Wie der Hase läuft - Rebekka Salm - E-Book

Wie der Hase läuft E-Book

Rebekka Salm

0,0
20,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Amsterdam, 1943: In einer Bäckerei fällt ein Schuss, hinter dem Tresen stirbt ein junger Mann. Seine Witwe, fast noch ein Kind, flieht in die Schweiz. Fünfzig Jahre später verlässt im Basler Hinterland ein Familienvater Frau und Kind, in der gleichen Nacht liegt eine Frau zwischen zwei Dörfern tot am Strassenrand. Jahrzehnte später begegnen Teresa und Mirco einander. Sie verlieben sich und versuchen sich an ihre Kindheit zu erinnern, die geprägt war von Verlust und Schweigen. Mirco hat Angst, dass die Vergangenheit sich wiederholt, wenn man sie nicht ruhen lässt. Aber Teresa begibt sich auf Spurensuche und erschafft Stück für Stück ihre gemeinsame Geschichte. In ihrem neuen Roman entfaltet Rebekka Salm ein Panoptikum aus Geschichten und Erinnerungen zweier Familien, die sich nicht erinnern wollen – und die doch, ob's ihnen gefällt oder nicht, Teil einer grossen Erzählung sind.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 230

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

Für Rebecca, die an meiner Seite ist, egal wie viele Haken das Leben schlägt

 

Inhalt

Über das Buch

Teresa 2022, Stadt

Emma 1943, Amsterdam

Teresa 2022, Amsterdam

Mirco 2022, Amsterdam

Mirco 1997, Berg

Teresa 2022, Stadt

Teresa 1991, Dorf mit den alten Eichen

Mirco 1988, Kleedorf

Emma 1946, Dorf mit den alten Eichen

Teresa 2022, Stadt

Frank 1992, zwischen den Dörfern

Mirco 1987, Kleedorf

Wede 1943, Amsterdam

Teresa 2022, Stadt

Muriel 1976, Dorf mit den alten Eichen

Emma 1989, Kleedorf

Teresa 2022, Stadt

Frank 1960, Rebdorf

Wede 1943, Amsterdam

Frank 1982, Stadt

Teresa 1991, Dorf mit den alten Eichen

Teresa 2018, Berg

Mirco 1992, Stadt

Teresa 2022, Stadt

Emma 1976, Kleedorf

Teresa 2018, Dorf mit den alten Eichen

Muriel 1992, zwischen den Dörfern

Teresa 2022, Stadt

Frank 2009, Stadt

Teresa 2022, Stadt

Muriel 1974, Dorf mit den alten Eichen

Teresa 2022, Stadt

Louise 2018, Dorf mit den alten Eichen

Teresa 2022, Stadt

Über die Autorin

 

Über das Buch

Amsterdam, 1943: In einer Bäckerei fällt ein Schuss, hinter dem Tresen stirbt ein junger Mann. Seine Witwe, fast noch ein Kind, flieht in die Schweiz. Fünfzig Jahre später verlässt im Basler Hinterland ein Familienvater Frau und Kind, in der gleichen Nacht liegt eine Frau zwischen zwei Dörfern tot am Strassenrand.

Jahrzehnte später begegnen Teresa und Mirco einander. Sie verlieben sich und versuchen sich an ihre Kindheit zu erinnern, die geprägt war von Verlust und Schweigen.

In ihrem neuen Roman entfaltet Rebekka Salm ein Panoptikum aus Geschichten und Erinnerungen zweier Familien, die sich nicht erinnern wollen – und die doch, ob’s ihnen gefällt oder nicht, Teil einer grossen Erzählung sind.

«Spannend und sehr raffiniert gebaut. Rebekka Salm ist eine der talentiertesten Autorinnen der Schweiz.»

Katja Schönherr, Literaturredaktorin SRF

«Rebekka Salm hat ein absolut tolles Gefühl für Dramaturgie, Aufbau, Erzählökonomie. Sie schreibt gute Dialoge und hält wunderbar die Spannungsfäden zusammen bis zum Ende.»

Elke Heidenreichüber das Debüt Die Dinge beim Namen

 

Teresa 2022, Stadt

Das beharrliche Ticken der Standuhr ist der Herzschlag der Brockenstube. Vor etwa zwei Jahren hat sie jemand bei uns abgegeben. Die Glasscheibe ist stumpf und das Messingpendel mit Grünspan bedeckt, aber die Mechanik funktioniert einwandfrei. Jeden Montag, bevor Karrers Brockenstube öffnet, stecke ich den Aufziehschlüssel in die Öffnung im Ziffernblatt und ziehe das Uhrwerk auf. Acht Umdrehungen reichen. Stimmt die Uhrzeit nicht mit derjenigen auf meinem Handydisplay überein, schiebe ich die erlahmten Zeiger an die richtige Stelle im Stundenkreis. Sie leisten Widerstand wie zwei trotzige Kinder.

Hinter der Standuhr wühlt die einzige Kundin an diesem Nachmittag im Korb mit dem Silberbesteck. Ich wische Staub von einer Auswahl antiker Küchengeräte auf dem Tisch neben der Kasse. Ein Mörser mit Stössel. Eine Kaffeemühle. Eine Küchenwaage aus Eisen mit schwarzem Ziffernblatt, die einst Mehl gewogen hat, Zucker, Gerste. Heute wiegt sie nur noch den Staub, der sich auf ihr absetzt.

Möbel werden angeliefert. Hausräumung. Ein Schaukelstuhl. Kommoden. Ein Schrank aus dunklem Holz, fast schwarz, mit goldenen Schlössern und abgebrochenem Schlüssel. Einiges davon ist antik, das meiste nur alt.

Seit drei Jahren bin ich in Karrers Brockenstube tätig.

Davor habe ich in der Schadenabteilung einer Versicherung gearbeitet.

Menschen riefen an, berichteten, wie ihr Gitarrenkoffer samt Inhalt, einer Hopf Meistergitarre, aus dem Auto gestohlen worden war, auf der Autobahnraststätte Neuenkirch-Ost an der A2 in Richtung Süden, wo sie nur hatten pinkeln wollen, einen doppelten Espresso trinken, um wach zu bleiben für den restlichen Weg ans Meer, Südfrankreich oder Italien, im Radio die alten Hits, «Don’t let me down» vielleicht.

Oder wie die Enkeltochter das Rad geschlagen hatte, noch vor dem sonntäglichen Mittagessen, Zürcher Geschnetzeltes, dazu Wein, ein Weissburgunder, nur ein Glas selbstverständlich, im Wohnzimmer, wie sie dabei von der Bahn abgekommen war und mit dem Fuss die Vase im Biedermeier-Stil vom Beistelltisch gefegt hatte, ein Erbstück der Schwiegermutter, nicht schön anzusehen, zugegeben, unbezahlbar aber ihr emotionaler Wert.

Ich hörte zu. War die Geschichte gut, löste ich eine Zahlung aus.

Gut im Sinne von glaubhaft.

Tausendzweihundert Franken für eine gestohlene Gitarre.

Zweitausendachthundert Franken für eine kaputte Vase.

Ich kenne die Statistik. Zehn Prozent der Schadenzahlungen im Schadenversicherungsgeschäft beruhen auf Betrug. Mindestens. Bei einem Schadenaufwand von rund sieben Milliarden Franken in diesen Bereichen, ganze Schweiz, macht das jährlich siebenhundert Millionen. Geklaute Autobahngitarren, zerdepperte Schwiegermuttervasen – die Leute erzählten mir das Blaue vom Himmel herunter am Telefon.

Im Gegensatz zu den Arbeitskollegen störte ich mich nicht daran.

Die Wahrheit ist auch nur ein Märchen, an das alle glauben.

Als mein Vorgesetzter mir bei einer Reorganisation nahelegte, in die Administration zu wechseln, kündigte ich. Seither arbeite ich in Heinz Karrers Brockenstube am Rand der Altstadt.

Der Chef sitzt den ganzen Tag in seinem Büro. Er tippt Zahlen in Excel-Tabellen. Dabei blickt er über den Rand seiner Lesebrille, die, wenn er sie nicht gerade auf der Nase trägt, an einer goldenen Kette um den feisten Nacken hängt. Ab und an erhasche ich einen Blick auf die Internetseiten, die er wegklickt, wenn ich den Kopf durch die Tür strecke. Die Damen auf dem Bildschirm sind so jung, dass sie seine Enkelinnen sein könnten, wenn er welche hätte. Aber für Enkelinnen fehlen ihm die Kinder, und für die wiederum die Frau.

Den Laden überlässt Heinz Karrer mir, seiner einzigen Angestellten. Ich nehme Anlieferungen entgegen, arrangiere Möbel, hänge Preisschilder an Schrankschlüssel, Nachthafenhenkel und Puppenarme, staube ab und bediene die Kundschaft. Ähnlich wie in der Schadenabteilung geht es in der Brockenstube um Gebrauchtwaren. Und um Geschichten, für die es im besten Fall Geld gibt.

Hundertfünfzig Franken für das Küchenbuffet, Kiefer massiv, Kratzspuren auf der Geschirrablage, vermutlich von einer rolligen Katze, könnten aber auch Fingernägel gewesen sein. Frühes neunzehntes Jahrhundert. Stammt aus dem Pfarrhaus eines Dorfs zehn Kilometer vor der Stadt, ein Wallfahrtsort. Die Pfarrköchin, geistig zurückgeblieben, aber fleissig, soll zwei uneheliche Kinder geboren haben, Vater unbekannt.

Achtzig Franken für die Wanduhr, die einst im Wohnzimmer eines Chemiearbeiters hing und um drei Uhr dreiundvierzig stehen blieb, also exakt zu dem Zeitpunkt, als die Sirenen die Bevölkerung weckten und vor den Verbrennungsgasen warnten, die der Ostwind durchs geöffnete Wohnzimmerfenster wehte und bei über tausend Personen Reizungen der Atemwege verursachten, auch bei besagtem Chemiearbeiter, womit er besser wegkam als die Fische, Aale und Salmoniden, die zu Tausenden mit dem Bauch nach oben rheinabwärts schwammen.

In der Brockenstube gibt es zwei Arten von Kunden.

Diejenigen, die in den Laden stürmen, weder nach links noch nach rechts blicken und überzeugt sind, sie brauchen keine Hilfe bei der Suche nach dem einen Waschzuber, den sie als Wunschbild seit Tagen in ihrem Kopf herumtragen. Sie nenne ich die Stürmer.

Die anderen sind die, die sich mit vorsichtigen Schritten in den Laden hineintasten, als hätten sie sich auf dem Weg zum Bahnhof verirrt, und sich staunend umsehen. Sie wollen nichts kaufen. Sie wollen nur schauen. Sich die Zeit vertreiben. Wunschbilder erzeugen, die sie dann ein paar Tage lang im Kopf herumtragen, bevor sie zurück in die Brockenstube stürmen, nicht nach links, nicht nach rechts blicken. Das sind die Zögerer.

Frage ich, ob ich helfen kann, antworten sowohl der Stürmer als auch der Zögerer, man schaue bloss. Und dann schauen sie überall hin, bloss nicht zu mir. Ziehe ich mich zurück, erinnert sich keiner der beiden an die Verkäuferin mit Brille und rotblonden Locken, die sie auf dem Oberkopf zu einem unordentlichen Knoten zusammenbindet und deren Mundwinkel immer leicht nach unten zeigen, auch wenn sie zufrieden ist oder zumindest nicht traurig. Sie werden sich weder an mein Gesicht noch an meinen Namen erinnern, der auf dem Schild an meiner Brust steht.

Die Kunst ist es, sich nicht abwimmeln zu lassen. Die Stürmer zu überzeugen, dass der Waschzuber, den ich im Angebot habe, zwar nicht der Gleiche ist wie auf dem Bild in ihrem Kundenkopf, dass er aber mindestens so schön, wertvoll, passend ist. Dabei hilft der Hinweis, dass in besagtem Waschzuber an Wintertagen Ende des vorletzten Jahrhunderts neben dem Ofen in der dunklen Bauernstube, unweit von hier, Kinder gewaschen wurden. Mit rauen Händen und noch raueren Lappen. Und dass eines dieser Kinder der einzige Literaturnobelpreisträger gewesen ist, den das Land je hervorgebracht hat, sieht man von dem anderen ab, der gebürtiger Deutscher war.

Den Zögerern muss man klarmachen, dass sie den Esstisch zwar im Moment nicht unbedingt brauchen, es aber, wenn sie ehrlich sind, bitter bereuen würden, wenn jemand anderer ihnen das Möbelstück vor der Nase wegschnappte. Und das könne bei einem Tisch wie diesem, an dem im Januar 1934 ein Banküberfall in der Altstadt geplant wurde, der zwei tote Bankangestellte zur Folge hatte und eine Verfolgungsjagd, wie sie die Stadt noch nie gesehen hatte, eine Liebesgeschichte inklusive, Dorli Schupp hiess die Angebetete, eine Schallplattenverkäuferin, schon sehr bald geschehen.

Sowohl der Stürmer als auch der Zögerer geben ihren Widerstand erst auf, wenn ich zu erzählen anfange. Nicht der Preis überzeugt sie, kein Hinweis auf Alter und Qualität der Ware. Es ist die Geschichte, die den Ausschlag gibt, die Geschichte, die aus der Brockenstube hinaus- und in eine andere, bessere Zeit hineinführt. Die dem Trödel etwas verleiht, das über Gebrauchsspuren hinwegtäuscht: Bedeutung.

Nicht selten verabschieden sich die Waschzuberkäufer und die Tischkäufer mit Handschlag.

Vielen Dank, Frau Köhler, auf Wiedersehen.

Bis zum nächsten Mal, Frau Köhler.

Und so frage ich mich, ob ich es bin, die Geschichten erschafft, oder ob umgekehrt die Geschichten mich erschaffen.

Mirco lacht, wenn ich ihm von diesen Gedanken erzähle. Blödsinn sei das. Geschichten könnten im besten Fall unterhalten, das Geschäft ankurbeln, die Zeit vertreiben, mehr aber auch nicht.

Das beruhigt mich. Eine Weile zumindest, bis die Zweifel zurückkommen wie ein Juckreiz zwischen den Schulterblättern, wo man sich selbst keine Linderung zu verschaffen vermag.

 

Emma 1943, Amsterdam

Ansichtskarte, Foto und der schmale, goldene Ring. Emma de Vries zog ihre Hand aus der Tasche, die in das Innenfutter ihres Filzmantels genäht war, und liess sich zurück in den Sitz fallen. Das Schaukeln des Zugabteils und das Rattern über Schienen und Holzschwellen hatten sie eingelullt und schläfrig gemacht. Sie hatte geträumt, dass Cees bei ihr gewesen war. Er hatte sich auf den Sitz neben sie gesetzt und den Arm um sie gelegt. Emma hatte sich an ihn geschmiegt und sich gewünscht, er würde ihr eine Geschichte erzählen, so wie er es immer getan hatte, wenn sie sich fürchtete.

Seit dem Überfall der Deutschen im Mai 1940 hatten Kampfstiefel Emmas Schlaf zertrampelt. Deutsche Kampfstiefel unterschieden sich von den Kampfstiefeln der eigenen Soldaten dadurch, dass sie nach zweiundzwanzig Uhr noch zu hören waren. Die Sperrstunde galt nicht für die Besatzer. Und während sie dalag und auf das Anschwellen und Abklingen des Stiefelstakkatos lauschte, auf das Heulen der Sirenen, begann Cees zu erzählen. Von seiner Kindheit, die er mit der grossen Schwester Lieke im von Efeu überwachsenen Pfarrhaus von Enkhuizen verbracht hatte. Von seiner Stummente Snarl, die ihm bis ins Schulzimmer gefolgt war und sich während des Unterrichts unter sein Pult gelegt hatte, den Schnabel ins Gefieder gesteckt, die Augen im nacktroten Gesicht geschlossen. Snarl, die eines Nachts der Fuchs geholt hatte und deren verbliebene Federn Cees eingesammelt und von Blut gereinigt hatte. Wie er sich damit über die geschlossenen Augen, Wangen und Unterarme gestreichelt und sich dabei vorgestellt hatte, ein Engel streife ihn mit den Flügeln. Mutter vielleicht oder Vater, die beide bei einem Strassenbahnunglück ums Leben gekommen waren. Schnee und Eis hatten den Wagon entgleisen lassen, da war Cees dreizehn Jahre alt gewesen. Danach hatte sich Lieke um ihn gekümmert. Sie hatte für ihn gekocht und seine Kleider gewaschen. Und wenn er nachts weinend im Bett lag, hatte sie sich zu ihm gesetzt und gesungen. «Daar wordt aan de deur geklopt – da wird an der Tür geklopft». Ein Lied, das Kinder im Dezember sangen, wenn Sinterklaas von Haus zu Haus zog und die vor den Kamin gestellten Stiefel mit Süssigkeiten füllte. Sommer wie Winter sang Lieke dieses Lied für ihren kleinen Bruder.

So eine Geschichte hätte sich Emma gewünscht. Doch Traum-Cees hatte geschwiegen. In der Hoffnung, sie könne wenigstens seinen Herzschlag hören, hatte Emma ihr Ohr auf seine Brust gedrückt. Aber ausser dem atemlosen Ra-ta-tam des Zuges hatte sie nichts gehört.

Cees’ Herz hatte immer eine Spur zu schnell geschlagen. Auch wenn er im Bett gelegen und geschlafen hatte, hatte es geklungen, als wäre er gerade eben die Sternstraat hinab von der Bäckerei bis nach Hause gerannt. Wenn niemand in der Nähe war, nannte Emma ihren Mann Hasenherz. Cees mochte diesen Kosenamen nicht. Hasenherz. Das klinge nach jemandem, der bei der kleinsten Gefahr hakenschlagend das Weite sucht. Der sich lieber in eine Grube duckt, anstatt sich zur Wehr zu setzen. Emma winkte ab. Sie wusste, dass Cees kein Feigling war. Er war besonnen, das ja. Er suchte keinen Ärger, aber er scheute ihn auch nicht, wenn er das Gefühl hatte, dass jemandem Unrecht getan wurde. Seit Beginn der Razzien und der im Flüsterton gehörten Radiomeldungen über Gaskammern in Grossdeutschland hatte Cees in seiner Bäckerei Juden versteckt. Immer nur ein, zwei Tage lang. Für längere Aufenthalte eignete sich das Gebäude in der Amsterdamer Innenstadt nicht, das lediglich aus einer Backstube, einem Verkaufsraum und einem winzigen Lager bestand. Das Klo stand im Hinterhof. Ein mit Flechten übersätes Backsteinhäuschen mit verzogener Holztür, die jedes Mal ächzte, wenn man sie aufmachte. Die Gefahr war zu gross, beim Toilettengang von Nachbarn entdeckt zu werden. Hinter den gerafften Vorhängen wohnte gleichermassen Freund und Feind.

Cees schimpfte Hitler einen «klootzak» und weigerte sich, deutsche Soldaten zu bedienen. Auch Emma mochte die Moffen nicht, wie sie die Deutschen hinter vorgehaltener Hand nannten. Doch es war niemandem geholfen, wenn die ihnen das Schaufenster der Bäckerei einschlugen. Darum blieb Emma freundlich. Dass die Soldaten von ihr angetan waren, half ebenfalls. Von ihrer Taille und den Waden, die unter ihrer gestärkten Schürze hervorlugten, von ihrem Bauch, der flach war wie ein Backblech. Sie hatte Haare wie Schwarzbrot, fest und dunkel, und den schläfrigen Blick der Marlene Dietrich. Ab und an brachte einer der Soldaten etwas mit, das auf dem Markt kaum mehr zu kriegen war: echten Kaffee, nicht das Surrogat, oder eine Zigarette. Dann bedankte Emma sich mit einem Augenaufschlag und steckte ihm im Gegenzug einen extra Krentenbollen in die Papiertüte.

Manchmal hatten sie Kinder hinten in der Backstube versteckt. Dann begann Cees zu singen, wenn die Glocke über der Ladentür bimmelte. Kindergetuschel, das Poltern schwerer Soldatenstiefel, alles ging unter im Refrain von «Daar wordt aan de deur geklopt». Dass er die hohen Töne nicht traf, war egal. Die Moffen nannten ihn den singenden Bäcker.

Nein, Cees war kein Feigling. Er hatte das Herz eines Löwen. Nur schlug es dafür zu schnell.

Hatte zu schnell geschlagen.

Cees war tot.

Dieser Deutsche hatte ihn erschossen. Vor elf Wochen und fünf Tagen.

Überall war Blut gewesen. Blut auf seinem Bäckerschurz, Blut auf dem Boden, Blut auf den von den Hiesigen verabscheuten dunklen Broten, die man nur auf Geheiss der Besatzer buk. Cees am Boden.

Emma hatte seine Hand gehalten. Die Hand mit dem schmalen goldenen Ring.

Den Ring hatte sie am nächsten Tag im Leichenschauhaus von einer geschäftigen Dame mit Hornbrille überreicht bekommen, zusammen mit Cees’ Schuhen. Auf die Kleider, die voller eingetrocknetem Blut waren, hatte Emma verzichtet.

Wie er so dagelegen hatte in seinem Holzsarg, die Haut von der Farbe eines Milchbrots, war es ihr vorgekommen, als sei er schrecklich erschöpft. Als sei der Weg in den Tod lang und beschwerlich gewesen und nicht bloss ein Knall, ein Staunen im Blick und ein Aufprall auf dem mehlbestäubten Boden. Es hatte kaum länger gedauert als ein Blinzeln, an dessen Ende Cees’ Augen geschlossen geblieben waren.

«Bitte sag was», hatte Traum-Emma gebettelt und an Cees’ Pullunder gezogen. Der Zug hatte sich in einer Kurve geneigt. Die Zeitung, die eingespannt im hölzernen Halter an der Gepäckablage hing, hatte vor ihrem Gesicht hin und her gebaumelt, als würde sie eine Frage verneinen, die Emma gar nicht gestellt hatte. Dann war Traum-Cees aufgestanden, hatte sie auf den Scheitel geküsst und war durch die Schiebetür des Zugabteils verschwunden. Sie hatte ihm hinterherrufen, ihn aufhalten wollen, aber es war kein Laut aus ihrer Kehle gekommen und ihr Hintern hatte am Polster geklebt wie Brotteig in einem schlecht bemehlten Gärkorb.

Dann war Emma aufgewacht. Ihr gegenüber sass eine ältere Dame und musterte sie über den Rand ihres Buchs hinweg mit strengem Blick. Emma wandte sich ab und schaute aus dem Fenster. Äcker und Wiesen zogen vorbei, nackte Sträucher und Bäume, vereinzelt Häuser und Ställe mit eingefallenen Ziegeldächern, wie in besseren Zeiten hingeworfen und irgendwann vergessen. Alles schien mit Mehlstaub überzogen. In wenigen Tagen war Weihnachten. Cees’ Schwester Lieke hatte Emma angeboten, die Feiertage gemeinsam zu verbringen. Doch Emma wusste, dass Lieke kaum genug für sich und die Kinder hatte.

Nicht genug Geld.

Nicht genug Kraft.

Bahnhofsgebäude zogen vorbei, ohne Rauchwolken über den Schornsteinen, als hielten sie den ganzen Winter durch den Atem an. An Bahnübergängen verharrten Schranken im lautlosen Gruss an den Führer. Krähen flogen auf, erhoben sich träge in den bleiernen Himmel. Ansonsten schien die Welt leblos, eingefroren wie das Bild auf der Leinwand, wenn der Film riss.

Cees und Emma hatten sich im Kino kennengelernt.

Emma war an einem Sonntagnachmittag im September 1941 mit einer Freundin im Amsterdamer Ufa-Kino am Rembrandtplein gewesen, mit den samtroten Sitzen und dem abgebröckelten Stuck an der Decke. Es lief «Hauptsache glücklich» mit Heinz Rühmann. Ein alberner Film. Gerade als die beiden Hauptdarsteller erfuhren, dass die von ihnen erst geliehene und dann verlorene Brosche ein Vermögen wert war, gefror das Bild auf der Leinwand und im Saal gingen die Lichter an.

«Wussten Sie, dass der Film jedes Mal, wenn er reisst, durch das Kleben ein Stück kürzer wird?»

Der Mann, der Emma angesprochen hatte, sass zu ihrer Linken. Er war so gross, dass sie Mitleid hatte mit der Person, die das Pech hatte, den Platz hinter ihm erwischt zu haben. Seine Haare waren blond und millimeterkurz geschnitten, die Augen blau. Die Schneidezähne standen schief und wenn er schluckte, hüpfte sein Adamsapfel auf und ab. Die Schuhe, die kaum Platz fanden zwischen den Sitzreihen, waren zerkratzt und an zwei Stellen blitzten die Socken durchs aufgeplatzte Leder.

«Und wie oft muss dieser Film noch reissen, bis er endlich verschwunden ist?», fragte Emma.

Der Fremde lachte und streckte ihr die Hand hin.

«Mein Name ist Cees.»

Elf Monate später hatten sie geheiratet.

Das Licht vor dem Zugfenster schien nicht zu wissen, ob es Nacht oder Tag werden wollte. Die Glühbirnen im Abteil verströmten ein müdes Gelb. Emma zog den Ring aus ihrer Manteltasche. Sie probierte ihn an all ihren Fingern an. Das Gold war kühl und abweisend, wie es auch Cees gewesen war, als sie im Krematorium an der Pienemanstraat von ihm Abschied genommen hatte. Sie konnte die Gravur auf der Innenseite des Rings lesen, ohne ihn vom Zeigfinger abstreifen zu müssen. «Voor altijd» stand darin. «Für immer». Und das Datum ihrer Hochzeit. Natürlich hatte Emma gewusst, dass «Für immer» nur eine Metapher für eine sehr lange Zeitdauer war. Fünfzig Jahre. Vielleicht mehr. Aber dreizehn Monate, das wusste Emma bestimmt, war weit entfernt von einer Ewigkeit. Sie fühlte sich betrogen. Von Gott. Nicht dass Emma an ihn glaubte, aber für einen Irrtum in dieser Grössenordnung konnte niemand anderes verantwortlich sein.

Sie griff noch mal in die Manteltasche und fischte Fotografie und Ansichtskarte heraus. Das Foto zeigte Cees und war kurz nach ihrer Hochzeit entstanden, als sie mit den Fahrrädern zur Karger Seenplatte gefahren waren. Er hatte die Unterarme auf den Lenker gestützt, im Mundwinkel ein Grashalm. Das Haar etwas länger als bei ihrem ersten Treffen, vom Fahrtwind zerzaust. Ein hungriger Blick, direkt ins Objektiv der Kamera gerichtet.

Hunger auf das Leben.

Cees war nicht satt geworden.

Er fehlte ihr.

Die Umrisse der Leerstelle, die er in Emma hinterliess, wurden mit jedem Meter und jeder Minute, die sie sich von ihm entfernte, deutlicher sichtbar.

Distanz schaffte Klarheit.

Heilung verschaffte sie nicht.

Der Schmerz in ihrer Brust wurde grösser und grösser, ging auf wie ein Hefeteig, trotz der winterlichen Temperaturen.

Emma hatte Cees einäschern lassen. Bei der Beerdigung hatte es geregnet wie aus Kübeln. Sie hatte mit Lieke am Grab gestanden, beide hatten sie sich an ihre Schirme geklammert wie zwei Ertrinkende. Nur mit einem Koffer war Emma danach zu Lieke und den drei Buben gezogen. Der Jüngste konnte noch nicht einmal laufen. Liekes Mann, ein jüdischer Kaufmann, war schon Monate zuvor in die Schweiz geflohen. Noch immer wartete Lieke auf eine Nachricht von ihm. Täglich stand sie am Fenster, gab vor, die Gardinen zu richten, den Nippes auf dem Fensterbrett neu zu arrangieren. Jeden Tag ging der Briefträger an Liekes Haus vorbei, unbeeindruckt vom regelmässigen Faltenwurf des Wohnzimmervorhangs oder der exakten Ausrichtung der Häkeldeckchen.

In die Bäckerei hatte Emma nie mehr einen Fuss gesetzt. Den Ladenschlüssel hatte sie Lieke am Tag ihres Einzugs überreicht und sich dann auf den Sessel im Wohnzimmer gesetzt. Sie wusste, dass sie ihre ganze Kraft darauf verwenden musste, nicht auseinanderzubrechen. Sie spürte die Risse, die sich unter der Haut über den Körper zogen, sich kreuzten über der Brust. Die Bruchkanten scheuerten an ihrem Fleisch und machten es wund. Jede Berührung, jede Umarmung vergrösserte ihren Schmerz. Sie sprach nur, wenn man sie etwas fragte, und weinte nur, wenn niemand in der Nähe war.

Ab und zu spielte sie mit den Buben, aber eigentlich konnte sie schon ihren Anblick kaum ertragen. Mit ihren hellblonden kurzen Haaren und den blauen Augen sahen sie aus wie Cees. Ruben, der älteste, hatte sogar die schiefe Zahnstellung seines Onkels. Auch sie hatten Kinder gewollt. Emma zwei, Cees drei. Sobald der Krieg vorbei war, so war der Plan gewesen, würden sie ihre Koffer packen und nach Frankreich fahren. Emma wollte nach Paris, zur Spitze des Eiffelturms hochsteigen und den Louvre besuchen, unter Markisen Milchkaffee trinken und den Tauben zusehen, die von der Schönheit der Stadt unbeeindruckt nach Krumen von Croissants pickten. Cees wollte in die Bretagne, im Wind an Felskanten und steinigen Stränden entlangwandern, Weissbrot in Muschelsud tunken und den Schiffen zusehen, wie sie schrumpften und in die Naht schlüpften, die Himmel und Erde am äussersten Ende der Welt zusammenhielt.

Italien hatte schon kapituliert, Mussolini war in Gefangenschaft. Bald würden sie losziehen, Emma und Cees.

«Voor altijd» war eine lange Zeit, da liess sich eine ordentliche Reise machen. Und danach eben Kinder. Zwei oder drei.

Das war der Plan gewesen, wie gesagt. Aber Gott hatte anders entschieden.

Dieser Gott, der anstelle eines Herzens einen harten Laib Brot in der Brust hatte.

Emma glättete den wollenen Rock und kniff die Augen zusammen. Nicht weinen. Die Dame warf ihr über den Rand des Buchs hinweg noch immer strenge Blicke zu.

Und jetzt die Ansichtskarte. Blühende Kirschbäume, weiter hinten ein Kirchturm. Keine Berge. Emma hatte immer geglaubt, dass die Schweiz aus Bergen bestehe. Und aus Tälern zwischen den Bergen.

Beatrix Meyer, die Absenderin, war Emmas Patentante. Sie und ihre Mutter waren zusammen zur Schule gegangen. Beatrix hatte mit Anfang zwanzig einen Schweizer Geschichtsprofessor namens Walter Meyer geheiratet und war ihm in die Schweiz gefolgt. Emma hatte ihre Patentante danach nur noch einmal gesehen, an der Beerdigung ihrer Mutter. Da war Deutschland gerade in Polen einmarschiert.

Nach Cees’ Tod hatte Emma Beatrix einen Brief geschrieben. Die Antwort hatte der Briefträger vor wenigen Tagen in Liekes Briefschlitz in der Haustür geschoben. Lieke hatte geweint.

Vor Freude, dass Emma ein Weg nach draussen offenstand.

Vor Enttäuschung, dass die Ansichtskarte nicht den Namen ihres Mannes als Absender trug.

Emma drehte die Karte um.

Liebe Emma, stand da in einer schmalen Handschrift. Walter und ich freuen uns auf Dich. Warte nicht länger, mach Dich unverzüglich auf die Reise. Telegrafiere Datum und Uhrzeit Deiner Ankunft, wir holen Dich am Badischen Bahnhof ab. Sei unbesorgt, Cees’ Tod bleibt nicht ungesühnt. Gott wird über diesen Wede richten.

 

Teresa 2022, Amsterdam

Mirco und ich sind nach Amsterdam gereist, um Emmas Wohnung aufzulösen.

Eine Wohnung auflösen.

Wie kann man so etwas nur sagen?

Weder der Holztisch in der Küche noch die Sitzbank mit den geblümten Sitzkisten lösen sich einfach so auf. Nicht die Bilder an der Wand oder das Besteck in den Schubladen.

Es ist eher ein Abtragen, was wir hier machen. Stück für Stück und mühevoll.

Eine Wohnung abtragen. So muss es heissen.

Ich schaue mich um.

Wenn ich bis zum Abend das Wohnzimmer ausgeräumt haben will, muss ich mich sputen. Spätestens am Dienstag erwartet man mich zurück in der Schweiz und in Karrers Brockenstube.

Das brackige Wasser im Kanal vor dem Haus wirft flatternde Lichtflecken an die Decke. Von draussen her dringen Stimmen und das Brummen eines Schiffsmotors herein. Ein Partyboot, das Touristen durch die Innenstadt schaukelt. Getränke-Flatrate inklusive. Der Reling entlang die johlenden Touristen, die bald doppelt so viele Brücken zählen, als Amsterdam tatsächlich hat.

Ich lege mich im Wohnzimmer auf den Boden.

Schweigend.

Atmend.

Meine Rippen falten sich auf. Die Bauchdecke bläht sich.

Bläht sich so weit, dass der Bauch aussieht, als wüchse ein Kind darin.

Atmend.

Schweigend.

Stille, hat Mirco mir beigebracht, sei wie ein Zelt, das ich im Alltag über mich spannen und unter dem ich Ruhe, Frieden und vor allem mich selbst finden könne. Wenn ich Mirco beim Meditieren zusehe, wie er mit gelösten Gesichtszügen, die Beine zu einer Bretzel verknotet, auf dem Meditationskissen sitzt, dann glaube ich ihm seine Worte sogar. Mein eigenes Zelt der Stille allerdings ist löchrig und kann mich nicht beschützen vor den Geräuschen der Welt.

Möwen kreischen.

Kinder kreischen.

Ich versuche den Lärmteppich zu entflechten, die Klangfäden mit Bildern zu verknoten. Die Bilder mit Geschichten. Eine Fahrradklingel, ein Rollkoffer, der über Pflasterstein holpert. Wohin ist das Fahrrad unterwegs? Zum Wochenmarkt? Zum Bestatter? Liegt im Rollkoffer saubere oder schmutzige Wäsche?

Menschen sind getrieben, allem, was geschehen ist, eine Folgerichtigkeit zu verleihen.

Ich bin davon getrieben.

Ich will immer verstehen.

Erzählen ist Verstehenwollen. Ursachenforschung. Punkte setzen, wo vorher Fragezeichen standen. Punkte wie Einschusslöcher. Wer treffen will, muss Fährten lesen können. Das hat mir Grossvater Georg beigebracht. Der Metzgermeister im Dorf mit den alten Eichen. Der ist zeit seines Lebens auf die Jagd gegangen. Rehe. Wildschweine. Blässhühner. Am liebsten aber schoss er Hasen. Hasen sind am schwierigsten zu kriegen. Das reizte ihn. Darum geht es ja schliesslich. Um das Jagen. Um das In-die-Haut-des-Tieres-Schlüpfen. Das Adrenalin spüren. Das eigene. Und dasjenige der Beute. Ihre Spuren lesen und daraus ihre weiteren Schritte ableiten.

Holzbohlen knarren. Mirco steht im Türrahmen von Emmas Wohnzimmer.

«Nennst du das ausräumen?»

Ich richte mich auf.

«Ich habe meditiert.»

Wenn Mirco lächelt, stülpt er die Oberlippe über die Schneidezähne. Als Jugendlicher hat er wegen eines Überbisses eine Zahnspange tragen müssen, eine mit Brackets und silbernen Drähten. Damals gewöhnte er sich an, beim Lächeln die Zähne versteckt zu halten.

Die Fussgelenke knacken, als er sich hinkniet und nach meinen Händen greift. Sein Blick geht über meinen Kopf hinweg zum Wohnzimmerfenster. Mircos Augen haben die Farbe von Bernstein, der äusserste Rand der Iris ist grau-blau. So muss die Erde aussehen, wenn man sie in der Mitte durchsägt. Aussenrum das Meer, darunter eine breite Schicht warmgoldenes Gestein und ganz zuinnerst der dichte, runde Kern.

Ich folge seinem Blick. Eine Birke wiegt sich im Wind. Dahinter ragen Dachgiebel aus Backstein in einen vagen Himmel. Ab und an zerschneiden Möwen das Fensterviereck.

«Du bist nie zuvor hier gewesen?», frage ich.

Er schüttelt den Kopf.