Die Dinge beim Namen - Rebekka Salm - E-Book
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Die Dinge beim Namen E-Book

Rebekka Salm

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Beschreibung

Ein Dorf wie viele andere: Es gibt eine Selbstbedienungstankstelle, einen Laden und einen Haufen Einfamilienhäuser. Die Kirche ist leer, das Wirtshaus voll. Die Dorfmusik probt über dem Magazin der Feuerwehr. Kleine Dramen, großes Geschwätz. Etwas außerhalb wohnt die schöne Chantal, die eigentlich anders heißt und von Berufs wegen zu viel weiß. Freddy sammelt leidenschaftlich Käfer, die jung gebliebene Micha fährt samstagabends mit dem Bus in die große Stadt. Der pensionierte Dorfpolizist Lysser hütet ein dunkles Geheimnis – und der Vollenweider schreibt das alles auf. Und dann ist da noch Sandra, mal hell- und mal schwarzhaarig. Im Februar 1984, gerade mal sechzehn Jahre alt, verschwand sie am Unterhaltungsabend des örtlichen Musikvereins aus der Turnhalle – gemeinsam mit dem schönen Max. Vierunddreißig Jahre später bewegt diese eine Nacht die Gemüter noch immer.Zwölf Dörfler geben Einblicke in ihr Leben und mehr noch in das der anderen – in flüchtiges Glück und ängstlich gehütete Geheimnisse. Rebekka Salm verbindet die eng verwobenen Geschichten zu einer. Und alle sind sie wahr. So wahr Geschichten eben sein können.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Rebekka Salm

Die Dinge beim Namen

Roman

Kampa

Für Frederike, die die richtige Frage gestellt hat

Der Vollenweider

Als der Vollenweider am Donnerstagabend die Eingangstür des Feuerwehrmagazins in die sternenlose Nacht drückte, war er in Gedanken zwei Stockwerke weiter oben im Proberaum des Musikvereins. Dort hatte er gerade noch seine Trompete in das abgeschossene Innenfutter des Instrumentenkoffers gelegt. Neben ihm der Tschudin, der Dorfmetzger, der das Kondenswasser aus seinem Mundstück schüttelte. Sie plauderten über die Obstbaumleiter mit den höhenverstellbaren Stützen, die der Tschudin von ihm ausleihen wollte, wegen der faulen Blätter in der Regenrinne. Das Wasser laufe die Fassade runter und über das Schaufenster der Metzgerei. Eine Sauerei sei das, sagte der Tschudin. Und wenn er nicht bald was unternehme, müsse er im Frühling den Maler kommen lassen. Was das wieder koste. Morgen wolle er sie holen kommen, die Leiter, in der Mittagspause.

So war das im Musikverein. Da half jeder jedem. Als letzten Frühling Vollenweiders Auto den Auspuff über den Asphalt geschleift hatte, das Material von Rost und Salzfrass brüchig geworden, hatte sich ein Kollege aus dem Baritonregister daran gemacht, eine Aufhängung zu schweissen. Der hatte eine Ahnung von Landmaschinen, da war ein Auto nicht weit her. Brauchte jemand Festbänke und Tische für eine Geburtstagsfeier, holte sie der Tschudin aus dem Schuppen hinter der Metzgerei, wo er das Material für seinen Partyservice eingelagert hatte. Schmorte die Stromleitung durch, kam Max, der war Elektriker. Max verlegt sein Kabel überall rein, hatten sie früher gewitzelt.

Und jetzt lieh sich der Tschudin eben eine Leiter.

Der Vollenweider liess die beiden Verschlüsse des Trompetenkoffers zuschnappen. Rundherum ein Klicken und Klappern von Überwurfschlössern, Rostinseln überall dort, wo der Nickel abgeblättert war. Er wollte sich gerade zum Gehen umdrehen, da packte ihn der Tschudin am Oberarm. Verdutzt drehte der Vollenweider sich um. Es war nicht üblich, dass ihn der Tschudin anfasste.

»Pass auf dich auf«, sagte der Tschudin leise.

Fragen, was er damit meinte, konnte der Vollenweider den Tschudin allerdings nicht. Der hatte sich bereits Beat zugewandt, der sich lässig an eine der beiden Kesselpauken lehnte.

Daran dachte der Vollenweider, als er ins Freie trat. Im Rhythmus seiner Atemzüge hingen ihm Wolken an den Lippen und lösten sich wieder auf. Vom Parkplatz her rief ihm Helen aus dem Flötenregister zu, ob er noch mit in die Beiz auf ein Bier komme. Der Vollenweider winkte ab. Er wollte nach Hause. Nach der Arbeit war er direkt ins Musiklokal gekommen und hatte noch keine Gelegenheit gehabt, den Briefkasten zu leeren.

Der Vollenweider erwartete Post.

 

Drei Wochen war es jetzt her, da hatte er einen maschinenbeschriebenen Stapel Papier in ein gelbes Kuvert geschoben. Das Kuvert mit der Zunge angeleckt. Adresse drauf. Dann hatte er sich das Kuvert unter den Arm geklemmt und war zur alten Post marschiert. Wo früher vergitterte Schalter gewesen waren, wo man Briefe und Geldnoten unter dicken Glasscheiben durchgeschoben hatte, standen nun Sträusse und Gestecke in Helens Blumenladen. Seit Jahren gab es keine Post mehr im Dorf. Sparmassnahmen. Wer ein Paket aufgeben oder Einzahlungen tätigen wollte, musste die gut vier Kilometer ins Nachbardorf fahren. Dort stand die einzige Post im Tal. Der Briefkasten vor Helens Laden – das PTT-Signet mit gelber Farbe übermalt und nur noch als Relief erkennbar – war jedoch noch in Betrieb. Wollte Beat, der Briefträger, den Briefkasten öffnen, musste er in den Blumenladen rein. Gleich neben den Orchideen, eingelassen in die mit feinen Haarrissen und Bohrlöchern übersäten Kacheln, war die Rückwand des Briefkastens. Einmal am Tag öffnete er den Kasten mit seinem Generalschlüssel und warf die Briefe in seinen Postsack aus Jute.

Dann sah Beat auch gleich, ob seine Frau arbeitete.

Mit wem sie einen Schwatz hielt.

Ob der Blumenlieferant wieder weg war, von dem sie in letzter Zeit so häufig sprach.

Dann sah Helen auch gleich, ob ihr Mann arbeitete.

Ob er das frische Uniformenhemd angezogen hat, das sie ihm am Vorabend rausgelegt hatte.

Ob sein Atem schon vor dem Mittag nach Bier roch.

 

An der Kreuzung Sappentenstrasse und Birkenweg blieb der Vollenweider stehen und schnäuzte sich die Nase. Die Strassenlaterne flackerte und warf zitternde Schatten an die Fassade des Eckhauses. Dort hatte früher Doktor Mundschin seine Praxis gehabt. Der Vollenweider erinnerte sich an einen grauen Bart, unter dem ein Stethoskop um den faltigen Doktorhals hing. Er erinnerte sich auch an feuchte Schwämme, die ihm als Bub ums verstauchte Handgelenk gebunden worden waren, und an einen Regler, der je nach Position mehr oder weniger Strom durch die Kabel zwischen Apparatur und Schwämme fliessen liess. Meist war es mehr als weniger gewesen. Danach hatte er sich jeweils die Haut vom Handgelenk ziehen können. Nach der Pensionierung des alten Dorfdoktors war einer von ausserhalb gekommen, ein junger Arzt, kaum das Studium beendet. Der hatte versucht, die Praxis weiterzuführen. Ein Jahr hatte der durchgehalten, dann war er wieder weg gewesen. Im Dorf verliess man sich lieber auf Kartoffelwickel und Essigsocken als auf einen fremden Fötzel.

 

Der Vollenweider schob das Taschentuch zurück in seine Hosentasche, griff nach dem Trompetenköfferchen und setzte seinen Weg fort. Dabei dachte er an das gelbe Kuvert und wie er es in den Briefkasten bei der alten Post geschoben hatte. Wie er Helen durch die gläserne Tür hindurch gegrüsst und wie sie ihn reingewinkt hatte.

Der Vollenweider plauderte gerne mit Helen.

Mit Helen war er zur Schule gegangen.

Wie es ihm gehe, hatte Helen gefragt, und wieso er sich hier rumtreibe. Er sei auf dem Weg in die Apfelbäume, hatte er ihr geantwortet. Er müsse auf Feuerbrand kontrollieren. Schlimme Geschichte. Kein Wunder sei das, es habe ja nur geregnet die letzten Wochen. Im Nachbartal habe es bereits erste Fälle gegeben. Hundert Bäume und mehr mussten die roden. So was könne einen Obstbauern ruinieren, eine Bürgergemeinde auch. Am Nachmittag wolle er dann noch nach den Büeler-Zwetschgenbäumen schauen, sie hie und da zurückschneiden. Aber vorher habe er noch diesen Brief einwerfen wollen. Ob Beat heute schon dagewesen sei. Helen hatte den Kopf geschüttelt und gefragt, was denn das für ein Brief sei. Da hatte der Vollenweider abgewinkt. Nichts Wichtiges.

Das würden sie alle behaupten, lachte Helen. Besonders dann, wenn es wichtig sei.

Sie hatten sich noch eine Weile unterhalten über die vielen Musikproben, die bereits zwei Monate vor dem Unterhaltungsabend bis weit nach zweiundzwanzig Uhr dauerten, und über den Tschudin, der letzthin gesehen worden war, wie er bei Nacht und Kälte zu Fuss unterwegs zu Chantal gewesen war.

»Armer Tscholi«, hatte Helen noch spöttisch gesagt und der Vollenweider hatte ihr beigepflichtet. Sie hatten es beide nicht böse gemeint. Stärker noch als das Dorfwappen oder das Dorflied, das sie am ersten August oder am Banntag auf dem Schulhausplatz gemeinsam sangen, waren es Geschichten wie die vom Tschudin und seiner rabiaten Frau, die das Dorf im Kern zusammenhielten.

Auch über den Vollenweider redeten die Leute. Natürlich taten sie das. Sie redeten über ihn als den Sonderling, den Waldschrat, den ewigen Junggesellen.

Sie hatten nicht unrecht, die Leute.

Am liebsten war er allein im Wald. Der Vollenweider mochte die Gesellschaft der Bäume. Bäume standen da, aufrecht oder windschief, aber immer in sich ruhend. Unter der Erde schickten sie sich elektrische Signale zu, kommunizierten über ein Netzwerk aus Myzelien und Wurzeln – das Wood Wide Web. Wurden Bäume von Schädlingen angegriffen, gaben sie Warnsignale ab. Somit war die restliche Waldgesellschaft gewarnt und konnte Verteidigungsmechanismen aktivieren.

Bäume, da war sich der Vollenweider sicher, sprachen miteinander und nicht übereinander.

Aber ein Mann kann nicht allein unter Bäumen sein. Er braucht Menschen. Darum ging der Vollenweider einmal die Woche in den Musikverein.

 

Er war nicht ehrlich gewesen zu Helen.

Der Brief war wichtig gewesen.

Seit der Vollenweider schreiben konnte, schrieb er. Früher mit Füllfeder auf liniertem Papier, heute mit seinem in die Jahre gekommenen Computer. All die Geschichten, die sich durch seinen Kopf frassen, Borkenkäfern gleich, schrieb der Vollenweider aus sich heraus, bannte sie auf Kopierpapier Bio, 80 g/m2, chlorfrei – eine hauchdünne Scheibe Baum.

Der Selbstmord des Bruders.

Die unglückliche Liebe zu Sandra.

Der frühe Tod der Mutter.

Die Grausamkeiten des Vaters.

Im Korpus seines Schreibtischs, sorgfältig abgeheftet und weggeschlossen, schmerzten die Geschichten deutlich weniger als in Vollenweiders Kopf. Das war zwar viel, genug war es ihm nicht. Er wollte Wort an Wort an Wort reihen, bis seine Wortschnüre weit über die Dorfgrenze hinausreichten. Er wollte Sätze schreiben, die sich ins Bewusstsein anderer Menschen eingruben, es aufwühlten wie Regenwürmer den Waldboden.

All die Jahre hatte der Vollenweider davon geträumt und sich doch nicht getraut, eine seiner Geschichten zu veröffentlichen. Die Dörfler hätten das nicht gewollt. Was im Dorf geschah, das blieb im Dorf.

Vor drei Wochen aber hatte er sich endlich ein Herz gefasst und einen seiner Texte in die Welt hinausgeschickt. Zu diesem Zeitpunkt hatte er begriffen, dass es besser war, die Dinge beim Namen zu nennen, Geschichten zu erzählen, alle, auch die unschönen. Ungeachtet dessen, ob man selbst gut dabei wegkam. Die Wahrheit verletzte womöglich Menschen und man lief Gefahr, sie zu verlieren. Die Wahrheit zu verschweigen, führte früher oder später mit Sicherheit dazu.

Als er das Kuvert mit seiner Geschichte darin in den Briefkasten vor Helens Blumenladen geworfen hatte, war ein Gewicht von ihm abgefallen, ein Gewicht, das er schon vor vielen Jahren hätte abstossen sollen, gerade so wie im Spätwinter der Hirsch sein Geweih.

Seither wartete der Vollenweider auf die Antwort des Verlags.

Er wartete auf einen Buchvertrag.

Danach würde er wegziehen, ein Haus im Wald bauen. Nicht im Wald rund ums Dorf. In einem anderen Wald. Dort würde er mehr Geschichten schreiben. Vielleicht würde er bei einer seiner Lesungen eine Frau kennenlernen. Eine, die ihn San-dra vergessen machen liess.

Was für eine beglückende Vorstellung.

Was für eine beängstigende Vorstellung.

Vollenweiders linke Hand klimperte in der Jackentasche mit seinem Schlüsselbund, er tastete nach seinem Hausschlüssel, hielt ihn fest und dachte an die Geschichte.

Kapitel 1

Es war einmal ein Mädchen mit hellen Haaren. So hell, dass sie beinahe weiss waren.

Die Haare fielen ihm über den schmalen Rücken und weiter bis über den Gürtel. Augen und Wimpern einer Kuh hatte das Mädchen und einen Mund wie der Biss in reife Schauenburger Kirschen, süss und saftig.

Jeder Junge im Dorf hätte es gerne sein Eigen genannt. Doch das Mädchen interessierte sich nicht für die Buben. Das Mädchen interessierte sich für Zopffrisuren. Für Blumensträusse. Für die Katzen des alten Lyssers, die sich in allen Grössen und Musterungen im Dorf herumtrieben und sich gerne im Schoss des Mädchens räkelten.

Es war Februar 1984.

Ein halbes Jahr nachdem das Mädchen seine Lehre als Floristin angetreten hatte.

Einen Tag nachdem das Mädchen seinen sechzehnten Geburtstag gefeiert hatte.

Das Mädchen besuchte mit seinen Eltern den Unterhaltungsabend des Musikvereins. Der letzte Marsch war längst verklungen, da lockte einer der älteren Buben das Mädchen unter einem Vorwand aus der Turnhalle. Lockte es weg von der Wärme und weg von den Lichtern, die durch die Ritzen der mit Jalousien geschlossenen Fenster drangen.

Die Eltern dachten sich nicht viel dabei. Schliesslich war es ein ordentlicher Junge, der gerade seine Ausbildung als Elektriker abgeschlossen hatte. Die Rekrutenschule auch. Und überhaupt. Was hätten sie denn auch sagen sollen? Waren sie nicht auch so gewesen? Damals, als sie noch jung gewesen waren?

Der Junge zog das Mädchen ein Stück von der Turnhalle fort, aus deren Untergeschoss laute Musik nach oben drang. Er zog es unter ein nahegelegenes Vordach, das gestützt auf gelb bemalten Säulen den Eingang des Schulhauses vor Regen schützte.

Es regnete nicht an diesem Abend.

Dafür war es zu kalt.

Das Mädchen war mit dem Jungen mitgegangen.

Die Freundinnen des Mädchens waren alle schon nach Hause geschickt worden und die Eltern redeten nur über die Metzgerei und über die geschundenen Kühe, die auf dem Chellenmatthof ihr Dasein fristen mussten und für die der Bolzenschuss in die Schläfe einem Gnadenstoss gleichkomme.

Der Vollenweider hatte dieses Gespräch über den Chellenmatthof, den Hof seines Vaters, belauscht, als er leere Biergläser auf sein Servierbrett gestapelt hatte. Laut hatte er mit den Gläsern geklappert, in der Hoffnung, Sandra, die gelangweilt in ihrem Stuhl sass, würde ihn beachten.

Die Eltern fragten sich, wer einst ihr Geschäft übernehmen werde, wenn sie selbst einmal alt sein werden. Dies war dem Mädchen unangenehm, wusste es doch, dass seine Eltern sich wünschten, es würde in ihre Fussstapfen treten.

Doch das Mädchen wollte niemals in einer Metzgerei arbeiten.

Da liess es sich mitziehen von diesem Jungen. Es war zudem ein sehr beliebter Junge. Die Freundinnen des Mädchens schwärmten hinter vorgehaltener Hand von ihm.

Von seinen Augen, die in der Farbe des oberen Bachlaufs leuchteten.

Von seinen Wimpern, die an das spätsommerliche Gold eines Weizenfelds mahnten.

Von seinem Mund wie sanft geschwungene Jurahügel.

Da standen sie also, das Mädchen und der Junge, unter dem Vordach, das den Eingang zwar vor Regen, aber nicht vor neugierigen Blicken schützte.

Der Junge küsste das Mädchen.

Das Mädchen kicherte, entzog sich ihm. Wie ein Jo-Jo liess es sich einwickeln, bevor es zum Spass wieder zu entkommen versuchte, so weit der ausgestreckte Arm es liess.

Das Mädchen trug keine Jacke. Die hing über dem Stuhl in der Turnhalle neben den Eltern.

Der Junge umarmte das Mädchen.

»Damit du nicht frierst«, sagte er.

Das Mineralwasser war ausgegangen. Also hatte Beat den Vollenweider rausgeschickt, damit der eine Getränkekiste aus dem Gerätespeicher hole. Der Weg vom Turnhalleneingang hin zum Gerätespeicher führte über den Schulhausplatz. Erst auf dem Rückweg hatte der Vollenweider Max und Sandra entdeckt. Leise hatte er die Getränkekiste auf den Boden gestellt und zugeschaut.

Der Junge knetete die Brüste, die ihm nicht einmal die halbe Hand füllten.

»Nicht«, sagte das Mädchen und versuchte sich aus der Umarmung zu befreien.

Die hellen Haare flatterten ihm über den schmalen Rücken und über die Unterarme.

»Lass das.«

Der Junge lachte und küsste weiter.

Den Kirschenmund.

Die Kuhaugen.

Das rundliche, beinahe noch Kinderkinn.

Das Mädchen trug einen hellen Wollrock. Darauf gestickt eine einzige leuchtendrote Erdbeere.

Knielang vorne.

Hinten hochgerutscht bis über den Po.

»Nein«, sagte das Mädchen und versuchte sich aus dem Griff des Jungen zu befreien.

Der Junge lachte und klatschte sein Becken an den Hintern des Mädchens.

Er war es nicht gewohnt, dass man sich nicht für ihn interessierte. Schliesslich war er ein ordentlicher Junge. Gerade hatte er die Lehre als Elektriker abgeschlossen. Die Rekrutenschule auch.

Und überhaupt: Machten es nicht alle so?

Hier hätte die Geschichte zu Ende sein können. Sie hatte bereits vieles, was eine gute Geschichte ausmachte: einen Konflikt, ein gebrochenes Herz. Doch sie war noch nicht zu Ende.

Kapitel 2

Das war die Geschichte eines Mädchens mit hellen Haaren. So hell, dass sie beinahe weiss waren.

Weiss wie das Kleid, das sie im Altweibersommer 1984 trug.

Bodenlang hinten.

Vorne bis über die Knöchel hochgezogen durch den vorgewölbten Bauch.

Die Hand des Mädchens war trotz der sommerlichen Temperaturen kalt, als der ordentliche Junge danach griff, um ihm den dünnen Goldreifen über den Finger zu schieben.

Der Pfarrer stellte Fragen.

Sind Sie hierhergekommen, um nach reiflicher Überlegung und aus freiem Entschluss mit Ihrem Bräutigam den Bund der Ehe zu schliessen?

Das Mädchen hätte am liebsten Nein gesagt.

Stattdessen sagte es Ja.

Als sein Ehemann den Schleier lüftete, um es zu küssen, sog die Kirchgemeinde hörbar die Luft ein.

Sog der Musikverein auf der Empore hörbar die Luft ein.

Sog die Mutter der Braut in der ersten Reihe hörbar die Luft ein.

Das schleierlose Mädchen stand da mit kurzen dunklen Haaren. So dunkel, dass sie beinahe schwarz waren. Man hätte sie für einen Jungen halten können, wären da nicht die Brüste gewesen, jede nun eine gute Hand voll.

Bereits war Vollenweiders Haus in Sichtweite. Der Schäferhund seines Nachbarn erdrosselte sich beinahe, so sehr stemmte er sich in sein Halsband, strampelte japsend mit den Vorderbeinen in der Luft.

Der Grund wird eine Katze des alten Lyssers sein, die sich in allen Grössen und Musterungen im Dorf herumtreiben, dachte der Vollenweider. Die Katzen werden ihm nicht fehlen, wenn er das Dorf verlassen wird. Immerzu kackten sie auf seinen Rasen.

Er hörte das Trampeln schwerer Arbeitsschuhe hinter sich und im Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr. Dann wurde es dunkel.

Der Vollenweider roch Jute.

Der erste Schlag traf ihn in den Bauch. Er rang nach Luft und klang dabei wie der Schäferhund.

Der zweite Schlag ging in die Kniekehlen. Der Vollenweider sackte nach vorne.

Ein Faustschlag ins Gesicht. Ein Knacken, die Nase.

Hände drückten seine Kehle zu. Der Vollenweider rang nach Luft. Vor seinen Augen erschien das Bild seines Bruders, Andreas, wie er da gehangen hatte, am Balken im Heuschober. Die Füsse nur eine Handbreit über dem Boden, die Zehen wie im Tanz gestreckt. Das Gesicht blau und aufgeschwollen. Die Augen von den zu langen Fransen verdeckt, Gott sei Dank.

Der Vollenweider wand sich.

»Pass auf, Hundesohn. Wir wissen, was du da treibst. Lass es. Hörst du? Lass es!«, keuchte ihm eine Stimme ins Ohr. Er kannte die Stimme. Es war die Stimme von Max.

Irgendwo hinter ihm zwei weitere Stimmen. Eine davon gehörte dem Tschudin.

Die Hände um Vollenweiders Hals lösten sich.

Noch ein Faustschlag. Die Haut unter der Augenbraue riss.

Die schweren Schuhe entfernten sich rasch in die Richtung, aus der der Vollenweider hergekommen war. Hätte in diesem Augenblick jemand aus dem Fenster und auf die Strasse geschaut, etwa weil er hätte nachsehen wollen, warum der Schäferhund des alten Imhofs wie ein Satan tobte, dann hätte der den Vollenweider gesehen, mitten auf der Strasse und auf allen vieren.

Auf dem Sack über dem Kopf ein erdbeerroter Fleck.

Vielleicht schaute tatsächlich jemand.

Im Dorf gab es immer einen, der schaute.

Der Vollenweider zog sich den Sack vom Kopf und humpelte zur Haustür. Er brauchte mehrere Anläufe, bis er den Schlüssel ins Schloss versenken konnte.

Im Gästeklo spie er ins Waschbecken, zog eine Handvoll Klopapier von der Rolle und liess sich mit Schuhen und Jacke bekleidet in den Sessel im Wohnzimmer fallen. Da sass der Vollenweider und presste den Papierklumpen abwechselnd auf den klopfenden Schmerz über seinem Auge und unter die blutende Nase. Das einzige Licht, das seine Dunkelheit durchlässig machte, fiel von aussen durch das Wohnzimmerfenster. Beim Freddy nebenan brannte noch Licht. Wieso war der Dummkopf noch nicht im Bett?

Vollenweiders Kopf fiel zurück ins Polster.

Man hatte ihm einen Denkzettel verpasst.

Der Grund dafür, daran zweifelte der Vollenweider nicht, war die Geschichte, die er in ein gelbes Kuvert gesteckt und durch den Briefschlitz vor Helens Blumenladen geschoben hatte.

Hatte ihn Sandra verpfiffen, nachdem sie das letzte Mal bei ihm gewesen war? Wie lange war das jetzt her? Anfangs Dezember musste das gewesen sein, die Frau des alten Imhofs hatte bereits die Lichterkette um die Fensterläden drapiert. Damals war der Vollenweider nur kurz im Bad gewesen, um sich zu erleichtern und zu säubern. Sandra zog sich unterdessen an. Die Vorhänge waren geschlossen, wie immer bei ihren seltenen Treffen. Nur vom Schlafzimmer her fiel Licht ins Wohnzimmer. Im Halbdunkel fuhr Sandra mit dem Zeigefinger über die Bücher in seinem Gestell. Sämtliche Werke von Gottfried Keller, zehn Bände. Bücher über den Anbau und die Pflege von Kernobst sowie ein Kompendium über die heimische Forstwirtschaft. Noch Wochen nach ihrem Weggang konnte der Vollenweider die Spuren ihrer Fingerspitzen in der staubigen Schicht auf seinem Bücherregal sehen. Seine Haut sehnte sich nach diesen Spuren.

Sandra fegte Kekskrumen vom Schreibtisch auf den Boden.

Sie stupste die Maus neben seinem Computer an.

Als der Vollenweider aus dem Bad kam, nackt, stand Sandra unter dem ausgestopften Hirschkopf. Im Licht des Bildschirms sah sie blass aus.

»Wie konntest du nur«, fragte sie und zeigte auf den Bildschirm, wo ihm sein Manuskript entgegenflimmerte. Obwohl, ein Manuskript war es da noch gar nicht gewesen. Er hatte zu diesem Zeitpunkt nicht vorgehabt, den Text zu veröffentlichen. Er wusste ja, dass er Sandra vor den Kopf stossen, sein Verhältnis mit ihr gefährden würde, wenn er zugab, dass er vor mehr als dreissig Jahren zugesehen hatte, was ihr widerfahren war. Zugesehen hatte, aber nicht eingeschritten war.

An diesem Abend anfangs Dezember letzten Jahres schrieb er lediglich eine Geschichte, nur für sich.

Es war die Geschichte vom Unterhaltungsabend 1984.

Er schrieb sie nicht zum ersten Mal, diese Geschichte. Er hatte sie schon zwanzig, vielleicht dreissig Mal abgefasst, ausgedruckt und abgeheftet.

Er hielt sich beim Schreiben akribisch an seine Erinnerungen.

Dennoch war keine dieser Geschichten gleich wie die andere.

Meist waren es nur Details, die sich änderten. Hatte Sandra in der letzten Version noch einen weissen Wollrock getragen, war er nun überzeugt, dass es ein weisser Wollrock mit einer roten Erdbeere darauf gewesen war.

In einer der ersten Versionen war er sich sicher gewesen, Sandra unter dem Vordach des Schulhauses laut lachen gehört zu haben. Davon fand sich heute nichts mehr in seiner Erinnerung und auch nichts mehr in seinem Text.

Geschichten veränderten sich mit der Zeit.

Vielleicht konnte er deshalb nicht aufhören, dieselbe Geschichte immer und immer wieder zu schreiben.

Vielleicht hoffte er, dass sie eines Tages eine andere Wendung nahm.

Dass er irgendwann aus seiner Erstarrung erwachte, die Getränkekiste beiseitestiess und einschritt.

Dass er Sandra zu Hilfe eilte.

Der Vollenweider hatte bis zum Moment an der Geschichte gearbeitet, als Sandra bei ihm geklingelt hatte. Er hatte nicht mit ihr gerechnet. Er rechnete nie mit ihr und hoffte dennoch immer auf sie. Seit bald fünfzehn Jahren trafen sie sich heimlich. Und obwohl sie gerne und viel miteinander sprachen, wenn sie danach nebeneinander im Bett lagen, sprachen sie nie über diese eine Nacht im Februar 1984.

In all den Jahren hatte er es nie geschafft, ihr zu sagen, dass er wusste, was damals passiert war.

Dass er es wusste, weil er danebengestanden hatte.

Dass er wünschte, es wäre damals alles anders gewesen.

Er wäre anders gewesen.

Jetzt war es zu spät.

»Wie konntest du nur«, sagte Sandra tonlos.

Der Vollenweider stand da, die Hände in einem plötzlichen Gefühl von Scham vor dem Geschlecht platziert, und fragte sich, was sie wohl meinte:

Wie konntest du nur damals einfach so dastehen und zusehen?

Wie konntest du nach all dieser Zeit an dieser Geschichte rühren?

Fragen konnte er Sandra nicht mehr. Sie hatte sich bereits zum Gehen umgewandt. Grusslos war sie ein letztes Mal durchs Gartentor geschlüpft und verschwunden. Wo war sie danach hingegangen? Zu Max? Unwahrscheinlich. Zum Tschudin? Vielleicht. Direkt zu Beat? Der hatte den Brief mit Sicherheit abgefangen. Helen musste ihrem Mann von seinem gelben Kuvert erzählt haben.

 

Der Vollenweider rutschte noch ein Stück tiefer in den Sessel. Der ausgestopfte Hirschkopf an der Wand über dem Tisch glotzte ihn unverwandt an. Der Vollenweider versuchte vergeblich, dem Blick standzuhalten. Er wusste mit der gleichen Sicherheit, wie er wusste, dass sein Nasenbein gebrochen war: Es würde keine Antwort vom Verlag eintreffen.

Es würde keinen Buchvertrag geben.

Kein neues Leben wartete auf ihn.

Und auch keine Frau, die ihn Sandra vergessen machen liess.

Alles würde beim Alten bleiben.

Was für eine beängstigende Vorstellung.

Was für eine beglückende Vorstellung.

Erst war es nur ein Glucksen, ein Kichern, das aus seiner Brust aufstieg wie Pilzsporen nach einem Sommergewitter. Dann schüttelte es ihn. Der Vollenweider lachte. Er rang nach Luft. Von der unverletzten Gesichtsseite wischte er sich die Tränen.

Das Licht im Nachbarhaus erlosch.

Jetzt sass der Vollenweider in vollkommener Dunkelheit.

Freddy

Vorsichtig durchbohrte Freddy den roten Chitinpanzer eines Lilienhähnchens mit der Stecknadel – blauer Stecknadelkopf für Fundort Dorf – und drückte die Nadelspitze, die unten aus dem Käferbauch herausragte, in die Oberseite eines Korkzapfens. Er versicherte sich, dass der zappelnde Käfer fest auf seinem Sockel stand und trat einen Schritt zurück.

»Nummer siebenhundertachtundzwanzig«, grunzte Freddy zufrieden. »Die Doppelten nicht mitgezählt.«

Freddy sammelte Käfer.

In der Schweiz gab es rund sechstausendfünfhundert Käferarten. Marienkäfer, Kartoffelkäfer und Feuerwanzen fand Freddy auf der Bündte oder im Garten hinter dem Haus, wo das Unkraut seit dem Tod der Mutter vor drei Jahren die Steinplatten des Gehwegs angehoben und schief angeordnet hatte. In den Wäldern rund ums Dorf lebten Borkenkäfer, Laufkäfer und Balkenschröter. Und einmal hatte er im Eichenhain einen Eichenbockkäfer gefunden. Der stand auf der Liste der bedrohten Arten. Ein Glücksfund. Ein beeindruckender Cheib, schwarzbraun, gut fünf Zentimeter lang, mit zwei fingerlangen knubbligen Fühlern. Der Käfer war schon tot gewesen, als Freddy ihn entdeckt hatte. Da er noch gut erhalten gewesen war, hatte Freddy ihn trotzdem in seine Sammlung aufgenommen.

Auf der Suche nach Käfern, die ihren Lebensraum ausserhalb des Dorfes hatten, borgte Freddy sich ab und an eine Tageskarte im Gemeindebüro und reiste mit dem Zug in die Voralpen oder den Jura, selten wagte er sich weiter. So hatte er auch den pechschwarzen Juchtenkäfer gefunden, dessen Larven sich jahrelang durch morsches Holz frassen. Hatte sich die Juchtenkäferlarve verpuppt und war der Käfer geschlüpft, starb der schon nach wenigen Tagen. Eine Laune der Natur. So wie Freddy.

Eine Handvoll seltener Käfer hatte Freddy zudem an der Käfermesse gekauft, die einmal im Jahr in der Stadt ihre Tore öffnete. Etwa den Alpenbock mit seinen blau und schwarz gestreiften Fühlern und – seine neueste Errungenschaft – den flugunfähigen Erdbockkäfer.

Der Erdbockkäfer kam in der Schweiz nur noch an vier Orten vor. Einer dieser Orte war ein flussnaher Park mitten in der Stadt. Aus den Eiern, die das Weibchen unter ausgewählte Gräser legte, schlüpften nach wenigen Wochen winzige Larven, die sich bald in den Boden zurückzogen, wo sie die folgenden Jahre Graswurzeln frassen. Nach mehreren Häutungen verpuppten sich die Larven und drei Wochen später schlüpften die ausgewachsenen Käfer. Den Winter hindurch blieben sie unter der Erde, bis die wärmenden Sonnenstrahlen sie im Frühling hervorlockten.

Freddy liebte solche Geschichten.

Freddy liebte Käfer.