Die Diebin - J. R. Ward - E-Book

Die Diebin E-Book

J. R. Ward

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Beschreibung

Sola Morte ist Einbrecherin aus Leidenschaft. Nicht die finanzielle Not treibt sie nachts in die Villen reicher Leute, sondern die pure Lust am Nervenkitzel. Als sie und ihre geliebte Großmutter dadurch ins Visier eines mächtigen Drogenbarons geraten, beschließt Sola, ihre kriminelle Laufbahn und Caldwell für immer hinter sich zu lassen – und Assail, den einzigen Mann, der jemals Gefühle in ihr geweckt hat. Sola ahnt nicht, dass Assail ein Vampir ist und dass seine dunkle Vergangenheit sie früher oder später doch noch einholen wird ...

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Seitenzahl: 310

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Das Buch

Sola Morte ist Einbrecherin aus Leidenschaft. Nicht die finanzielle Not treibt sie nachts in die Villen reicher Leute, sondern die pure Lust am Nervenkitzel. Als sie und ihre geliebte Großmutter dadurch ins Visier eines mächtigen Drogenbarons geraten, beschließt Sola, ihre kriminelle Laufbahn und Caldwell für immer hinter sich zu lassen – und Assail, den einzigen Mann, der jemals Gefühle in ihr geweckt hat. Doch nun schwebt Assail in Lebensgefahr, und Sola lässt alles stehen und liegen, um an sein Krankenbett zu eilen. Und tatsächlich scheint ihre bloße Anwesenheit Assails Genesung zu fördern, sodass die beiden ihre leidenschaftliche Liebesbeziehung schon bald wiederaufnehmen. Noch immer ahnt Sola nicht, dass Assail ein Vampir ist und dass seine dunkle Vergangenheit als Waffenhändler der Bruderschaft der BLACK DAGGER sie früher oder später doch noch einholen wird …

Die Autorin

J. R. Ward begann bereits während des Studiums mit dem Schreiben. Nach dem Hochschulabschluss veröffentlichte sie die BLACK DAGGER-Serie, die in kürzester Zeit die amerikanischen Bestsellerlisten eroberte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in Kentucky und gilt seit dem überragenden Erfolg der Serie als Star der romantischen Mystery.

https://twitter.com/heynefantasysf?lang=de

J.R.Ward

Die Diebin

Ein BLACK DAGGER-Roman

Wilhelm Heyne Verlag

München

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Titel der Originalausgabe:THE THIEF (Part 1)
Aus dem Amerikanischen von Corinna Vierkant
Redaktion: Bettina SpanglerCopyright © 2018 by Love Conquers All, Inc.Copyright © 2019 der deutschen Ausgabeund der Übersetzung byWilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-22332-8V002
www.heyne.de

Gewidmet:

Euch beiden.Ich wüsste keine Herzen oder Seelen,die enger verwandt wären.

Danksagung

Ein großes Dankeschön allen Lesern der Bruderschaft der Black Dagger!

Vielen, vielen Dank an Kara Welsh und alle anderen bei Ballantine – diese Bücher sind echte Teamarbeit!

Alles Liebe an das Team Waud – ihr wisst, wer gemeint ist. Ohne euch käme die Sache gar nicht zustande.

Nichts von alledem wäre möglich ohne: meinen liebevollen Ehemann, der mir mit Rat und Tat zur Seite steht, sich um mich kümmert und mich an seinen Visionen teilhaben lässt; meine wunderbare Mutter, die mir mehr Liebe geschenkt hat, als ich ihr je zurückgeben kann; meine Familie (die blutsverwandte wie auch die frei gewählte) und meine liebsten Freunde.

Und wie immer in Liebe und Hingabe an meinen WriterDog II Naamah.

Glossar der Begriffe und Eigennamen

 Ahstrux nohtrum – Persönlicher Leibwächter mit Lizenz zum Töten, der vom König ernannt wird.

 Die Auserwählten – Vampirinnen, deren Aufgabe es ist, der Jungfrau der Schrift zu dienen. In der Vergangenheit waren sie eher spirituell als weltlich orientiert, doch das hat sich mit dem Aufstieg des letzten Primal geändert, der sie aus dem Heiligtum befreite. Nachdem sich die Jungfrau der Schrift aus ihrer Rolle zurückgezogen hat, sind sie völlig autonom und leben auf der Erde. Doch noch immer nähren sie alleinstehende Brüder und solche, die sich nicht von ihren Shellans nähren können, sowie verletzte Kämpfer mit ihrem Blut.

 Bannung – Status, der einer Vampirin der Aristokratie auf Gesuch ihrer Familie durch den König auferlegt werden kann. Unterstellt die Vampirin der alleinigen Aufsicht ihres Hüters, üblicherweise der älteste Mann des Haushalts. Ihr Hüter besitzt damit das gesetzlich verbriefte Recht, sämtliche Aspekte ihres Lebens zu bestimmen und nach eigenem Gutdünken jeglichen Umgang zwischen ihr und der Außenwelt zu regulieren.

 Die Bruderschaft der Black Dagger – Die Brüder des Schwarzen Dolches. Speziell ausgebildete Vampirkrieger, die ihre Spezies vor der Gesellschaft der Lesser beschützen. Infolge selektiver Züchtung innerhalb der Rasse besitzen die Brüder ungeheure physische und mentale Stärke sowie die Fähigkeit zur extrem raschen Heilung. Die meisten von ihnen sind keine leiblichen Geschwister; neue Anwärter werden von den anderen Brüdern vorgeschlagen und daraufhin in die Bruderschaft aufgenommen. Die Mitglieder der Bruderschaft sind Einzelgänger, aggressiv und verschlossen. Sie pflegen wenig Kontakt zu Menschen und anderen Vampiren, außer um Blut zu trinken. Viele Legenden ranken sich um diese Krieger, und sie werden von ihresgleichen mit höchster Ehrfurcht behandelt. Sie können getötet werden, aber nur durch sehr schwere Wunden wie zum Beispiel eine Kugel oder einen Messerstich ins Herz.

 Blutsklave – Männlicher oder weiblicher Vampir, der unterworfen wurde, um das Blutbedürfnis eines anderen zu stillen. Die Haltung von Blutsklaven wurde vor Kurzem gesetzlich verboten.

 Chrih – Symbol des ehrenhaften Todes in der alten Sprache.

 Doggen – Angehörige(r) der Dienerklasse innerhalb der Vampirwelt. Doggen pflegen im Dienst an ihrer Herrschaft altertümliche, konservative Sitten und folgen einem formellen Bekleidungs- und Verhaltenskodex. Sie können tagsüber aus dem Haus gehen, altern aber relativ rasch. Die Lebenserwartung liegt bei etwa fünfhundert Jahren.

 Dhunhd – Hölle.

 Ehros – Eine Auserwählte, die speziell in der Liebeskunst ausgebildet wurde.

 Exhile Dhoble – Der böse oder verfluchte Zwilling, derjenige, der als Zweiter geboren wird.

 Gesellschaft der Lesser – Orden von Vampirjägern, der von Omega zum Zwecke der Auslöschung der Vampirspezies gegründet wurde.

 Glymera – Das soziale Herzstück der Aristokratie, sozusagen die »oberen Zehntausend« unter den Vampiren.

 Gruft – Heiliges Gewölbe der Bruderschaft der Black Dagger. Sowohl Ort für zeremonielle Handlungen als auch Aufbewahrungsort für die erbeuteten Kanopen der Lesser. Hier werden unter anderem Aufnahmerituale, Begräbnisse und Disziplinarmaßnahmen gegen Brüder durchgeführt. Niemand außer Angehörigen der Bruderschaft, der Jungfrau der Schrift und Aspiranten hat Zutritt zur Gruft.

 Hellren – Männlicher Vampir, der eine Partnerschaft mit einer Vampirin eingegangen ist. Männliche Vampire können mehr als eine Vampirin als Partnerin nehmen.

 Hohe Familie – König und Königin der Vampire sowie all ihre Kinder.

 Hüter – Vormund eines Vampirs oder einer Vampirin. Hüter können unterschiedlich viel Autorität besitzen, die größte Macht übt der Hüter einer gebannten Vampirin aus.

 Jungfrau der Schrift – Mystische Macht, die dem König bis in jüngste Zeit als Beraterin diente sowie die Vampirarchive hütete und Privilegien erteilte. Existierte in einer jenseitigen Sphäre und besaß umfangreiche Kräfte. Gab ihre Stellung zugunsten einer Nachfolge auf. Hatte die Befähigung zu einem einzigen Schöpfungsakt, den sie zur Erschaffung der Vampire nutzte.

 Leahdyre – Eine mächtige und einflussreiche Person.

 Lesser – Ein seiner Seele beraubter Mensch, der als Mitglied der Gesellschaft der Lesser Jagd auf Vampire macht, um sie auszurotten. Die Lesser müssen durch einen Stich in die Brust getötet werden. Sie altern nicht, essen und trinken nicht und sind impotent. Im Laufe der Jahre verlieren ihre Haare, Haut und Iris ihre Pigmentierung, bis sie blond, bleich und weißäugig sind. Sie riechen nach Talkum. Aufgenommen in die Gesellschaft werden sie durch Omega. Daraufhin erhalten sie ihre Kanope, ein Keramikgefäß, in dem sie ihr aus der Brust entferntes Herz aufbewahren.

 Lewlhen – Geschenk.

 Lheage – Respektsbezeichnung einer sexuell devoten Person gegenüber einem dominanten Partner.

 Lhenihan – ein mystisches Biest bekannt für seine sexuelle Leistungsfähigkeit. In modernem Slang bezieht es sich auf einen Vampir von übermäßiger Größe und Ausdauer.

 Lielan – Ein Kosewort, frei übersetzt in etwa »mein Liebstes«.

 Lys – Folterwerkzeug zur Entnahme von Augen.

 Mahmen – Mutter. Dient sowohl als Bezeichnung als auch als Anrede und Kosewort.

 Mhis – Die Verhüllung eines Ortes oder einer Gegend; die Schaffung einer Illusion.

 Nalla oder Nallum – Kosewort. In etwa »Geliebte(r)«.

 Novizin – Eine Jungfrau.

 Omega – Unheilvolle mystische Gestalt, die sich aus Groll gegen die Jungfrau der Schrift die Ausrottung der Vampire zum Ziel gesetzt hat. Existiert in einer jenseitigen Sphäre und hat weitreichende Kräfte, wenn auch nicht die Kraft zur Schöpfung.

 Phearsom – Begriff, der sich auf die Funktionstüchtigkeit der männlichen Geschlechtsorgane bezieht. Die wörtliche Übersetzung lautet in etwa »würdig, in eine Frau einzudringen«.

 Princeps – Höchste Stufe der Vampiraristokratie, untergeben nur den Mitgliedern der Hohen Familie und den Auserwählten der Jungfrau der Schrift. Dieser Titel wird vererbt; er kann nicht verliehen werden.

 Pyrokant – Bezeichnet die entscheidende Schwachstelle eines Individuums, sozusagen seine Achillesferse. Diese Schwachstelle kann innerlich sein, wie zum Beispiel eine Sucht, oder äußerlich, wie ein geliebter Mensch.

 Rahlman – Retter.

 Rythos – Rituelle Prozedur, um verlorene Ehre wiederherzustellen. Der Rythos wird von dem Vampir gewährt, der einen anderen beleidigt hat. Wird er angenommen, wählt der Gekränkte eine Waffe und tritt damit dem unbewaffneten Beleidiger entgegen.

 Schleier – Jenseitige Sphäre, in der die Toten wieder mit ihrer Familie und ihren Freunden zusammentreffen und die Ewigkeit verbringen.

 Shellan – Vampirin, die eine Partnerschaft mit einem Vampir eingegangen ist. Vampirinnen nehmen sich in der Regel nicht mehr als einen Partner, da gebundene männliche Vampire ein ausgeprägtes Revierverhalten zeigen.

 Symphath – Eigene Spezies innerhalb der Vampirrasse, deren Merkmale die Fähigkeit und das Verlangen sind, Gefühle in anderen zu manipulieren (zum Zwecke eines Energieaustauschs). Historisch wurden die Symphathen oft mit Misstrauen betrachtet und in bestimmten Epochen auch von den anderen Vampiren gejagt. Sind heute nahezu ausgestorben.

 Trahyner – Respekts- und Zuneigungsbezeichnung unter männlichen Vampiren. Bedeutet ungefähr »geliebter Freund«.

 Transition – Entscheidender Moment im Leben eines Vampirs, wenn er oder sie ins Erwachsenenleben eintritt. Ab diesem Punkt müssen sie das Blut des jeweils anderen Geschlechts trinken, um zu überleben, und vertragen kein Sonnenlicht mehr. Findet normalerweise mit etwa Mitte zwanzig statt. Manche Vampire überleben ihre Transition nicht, vor allem männliche Vampire. Vor ihrer Transition sind Vampire von schwächlicher Konstitution und sexuell unreif und desinteressiert. Außerdem können sie sich noch nicht dematerialisieren.

 Triebigkeit – Fruchtbare Phase einer Vampirin. Üblicherweise dauert sie zwei Tage und wird von heftigem sexuellem Verlangen begleitet. Zum ersten Mal tritt sie etwa fünf Jahre nach der Transition eines weiblichen Vampirs auf, danach im Abstand von etwa zehn Jahren. Alle männlichen Vampire reagieren bis zu einem gewissen Grad auf eine triebige Vampirin, deshalb ist dies eine gefährliche Zeit. Zwischen konkurrierenden männlichen Vampiren können Konflikte und Kämpfe ausbrechen, besonders wenn die Vampirin keinen Partner hat.

 Vampir – Angehöriger einer gesonderten Spezies neben dem Homo sapiens. Vampire sind darauf angewiesen, das Blut des jeweils anderen Geschlechts zu trinken. Menschliches Blut kann ihnen zwar auch das Überleben sichern, aber die daraus gewonnene Kraft hält nicht lange vor. Nach ihrer Transition, die üblicherweise etwa mit Mitte zwanzig stattfindet, dürfen sie sich nicht mehr dem Sonnenlicht aussetzen und müssen sich in regelmäßigen Abständen aus der Vene ernähren. Entgegen einer weitverbreiteten Annahme können Vampire Menschen nicht durch einen Biss oder eine Blutübertragung »verwandeln«; in seltenen Fällen aber können sich die beiden Spezies zusammen fortpflanzen. Vampire können sich nach Belieben dematerialisieren, dazu müssen sie aber ganz ruhig werden und sich konzentrieren; außerdem dürfen sie nichts Schweres bei sich tragen. Sie können Menschen ihre Erinnerung nehmen, allerdings nur, solange diese Erinnerungen im Kurzzeitgedächtnis abgespeichert sind. Manche Vampire können auch Gedanken lesen. Die Lebenserwartung liegt bei über eintausend Jahren, in manchen Fällen auch höher.

 Vergeltung – Akt tödlicher Rache, typischerweise ausgeführt von einem Mann im Dienste seiner Liebe.

 Wanderer – Ein Verstorbener, der aus dem Schleier zu den Lebenden zurückgekehrt ist. Wanderern wird großer Respekt entgegengebracht, und sie werden für das, was sie durchmachen mussten, verehrt.

 Whard – Entspricht einem Patenonkel oder einer Patentante.

 Zwiestreit – Konflikt zwischen zwei männlichen Vampiren, die Rivalen um die Gunst einer Vampirin sind.

1

Miami, Florida

Sola Morte alias Marisol Maria Rafaela Carvalho öffnete die gläserne Schiebetür zum Balkon. Obwohl es Januar war und bereits nach Mitternacht, wehte ihr milde Seeluft entgegen, feucht und zwanzig Grad warm, ein gehauchter Kuss auf die Wange statt einer kalten Ohrfeige. Doch nach einem Jahr war das keine angenehme Überraschung mehr. Das freundliche Klima in Miami war wie der gemächliche Gang, die Palmen, die Strände und die Gezeiten zu einem Teil ihres Lebens geworden.

Exotik definierte sich durch Seltenheit, sie lag also gleich der Schönheit im Auge des Betrachters.

In diesem Rahmen wären die verschneiten Kiefern von Caldwell in New York State ein ebenso faszinierender wie ungewöhnlicher Anblick gewesen.

Sola schüttelte den Kopf und ermahnte sich, in der Gegenwart zu bleiben. Der »Balkon« ihrer Eigentumswohnung im vierten Stock, die sie mit der Großmutter teilte, war nicht mehr als ein breiterer Sims mit Geländer, nichts also, das man sinnvoll oder zu Erholungszwecken nutzen konnte, sondern ein reines Alibi, damit man die dreißig Einheiten der Wohnanlage mit einem »Balkon mit Meerblick« bewerben konnte. Und streng genommen stimmte auch »Meerblick« nicht, denn man sah auf die Bucht von Biscayne und nicht auf den Atlantik. Aber Wasser war Wasser, und wenn man nicht schlafen konnte, war es interessanter als die Zimmerdecke.

Vor drei Jahren hatte Sola diese Dreizimmerwohnung mit Möbeln aus einem trendigen Einrichtungsdiscounter ausgestattet, wo die Preise stimmten und man sich nicht selber Gedanken über Zierkissen und Farbkombinationen machen musste. Und um ihren »luxuriösen« »Balkon mit Meerblick« auszustatten, war sie zum Baumarkt gefahren und hatte zwei weiß-gelb-gestreifte Gartenstühle und einen niedrigen Tisch erstanden. Erstere erfüllten ihren Zweck, Letzterer hatte eine durchsichtige Tischplatte mit geriffelter Oberfläche, auf der nichts gerade stand.

Sie setzte sich auf den linken Stuhl. »Vollmond.«

Ihre Stimme verwehte, während ihr Blick über die nächtliche Szenerie streifte. Vor ihr standen eine Reihe niedriger Häuser aus den Vierzigerjahren, dahinter eine Ladenzeile mit billigen T-Shirt-Shops, Bodega-Bars und Cantinas und wieder dahinter kam der Strand. Zu behaupten, sie und ihre vovó wohnten in Miami, war ähnlich irreführend wie die Bezeichnung Balkon für diesen Sims. Sie wohnten am äußersten nördlichen Rand der Stadt, weit weg von den Villen und dem quirligen Nachtleben, obwohl Sola gewettet hätte, dass auch diese miese Gegend in zehn Jahren in neuem teurem Glanz erstrahlen würde.

Ihr sollte es recht sein, dann zog sie Gewinn aus ihrer Investition und …

Aber wem machte sie etwas vor. Länger als ein Jahr würden sie hier nicht bleiben.

Ihr gehörten außerdem eine kleine Wohnung in Kalifornien und eine in Toronto, und wenn sie die durchhatten, ging es an den nächsten Ort.

Sie hatte nur wenige Ansprüche an ein Zuhause: Zahlungsabwicklung in bar, katholische Kirche und anständiger Latino-Markt in der Nähe.

Ein lauer Wind wehte vom Meer zu ihr hoch und wühlte in ihrem frisch blondierten Haar. Sie beugte sich vor, weil sie nicht stillsitzen konnte. Doch auch die veränderte Haltung sagte ihr nicht zu, weil ihr jetzt das Geländer den Blick auf die Bucht versperrte. Sie lehnte sich zurück und tippte mit dem hinteren Ende ihres Flip-Flops auf den Boden, ein Metronom der Rastlosigkeit, nur erträglich, weil es der eigene Fuß war, und den konnte sie zumindest theoretisch stoppen.

Es stimmte nicht, dass die Erinnerung eine Straße war, auf der man entlangwandelte, eine lineare Abfolge, der man von Beginn bis Ende folgte. In diesem letzten Jahr in Miami war sie zu der Erkenntnis gekommen, dass die Erinnerung eine Klaviatur von Filmausschnitten war, auf denen das Gedächtnis spielte, allerdings nach der Partitur ihrer Trauer und nicht der gutbegründeten Logik ihrer Entscheidung, Caldwell zu verlassen.

Denn würde sie rational vorgehen, würde sie sich ins Gedächtnis rufen, wie es war, eines Nachts heimzukommen und auf ihre Entführer zu stoßen, während im ersten Stock ihre Großmutter aufstand und sich anschickte, die Treppe herunterzukommen. Dann würde sie an die Reise in den Norden denken, eingesperrt in den Kofferraum eines Neuwagens. Ja, wenn sie schlau wäre, würde ihr Gedächtnis eine Diashow an die Wand projizieren, wie sie dem Mann, der den Kofferraumdeckel öffnete, eine brennende Leuchtfackel ins Auge stieß. Wie man ihr ins Bein schoss, als sie in den Wald fliehen wollte, wie sie in einer vergitterten Zelle im Keller dieses Foltercamps lag.

Sie würde sich den Schläger mit dem großen Leberfleck im Gesicht in allen Details ins Gedächtnis rufen, wie er sie ihrer Kleider entledigte, um sie zu vergewaltigen – bis sie seine Eier packte und verdrehte und ihm den Kopf mit einer schweren Kette einschlug.

Und schließlich würde sie sich erinnern, wie sie einen Toten über den Boden schleifte, um mit seinem Fingerabdruck die Tür nach draußen zu öffnen – was fehlschlug, sodass sie zurück in den Keller musste, um die Hand des erschlagenen Sexualtäters zwischen den Stäben hindurchzuziehen und mit einem Küchenmesser abzutrennen.

Oder wie wäre es mit der Erinnerung an den erfolgreichen Versuch, diesen noch warmen Daumen auf das Feld zu drücken und tatsächlich die Stahltür zu öffnen? Der Hölle zu entrinnen, bedeckt mit nichts als einem Parka und dem Blut der zwei Menschen, die sie getötet hatte?

Doch das waren nicht die Bilder, die die Klaviatur ihres Gedächtnisses bediente.

Ihr ging ein anderes Lied durch den Kopf, wieder und wieder und in der Wirkung sehr viel zerstörerischer.

Aber auch erotischer …

»Schluss damit.« Sie rieb sich die Augen. »Schluss!«

Über der Bucht, in der sich die Wellen am North Beach brachen, stand der Mond, eine silberne Scheibe, verschleiert durch Wolkenfetzen, die ihn streiften.

Genau so waren Assails Augen gewesen, silbern mit dunkelviolettem Rand.

Und vermutlich waren sie das bis heute, vorausgesetzt, er war noch am Leben – denn er führte ein riskantes Dasein. Drogenbarone unterlagen einer höheren Sterblichkeit als Krebs- oder Herzpatienten.

Nicht dass sie ihn für seine Berufswahl verurteilt hätte – sie war schließlich auch nur in dem Kofferraum gelandet, weil sie sich als Einbrecherin betätigt hatte.

Merkwürdig hypnotisierend waren seine Augen. Eine vergleichbare Farbe hatte sie noch nie gesehen, und das nicht, weil sie ihn romantisch verklärt hätte. Dazu der eigentümliche Name, ein Akzent, den sie nicht einordnen konnte – Deutsch? Französisch? Rumänisch? –, und eine geheimnisvolle Aura. Kein Mann hatte sie je sonderlich interessiert. Doch Assail hatte eine unwiderstehliche Wirkung auf sie. Dieses pechschwarze Haar – es musste gefärbt sein –, der spitze Ansatz auf der hohen, herrischen Stirn, der muskulöse Körper und seine enorme sexuelle Ausdauer – immer wieder hatte sie das Gefühl gehabt, dass er nicht von dieser Welt sein konnte.

Ein tödlicher Killer.

Ein prächtiger Jäger.

Ein Tier in menschlicher Gestalt.

Wieder sah sie ihn vor sich, wie er in jener Nacht gekommen war, um sie aus dem tödlichen »Jagdhäuschen« zu befreien – aber nicht jenen Assail, der mit ausgebreiteten Armen und beruhigender Stimme auf sie zugekommen war, als sie durch die Stahltür ins Freie brach, verwundet und orientierungslos. Nein, sie erinnerte sich an den Assail, den sie bald darauf an einem Rastplatz zwanzig Meilen südlich getroffen hatte.

Sie hatte nie verstanden, wie er so schnell dorthin gelangen konnte, obwohl er beim Foltercamp zurückgeblieben war, während sie mit seinen Cousins davonfuhr – als wäre er geflogen.

Und wie er ausgesehen hatte: Sein Mund war blutverschmiert gewesen, als hätte er jemanden gebissen, und seine silbrig violetten Augen hatten heller gestrahlt als dieser Mond über der Bucht, mit einem dämonischen Licht – ein Fall für einen Exorzisten.

Doch sie hatte sich nicht vor ihm gefürchtet. Und sie hatte gewusst, dass ihr Kidnapper tot war. Assail hatte den Auftraggeber getötet und wahrscheinlich auch seinen Bruder Eduardo. Denn so lief das in dieser Branche. Also hatte sie beschlossen, dieses Leben hinter sich zu lassen.

Schließlich hatte sie im Kofferraum darum gebetet, ihre Großmutter noch einmal wiedersehen zu dürfen. Nur ein Schwachkopf hielt sich nicht an seinen Teil der Vereinbarung, wenn ein solcher Wunsch in Erfüllung ging.

Also Miami.

Sola presste sich die Fingerspitzen an die Stirn und versuchte, ihre Gedanken von dem ausgetretenen Pfad abzubringen, den sie immer wieder einschlugen – obwohl das alles schon ein Jahr zurücklag, verdammt. Warum haderte sie nach wie vor mit dem Entschluss, den sie zugunsten ihres Überlebens getroffen hatte?

Die Nächte waren immer noch das Schlimmste. Tagsüber lief es besser, wenn sie so wichtige Aufgaben verfolgte wie Lebensmittel einkaufen, mit ihrer vovó zur Kirche gehen und die Umgebung nach Verfolgern absuchen, unter dem Schirm der Baseballkappe hervor. Doch mit der Dunkelheit kehrte alles zurück. Dann suchte sie der Geist jenes Mannes heim, mit dem sie niemals hätte schlafen sollen.

Sie wusste längst, dass sie eine gewisse Todessehnsucht hegte. Ihre Faszination für Assail war der beste Beweis hierfür.

Dabei kannte sie nicht einmal seinen Nachnamen. Obwohl sie ihn ausspioniert hatte, erst im Auftrag von Benloise, dann aus eigenem Interesse, wusste sie so gut wie nichts über ihn. Er besaß ein gläsernes Haus am Hudson River, das einer Immobilienfirma gehörte. Seine engsten Mitarbeiter waren seine Cousins, ein Zwillingspaar, beide stumm wie Fische, wenn es um private Angelegenheiten ging. Er hatte weder Frau noch Kinder.

Zumindest lebte er allein, aber was hieß das schon. Einem Mann wie ihm standen sicher zahlreiche Möglichkeiten offen.

Sie beugte sich zur Seite, brachte ihr altes iPhone zum Vorschein und blickte auf das dunkle Display. Als sie es aktivierte, war darauf ein Foto vom Strand zu sehen, aufgenommen direkt nach ihrer Ankunft hier.

Keine Textnachrichten, keine verpassten Anrufe, keine Sprachmeldungen auf der Mailbox.

Über längere Zeit hinweg hatte regelmäßig jemand mit unterdrückter Nummer angerufen und wieder aufgelegt.

Diese wiederkehrenden Anrufe waren der einzige Grund, warum sie dieses Handy behalten hatte. Denn wer außer Assail sollte sie darauf anrufen? Wer sonst hatte ihre Nummer? Es war nicht das Handy, das sie für Benloise oder ihre anderen krummen Geschäfte verwendet hatte, und der Vertrag lief auf einen falschen Namen. Assail besaß als Einziger ihre Nummer.

Sie hätte das Ding im Norden zurücklassen und den Vertrag kündigen sollen. Ein sauberer Schnitt war das Beste. Das Sicherste.

Aber das Problem hatte sich offensichtlich von selbst gelöst. Wenn es wirklich Assail gewesen war, hatte er mittlerweile aufgegeben – und das hoffentlich nicht deshalb, weil er zu Tode gekommen war. Vermutlich hatte er sich einer neuen Zukunft zugewandt, wie Menschen es eben taten, wenn man sie verließ. Ein lebenslanges Nachtrauern gab es doch nur im viktorianischen Roman, und dann für gewöhnlich aufseiten der Frau.

Nein, dort oben im Norden verzehrte sich niemand nach ihr. Ausgeschlossen …

Eine weitere verhasste Erinnerung versetzte sie in die Vergangenheit zurück. Nachdem Benloise sie von der Beschattung abberufen hatte, war sie Assail auf eigene Faust zu einem Haus gefolgt, das sich als eine Art Verwalter-Cottage entpuppte. Doch er besuchte es nicht aus geschäftlichen Gründen. Nein, er wurde von einer dunkelhaarigen Frau mit einer umwerfenden Figur empfangen und bettete sie auf ein Sofa, als wäre es nicht das erste Mal. Kurz bevor er mit ihr schlief, blickte er zum Fenster – das, durch das sie ihn beobachtete –, als würde er die Show allein für sie abziehen.

Da hatte sie beschlossen, die Beschattung aufzugeben und ihn nie mehr wiederzusehen.

Doch das Schicksal hatte es anders gewollt. Es hatte ihren silberäugigen Drogendealer zu ihrem Retter gemacht.

Das Traurige war, unter anderen Umständen wäre sie vielleicht bei ihm geblieben. Aber ihre kleine Vereinbarung mit Gott hatte eine solche Wunschvorstellung verboten.

Sie stand auf, blieb noch kurz am Geländer stehen und fragte sich, was sie eigentlich hier draußen zu sehen hoffte. Dann trat sie zurück in die Wohnung, schob die Tür wieder zu und streifte die Flipflops ab. Auf nackten Sohlen schlich sie durch das Wohnzimmer in die Küche. Der Reinlichkeitsstandard ihrer Großmutter war so hoch, dass man hier nicht nur vom Boden essen konnte, sondern genauso gut einen Salat in einer der Schubladen anrichten, Brotteig in den Schränken ausrollen und ein Steak auf den Regalbrettern hätte schneiden können.

Sie zog einen großen Hammer aus der Werkzeugkiste unter der Spüle. Dann steckte sie das iPhone in einen Frischhaltebeutel, den sie auf dem Weg zur Tür verschloss, und bevor sie auf den Gang trat, deaktivierte sie den Einbruchsalarm. Rechts von ihr lag die Feuertreppe. Als sie darauf zuging, lauschte sie aus Gewohnheit, nicht, weil es nötig gewesen wäre. Die Bewohner dieses Hauses waren allesamt älter, und Sola bekam nur wenig von ihnen mit, aber das Wenige bestätigte, dass sie ins richtige Haus gezogen waren. Hier wohnten Menschen, die den Winter in wärmeren Regionen verbringen wollten und nicht genug Geld hatten, um im Frühling und Sommer zurück in den Norden zu fliegen. Deshalb stand das Haus nie leer, und ihre Mitbewohner stellten eine natürliche Barriere für zwielichtige Gestalten dar, die vielleicht hinter ihr her waren.

Außerdem trug sie stets eine kompakte Waffe – Kaliber neun mit Lasersucher – mit sich herum. Nur für alle Fälle.

Im Treppenhaus war es kühler, aber nicht trockener als draußen, und sie ging nicht weit. Sie legte das Handy in seinem kleinen Plastikbeutel-Sarg auf den Betonboden und überprüfte ein letztes Mal, ob Anrufe eingegangen waren.

Dann schlug sie zu. Einmal, zweimal und dreimal.

Mehr war nicht nötig, um das Handy zu zerstören.

Auf dem Weg zurück in die Wohnung spielte sie mit den Einzelteilen im Beutel. Morgen früh würde sie von einem sicheren Computer aus online gehen, den Vertrag kündigen und damit ihre letzte Verbindung, so schwach sie war, für alle Zeit kappen.

Dass sie nie erfahren würde, was aus Assail geworden war, schmerzte fast so sehr wie der Umstand, dass sie ihn nie wiedersehen würde.

Sie kehrte zurück in die Wohnung und beschloss, ins Bett zu gehen, doch wieder zogen sie der Ausblick auf das Wasser und der Mond darüber an.

Sie vermisste den Mann, den sie niemals hätte haben dürfen, als hätte sie ein Stück ihrer Seele bei ihm zurückgelassen.

Aber so war das Schicksal.

Ein gemeiner Dieb.

2

Trainingszentrum der Bruderschaft,Caldwell, New York

Doc Jane sah auf die Uhr und nahm ihre Wanderung wieder auf. Während sie auf dem betonierten Gang vor dem großen Untersuchungszimmer auf und ab lief, spürte sie ihren Herzschlag überdeutlich – was schon sonderbar war, da sie im Grunde gar nicht lebte.

In Gedanken hörte sie Bill Murray in Ghostbusters sagen: Haben Sie oder Ihre Familie jemals einen Geist oder ein Gespenst gesehen?

Eigentlich jedes Mal, wenn sie in den Spiegel blickte, Dr. Venkman. Danke der Nachfrage.

Damit ging sie ein paar Türen weiter und blieb stehen. Starrte vor sich hin, ohne etwas wahrzunehmen. Empfand es als zunehmend schwer zu atmen. Sie musste es sich eingestehen: Was ihr hier bevorstand, war ein Aspekt der Unfallchirurgie, den sie noch immer nicht beherrschte. Ihre Ausbildung, ihre Erfahrung, sämtliche Fortbildungen, die sie durchlaufen hatte, nichts half ihr auf diesem wichtigen Gebiet.

Und sie hoffte, dass es auch so bleiben würde.

Ich kann Ihnen nicht helfen, Assail, dachte sie. Es tut mir so leid. Ich habe getan, was ich konnte.

Ein Geräusch ließ ihren Kopf herumschnellen. Am Ende des langen unterirdischen Gangs, jenseits von allen möglichen Unterrichts-, Pausen- und Verhörzimmern, öffnete sich die dicke Stahltür zur mehrstöckigen Tiefgarage, und Rhage, einer der jüngsten Väter der Bruderschaft, trat hindurch.

Die beiden dunkelhaarigen Männer, denen er die Tür aufhielt, waren nach Janes Kenntnisstand eine Anomalie in der Welt der Vampire. Eineiige Zwillinge waren innerhalb dieser Spezies selten, und nur die wenigsten überlebten bis zum Erwachsenenalter. Doch Ehric und Evale waren in mehrfacher Hinsicht die Ausnahme von der Regel.

Zum Beispiel war sich Jane nicht sicher, ob die beiden mehr Leben in sich trugen als sie selbst. Sie zeigten derart wenige Gefühlsregungen, dass man sie für Cyborgs hätte halten können, und dann diese toten Blicke – ihre Augen hatten so viel Glanz wie Mattlack. Allerdings hatten sie vermutlich schon viel gesehen und erlebt. Und so viel hatte Jane über den Krieg gelernt: Das führte oft dazu, dass sich Leute von der Umwelt abschotteten und niemandem mehr trauten.

Nicht einmal sich selbst.

Rhage wies ihnen den Weg zu ihr, obwohl sich ihre Gegenwart von selbst erklärte, und als die Zwillinge auf sie zuliefen, kam auch noch John Matthew durch die Tür und bildete das Schlusslicht.

Aber wo steckte Vishous? Hätte er nicht anstelle von John Matthew dabei sein sollen?

Jane zog ihr Handy aus der Tasche. Keine Nachrichten oder Anrufe von ihrem Hellren. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie ihn anfunken sollte.

Dann steckte sie das Handy wieder weg und konzentrierte sich auf ihre Arbeit. Sie musste dieses Gespräch hinter sich bringen, bevor sie sich Privatangelegenheiten widmen konnte.

Auch als die Zwillinge näher kamen, wollte sich kein Gefühl der Nähe einstellen. Sie wurden einfach nur größer, bis sie vor Jane standen und sie daran erinnerten, dass die Unsterblichkeit ihr Gutes hatte. Die beiden Kerle waren Killer, und obwohl sie Interessen mit den Brüdern teilten und daher im Haus der Bruderschaft eine höfliche Ausnahme machten, war sie froh, ein Geist zu sein.

Vor allem angesichts dessen, was sie ihnen mitzuteilen hatte.

»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte sie.

Der Linke – ja, da war das Muttermal hinter dem Ohr, es musste also Ehric sein und nicht Evale – nickte einmal. Das war alles von den beiden. Keine Begrüßung. Keine Nervosität. Keine Wut. Keine Trauer. Obwohl sie ganz genau wussten, weshalb man sie hergebeten hatte. Der roboterhafte Gleichmut, das schwarze Haar und die platingrauen Augen, der kräftige Körperbau – diese beiden eiskalten Typen waren wie zwei Glocks, tödlich und emotionslos.

Jane hatte keine Ahnung, wie das hier ablaufen würde.

»Entschuldigt ihr uns?«, sagte sie zu Rhage und John Matthew.

Der Bruder schüttelte den Kopf. »Wir bleiben bei dir.«

»Ich weiß deine Besorgnis zu schätzen, Rhage, aber hier geht es um vertrauliche Informationen über den Patienten. Wenn es euch nichts ausmacht, könntet ihr vielleicht vorne beim Büro warten?« Sie deutete in die Richtung, obwohl Rhage und John Matthew natürlich wussten, wo es lag.

Sie war klug genug, den Angehörigen der Bruderschaft nicht zu verbieten, ihre Pflicht auszuüben. Für die beiden war Jane die Shellan von Vishous, da spielte es keine Rolle, welche Abschlüsse sie hatte oder dass sie seit Neuestem Karate trainierte. Obwohl die Zwillinge Loyalität gegenüber dem König bewiesen und sich in Janes Anwesenheit immer korrekt verhalten hatten, waren sie nichtsdestotrotz ungebundene Vampire in der Nähe der Shellan eines gebundenen Bruders.

Man würde sie bewachen, als trüge sie ein nasses T-Shirt und aufreizende High Heels.

Es war lächerlich, aber ihnen jetzt einen Vortrag über Feminismus zu halten, würde die Sache nur unnötig in die Länge ziehen. Doch mit vertraulichen Patienteninformationen würde es gehen. Und so war es.

»Wir warten da drüben«, brummte Rhage. »Gleich da. Also ganz in der Nähe.«

»Danke.«

Als sie außer Hörweite waren, sagte sie zu den Zwillingen: »Sollen wir in mein …«

»Hier ist gut«, sagte Ehric mit seinem starken Akzent aus dem Alten Land. »Wie geht es ihm?«

»Nicht besonders, es sieht nicht aus, als würde unsere Behandlung anschlagen.« Sie verschränkte die Arme, ließ sie aber gleich wieder sinken, weil sie nicht den Eindruck vermitteln wollte, irgendetwas vor ihnen zu verbergen oder sich zu verteidigen. »Seine neurologischen Funktionen sind bleibend eingeschränkt. Ich habe mit Havers gesprochen und ihm die Hirnscans sowie Videos gezeigt, die sein Verhalten und seine Affekte dokumentieren, ebenso die Veränderung, die sich letzte Woche eingestellt hat. Seit er sich im katatonischen Zustand befindet, ist er weniger gefährlich für sich und andere, aber eben auch nicht ansprechbar …«

»Es ist Zeit, ihn einzuschläfern.«

Doc Jane blinzelte. Als die frühere Chirurgin für Menschen zur Vampirheilerin geworden war, hatte sie sich an vieles gewöhnen müssen. Sie musste eine neue Anatomie erlernen, andere Reaktionen auf Medikamente, andere Nebenwirkungen, sie hatte es mit einem komplett neuen Kreislaufsystem zu tun sowie mit hormonellen und schwangerschaftsbedingten Problemen, denen sie davor nie begegnet war.

Und sie hatte sich daran gewöhnen müssen, wie man innerhalb der Spezies entschied, ein Leben zu beenden. Bei den Menschen ging es stets darum, Leben zu erhalten, selbst wenn es keine Qualität mehr besaß. Beihilfe zum Suizid war noch immer ein heiß diskutiertes ethisches Problem. Nur sieben Staaten erlaubten es in einem vorgeschriebenen Rahmen. Bei Vampiren war es eine Selbstverständlichkeit.

Wenn ein Angehöriger litt und keine Aussicht auf Besserung bestand, wurde Sterbehilfe erteilt. Dennoch ging es hier nicht um ein geliebtes Haustier, das am Ende seines Lebenszyklus stand.

Sie wählte ihre Worte mit Bedacht, denn sie wollte ehrlich sein, ohne auf die Entscheidung Einfluss zu nehmen. »Auf Grundlage unserer Beobachtungen und der Tests, die wir vorgenommen haben, glaube ich nicht, dass er zurück in einen Zustand der Normalität finden wird. Wir haben alles in unserer Macht Stehende getan, um sein System beim Kokain-Entzug zu unterstützen, aber als die Psychose einsetzte, haben wir … ihn verloren und können ihn nicht zurückholen, wie es aussieht.«

Alles in ihr wehrte sich dagegen, diese Entscheidung in die Hände der Cousins zu legen. Es wäre leichter gewesen, hätten sie Niedergeschlagenheit gezeigt. Innere Zerrissenheit. Zweifel darüber, ob sie das Richtige taten.

Diesen Cousins war zuzutrauen, dass sie den Patienten ausrangierten wie einen defekten Toaster. Dennoch verpflichtete sie der Behandlungsstandard der Vampire, ihnen als engsten Angehörigen die Möglichkeit zu bieten, Assails Leben zu beenden, wenn es keine Aussicht mehr auf Genesung gab.

Darauf hatte sie Havers hingewiesen, der Heiler der Spezies, und instinktiv hatte sie sich dagegen auflehnen wollen – doch ihre Empörung war ein Relikt aus ihrem früheren Leben als Mensch. Auch wenn sie weiterhin einen potenziellen Widerspruch zum spirituellen Verständnis der Spezies darin sah. Nach dem Glauben der Vampire konnten Selbstmörder nicht in den Schleier eintreten. Doch wenn man vor sich hindarbte und nicht mehr selbst entscheiden konnte, durften die engsten Angehörigen dem Leiden ein Ende setzen, ohne dass diese Regelung zutraf. Die Sterbehilfe war sozusagen ein Schlupfloch.

Entscheidend für eine Vergebung war die freie Willenshandlung. Wenn man selbst den Abzug drückte, war es Selbstmord. Wenn ein anderer sagte, genug ist genug, dann galt es als Schicksal.

Dennoch war die Sache heikel, umso mehr, wenn Angehörige gerade sauer auf einen waren, weil man sich danebenbenommen hatte. Oder wütend, weil man ihnen Geld schuldete. Oder wenn sie eine zweifelhafte Moral vertraten, was Jane im aktuellen Fall befürchtete.

Dabei hatten sich Ehric und Evale gut um ihren Cousin gekümmert. Sie hatten ihn regelmäßig besucht, hatten Janes Berichte erhalten und immer gleich zurückgerufen. Zeugte das nicht von einer gewissen Fürsorge?

Außerdem wusste sie in ihrem Herzen, dass Assail genug gelitten hatte. Er war für einen Kokainentzug ins Trainingszentrum gekommen, und Monate später, nach einem Höllenritt aus Selbstverletzungen, Halluzinationen, Paranoia, Schreien und Gewaltausbrüchen, war er nun reduziert auf eine Daseinsform mit Puls und schwacher Atmung.

»Es tut mir sehr leid.« Sie sah abwechselnd in die beiden identischen Gesichter. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen etwas anderes sagen.«

»Ich möchte ihn sehen«, sagte Ehric.

»Selbstverständlich.«

Sie streckte die Hand nach der Tür aus, hielt dann aber inne. »Er ist noch immer fixiert. Und ich musste … Nun, Sie erinnern sich, dass wir ihm die Haare abrasieren mussten? Es war zu seinem eigenen Wohl.«

Als sie die Tür öffnete, blickte sie prüfend in die Gesichter der beiden und hoffte, etwas darin zu entdecken, das ihr Gewissen beruhigte, das sie darin bestärkte, dass diese Entscheidung in den richtigen Händen lag … dass ihnen die Sache irgendwie zu Herzen ging.

Die Zwillinge blickten geradeaus, nur ihre Augen bewegten sich, die Köpfe blieben reglos. Sie blinzelten nicht. Zuckten nicht. Atmeten nicht.

Doc Jane sah ihren Patienten an und wurde von erdrückender Trauer erfasst. Obwohl ihr Kopf ihr sagte, dass sie alles Erdenkliche für ihn getan hatte, betrachtete ihr Herz diesen Ausgang als ein Versagen, das in ihrer Verantwortung lag. »Es tut mir so leid.«

Nach einem langen Moment sagte Ehric tonlos: »Wir werden tun, was nötig ist.«

3

West Point, New York

Vitoria Benloise saß ungeduldig am Steuer ihres Mietwagens. Die Reise zog sich fürchterlich in die Länge. Es dauerte eine Ewigkeit, in diesen nördlich gelegenen Staat zu gelangen. Was für ein Aufwand es war, ihre körperliche Daseinsform von dort, wo sie herkam, an den Ort ihrer Bestimmung zu bringen.

Wenigstens war ihr Ziel nun bald erreicht.

Es tauchte wie eine Insel aus einem weiten Meer vor ihr auf, das große Haus auf seiner Anhöhe, ein prächtiges Zeugnis von Reichtum, allerdings alt und daher »ehrwürdig« und nicht etwa »protzig«.

Ein anderes Haus wäre für ihren Bruder Ricardo nicht infrage gekommen. Da er aus bescheidenen Verhältnissen stammte, hatte er stets versucht, sich durch den Anstrich von Aristokratie und altem Geld Anerkennung zu verschaffen. Für ihn durfte es kein neues Haus sein. Keine protzigen Autos. Keine neureiche Zurschaustellung seines Vermögens.

Selbst sein legales Betätigungsfeld, das allein der Tarnung seiner wahren Geschäfte diente, war natürlich eine Kunstgalerie. Keine Baufirma, oh nein. Keine Abfallentsorgung oder Zementfabrik. Es musste schon Kunst sein.

Zeitgenössische Skulptur und Malerei, soweit Vitoria informiert war, und sie ahnte auch, warum er in diesem Fall eine Ausnahme von seiner Vorliebe für das Alte machte. Die moderne Kunst mit ihrem variablen Wert eignete sich besser für die Geldwäsche als der Verkauf der alten Meister und Impressionisten, deren Preise sich einfacher nachweisen ließen.

Um zu Ricardos Haus zu kommen, musste man links von der Straße am großen Fluss auf eine sanft ansteigende Auffahrt biegen, und während Vitoria die geräumte Zufahrt hochfuhr, betrachtete sie den schneebedeckten Rasen, die niedrige Steinmauer, die die Bäume zurückhielt, das emporragende Haus. Es war größer, als es von der Straße aus erschien, und als sie vor dem Vordereingang parkte, spürte sie, wie die modernen Skulpturen rund um das Gebäude über sie zu Gericht saßen und die Köpfe schüttelten.

Ihr Bruder herrschte über ihr Denken. Die Familie über ihr Gewissen. Die Tradition über ihre Seele.