. Als sie unseren Wagen bemerken, betrachten sie uns mit großen Augen.
»Alfred … schau mal!« Gerda hält die Tasche hoch, in der unser rot getigerter WG-Kater sitzt, den wir natürlich nicht allein in unserer WG in Düsseldorf zurücklassen konnten. Alfred scheint jedoch von den anderen Tieren wenig angetan: Er faucht. Gerda hat heute Morgen einiges an Körperkraft aufbieten müssen, um ihn in die Tasche zu bekommen. Denn so sehr Alfred Ausflüge liebt, so sehr verabscheut er es, in die Tasche gesperrt zu werden. Blutige Kratzer auf Gerdas Handrücken zeugen von dieser Antipathie. Gerda setzt ihn samt Tasche auf ihren Schoß, kontrolliert den Reißverschluss. Dann schiebt sie ihm ein Fischstückchen durch eine Öffnung. Alfred zögert, kann dann jedoch dem Duft nicht widerstehen. Während er die Leckerei hinunterschlingt, faucht er noch einmal, es klingt aber schon ein wenig versöhnlicher.
Gerda schiebt Alfred und die Tasche wieder zu Eddi hinüber und fährt weiter. Wir biegen um eine Kurve, und das Landhotel taucht vor uns auf. Gerda lässt den Wagen ausrollen, und wir starren allesamt aus dem Fenster. Wie in Trance hole ich mein Diktiergerät heraus: »Vor uns liegt ein düsteres Gemäuer. Efeu rankt über die blutroten Steine, die Fensterläden haben den gräulichen Schimmer einer halb verwesten Leiche. Die Tür zum Innenbereich steht offen wie ein zahnloser Mund.«
Diesmal kommt von Herrn von Itzenplitz kein Protest. Mit gerunzelter Stirn blickt auch er auf das Hotel. »Unsere Unterkunft scheint mir ein wenig … beklemmend zu sein.«
»Beklemmend? Es ist unheimlich. Als wollte es uns verschlingen«, flüstert Gerda, und ich muss ihr zustimmen. Ich hatte es mir anders vorgestellt. Eher imposant, wie das Schloss am Wörthersee. Aber vor uns liegt ein massiges Backsteingebäude mit Ecktürmchen, wie aus einem Edgar-Wallace-Film. Unter den fast kahlen Eichen, die zu beiden Seiten das Gebäude einrahmen, hat jemand einen ausgehöhlten Kürbiskopf mit brennender Kerze gestellt. Die flackernden Augen starren zu uns herüber. Obwohl die Sonne scheint, liegt der Hof im Schatten und wirkt wie der Vorbote einer langen, langen Finsternis. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, das Wochenende hier zu verbringen. Denn mit einem Mal wird mir klar, dass heute der letzte Tag im Oktober ist. Der Tag der Toten. Fast gleichzeitig mit dieser Erkenntnis spüre ich ein Kribbeln in meinem kleinen Finger. Dieses Kribbeln hat mich noch nie getäuscht: Ein Verbrechen steht bevor.
COSMA
KAMPFDERKATZEN
Zögerlich steigen wir aus dem Wagen. Der Kürbiskopf am Eingang beobachtet jeden unserer Schritte. Lauernd flackern seine Augen auf dem düsteren Hof. Ich fasse mir ein Herz, gehe auf die mit eisernen Beschlägen versehene angegraute Holztür zu. Mit einem lauten Quietschen schwingt sie auf. Mein Blick fällt auf eine Schiefertafel an der Wand. Raum Wollgras: Mordkommission Düsseldorf. Wir sind richtig.
Dunkle Eichenbalken durchziehen den vor uns liegenden Raum, die weißen Wände sind grob gespachtelt und mit Ölgemälden bestückt. Direkt neben mir an der Wand hängt ein grimmig dreinblickender Mann, dessen stechende blaue Augen uns zu verfolgen scheinen, als wir eintreten und die Lobby durchqueren.
Eine Stimme lässt mich zusammenzucken. »Das auf dem Porträt ist Sigbert Hieronymus Winkel. Er war der Begründer dieses Hotels, hat es 1872 erbauen lassen, nachdem er aus dem Krieg heimkam. Allerdings war ihm nicht lange Freude an dem Gebäude vergönnt. Kurz nach der Errichtung kam er auf tragische Weise bei einem nächtlichen Rundgang ums Leben. Er blieb im Moor stecken und wurde erst Wochen später gefunden. Doch sein Vermächtnis lebt in diesem Hotel weiter.« Womit sich der Name erklärt. Zum toten Winkel. Der Mann, zu dem die Stimme gehört, blickt uns freundlich von dem Tresen entgegen. Er ist um die vierzig, trägt ein rosa Poloshirt mit dunkelblauer Jacke und hat einen Blick, hinter dem ich eine traurige Seele auszumachen glaube. Wir kommen näher, und ich kann das kleine Schild vor ihm lesen: Es begrüßt Sie: Heino Ullmann, Hotelier.
»Willkommen in unserem Hotel!« Er streckt mir die Hand entgegen. Doch bevor ich sie ergreifen kann, springt eine dreifarbige Katze auf den Tresen und stolziert mit hocherhobenem Schwanz darauf entlang. Er niest. »Loretta, nicht jetzt.« Er hebt das Tier vorsichtig hinunter und setzt es neben sich auf den Boden. Doch Katzen lassen sich von derlei Gesten wenig beeindrucken. Eine Sekunde später ist die Dreifarbige wieder oben und mustert uns aus smaragdgrünen Augen.
»Wie hübsch sie ist!«, sagt Gerda und streichelt sie. Doch die Katze beachtet Gerda nicht. Stattdessen fixiert sie die Tasche mit Alfred, die Gerda am Rand des Tresens abgestellt hat. Alfred blickt zurück. Die beiden Katzen liefern sich einen Anstarrwettbewerb.
Gerda bemerkt die unterschwellige Aggressivität allerdings nicht. »Sieh mal, Alfred, eine Glückskatze!«
Die Miene unseres Katers verändert sich kein bisschen. Grummelig starrt er Loretta an.
»Unser Kater hat sich so auf das Wochenende gefreut. Er mag Ausflüge«, versichert Gerda dem Hotelier. Tatsächlich verfügt Alfred im Gegensatz zu anderen seiner Art über eine ausgesprochene Entdeckernatur. Allerdings ist er nach Autofahrten immer leicht gereizt, was sich jetzt deutlich zeigt. Der Hotelier schaut freundlich in die Tasche, doch Alfred faucht und zieht die ausgefahrenen Krallen über das Netz.
Heino Ullmann weicht zurück. »Das Tier ist doch wohl friedlich?«
Gerda winkt ab. »Aber natürlich. Er liebt andere Katzen, nicht wahr, Alfilein?« Sie öffnet den Reißverschluss. »Schau mal, da ist eine neue Spielgefährtin für dich.« Kaum streckt Alfred seinen Kopf aus der Tasche, haut ihm die Hotelkatze ihre Krallen über die Nase. Das kann sich unser Kater natürlich nicht gefallen lassen. Er schlägt zurück. Und schon haben wir auf dem Tresen die schönste Katzenbalgerei.
Wir brauchen fast zehn Minuten, um die beiden zu trennen. »Ihre hat angefangen!«, empört sich Gerda. Sie hat einen blutigen Kratzer an der Augenbraue, Alfred einen auf der Nase, der Hotelier hat mehrere rote Streifen auf der Hand. Nur die Dreifarbige ist unverletzt davongekommen. Sie thront mitten auf dem Tresen und putzt sich. Sie wirkt ausgesprochen zufrieden.
Gerda drückt Alfred fest an sich. »Was für eine unfreundliche Katze!«
Der Hotelier nimmt sein Tier in Schutz. »Es ist nun mal Lorettas Revier. Sie muss es verteidigen.« Er streichelt ihr über den Rücken, dann nimmt er sie sanft hoch und bringt sie nach nebenan in sein Büro, setzt sie auf den Boden und zieht schnell die Tür zu. »Ich denke, wir sollten die beiden für die Dauer Ihres Aufenthaltes trennen. Vielleicht lassen Sie Ihren Kater auf dem Zimmer.«
Gerda blickt ihn empört an. »Ich kann Alfred doch nicht einsperren. Er will schließlich auch etwas von unserem Wochenende haben!«
»Apropos Zimmer«, melde ich mich zu Wort. »Wir haben reserviert.«
Der Hotelbesitzer wirkt plötzlich sehr professionell. »Selbstverständlich, die Dame. Ihren Ausweis bitte.«
Er nimmt das Dokument entgegen. Während seine Lippen lautlos »Renate Pongs« formen, tippt er etwas in seinen Computer ein. Stirnrunzelnd sagt er: »Ich habe hier nur eine Reservierung für eine Frau Cosma Pongs.«
»Das ist mein Künstlername.«
»Ein sehr schöner Name, wenn ich das bemerken darf«, sagt Ullmann, und sofort ist mir der Mann sympathisch, denn nicht jeder weiß Kreativität bei der Namensgebung zu schätzen, wie ich bei meinem letzten Besuch einer städtischen Behörde feststellen musste.
Der Hotelier wendet sich wieder seinem Computer zu. »Ich habe für Sie und die anderen Autoren Zimmer in der ersten Etage reserviert. Alles andere war leider schon belegt. Wir sind an diesem Wochenende nämlich ausgebucht.« Ein glückliches Lächeln huscht über sein Gesicht.
Ich beschließe, die gute Stimmung zu nutzen. »Richtig, der Kripoworkshop. Sagen Sie, wo wird der stattfinden?«
Leider scheint der Hotelier Diskretion großzuschreiben. »Es ist eine geschlossene Veranstaltung, ich bedauere.«
Ich lächele ihn an. »Selbstverständlich. Aber meine Tochter Paula Pongs nimmt an dem Seminar teil. Sie muss auf der Teilnehmerliste stehen. Ich dachte, ich schaue vor dem Beginn des Seminars bei ihr vorbei.«
»Eine Namensliste liegt mir leider nicht vor. Aber ich kann Ihre Tochter gerne auf Ihre Etage buchen, wenn sie eincheckt. Vielleicht in das Zimmer neben Ihrem?«
»Das wäre wunderbar. Ach, und wenn Sie Doktor Fischer gleich neben meine Tochter buchen, das wäre äußerst zuvorkommend.« Ich bin mir sicher, Paula wird sich freuen, zwischen mir und dem Doktor zu residieren. »Wo war der Kripoworkshop jetzt gleich noch mal?«
Meine Taktik geht auf. Ullmann deutet auf einen Flur. »Im Westflügel des Hauses. Da vorne den Gang entlang, der Raum Wollgras findet sich linker Hand. Ihr Autorenworkshop findet direkt daneben statt. Raum Sumpfveilchen. Ich hoffe, das ist in Ordnung?«
Ich strahle ihn an. »Das ist perfekt.«
PAULA
DIERUHEVORDEMSTURM
Da stimmt was nicht.« Paula wirft einen kurzen Blick auf ihr Handy. Keine Nachricht. Widerstrebend lenkt sie ihren Blick wieder auf die Fahrbahn.
»Ich weiß nicht, warum du dich beschwerst.« Ihr Kollege Walter Körbchen sitzt entspannt neben ihr in ihrem Fiat 500, seine Nase steckt in einer Backzeitschrift, auf deren Titelblatt eine rosa-hellblaue dreistöckige Torte abgebildet ist. Er blättert um.
»Ich wette, sie heckt wieder was aus. Irgendwas Verrücktes. Und wir müssen es ausbaden.« Zwei Tage hat Paula nun schon nichts von ihrer Mutter gehört. Das letzte Mal, als so lange Funkstille herrschte, verursachte Cosma ein Großaufgebot des SEK. Anwohner in der Nähe einer Bankfiliale hatten linke Aktivisten der Occupy-Bewegung vermutet. Aber es waren nur Cosma und ihre WG-Bewohner. Aufgrund einer für den gesunden Menschenverstand nicht nachzuvollziehenden Wahrscheinlichkeitsrechnung war Cosma davon überzeugt, dass die Bank in Kürze überfallen werden würde. Nur durch Androhung von Waffengewalt konnte das SEK sie vertreiben. Die Bank wurde tatsächlich einige Tage später überfallen. Paula runzelt bei dem Gedanken die Stirn, bis Walter ihr unvermittelt seine Zeitschrift hinhält. »Jetzt schau dir das an: Otger Hohusens neueste Kreation.«
»Walter, nimm die Zeitschrift aus meinem Sichtfeld! Ich fahre!«
»Aber aufs Handy kannst du schauen«, schmollt er. Dann deutet er erneut auf das Foto, behält aber die Zeitschrift auf seiner Seite. »Das ist eine Fondanttorte mit der Fußballweltmeisterschaft von 1954 als Motiv.«
Paula schielt hinüber und erkennt eine knallgrüne Torte mit Mini-Fußballern drauf. »Sieht gut aus.«
Offensichtlich ist es nicht die Antwort, die Walter erwartet. Er schüttelt den Kopf. »Fondant ist etwas für Laien. Aber mehr kann Hohusen ja nicht. Tut so, als wäre er ein Meister in seinem Fach. Dabei weiß jeder, dass wahre Könner Marzipan benutzen. Für meine letzte Torte habe ich dreiundzwanzig Stunden gebraucht. Dreiundzwanzig Stunden! Mit Fondant kann jeder Anfänger arbeiten, aber Marzipan braucht echte Fingerfertigkeit.«
Paula seufzt innerlich. Seit Wochen kennt ihr Kollege kein anderes Thema als die anstehende Verteidigung seines Titels als NRW-Meister im Motivtortenbacken. »Hast du eigentlich schon eine Idee für deine Torte für den Wettbewerb?«, fragt sie dennoch.
Oh, offenbar das falsche Thema. Sofort verdunkelt sich Walters Blick. »Ich komme nicht dazu, etwas auszuarbeiten. Wir müssen ja auf dieses bescheuerte Seminar.«
Was Paula wieder zurück zu ihren eigenen Überlegungen bringt. »Ich habe das Seminarprogramm im Schreibtisch eingeschlossen. Das kann sie nicht gefunden haben.« Paula schielt zu Walter. »Cosma hat nicht zufällig etwas aus dir rausgequetscht? Du kannst es mir ruhig sagen, ich würde es dir nicht übel nehmen, schließlich wissen wir alle, wie geschickt sie in diesen Dingen ist.«
Walter schiebt genervt seine Metallbrille auf der Nase hoch. »Paula, ich kenne deine Mutter, seitdem du und ich in der vierten Klasse nebeneinandergesetzt wurden. Von mir hat sie bestimmt nichts.« Er schlägt seine Zeitschrift zu. »Es ist so ungerecht, dass wir unser Wochenende mit Arbeit verbringen müssen. Ich sollte mich stattdessen mit den Jungs vom Männer-Backforum treffen. Es ist nicht mehr lang bis zur Meisterschaft, und ich habe noch keine Idee, welches Motiv ich wähle. Es muss was Tolles sein, was Besonderes.« Doch plötzlich fängt er an zu kichern. »Stell dir mal vor, was für ein Gesicht unser Chef machen würde, wenn er deine Mutter im Hotel treffen würde. Das wäre zu komisch.«
»Gott bewahre!«
Walter gähnt und streckt sich, sein rot-weißes Hawaiihemd spannt über dem Bauch. »Was machen wir eigentlich auf dem Seminar?«
»Teambildung. Stand doch im Programm.«
»Habe ich nicht bekommen.«
Paula runzelt die Stirn. »Das hat der Chef schon vor Wochen verteilt. Weißt du nicht mehr?«
Walter schaut sie irritiert an. »Vor Wochen? Meinst du, das habe ich noch?« Er deutet auf eine kleine Brücke am Wegesrand, die über einen Graben führt. »Ich glaube, wir müssen da abbiegen. Gott, was für eine Einöde. Wer kam denn auf die Idee, in einem Moor im Nettetal einen Workshop zu halten? Das war doch mit Sicherheit der Chef. Ich wette, während wir im Seminarraum unseren Namen tanzen, geht der angeln.«
»Meinst du, dass es hier Fische gibt?«, fragt Paula. Sie lässt den Blick über die Landschaft gleiten. Einige Bäume leuchten noch in herbstlichen Farben, nach einem Moor sieht das nicht unbedingt aus.
»Keine Ahnung. Aber warum sollten wir sonst hier sein? Der will angeln, hundertpro. Sonst hätten wir uns doch auch in Düsseldorf treffen können. Tagsüber Workshop und abends schön in die Altstadt. Was braucht man mehr fürs Teambilden?«
Paula zuckt mit den Schultern. »Angeblich war es der ausdrückliche Wunsch der Kriminaldirektorin. Die ungewohnte Umgebung soll uns inspirieren und näher zusammenrücken lassen. Ich freue mich jedenfalls auf das Wochenende, das wird doch bestimmt interessant.«
Walter schüttelt den Kopf. »Paula, du bist echt nicht normal.« Er kramt seine hellblaue Thermoskanne aus seiner abgewetzten Ledertasche und schenkt sich vorsichtig einen Kaffee ein. »Du auch?«
Paula wirft einen kurzen Blick auf das durchscheinende Gebräu. Im Präsidium hat Walter Kaffeemaschinenverbot, weil er eine Vorliebe für dünnen Blümchenkaffee hat.
»Danke, ich trinke nachher im Hotel einen.« Sie hofft inständig, dass es dort eine Espressomaschine gibt.
»Du verpasst was. Ich habe ihn extra stark gemacht.« Er nimmt einen vorsichtigen Schluck. »Uih, kräftig.« Sein Blick geht nach draußen. »Teambuilding. Ich hoffe, wir müssen nicht so ein Überlebenstraining im Moor machen. Ich sage dir, da streike ich.«
Paula lacht. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass unsere Kriminaldirektorin uns so etwas Schönes machen ließe. Es ist das Übliche: Vorträge und anschließend Diskussion, moderiert von Frau Dr. KD Riedel höchstpersönlich. Den Anfang machen Kleinert und Spusen-Ali: Mehr Erfolg durch Zusammenarbeit. Wenn Spurenermittlung und -auswertung perfekt ineinandergreifen.«
»Die beiden? Als Team?« Walter verschluckt sich am Kaffee und hustet.
Paula nickt, kann sich ein Grinsen aber nicht verkneifen.
Entsetzt schüttelt Walter den Kopf. »Ralf Maria Kleinert und Dr. Ali Nazik. Die beiden größten Egomanen des Planeten. Na danke schön! Kleinert allein ist ja schon nervig – aber mit Spusen-Ali im Doppelpack?«
»Jetzt hab dich doch nicht immer so mit ihm. Dr. Nazik ist einer der besten Spurenermittler bundesweit, und das weißt du genau. Denk nur an unseren letzten Fall.«
»Du meinst, als er keine Gelegenheit ausgelassen hat, uns unsere Unfähigkeit vor Augen zu führen?«
»Ich meine, als er auf dem Spaten den entscheidenden Hinweis gefunden hat. Walter, du kannst nicht bestreiten, dass Spusen-Ali geniale Züge hat.«
Walter verschränkt seine Arme. »Die hat deine Mutter auch. Und trotzdem würdest du kein Wochenende in einem Landhotel mit ihr verbringen.«
Paulas Finger umklammern ungewollt heftig das Lenkrad, sodass sich die Knöchel weiß hervorheben. »Das ist was ganz anderes. Ich sage dir: Seitdem sie diesen toten Schrebergärtner entdeckt hat, ist sie nicht mehr zu halten. Deswegen wundert es mich ja auch so, dass sie sich nicht meldet.«
Eine schmale, von Eichen gesäumte Allee führt sie auf einen von einer Ziegelmauer umgebenen Platz. Sie haben das Hotel erreicht.
»Ach du Schande! Und da sollen wir das Wochenende verbringen?«, sagt Walter und schiebt seine Brille zurecht. »Das sieht aus, als hätten die eine Landhausküche mit Feuerherd. Ich wette, es gibt Fertigmenüs, die in der Mikrowelle warm gemacht werden.« Seine Stimme zittert. Wenn es ums Essen geht, versteht er keinen Spaß. »Zwei Tage am Stück in dem alten Kasten. Und dann auch noch Spusen-Ali. Das grenzt an Folter.«
Paula greift sich ihre Sporttasche vom Rücksitz und steigt aus. »Ach, Unsinn. Du wirst sehen, das macht Spaß. Teamarbeit ist schließlich das A und O des Erfolgs.«
Walter sieht sie mit großen Augen an. »Spaß? Falls du ein Alien bist, der gegen sie ausgetauscht wurde – ich möchte meine Paula zurück.«
Paula lacht und geht mit großen Schritten zur Haustür. Tatsächlich freut sie sich schon lange auf das Seminar. Eine gute Gelegenheit, um neue Ansätze und Methoden kennenzulernen und zu diskutieren.
Beschwingt betritt sie die Lobby. Auf einer Bank an der Seite sitzt eine Gestalt unter einem düsteren Porträt und lässt die Beine baumeln. Rot gepunktete Gummistiefel schwingen hin und her.
Paula lässt ihre Tasche fallen.
»Mutter!«
COSMA
MEINETOCHTERHATDEFINITIVEINAGGRESSIONSPROBLEM
Paula schaut mich mit großen Augen an. Sie sieht nicht ganz so erfreut aus, wie ich gehofft hatte.
Ich erhebe mich und trete ihr lächelnd entgegen. »Paula, dich habe ich hier gar nicht erwartet.« Gut, das stimmt nicht ganz. Aber etwas sagt mir, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt für die Wahrheit ist.
Ihre Augen verengen sich zu Schlitzen. »Woher wusstest du es?«
Mein Blick fällt auf ihr Sweatshirt, das sie zur Jeans trägt. Langweiliges Graublau wie immer. »Warum hast du nicht den hübschen Pullover mit den Strass-Steinen an, den ich dir geschenkt habe? Die Regenbogentöne würden deine blauen Augen wunderbar hervorheben.«
Ich meine, eine gewisse Aggressivität zu spüren, als sie fragt: »Was machst du hier?«
Ich betrachte ausführlich meine Finger, denn ich habe gehört, dass man Blickkontakt mit streitsüchtigen Menschen vermeiden sollte. Irgendwie habe ich das Gefühl, ich sollte die Situation deeskalieren. »Wir veranstalten ein Schreibwochenende, meine WG und ich. Autoren machen das. Sie fahren an einen inspirierenden Ort und lassen sich von der Muse küssen.« Ich blicke auf. »Ich freue mich jedenfalls sehr, dich zu sehen. Wo wir doch bei unserem letzten Fall so gut zusammengearbeitet haben. Wir beide … ein echtes Team.«
Walter kommt hinter Paula hervor, wirft mir ein »Hallo, Frau Pongs« zu und grinst meine Tochter breit an. »Paula findet auch, dass Teamarbeit das A und O ist. Nicht wahr, Paula?« Er schlüpft an ihr vorbei.
Sie sieht ihm wütend hinterher. Ich sage ja, sie hat ein Aggressionsproblem. Doch dann dreht sie ihren Kopf ruckartig zu mir, als sei ihr gerade ein Gedanke gekommen. »Walters Programm! Du hast es geklaut. Von seinem Schreibtisch im Präsidium.« Anklagend zeigt sie mit dem Finger auf mich.
Ich schüttele bedauernd den Kopf. »Manchmal bist du vergesslich, mein Kind. Du weißt doch, dass der Pförtner mich nicht reinlässt. Auf deine Anweisung hin übrigens.« Ich betone Letzteres ein wenig vorwurfsvoll. Hausverbot hätte wirklich nicht sein müssen.
Sie macht einen Schritt vor, steht nun direkt vor mir. »Ich wette, du bist durch die Geheimgänge unter dem Präsidium gekrochen, dir ist doch jedes Mittel recht.«
Tatsächlich haben die Nazis beim Bau des Präsidiums den einen oder anderen Fluchttunnel gebaut. Dennoch winke ich ab. »Ach, Kind, ich krieche doch nicht durch irgendwelche Geheimtunnel.« Als ob ich das nötig hätte. Die kann man nämlich ganz bequem aufrecht durchwandern.
Paula zieht die Augenbrauen so weit hoch, dass sie fast bis zu ihrem Haaransatz reichen. »Dann bist du also genau an diesem Wochenende, an dem unsere Abteilung eine interne Weiterbildung durchführt, rein zufällig hier?« Sie klingt extrem sarkastisch. Manchmal mache ich mir Sorgen um ihre innere Ausgeglichenheit. Sie sollte es mit Yoga versuchen.
»Eine Weiterbildung habt ihr? Nun ja, es wird schwierig, aber ich denke, wir werden etwas Zeit finden, euch zu unterstützen. Wir sind immerhin externe Berater der Polizei, da ist ein Austausch sicherlich von Vorteil.«
Meine Tochter explodiert sofort. »Berater? Ihr seid Hobbyermittler, die sich ständig ungefragt einmischen. Mach, was du willst. Schreibe. Fühl dich inspiriert. Aber halte dich von unserem Seminar fern!« Gott sei Dank hat sie jetzt etwas Farbe im Gesicht, das Rot hebt ihre süßen Sommersprossen hervor. Sie ist wirklich hübsch, meine Tochter.
Was mich an etwas erinnert. »Kommt dieser nette Gerichtsmediziner auch? Ist es nicht ein Wink des Schicksals … du und er an einem gemeinsamen Wochenende in einem Hotel am Moor?« Ich zwinkere ihr zu.
»Doktor Fischer ist ein Kollege. Mehr nicht.«
Niedlich, wie sie sich aufregt. Dabei weiß ich ganz genau, dass sie ihn anziehend findet, sie will es sich nur nicht eingestehen. »Er hat so ein verwegenes Aussehen«, sage ich. »Der ist bestimmt kein FDP-Wähler wie dein letzter Freund. Wie hieß der noch mal? Karl-Günther?« Ein Steuerberater. Mir war von Anfang an klar, dass das nicht gut gehen konnte.
»Er hieß Alexander-Philipp, wie du sehr genau weißt.« Sie atmet tief durch, und ich sehe, wie sie leise etwas vor sich hinsagt. Irgendwas mit Ruhe bewahren. Sie atmet tief durch und blickt auf. »Ich wünsche dir viel Spaß auf deinem Autorenwochenende, Mutter.« Sie presst die Worte zwischen ihren Lippen hindurch.
Kopfschüttelnd sage ich: »Das klingt nicht, als ob du es ernst meinst.«
Abrupt macht sie einen Schritt auf mich zu, sodass ihre Nase fast meine berührt. »Wage nicht, in meine Nähe zu kommen. Geschweige denn, dich auf unserem Seminar blicken zu lassen. Es wird hier nichts passieren. Rein gar nichts.«
Sie hat dieses seltsame Zucken am rechten Auge. Ich trete vorsichtshalber einen Schritt zurück. Trotzdem lasse ich mich nicht einschüchtern. »Auf dem Weg haben wir so viele Wanderer in scheußlicher Funktionskleidung gesehen, da ist es nur eine Frage der Zeit, bis jemand ermordet wird.«
Mit einem Mal mischt sich der Hotelier ein, der uns die ganze Zeit von der Rezeption aus zugeschaut hat. »Auf dieser Teilstrecke sind leider kaum Wanderer. Unser Hotel liegt abseits der beliebten Route, dabei habe ich extra einen sicheren Weg in das Moor hinein anlegen lassen.« Er seufzt kummervoll. »Ich hatte so gehofft, dass dadurch mehr Gäste kommen.«
Paula schenkt mir ein triumphierendes Lächeln. »Du hörst es. Keine Menschen. Kein Mord. Kein Fall. Nur du und das Schreiben.«
Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Es wird einen Mord geben. Und dann wirst du froh sein, dass ich dir helfe.«
Oh, oh, jetzt zuckt ihr Auge aber wirklich sehr stark.
PAULA
VÖLLIGRATIONALUNDSACHORIENTIERT
Wenn sie auch nur einen Fuß in unseren Seminarraum setzt, werde ich sie verhaften.« Paula spürt das Blut in ihren Schläfen pochen.
»Jetzt entspann dich. Was soll schon passieren?« Walter steht am Buffet und betrachtet die Metallschalen, in denen es blubbert. Der Duft von Essen vermischt sich mit dem Geruch des brennenden Gases, mit dem die Platten beheizt werden. Der Speisesaal ist im Erdgeschoss des Hotels untergebracht und offenbar das ehemalige Herrenzimmer. Die hohe Zimmerdecke besteht aus düsterem Holz, schwere Vorhänge liegen vor den Fenstern, und neben dem Buffet steht eine Ritterrüstung mit einem Speer in der Hand.
Walter schenkt dem Interieur jedoch keinerlei Aufmerksamkeit, sondern begutachtet die Essensauslage. Entsetzt quietscht er auf. »Oh Gott!«
»Was ist?«
»Der Nachtisch! Siehst du das? Der Zitronenkuchen ist mit einer Backmischung gemacht.« Er beugt sich darüber. »Außerdem ist er mindestens zehn Minuten zu lange im Ofen gewesen. Der Zuckerguss wurde auch nicht ordentlich verteilt. Schau: Dort ist er viel dicker.«
»Dafür sieht der Rest offenbar ganz gut aus«, sagt Paula mit Blick auf Walters Teller. Dort stapeln sich Rinderbratenscheiben neben einer Alibi-Kartoffel. Die braune Soße schwappt bedrohlich an den Rand.
Walter ruckelt seine Brille zurecht. »Ich habe halt Hunger nach der Anreise.« Er bringt noch einen Löffel Speckbohnen auf dem überladenen Teller unter und jongliert ihn zu einem Tisch am Fenster. Dort sitzt bereits Dr. Ole Fischer. Der Gerichtsmediziner ist erst vor einigen Monaten aus Hamburg zu ihnen gestoßen. Nur zu gut erinnert sich Paula an ihr erstes Treffen. Walter hatte ihr den Arzt als Doc Fischgrät angekündigt, aber vergessen zu erwähnen, dass das nur ein Spitzname war. Sie fühlt, wie sie bei der Erinnerung an diese erste Begegnung rot wird. Sie nimmt sich das Stück Zitronenkuchen, das Walter als das mit der dicksten Glasur gebrandmarkt hat, und folgt ihrem Kollegen.
»Sieht gut aus«, sagt der Doc mit Blick auf den Kuchen, als sie sich ihm gegenübersetzt. Paula schaut in hellbraune Augen, die den Schimmer von Bernstein haben. Augenblicklich setzt ihr Herzschlag für eine Sekunde aus. Verdammt. Warum hat Ole nur diese Wirkung auf sie? Klar, mit dem verstrubbelten Haar, den Grübchen und dem Bernstein-Blick ist er ganz süß. Aber ganz süß ist keine Kategorie, die in ihrem Denken vorkommen sollte. Sie ist eine erwachsene Frau und keine von Hormonen gesteuerte Sechzehnjährige. Beziehungen sind schließlich mehr als nur Schmetterlinge im Bauch, sie beruhen auf Vertrauen und gegenseitiger Anerkennung. Alex, ihr letzter Freund, ist dafür das beste Beispiel. Er hat ihr auf völlig rationale Art gefallen. Er war gebildet, politisch interessiert und jemand, von dem keine Überraschungen zu erwarten waren. Paula hat sich in seiner Gegenwart entspannt gefühlt. Gut, auch gelangweilt. Aber besser das als zu viel Aufregung. Davon gibt es schließlich in ihrem Leben genug. Paula spürt, wie sich ihr Kiefer verspannt, als sie an ihre Mutter denkt, das Ziehen weitet sich bis in den Nacken aus.
»Stimmt was nicht?« Der Doc legt den Kopf schief und betrachtet sie.
Paula atmet tief durch und spießt einen großen Brocken Kuchen auf die Gabel. »Alles okay«, murmelt sie mit vollem Mund. Nein wirklich, noch mehr Aufregung ist nicht nötig.
Walter zieht ein Stück Braten durch die Soße und betrachtet, wie die Soße sich darauf verteilt. »Ist wegen ihrer Mutter. Die hat sich mit ihrer Schriftsteller-WG hier im Hotel eingemietet.«
»Deine Mutter ist hier? Ich fand sie sehr nett, als ich sie beim Schrebergartenfall kennengelernt habe. Eine interessante Persönlichkeit.«
Paula würgt einen Bissen des trockenen Kuchens hinunter und hustet. »Interessant? Wahnsinnig trifft es eher. Sie will unbedingt einen neuen Fall, und ich sage euch, sie wird nicht aufgeben, bis sie einen hat.«
Ein Grinsen breitet sich auf Doc Fischgräts Gesicht aus. »Ich finde, ihr seid euch ziemlich ähnlich.«
Paula sieht ihn entgeistert an. »Ganz bestimmt nicht!«
»Oh doch. Du bist genauso hartnäckig wie sie. Außerdem bist du bereit, die eine oder andere Regel zu brechen. Und du bist, was Verbrechen angeht, mindestens so besessen wie deine Mutter. Ich habe dein Wohnzimmer gesehen – du hast Fahndungsfotos an den Wänden.«
Walter gluckst. »Du solltest mal ihr Schlafzimmer anschauen. Da hängt ein Bild von Peter Kürten, dem Serienkiller von Düsseldorf.«
»Das würde ich sehr gerne sehen …« Doc Fischgrät bekommt einen Ausdruck, der Paulas Herz gleich noch mal eine Sekunde aussetzen lässt. Verdammt. Rational soll sie sein. Völlig rational. Sie schiebt den Kuchenteller von sich weg. »Ich bin nur daran interessiert, den jeweiligen Fall, an dem ich arbeite, aufzuklären. Völlig sachorientiert. Mehr nicht.« Obwohl sie versucht, gelassen zu bleiben, spürt sie, wie sie den Doc wütend anfunkelt.
Der hebt entschuldigend die Hände. »Sind ja nur subjektive Beobachtungen. Wahrscheinlich irre ich mich.«
Paula will etwas entgegnen, aber laute Stimmen am Eingang lenken sie ab.
PAULA
DIETÜCKENDERTEAMARBEIT
Spurenermittler Dr. Ali Nazik und der Chef der operativen Fallanalyse, Ralf Maria Kleinert, stehen sich am Eingang zum Speisesaal gegenüber wie im Ring. Kleinerts Bariton dröhnt durch den Raum: »Motiv, Mittel und Gelegenheit – das ist die Basis jeder Überlegung und bildet die Grundlage für eine detaillierte Fallanalyse.« Der Profiler streicht mit großer Geste über sein D’Artagnan-Bärtchen. Er trägt ein weißes Hemd mit offenem Kragen und Goldkette auf der behaarten Brust. Bislang hat Paula wenig mit Kleinert zu tun gehabt, aber sein Ruf eilt ihm voraus. Er gilt als guter Redner und als absoluter Machtmensch. Womit er bei Dr. Ali Nazik allerdings an den Falschen geraten ist. Zwar wirkt er neben Kleinert angenehm unauffällig in Jeans und weißem Poloshirt, aber er ist deutlich athletischer gebaut als der Profiler. Paula mag Ali Nazik, er ist einer der besten Ermittler im Erkennungsdienst in der ganzen Bundesrepublik. Wenn auch nicht ohne Eitelkeiten.
»Ohne eine akribische Spurensicherung am Tatort keine operative Fallanalyse. Deswegen ist ja wohl klar, was hier wichtiger ist.« Spusen-Ali spricht betont langsam, als hätte er einen Grundschüler vor sich.
»Akribische Spurensicherung …« Kleinert lacht auf, und sein ganzer Körper bebt. »Sie betreiben Ihre Arbeit mit der kleinkarierten Besessenheit eines Setzkastenbesitzers.«
Walter schüttelt den Kopf und murmelt: »Das sind wirklich zwei Irre. Und die sollen einen Vortrag über Teamarbeit halten? Was für eine Idee!«
Spusen-Ali hebt einen Finger. »Was ist beispielsweise mit dem Jauchegrubenfall? Hätten wir nicht die gesamte Grube leer gepumpt, wären Sie niemals auf den Täter gekommen.«
»Was haben Sie schon gefunden? Ein angekautes Bonbon und mächtig viel Gülle.«
»Wir haben das Handy entdeckt. Das Handy, auf dem Ihre gesamte Theorie bezüglich des Täters fußt.« Spusen-Alis Stimme ist schneidend.
Kleinert winkt ab. »Es war ein Indiz unter vielen. Man muss doch die Gesamtzusammenhänge sehen. Eine erdrosselte Frau in der Jauchegrube einer Hühnerfabrik. Ein Blick auf den Tatort, und mir war klar, dass es nur eine Beziehungstat sein konnte. Meine Ermittlungen haben dann ja auch sehr schnell gezeigt, dass der Täter ein Arbeiter aus der Fabrik war, der mit der Frau ein heimliches Verhältnis hatte. Ich werde den Fall übrigens ausführlich in dem von mir geplanten Buch skizzieren, zeigt er doch hervorragend, wie unerlässlich meine Arbeit ist. Ich habe mir ein ausführliches Bild gemacht, eine Analyse entwickelt und den Täter überführt. Dazu braucht es geistige Größe, nicht den pedantischen Fleiß einer Ameise.«
Spusen-Ali läuft vor Wut rot an und schreit: »Es war das Smartphone, das den entscheidenden Hinweis gebracht hat. Das Smartphone, welches ich aus der Jauchegrube gefischt habe und auf dem ich Nachrichten des Arbeiters an die Tote entdeckt habe.«
Kleinert lächelt überlegen. »Er hat der Frau pikante SMS geschrieben, anrüchige Bilder von sich geschickt. Und? Gezielte Befragungen im Umfeld der Hühnerfarm hätten zum gleichen Ergebnis geführt.« Kleinert blickt in die Runde, offenbar sehr zufrieden über die Aufmerksamkeit, die ihm gewidmet wird. »Es war mein Erfolg, dass er gestanden hat. Ich habe ihn lange genug bearbeitet. Meine Kollegin wollte aufgeben, Doris ist zu weich für eine konstante Befragung. Aber mir war klar, dass er schuldig ist und irgendwann sein Gewissen erleichtern wird. Ich bin hartnäckig geblieben. Und das Ergebnis: Wir haben sein Geständnis.« Er lächelt gönnerhaft. »Für mein Buch habe ich den gesamten Fall noch einmal detailliert aufgearbeitet und zusätzliche Befragungen durchgeführt. Sie hätten nicht in die Jauchegrube steigen müssen. Und dann noch die Zahnabdruckanalyse für das Kaubonbon – was für eine Verschwendung von Steuergeldern.«
»Sie sind ein bornierter Idiot. Sie reden von einem Täterprofil. Ich nenne Wahrsagerei, was Sie da machen, denn zu mehr reicht Ihr Können nicht!«
Ein Auge des Profilers zuckt. Offenbar hat Ali Nazik einen wunden Punkt getroffen.
In dem Moment kommt Paulas Chef herein. Kriminalrat Siegfried Lorenz trägt wie so häufig ein dunkelgrünes Jackett mit Lederbesätzen an den Ellenbogen. Auf seinem Kopf sitzt ein Anglerhut. Als er Spusen-Ali und Kleinert erblickt, geht er auf die beiden zu und klopft Ali auf die Schulter. »Dr. Nazik, ich freue mich, dass Sie und Kollege Kleinert morgen gemeinsam den Vortrag halten. Frau Kriminaldirektorin Dr. Riedel legt viel Wert darauf. Sie hat mich extra gebeten, Sie beide zu einem Team zusammenzustellen.«
»Na herzlichen Dank!«, faucht Spusen-Ali. Ohne ein weiteres Wort dreht er sich um und lässt die beiden stehen.
Lorenz schaut ihm verwundert nach. »Es geht doch alles in Ordnung mit dem Vortrag morgen, oder?«, fragt er mit einer gewissen Unruhe.
»Von meiner Seite ja«, knurrt Kleinert. »Nazik kann nur schlecht jemanden neben sich ertragen, der etwas von seiner Arbeit versteht. Aber ich werde schon dafür sorgen, dass der Vortrag ein Erfolg wird. Im Zweifelsfall halte ich ihn allein.«
KR Lorenz wirkt unschlüssig. »Ich bin mir nicht sicher, ob das die Direktorin wollen würde.« Er klopft Kleinert auf den Rücken. »Wir wollen Frau Dr. Riedel doch zeigen, was für eine gute Truppe wir sind. Ich erwarte, dass die nächsten Tage ohne Störung ablaufen. Ruhe und gute Zusammenarbeit, das ist alles, was ich will.« Im gleichen Moment erstarrt er. »Oh Gott!«
Walter schiebt sich den letzten Bissen Fleisch in den Mund. »Oh, schau mal, Paula, ich glaube, jetzt hat er deine Mutter entdeckt.«
COSMA
MANCHEMENSCHENHABENWIRKLICHEINBRÜCHIGESNERVENKOSTÜM
Was für eine glückliche Fügung. Kriminalrat Lorenz. Mit Ihnen wollte ich reden.« Ich strecke Paulas Chef meine Hand entgegen. Er starrt mich an, als wäre ich eine Erscheinung. Ich kenne ihn seit dieser Sache vor zwei Jahren. Damals habe ich recherchiert, wie es in einem Leichenschauhaus zugeht. Doch der diensthabende Pathologe wollte mir partout keine Leichen zeigen. Deshalb habe ich, in einem Schrank versteckt, gewartet, bis er weg war, und bin dann in den Aufbewahrungsraum gegangen. Ich wollte unbedingt wissen, wie es sich wohl als Leiche anfühlt auf diesem kalten Seziertisch, mit einem Tuch auf dem Körper. Also habe ich es ausprobiert. Es war merkwürdig ruhig, fast friedlich. Bis ich dieses Geräusch hörte. Schlurfende Schritte. Ich dachte, es sei ein Mörder, der sich ein letztes Mal am Anblick seines Opfers ergötzen will. Todesmutig setzte ich mich auf. Aber es war kein Mörder, sondern Paulas Chef. Als er mich sah, schrie er grell auf und ist dann mit erhobenen Armen hinausgestürmt. Seitdem hat Herr Lorenz immer diesen seltsamen Ausdruck im Gesicht, wenn er mich sieht. Dabei ist es in meinen Augen eine Stärke, wenn Männer Angst eingestehen können. Das sollte ich ihm bei Gelegenheit mal sagen, vielleicht entspannt er sich dann.
An diesem Punkt meiner Überlegungen angekommen, halte ich eine vertrauenserweckende Geste für angebracht. Ich lege meinen Arm um seine Schulter. »Lieber Kriminalrat Lorenz, wo wir schon so gemütlich beisammenstehen … Wäre es nicht das Beste, wenn meine Kriminalschriftsteller-Kollegen und ich an dem Workshop teilnehmen würden? Immerhin haben wir erheblich dazu beigetragen, den Schrebergartenfall zu lösen. Wir könnten solche Fälle in Zukunft verstärkt übernehmen.«
Paulas Chef versteift sich und bekommt eine ungesunde Hautfarbe. Sicher der Stress in seiner Position. Umso wichtiger, dass Fachleute wie wir ihn unterstützen. »Also, wann startet der Workshop morgen? Neun Uhr? Wir werden pünktlich sein.«
»Mutter, ihr nehmt nicht daran teil.« Meine Tochter baut sich vor mir auf und stemmt die Hände in die Hüften. Die ganze Körpersprache deutet schon wieder auf Aggressivität. Hoffentlich fängt sie bald was mit diesem netten Doc Fischgrät an und entspannt sich mal.
Vorsichtig löst sich Kriminalrat Lorenz aus meiner Umarmung, stellt sich neben meine Tochter. »Genau. Sie halten sich fern. Sehr fern.« Er atmet tief durch, als ob er gerade den Mount Everest bestiegen hätte. »Frau Pongs, ich verlasse mich auf Sie. Keine Störungen.«
Ich nicke vertrauensbildend. »Natürlich, wir sind es gewohnt, in völligem Einklang mit unserer Umgebung zu agieren. Die Verdächtigen werden uns kaum bemerken. Und dann werden wir den Fall lösen.«
»Welcher Fall? Welche Verdächtigen?« Lorenz sieht sich hektisch um, seine Stimme zittert. Ich weiß nicht, wie es jemand mit einem derart brüchigen Nervenkostüm in eine solche Position geschafft hat.
»Es gibt keinen Fall. Es gibt keine Verdächtigen. Mutter … ihr arbeitet an euren Romanen. Leise. Und weit weg von uns.« Paula sieht ihren Chef aufmunternd an. Er ist zwar einen Kopf größer als sie, aber durch seine geduckte Haltung wirkt es, als suche er bei ihr Schutz.
»Ich verlasse mich auf Sie«, sagt er und geht mit großen Schritten aus dem Speisesaal.
»Ich wollte ihm noch meine Idee näherbringen«, beschwere ich mich. »Wir müssen bei Gelegenheit besprechen, wie wir als externe Berater in die Ermittlungsarbeit eingebunden werden.«
»Mutter, es gibt keine externen Berater bei der Polizei.«
»Gibt es doch.«
»Sag mir ein Beispiel.«
Ich sage nur ein Wort: »Sherlock.«
Meine Tochter bleibt eiskalt. »Das ist eine Romanfigur.«
»Kind, du solltest wirklich nicht so engstirnig sein. Das Erscheinen der Geschichten von Sherlock Holmes hat damals die Kriminalistik auf ganz neue Pfade geführt. Das zeigt, wie fruchtbar der Austausch zwischen der Polizei und Schriftstellern sein kann. Vielleicht wäre es am besten, wenn ich mich direkt an Kriminaldirektorin Dr. Riedel wende.« Suchend blicke ich mich um.
»Untersteh dich«, knurrt Paula, und ihre angespannte Haltung signalisiert mir, dass ich das Treffen mit der Direktorin lieber auf den Abend verschiebe.
COSMA
ALTBIERBOWLEUNDTAUBENNESTER
Nach dem Abendessen ziehen wir uns in die Hotelbar im Ostflügel zurück. Nun ja. Bar ist etwas übertrieben. Das steht nur draußen an der Tür. Es ist eine Gaststätte mit rustikalen Eichentischen, lederbezogenen Stühlen und Lampen aus durchscheinender Schweinehaut. Über unserem Tisch hängt ein Bild von hungernden Bauern bei der Kartoffelernte.
»Die Umgebung ist ungemein inspirierend«, sagt Herr von Itzenplitz. »Wissen Sie, dass Hotelpersonal häufig ausgebeutet wird? Scheinselbstständig, Überstunden und nur geringe Bezahlung. In einer Broschüre der Gewerkschaft habe ich gelesen, dass Zimmermädchen für ihre Reinigungsarbeiten einen Hungerlohn beziehen. Fünfzig Cent pro Raum! Ich denke, ich werde mich diesem Sujet widmen.« Zufrieden streicht er sich über sein Bärtchen.
»Ich finde das Schreibwochenende bisher auch hammermäßig«, wirft Gerda ein. An unserer Haustür gehen morgens immer Schüler vorbei, und Gerda schnappt hin und wieder Begriffe von ihnen auf, die sie bei jeder Gelegenheit verwendet. »Wissen Sie, wie man den Erbauer des Hotels genannt hat? Sigbert, den Blutrünstigen. Habe ich vorhin im Internet gelesen. Er ist während des Französischen Krieges ein ganz gemeiner Schuft gewesen und hat das Hotel durch Brandschatzen und Morden finanziert. Angeblich ist es verflucht. Das glaube ich sofort. Haben Sie bemerkt, wie die Holzdielen bei jedem Schritt quietschen und die Porzellanleuchten auf dem Flur zitternde Schatten an die Wand werfen? Dieses Hotel ist gruseliger als alles, was ich jemals erlebt habe.« Schauer der Begeisterung durchfahren sie. »Ich werde die ganze Nacht nicht schlafen können. Was, wenn plötzlich der Geist von Sigbert, dem Blutrünstigen, vor meinem Bett steht, in der Hand einen Dolch?« Gerda bekommt diesen entrückten Blick, den sie immer hat, wenn sie ans Schreiben denkt. Im Mittelpunkt ihrer Krimis steht eine zweiundsechzigjährige Grundschullehrerin, die von einem Heiratsschwindler betrogen wurde und nur ein klein wenig an Gerda erinnert. Jedenfalls versinkt die Lehrerin wegen des Betrugs nicht etwa in Schwermut, sondern nimmt die Sache selbst in die Hand. Und zwar in Form eines sehr scharfen Messers. Sie lockt ihren Ex-Liebhaber in eine Falle, dann gibt es ziemlich viele Szenen, die ich übersprungen habe. Jedenfalls liegt am Schluss das warme Herz ihres Ex-Liebhabers in ihrer Hand. Im gleichen Moment stürmt das SEK das Haus, doch die Lehrerin kann sich der Festnahme entziehen und flieht. In der letzten Szene liegt sie am Strand von Mallorca und denkt an all die Männer, die sie in ihrem Leben betrogen haben. Liebevoll streicht sie dabei mit den Fingern über die Klinge. Womit Gerda den Auftakt für eine ganze Reihe gelegt hat.
Gerda streichelt gottlob keine Klinge, sondern unseren Kater, der neben ihr auf der Bank sitzt und unsere Getränke fixiert. Er streckt seine Pfote aus und titscht gegen Gerdas langstieliges Bowleglas, sodass es leicht schwankt. Gerda schreckt aus ihren Träumen auf. »Alfred, nein! Keinen Alkohol. Das hat der Tierarzt ausdrücklich gesagt. Du kannst Wasser haben.«
Alfred sieht nicht so aus, als ob Wasser eine Alternative wäre. Sein Schwanz zuckt wild hin und her. Ich bewundere Gerda ein wenig, als sie ihn trotzdem weiterstreichelt. Kurz darauf stellen wir fest, dass nicht jeder Mut belohnt wird.
»Das war böse, Alfred!«, sagt Gerda und steckt sich den blutenden Finger in den Mund.