Die dunkle Brüderschaft - H. P. Lovecraft - E-Book

Die dunkle Brüderschaft E-Book

H. P. Lovecraft

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Beschreibung

Die Erzählungen folgen meist einem bestimmten Muster. Ein Nachfahre von Lovecrafts Helden, etwa ein Angehöriger der berüchtigten Familie Whateley oder eine Gestalt von ähnlich zweifelhaftem Charakter, läßt sich in den zerklüfteten Wäldern Neu-Englands oder in der Nähe einer heruntergekommenen Küstenstadt nieder. Eine Aura des Bösen breitet sich aus, die Bevölkerung erzählt sich merkwürdige Geschichten, und die neugierigen Nachforschungen des Helden führen meist zu seinem Untergang.

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Seitenzahl: 396

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H. P. Lovecraft und August Derleth

Die dunkle Brüderschaft

Unheimliche Geschichten

Phantastische Bibliothek Band 173

Suhrkamp

Redaktion und Beratung: Franz Rottensteiner

Die Erzählungen sind der Originalausgabe The Watchers out of Time entnommen.

Aus dem Amerikanischen von Franz Rottensteiner

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 8. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 1256.

© 1974 by April R. Derleth and Walden W. Derleth

© 1987, für die deutschsprachige Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt.

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Umschlaggestaltung nach Entwürfen von hißmann, heilmann, hamburg

eISBN 978-3-518-78009-1

www.suhrkamp.de

Inhalt

Der Nachkomme

Das Erbe der Peabodys

Das Giebelfenster

Der Vorfahr

Der Schatten aus dem All

Das vernagelte Zimmer

Die Lampe des Alhazred

Der Schatten in der Dachkammer

Die dunkle Brüderschaft

Das Grauen vom mittleren Brückenbogen

Der Nachkomme

Manche Häuser bringen es, nicht anders als manche Menschen, auf irgendeine Weise zustande, schon auf den ersten Blick die Bösartigkeit ihres Wesens vor uns aufzudecken. (…) Doch ist’s bei ihnen wohl der Nachgeschmack lichtscheuer, unter so verrufenem Dach verübter Taten, der uns eine Gänsehaut über den Rücken jagt und bewirkt, daß uns die Haare zu Berge stehen. Etwas von der Besessenheit des einstigen Übeltäters, etwas von dem Entsetzen des Opfers sickert dem arglosen Betrachter ins Herz, so daß er sich unversehens und mit stockendem Puls eines durch alle Nerven zuckenden, ja die Haut heraufkriechenden Schauders bewußt wird…

Algernon Blackwood, »Das leere Haus«

Als ich nach der entsetzlichen Entdeckung jener Schicksalsnacht Hals über Kopf aus Providence floh, hatte ich den Vorsatz, vom Haus Charriere nie wieder zu sprechen oder zu schreiben. Es gibt Erinnerungen, von denen niemand gern redet, die keiner wahrhaben will und die jeder aus dem Gedächtnis verbannt – ich sehe mich jedoch jetzt gezwungen, die Geschichte meines kurzen Aufenthalts im Haus in der Benefit Street und meiner überstürzten Flucht von dort niederzuschreiben, damit kein Unschuldiger polizeilichen Nachstellungen ausgesetzt wird, um die nun auch von der Polizei gemachte grausige Entdeckung zu erklären – das Schreckbild, das ich aufgrund einer Schicksalsfügung vor jedem anderen Menschenauge erblickt habe. Was sich mir darbot, war fraglos noch viel entsetzlicher als das, was nach so vielen Jahren noch zu sehen blieb, nachdem das Haus, wie mir wohlbekannt, wieder an die Stadt zurückgefallen war.

Gewiß darf man einem Denkmalforscher zugute halten, daß er über gewisse uralte Richtungen menschlicher Forschung weniger weiß als über alte Gebäude; es ist jedoch denkbar, daß jemand, der in die Erforschung menschlicher Behausungen vertieft ist, gelegentlich auf ein schwieriger zu lösenden Geheimnis stößt, als es das Datum eines Anbaues oder die Herkunft eines Walmdaches ist, und daß er zu gewissen Schlüssen gelangt, so unglaublich sie erscheinen mögen, wie entsetzlich, wie erschreckend oder – nennen wir es beim Namen! – wie fluchwürdig auch immer! In Kreisen von Denkmalforschern ist der Name Alijah Atwood nicht gänzlich unbekannt; die Bescheidenheit verbietet mir, mehr zu sagen, jedoch ist sicherlich der Hinweis statthaft, daß jeder, der genügend Interesse aufbringt, um nachzuschlagen, in Handbüchern für Denkmalkunde den einen oder anderen Absatz über mich finden wird.

Nach Providence in Rhode Island kam ich im Jahr 1930 nur in der Absicht eines kurzen Besuchs, um dann nach New Orleans weiterzureisen. Mein Blick fiel auf das Haus Charriere in der Benefit Street, und es zog mich an, wie ein ungewöhnliches, allein stehendes Haus in einer Straße Neu-Englands aus einer anderen Epoche, ein offenbar recht altes Haus mit einer unerklärlichen, zugleich fesselnden und abstoßenden Ausstrahlung, nur einen Liebhaber alter Dinge anziehen kann.

Wenn es vom Haus Charriere hieß, daß es in ihm spuke, so sagte man ihm nicht mehr nach als manchem alten, verlassenen Gemäuer in der Alten wie in der Neuen Welt, und sogar, wenn ich seriösen Abhandlungen im Journal of American Folklore Glauben schenken darf, den primitiven Behausungen der amerikanischen Indianer, der australischen Buschmänner, der Polynesier und vieler anderer. Ich will nichts von Gespenstern schreiben; es möge der Hinweis genügen, daß es im Bereich meiner Wahrnehmung zu gewissen Erscheinungen gekommen ist, für die die Wissenschaft keine Erklärung liefern kann, obgleich ich rational genug bin zu glauben, daß eine solche Erklärung möglich ist, wenn die Menschheit durch ein streng wissenschaftliches Vorgehen auf die richtige Deutung stößt.

In diesem Sinne spukte es im Haus Charriere nicht. Kein Gespenst wandelte kettenrasselnd durch seine Räume, keine Stimme stöhnte wehklagend zu mitternächtlicher Stunde, keine Gestalt aus dem Grabe zeigte sich in der Geisterstunde, um vor dem nahen Untergang zu warnen. Das Haus hatte jedoch eine gewisse Ausstrahlung – War’s Frevel? War’s Schrecken? Waren es widerwärtige Spukdinge? –, die nicht abzuleugnen war; und wäre ich nicht von Geburt ein so fühlloser Klotz, so hätte mich das Haus unzweifelhaft vor Wahnsinn rasend fortgetrieben. Die Atmosphäre des Hauses war weniger mit Händen zu greifen als in anderen mir bekannten Fällen, doch sie deutete auf im Haus verborgene unaussprechliche Geheimnisse hin, die sich seit langer Zeit menschlicher Wahrnehmungen entzogen. Besonders überwältigend war der Eindruck des Alters – nicht nur der Jahrhunderte seines eigenen Bestandes, sondern einer fernen, fernen Vergangenheit aus dem Jugendalter der Welt, was wirklich sehr merkwürdig war, denn das Haus war zwar alt, doch nicht mehr als drei Jahrhunderte.

Ich betrachtete es zunächst mit den Augen des Denkmalforschers, erfreut darüber, in einer Zeile nüchterner neu-englischer Häuser einen Bau von so offensichtlichem Quebec-Stil des siebzehnten Jahrhunderts zu entdecken, der sich damit so sehr von den Nachbargebäuden unterschied, daß er die Aufmerksamkeit des Vorübergehenden sofort auf sich ziehen mußte. Ich war oft in Quebec und anderen alten Städten Nordamerikas gewesen, aber diese erste Reise nach Providence hatte ich nicht so sehr unternommen, um alte Gebäude ausfindig zu machen, sondern um einem namhaften Kollegen meine Aufwartung zu machen, und auf dem Weg zu seinem Haus in der Barnes Street mußte ich an dem Haus Charriere vorbei. Es fiel mir auf, daß es unbewohnt war, und ich beschloß, es zu mieten. Vielleicht hätte ich es trotz allem nicht getan, wäre da nicht der eigenartige Widerwille meines Freundes gewesen, von dem Haus zu sprechen. Ja, es schien ihm sogar nicht recht zu sein, daß ich in seine Nähe kam. Vielleicht tue ich ihm rückblickend unrecht, denn der arme Kerl lag schon auf dem Sterbebett, doch wußten das damals weder er noch ich. So saß ich denn neben ihm am Bett und nicht in seinem Arbeitszimmer, und stellte ihm Fragen über das Haus, das ich unverwechselbar beschrieb, denn damals wußte ich weder seinen Namen, noch war mir sonst etwas über das Gebäude bekannt.

Sein Besitzer war ein Mann namens Charriere gewesen – ein französischer Chirurg, der aus Quebec zugezogen war. Gamwell vermochte zwar nicht zu sagen, wer es erbaut hatte; Charriere aber hatte er gekannt. »Ein großgewachsener Mann mit rauher Haut – ich habe ihn selten getroffen, aber das ging allen so. Er hatte seine Praxis aufgegeben«, sagte Gamwell. Er hatte schon immer dort gewohnt, wie wohl auch ältere Familienangehörige, aber Gamwell konnte dazu keine näheren Angaben machen. Dr. Charriere hatte ein völlig zurückgezogenes Leben geführt und war, einer Todesanzeige zufolge, die 1927 aus gegebenem Anlaß im Providence Journal erschien, vor drei Jahren gestorben. Dr. Charrieres Todesdatum war das einzige, das mir Gamwell nennen konnte; alles übrige war wie in Nebel gehüllt. Das Haus war lediglich einmal vermietet gewesen. Ein Gewerbetreibender samt Familie hatte es für kurze Zeit bewohnt, aber nach einem Monat waren sie wieder ausgezogen, weil sie sich über die Feuchtigkeit und die Gerüche in dem alten Haus beschwert hatten. Seit der Zeit stand es leer, konnte aber nicht abgerissen werden, denn Dr. Charriere hatte in seinem Testament eine beträchtliche Summe Geldes für den Zweck hinterlassen, die laufende Steuerschuld lange genug zu begleichen – es war von zwanzig Jahren die Rede –, um sicherzustellen, daß das Haus noch stünde, falls und wenn die Erben des Chirurgen sich mit Erbansprüchen meldeten. Der Arzt hatte andeutungsweise einen Neffen erwähnt, der in Französisch-Indochina beim Militär sei. Alle Bemühungen, den Neffen ausfindig zu machen, waren vergebens gewesen, und jetzt ließ man das Haus stehen, bis die im Testament des Dr. Charriere festgelegte Zeitspanne verstrichen war.

»Ich gedenke es zu mieten«, sagte ich zu Gamwell.

Trotz seiner Krankheit richtete sich mein Kollege protestierend auf einem Ellbogen auf. »Eine flüchtige Laune, Atwood. Vergiß die Sache. Mir sind beunruhigende Dinge über das Haus zu Ohren gekommen!«

»Welche?« fragte ich geradeheraus.

Er wollte jedoch nicht mit der Sprache herausrücken, sondern schüttelte bloß schwach den Kopf und schloß die Augen.

»Ich will es mir morgen ansehen«, fuhr ich fort.

»Dort gibt es nichts, was du nicht auch in Quebec finden könntest, glaube mir«, erwiderte Gamwell.

Wie bereits erwähnt, verstärkte dieses eigenartige Sträuben nur mein Verlangen, das Haus zu inspizieren. Ich hatte keineswegs vor, mein Leben dort zu verbringen, sondern wollte es nur für rund ein halbes Jahr mieten und als Ausgangspunkt benutzen, um das Umland und die Straßen und Gassen der Stadt Providence auf der Suche nach den Denkwürdigkeiten der Gegend zu durchstreifen. Schließlich gab Gamwell den Namen des Rechtsanwaltsbüros preis, das mit der Vollstreckung des Testaments beauftragt worden war. Nachdem ich mich dorthin gewandt und ihren Mangel an Begeisterung überwunden hatte, wurde ich Herr des Hauses Charriere für sechs Monate oder – nach meinem Belieben – auch weniger.

Ich nahm sofort Besitz von dem Haus, obwohl mich die Entdekkung verblüffte, daß man zwar einen Wasser-, doch keinen Stromanschluß gelegt hatte. Zum Mobiliar des Hauses, das sich in jedem Zimmer im selben Zustand befand wie beim Ableben von Dr. Charriere, gehörte auch ein halbes Dutzend Lampen verschiedenster Form und unterschiedlichen Alters, von denen einige anscheinend über ein Jahrhundert alt waren, und die mir Licht spenden konnten. Ich hatte erwartet, das Haus voller Staub und Spinnweben vorzufinden, stellte aber zu meiner Überraschung fest, daß das keineswegs der Fall war, obgleich ich nichts davon gehört hatte, daß die Anwälte – das Büro Baker & Greenbaugh – sich die Mühe machten, das Haus instand zu halten, solange niemand auftauchte, um als einziger Nachkomme der Familie des Dr. Charriere Ansprüche auf das Erbe zu erheben.

Das Haus erfüllte alle meine Erwartungen. Es war ein massiver Holzbau; in manchen Räumen blätterten schon die Tapeten vom Verputz ab, der in anderen niemals tapeziert worden und nun an den Wänden vergilbt war. Die Größe der Räume gehorchte keiner festen Regel, sie wirkten entweder ziemlich groß oder sehr klein. Das Gebäude war einstöckig, das Obergeschoß war jedoch kaum benutzt worden. Im Erdgeschoß aber deutete viel auf den früheren Bewohner, den Chirurgen, hin, denn ein Raum hatte ihm offenkundig als eine Art von Labor gedient und ein angrenzender als Arbeitszimmer. Beide erweckten den Eindruck, als seien sie erst kürzlich mitten während einer Untersuchung oder eines Experimentes verlassen worden, als habe der Einzug eines vorübergehenden Nachmieters des verstorbenen Dr. Charriere diese Räume unberührt gelassen. Und dies mochte so gewesen sein, denn das Haus war groß genug, daß man es bewohnen konnte, ohne diese zwei Räume zu betreten. Laboratorium und Arbeitszimmer befanden sich nämlich auf der hinteren Seite des Hauses und führten auf einen Garten hinaus, der jetzt von Bäumen und Gebüsch überwuchert war. Der Garten war von beträchtlicher Größe, denn das Haus war an der Vorderseite mehr als drei Parzellen breit, und in der Tiefe reichte das Grundstück bis zu einer hohen Steinmauer, die nur eine Parzelle von der rückwärtigen Straßenseite entfernt war.

Dr. Charriere war augenscheinlich mitten in der Arbeit gewesen, als sein letztes Stündlein schlug, und ich muß zugeben, daß ich mir sofort Gedanken machte, um welche Art von Arbeit es sich gehandelt haben mochte, denn offensichtlich war sie nicht von gewöhnlicher Art. Seine Forschungen umfaßten nicht nur die Untersuchung des Menschen, denn es gab da eigenartige, beinahe kabbalistische Skizzen, die physiologischen Abbildungen ähnelten, von verschiedenen Saurierarten, worunter solche von der Gattung der Loricata und der Arten Crocodylus und Osteolaemus besonders auffielen, doch auch Darstellungen des Gavialis, des Tomistoma, des Kaimans und des Alligators waren deutlich erkennbar. Eine kleinere Anzahl zeigte Skizzen des mutmaßlichen Aussehens früherer Vertreter dieser Reptilienarten, die bis in die Kreidezeit zurückreichten. Aber selbst dieser faszinierende Einblick in die abwegigen Forschungen des Chirurgen hätte mich nicht veranlaßt, mich ernstlich mit ihm zu beschäftigen, hätte das Haus nicht dem Denkmalforscher Rätsel aufgegeben.

Das Haus Charriere war mir sogleich als typisches Bauwerk seiner Zeit erschienen, abgesehen von der später gelegten Wasserleitung. Ich hatte die ganze Zeit angenommen, daß es Dr. Charriere selbst hatte erbauen lassen; in unserer recht gewundenen Unterhaltung hatte Gamwell nie etwas anderes anklingen lassen, ebensowenig hatte er erwähnt, wie alt der Chirurg bei seinem Tode gewesen war. Angenommen, er war an die achtzig Jahre alt gewesen – dann hatte gewiß ein anderer das Haus errichtet, denn seine Baumerkmale wiesen eindeutig darauf hin, daß es um 1700–also mehr als zwei Jahrhunderte vor Dr. Charrieres Tod – errichtet worden war. Ich neigte daher zu der Ansicht, daß das Haus den Namen seines letzten langjährigen Bewohners trug, und nicht den seines Erbauers. Als ich diesem Problem nachging, stieß ich auf einige beunruhigende Umstände, die anscheinend mit glaubwürdigen Tatsachen nicht in Einklang zu bringen waren.

Zum einen war das Geburtsjahr des Dr. Charriere nirgendwo angegeben. Ich suchte sein Grab auf, das sich merkwürdigerweise auf seinem eigenen Besitz befand: Er hatte die Bewilligung erhalten, sich im eigenen Garten begraben zu lassen, unweit eines anmutigen, überdachten alten Brunnens, der mit Eimer und allem Zubehör in dem ursprünglichen Zustand belassen war, in dem er sicher fast ebenso lang dort gestanden hatte wie das Haus. Ich hatte die Absicht, auf dem Grabstein nach dem Geburtsdatum zu forschen, aber zu meiner Enttäuschung und zu meinem Verdruß trug der Stein lediglich seinen Namen: Jean-François Charriere, seinen Beruf: Chirurg, seine Wohnorte oder Wirkungsstätten: Bayonne, Paris, Pondicherry, Quebec und Providence, sowie das Todesjahr: 1927. Mehr nicht. Das reichte aus, um mich bei meiner Suche anzuspornen. Ich machte mich an die Arbeit und holte brieflich bei Bekannten Auskünfte ein, die an verschiedenen Orten lebten, wo mir Nachforschungen vielversprechend schienen.

Innerhalb von vierzehn Tagen lagen die Ergebnisse meiner Bemühungen vor. Ich war jedoch keineswegs befriedigt, sondern tappte nur noch mehr im dunkeln als zuvor. Ich hatte zunächst bei einem Brieffreund in Bayonne angefragt, in der Annahme, Charriere sei irgendwo in der Nähe geboren worden, denn dieser Ort wurde auf dem Grabstein an erster Stelle genannt. Sodann hatte ich in Paris Erkundigungen eingezogen, weiter bei einem Freund in London, der vielleicht Zugang zu britischen Archiven mit Material über Indien haben mochte, und schließlich in Quebec. Was brachte mir diese ganze Korrespondenz außer einer rätselhaften Folge von Daten? Ein gewisser Jean-François Charriere war wirklich in Bayonne zur Welt gekommen – allerdings im Jahre 1636! Auch in Paris war der Name nicht unbekannt, denn ein Siebzehnjähriger dieses Namens hatte 1653 und in den drei darauffolgenden Jahren bei dem royalistischen Exilanten Richard Wiseman studiert. In Pondicherry – und später auch an der Caronmandall-Küste in Indien – hatte ein gewisser Dr. Jean-François Charriere, Chirurg in der französischen Armee, ab 1674 gedient. In Quebec stammte der erste Hinweis auf Dr. Charriere aus dem Jahr 1691: er hatte in dieser Stadt sechs Jahre lang praktiziert und war dann mit unbekanntem Bestimmungsort verzogen.

Mir drängte sich die offenkundig einzige Schlußfolgerung auf: daß besagter Dr. Jean-François Charriere, geboren im Jahre 1636 in Bayonne, der zuletzt im gleichen Jahr in Quebec gewesen war, in dem das Haus Charriere in der Benefit Street erbaut wurde, ein gleichnamiger Vorfahr des Chirurgen war, der das Haus zuletzt bewohnt hatte. Wenn dem aber so war, so gab es zwischen 1697 und der Lebenszeit des letzten Bewohners des Hauses eine klaffende Lücke, denn nirgendwo war von der Familie des früheren Jean-François Charriere die Rede; wenn es eine Madame Charriere gegeben, wenn er Kinder gehabt hätte – und er mußte Kinder gehabt haben, wenn das Geschlecht bis ins zwanzigste Jahrhundert bestand –, gab es keine Urkunden, die auf sie verwiesen. Es war nicht auszuschließen, daß der alte Mann, der aus Quebec gekommen war, bei seiner Ankunft in Providence noch ledig gewesen war und sich erst später verheiratet hatte. Er wäre damals einundsechzig gewesen. Nachforschungen im entsprechenden Register förderten jedoch keine Heiratsurkunde zutage, was mich noch mehr in Verwirrung stürzte, obwohl ich als Denkmalforscher doch um die Schwierigkeit wußte, Dingen auf den Grund zu gehen, und daher noch nicht so entmutigt war, daß ich meine Erkundigungen eingestellt hätte.

Nun schlug ich einen anderen Weg ein und wandte mich an das Büro Baker & Greenbaugh um Auskünfte über den verstorbenen Dr. Charriere. Hier erwartete mich ein noch merkwürdigerer Rückschlag, denn als ich mich erkundigte, wie der französische Chirurg ausgesehen habe, mußten beide Anwälte eingestehen, daß sie ihm nie von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hatten. Sie hatten alle Aufträge brieflich erhalten, zusammen mit Schecks über großzügige Beträge; in den letzten sechs Jahren vor seinem Tod und seither hatten sie die Interessen Dr. Charrieres wahrgenommen. Vorher hatte Dr. Charriere ihre Dienste nicht in Anspruch genommen.

Sodann erkundigte ich mich nach dem »Neffen«, denn das Vorhandensein eines Neffen wies zumindest darauf hin, daß Charriere einst eine Schwester oder einen Bruder gehabt hatte. Aber auch das führte in eine Sackgasse; Gamwell hatte mich ungenau unterrichtet, denn Charriere hatte nicht ausdrücklich von einem Neffen gesprochen, sondern nur vom »einzigen männlichen Nachkommen meines Geschlechts«; man hatte lediglich angenommen, es handle sich um einen Neffen, und alle Nachforschungen waren im Sande verlaufen. Doch war Dr. Charrieres Testament so gehalten, als ob man besagten »einzigen männlichen Nachfahren« nicht zu suchen brauche, sondern als ob er sich persönlich oder brieflich an das Büro Baker & Greenbaugh wenden würde, und zwar so, daß jeder Zweifel ausgeschlossen sein würde. Darin lag gewiß ein Geheimnis verborgen; die Anwälte versuchten auch gar nicht, es zu leugnen, gaben mir aber zu verstehen, daß sie für ihre Treuhandschaft reichlich honoriert worden waren, so daß sie davon nicht mehr preisgeben würden als die unverbindlichen Auskünfte, die ich erhielt. Schließlich waren, wie einer der Anwälte zu Recht einwarf, seit Dr. Charrieres Tod erst drei Jahre verstrichen, und dem Nachkommen blieb noch Zeit genug, seine Ansprüche anzumelden.

Da sich diese Spur als Sackgasse erwiesen hatte, suchte ich neuerlich meinen alten Freund Gamwell auf, der noch immer bettlägrig und schon merklich schwächer war. Sein Hausarzt, den ich traf, als er im Gehen war, ließ nun zum ersten Mal durchblickken, daß Gamwell das Bett vielleicht nie mehr verlassen würde, und riet mir, ihn nicht aufzuregen und auch nicht mit zu vielen Fragen zu ermüden. Nichtsdestoweniger war ich entschlossen, über Charriere in Erfahrung zu bringen, was nur möglich war, wenn ich auch nicht ganz auf das strenge Kreuzverhör vorbereitet war, dem mich Gamwell unterzog, als habe er erwartet, daß nicht einmal drei Wochen Aufenthalt im Haus Charriere bereits mein Äußeres verändert hätten.

Nach dem Austausch der üblichen Höflichkeiten lenkte ich das Gespräch auf das Thema, das mich zu ihm geführt hatte; ich erklärte, daß mich das Haus so sehr interessiert habe, daß ich mehr über den früheren Bewohner wissen wolle. Gamwell habe einmal erwähnt, daß er ihn getroffen hatte.

»Das war aber vor vielen Jahren«, erwiderte Gamwell. »Er ist jetzt drei Jahre tot. Laß’ mir Zeit zum Nachdenken – 1907 war es, glaube ich.«

Ich war verblüfft. »Aber das war zwanzig Jahre vor seinem Tode!« warf ich ein.

Trotzdem bestand Gamwell darauf, daß das Jahr stimme.

»Und wie hat er ausgesehen?« wollte ich von ihm wissen.

Zu meiner Enttäuschung hatten Senilität und Krankheit den einst vorzüglichen Verstand des Alten in Mitleidenschaft gezogen.

»Stell’ dir einen Molch vor, nur ein bißchen größer, bring’ ihm bei, auf den Hinterbeinen zu gehen, und zieh’ ihm elegante Kleider an«, versetzte Gamwell. »Und du hast Dr. Jean-François Charriere Außer daß seine Haut rauh war, beinahe verhornt. Ein kalter Mensch. Er lebte in einer anderen Welt.«

»Wie alt war er?« fragte ich weiter. »Achtzig?«

»Achtzig?« Er dachte nach. »Als ich ihn zuerst zu Gesichtbekam – ich war damals zwanzig–, wirkte er nicht älter. Und vor zwanzig Jahren, mein guter Atwood, war er kein bißchen verändert. Beim ersten Mal wirkte er wie achtzig. Lag es am Blickwinkel meiner Jugend? Vielleicht. 1907 sah er wie achtzig aus. Und er starb zwanzig Jahre später.«

»Also mit hundert.«

»Schon möglich.«

Aber auch Gamwells Angaben waren nicht befriedigend. Wiederum gab es nichts Definitives, nichts Greifbares, keine einzige Tatsache – nur einen Eindruck, eine Erinnerung an jemanden, den Gamwell, wie ich spürte, aus Gründen, die er selbst nicht nennen konnte, unsympathisch gefunden hatte. Vielleicht trübte eine Rivalität unter Fachleuten, die er verschweigen wollte, sein Urteilsvermögen.

Sodann suchte ich die Nachbarn auf; es stellte sich jedoch heraus, daß sie zum Großteil jüngere Leute waren, die sich nur dunkel an Dr. Charriere erinnerten. Für sie war er bloß jemand, den sie zum Teufel gewünscht hatten, denn er hatte einen unheimlichen Bedarf an Eidechsen und dergleichen, und niemand wußte, welch teuflische Experimente er in seinem Labor durchführen mochte. Unter ihnen war nur eine Frau fortgeschrittenen Alters, eine gewisse Mrs. Hepzibah Cobbett, die in einem kleinen einstöckigen Häuschen unmittelbar an Charrieres Gartenmauer lebte. Sie war schon sehr gebrechlich; ich traf sie im Rollstuhl an, umsorgt von ihrer Tochter, einer Frau mit Geiernase, die mich mit kalten blauen Augen scheel unter dem Kneifer hervor musterte. Die Alte aber nahm kein Blatt vor den Mund; bei der Erwähnung von Dr. Charrieres Namen wurde sie quicklebendig, denn es wurde ihr klar, daß ich in seinem Haus wohnte.

»Sie werden dort nicht lange wohnen, glauben Sie mir. Da geht der Teufel um«, sagte sie lebhaft, um alsbald in seniles, gackerndes Lachen zu verfallen. »Wie oft ist er mir unter die Augen gekommen. Ein großer Mann, krumm wie eine Sichel, mit dem winzigen Bartpinsel wie einem Ziegenbart auf dem Kinn. Und was krabbelte zwischen seinen Füßen herum, was ich nicht sehen konnte? Ein langes, schwarzes Ding, zu groß für eine Schlange – ich dachte aber jedesmal an Schlangen, wenn mir Dr. Charriere unter die Augen kam. Und was brüllte so in jener Nacht? Und was bellte den Brunnen an? – ein Fuchs, wahrhaftig, ich weiß, was ein Fuchs ist, und auch, was ein Hund ist. Wie das Gekläff eines Seehunds. Ich sage Ihnen, ich habe Dinge gesehen, aber niemand schenkt einer armen alten Frau Glauben, die bereits mit einem Fuß im Grab steht. Und Sie – Sie auch nicht, denn niemand glaubt’s.«

Was war von diesem Geschwätz zu halten? Vielleicht hatte die Tochter recht, die zu mir sagte, als sie mich zur Tür begleitete: »Sie brauchen Mutters Gebrabbel nicht ernst zu nehmen. Sie ist so verkalkt, daß sie manchmal schwachsinnig wirkt.« Ich hielt die alte Mrs. Cobbett jedoch nicht für schwachsinnig, denn beim Reden »sprühten und funkelten ihre Augen«, fast war es, als vergnüge sie sich mit einem heimlichen Scherz von so ungeheuren Ausmaßen, daß er selbst ihrer Aufsichtsperson entging, der grimmig dreinblickenden Tochter, die sie keinen Moment aus den Augen ließ.

An jeder Biegung schienen mich Enttäuschungen zu erwarten. Alles, was ich bisher auf verschiedenen Wegen in Erfahrung gebracht hatte, ergab zusammen genommen wenig mehr als jede Quelle für sich. Zeitungsarchive, die Bibliothek, Urkunden – außer 1697, dem Baudatum des Hauses, und dem Sterbedatum von Dr. Jean-François Charriere war nichts zu finden. Falls in der Geschichte der Stadt ein anderer Charriere gestorben war, fand er nirgends Erwähnung. Es war schlechterdings unvorstellbar, daß der Tod alle anderen Mitglieder der Familie Charriere vor dem Ableben des Bewohners des Hauses in der Benefit Street außerhalb von Providence dahingerafft hatte, und doch mußte das der Fall sein, denn eine andere triftige Erklärung gab es nicht.

Und doch gab es einen weiteren Anhaltspunkt – ein Bild Dr. Charrieres, das ich im Haus entdeckte. Es hing in einer versteckten und nahezu unzugänglichen Ecke in einem Zimmer im ersten Stock, und obwohl es nicht beschriftet war, erlaubten die Initialen J. F. C. eine zweifelsfreie Identifizierung. Es war das Bild eines schmalgesichtigen Asketen mit widerspenstigem Spitzbart; sein Gesicht zeichnete sich durch hohe Wangenknochen, eingefallene Wangen und dunkle, feurige Augen aus. Er wirkte ausgemergelt und unheimlich.

Mangels anderer Quellen mußte ich mich neuerlich mit den Papieren und Büchern beschäftigen, die in Dr. Charrieres Arbeitszimmer und Labor zurückgeblieben waren. Während meiner Nachforschungen über Dr. Charrieres Lebensumstände war ich bisher oft außerhalb des Hauses gewesen; jetzt aber war ich ebensosehr ans Haus gebunden, wie ich früher draußen zu tun hatte. Deswegen trat für mich die Atmosphäre des Hauses schärfer hervor – sowohl im psychischen wie im materiellen Sinn. Jener unglückliche Gewerbetreibende und seine Angehörigen, die es wegen des durchdringenden Geruchs hier bloß einen Monat lang ausgehalten hatten, mochten mich dazu gebracht haben, das Haus zu riechen, und jetzt wurde ich zum ersten Mal auch wirklich und ziemlich heftig seiner verschiedenen Düfte und Gerüche gewahr, von denen manche für alte Häuser typisch, andere hingegen mir völlig fremd waren. Den hervorstechendsten konnte ich jedoch einordnen: es war ein Moschusgeruch, der mir bereits früher mehrfach untergekommen war – in Tiergärten, in Sümpfen, an stehenden Gewässern –, nahezu ein giftiger Dunst, der stark für das Vorhandensein von Reptilien sprach. Es war nicht auszuschließen, daß einige Reptilien auf dem Weg durch die Stadt im Garten hinter dem Haus Charrier Zuflucht gefunden hatte, aber es schien kaum glaublich, daß sie sich dort in solch großer Anzahl aufgehalten hatten, daß der Ort ihren Geruch hatte annehmen können. Doch so sehr ich auch suchte, es gelang mir weder drinnen noch draußen, den Ausgangspunkt des Reptiliengestanks zu entdecken, selbst wenn es mir einmal so vorkam, als ginge er vom Brunnen aus, was jedoch zweifellos eine Sinnestäuschung war. Dieser Moschusgeruch hielt an. Bei Regen, wenn Nebel aufkam oder Tau auf dem Gras lag, war er besonders stark, wie zu erwarten war, denn Feuchtigkeit verstärkt alle Gerüche. Auch das Haus war feucht; das war eine teilweise Erklärung dafür, daß es nur kurze Zeit bewohnt gewesen war. Ich empfand den Geruch oft als unangenehm, aber nicht als beunruhigend – nicht halb so beunruhigend wie andere Besonderheiten des Hauses.

Es wirkte in der Tat so, als brächte mein Eindringen in Arbeitszimmer und Labor das Haus gegen mich auf, denn bestimmte Sinnestäuschungen kehrten mit ärgerlicher Regelmäßigkeit wieder. Zum einen war ein eigenartiges bellendes Geräusch zu vernehmen, das spät nachts vom Garten auszugehen schien. Ferner war es die Einbildung, im dunklen Garten vor den Fenstern des Arbeitszimmers gehe eine seltsam gebeugte Echsengestalt um. Diese und andere Sinnestäuschungen hielten beharrlich an – zumindest ich hielt sie für Halluzinationen – bis zu jener Schicksalsnacht, in der ich, nachdem ich ein deutliches Geräusch vernommen hatte, das klang, als bade jemand im Garten, in der Überzeugung aufschreckte, ich sei im Haus nicht allein. Ich zog mir Schlafrock und Pantoffeln an, entzündete eine Lampe und eilte ins Arbeitszimmer.

Was ich dort erblickte, mußte durch die Natur meiner Nachforschungen in den Papieren des verstorbenen Dr. Charriere ausgelöst worden sein; daß es sich um reine Einbildung aus einem Alptraum handelte, konnte ich in diesem Augenblick nicht bezweifeln, obwohl ich nur einen flüchtigen Blick auf den Eindringling erhaschte; denn ein Eindringling befand sich im Arbeitszimmer und machte sich mit gewissen Papieren aus dem Nachlaß Charrieres davon. Doch als ich ihn in dem flackernden gelben Schein der Lampe, die ich über meinen Kopf hielt und die mich teilweise blendete, kurz erblickte, schien er zu glitzern. Er glänzte schwarz im Licht und schien einen hautengen Anzug aus einem groben schwarzen Stoff zu tragen. Im Nu war er durch das offene Fenster in der Dunkelheit des Gartens verschwunden. Ich wäre ihm gefolgt, hätte ich nicht im Lampenschein etwas höchst Beunruhigendes gesehen.

Wo der Eindringling gestanden hatte, waren die unregelmäßigen Abdrücke von Füßen – nassen Füßen – zu sehen, mehr noch, von Füßen, die merkwürdig breit waren, mit Zehennägeln, die so lang waren, daß sie sich vor jeder Zehe abzeichneten, und wo er sich über die Papiere gebeugt hatte, gab es die gleiche Nässe von den Füßen, und über allem hing der kräftige Reptiliengestank, der für mich schon zu einem untrennbaren Bestandteil des Hauses geworden war, doch so durchdringend, daß ich beinahe in Ohnmacht fiel.

Mein Interesse an den Papieren ging über Furcht oder Neugier weit hinaus. Zum damaligen Zeitpunkt fiel mir nur die eine rationale Erklärung ein, daß einer der Nachbarn, der einen Groll gegen das Haus Charriere hegte und ständig dafür eintrat, daß es abgerissen werde, vom Schwimmen gekommen und in das Ar­beitszimmer eingedrungen war. An den Haaren herbeigezogen, gewiß. Aber konnte irgendeine andere Erklärung dem Geschehenen einfacher Rechnung tragen? Das wollte ich nicht glauben.

Was die Papiere anging, so waren manche von ihnen unstreitig verschwunden, glücklicherweise jene, die ich bereits durchgesehen und zu einem ordentlichen Stapel aufgeschichtet hatte, wenn auch viele nicht in der richtigen Reihenfolge waren. Ich konnte mir nicht vorstellen, warum sie jemand hätte an sich nehmen wollen, es sei denn jemand, der sich wie ich für Dr. Charriere interessierte, weil er möglicherweise auf Haus und Vermögen Anspruch erheben wollte; denn bei diesen Papieren handelte es sich um eingehende Aufzeichnungen über die Langlebigkeit von Krokodilen und Alligatoren sowie verwandter Reptilien. Es war mir bereits deutlich geworden, daß der Verstorbene das lange Leben von Reptilien nahezu mit dem Eifer eines Besessenen studiert haben mußte, wobei er eindeutig das Ziel verfolgte herauszufinden, wie der Mensch sein eigenes Leben verlängern könne. Wenn Dr. Charriere dem Geheimnis der Langlebigkeit der Reptilien auf die Spur gekommen war, so gab es in seinen Papieren keine Anzeichen dafür, obwohl ich auf zwei bis drei beunruhigende Andeutungen von durchgeführten »Operationen« gestoßen war – an wem, wurde nicht gesagt –, die mit der Absicht durchgeführt worden waren, die Lebensspanne dieser Person zu verlängern.

Zudem gab es auch Aufzeichnungen anderer Art, vermutlich in Dr. Charrieres Handschrift, die von ihm als verwandtes Thema behandelt wurden, die sich aber für mich schlecht mit der mehr oder weniger wissenschaftlichen Erforschung der Langlebigkeit der Reptilien vertrugen. Es handelte sich dabei um eine Reihe rätselhafter Anspielungen auf gewisse mythologische Wesen, besonders auf eines, das »Cthulhu« genannt wurde, und auf ein anderes namens »Dagon«, augenscheinlich Meeresgottheiten in einer mir gänzlich unbekannten Mythologie; es fanden sich auch Hinweise auf langlebige Wesen (oder Menschen?), die im Dienste dieser uralten Götter standen und »Die Tiefen« genannt wurden, offenbar Amphibiengeschöpfe, die in den Tiefen des Meeres hausten. Unter diesen Aufzeichnungen befanden sich Fotografien einer außergewöhnlich abscheulichen Statue mit entschieden saurierhaften Zügen und der Beschriftung »O.Küste Hivaoa Ins., Marquesas. Kultgegenstand?« sowie eines Totempfahls der Indianer der Nordwestküste von bestürzend ähnlicher Handarbeit und ebenfalls von reptilienhaftem Aussehen. Die Beschriftung dazu umfaßte folgende Sätze: »Kwakiutls indianisches Totem. Meerenge von Quatsino. Ähnl. Tot. von Tlingit-Ind. errichtet.« Es war, als sollten diese eigenartigen Aufzeichnungen beweisen, daß Dr. Charriere sich auf die Untersuchung der Rituale uralter Hexenkulte und primitiver religiöser Denkweisen einließ, um mit aller Kraft ein Ziel zu erreichen, das ihm am Herzen lag.

Welches Ziel das sein mochte, wurde bald mehr als deutlich. Dr. Charriere war an der Untersuchung der Langlebigkeit nicht aus reinem Streben nach Erkenntnis interessiert gewesen; er wollte vielmehr sein eigenes Leben verlängern. In den hinterlassenen Schriften fanden sich gewisse beunruhigende Hinweise, die vermuten ließen, daß ihm dieses Vorhaben über seine kühnsten Träume hinaus gelungen war. Das war für mich eine höchst bestürzende Entdeckung, denn sie rief erneut die merkwürdige Geschichte des ersten Jean-François Charriere, ebenfalls Chirurg, in Erinnerung, dessen spätere Lebensjahre und dessen Tod ebenso geheimnisumwoben waren wie die Geburt und die ersten Jahre jenes Dr. Jean-François Charriere, der 1927 in Providence gestorben war.

Auch wenn die Ereignisse jener Nacht mich nicht allzusehr in Schrecken versetzt hatten, führten sie doch dazu, daß ich mir in einem Altwarenladen eine großkalibrige Luger und eine neue Stabtaschenlampe kaufte; die Laterne war mir in der Nacht hinderlich gewesen, und eine Taschenlampe war unter solchen Umständen praktischer. Wenn mein Besucher wirklich aus dem Kreis der Nachbarn stammte, konnte ich mich darauf verlassen, daß die mitgenommenen Papiere lediglich seinen Appetit schärfen würden und daß er früher oder später wiederkommen würde Für diesen Ernstfall wollte ich in jeder Hinsicht gerüstet sein. Falls ich wieder einen Einbrecher im Arbeitszimmer des von mir gemieteten Hauses ertappte, würde ich nicht zögern zu schießen, wenn meine Aufforderung, stehenzubleiben, unbeachtet bliebe. Ich hoffte dennoch, daß ich nicht gezwungen sein würde, von der Waffe Gebrauch zu machen.

Am nächsten Abend setzte ich meine Untersuchung von Dr. Charrieres Büchern und Papieren fort. Die Bücher hatten einst sicher seinen Vorfahren gehört, denn viele von ihnen waren jahrhundertealt. Unter ihnen befand sich ein aus dem Englischen ins Französische übersetztes Werk von R. Wiseman, das eine Verbindung zwischen dem Dr. Jean-François Charriere, der in Paris unter Wiseman studiert hatte, und dem anderen Chirurgen gleichen Namens bekundete, der bis vor kurzem in Providence, Rhode Island, gewohnt hatte.

Insgesamt handelte es sich um ein eigenartiges Sammelsurium von Büchern. Es waren anscheinend Bände in jeder bekannten Sprache, vom Französischen bis zum Arabischen. In der Tat konnte ich die Mehrzahl der Titel nicht einmal entziffern, obwohl ich Französisch lesen konnte und gewisse Kenntnisse der anderen romanischen Sprachen besaß. Zu der Zeit hatte ich noch keine Ahnung von der Bedeutung eines Werks wie Unaussprechliche Kulte von Von Junzt, obwohl ich vermutete, daß es dem Cultes des Goules von Graf d’Erlettes verwandt war, da es neben diesem Buch im Regal stand. Die Einreihung besagte aber nichts, denn Bücher zu zoologischen Themen standen neben gewichtigen Bänden über uralte Kulturen; sie trugen Titel wie Abhandlung über die Verbindung der polynesischen Völker zu den indianischen Kulturen Südamerikas, unter besonderer Berücksichtigung Perus; Paknotische Handschriften; De Furtivis Literarum Notis von Giambattista Porta; die Kryptografik von Thickness; die Daemonolatreia des Remigius; Banforts Das Zeitalter der Saurier; einige Ausgaben des Transcript aus Aylesbury, Massachusetts; des weiteren Hefte der Gazette aus Arkham, Massachussets, und ähnlicher Zeitungen. Einige der Bücher waren sicher von ungeheurem Wert, denn viele von ihnen stammten aus den Jahren 1670 bis 1820, und obwohl alle ziemlich starke Spuren des Gebrauchs aufwiesen, befanden sie sich in verhältnismäßig gutem Zustand.

Diese Bücher sagten mir jedoch relativ wenig. Im Rückblick bin ich überzeugt, daß ich bei aufmerksamerer Prüfung mehr erfahren hätte, als es der Fall war, aber es heißt ja, daß zu viel Wissen um Angelegenheiten, die dem Menschen besser verborgen bleiben, noch schlimmer ist als ein unzureichendes Wissen. Ich gab meine Untersuchung der Bücher bald auf, denn zwischen ihnen entdeckte ich, daß zwischen die Regale etwas eingezwängt war, was auf den ersten Blick ein Tagebuch oder ein Protokollheft zu sein schien, sich aber bei näherem Augenschein eindeutig als Notizbuch erwies, denn die Eintragungen reichten zu weit zurück, als daß sie nur Dr. Charrieres Lebensspanne hätten umfassen können. Sie waren sämtlich in einer unleserlichen, winzigen Handschrift gehalten, die mit Gewißheit die des toten Chirurgen war, und trotz des Alters der ersten Seiten stammten alle von derselben Hand, was darauf hinwies, daß Dr. Charriere diese Aufzeichnungen in einer Art grober Chronologie geordnet hatte, wahrscheinlich nach einem vorhergehenden Entwurf. Es handelte sich auch nicht bloß um flüchtig hingeworfene Notizen; manche waren mit unbeholfenen Zeichnungen illustriert, die dennoch höchst beeindruckend waren, wie es die primitiven Malereien von Sonntagsmalern oft sind.

Schon auf der ersten Seite des handgebundenen Manuskripts stieß ich auf diese Eintragung: »1851. Arkham Aseph Goade, D.T.« und dazu eine Zeichnung, vermutlich ein Bild besagten Aseph Goades, die gewisse Eigenarten seiner Züge, im Grunde nämlich krötenartige, betonte, denn sein Gesicht zeichnete sich durch einen abnorm breiten Mund, seltsam lederartige Lippen, eine sehr niedrige Stirn, merkwürdige Augen mit einem Netzmuster und ganz allgemein eine untersetzte Physiognomie aus, was dem Ganzen ein eindeutig und unverwechselbar froschähnliches Aussehen verlieh. Die Zeichnung nahm fast eine ganze Seite ein, und die Anmerkungen dazu faßte ich als Kommentar zu einer Begegnung mit einem untermenschlichen Typus auf – offensichtlieh auf dem Felde der Wissenschaft, denn sie konnte sich ja kaum in der Realität zugetragen haben (war es möglich, daß sich das »D.T.« auf »Die Tiefen« bezog, die ich vorher erwähnt gefunden hatte?), wodurch sich Dr. Charriere, der wohl an eine Verwandtschaft des Menschen mit den Froschlurchen und damit höchstwahrscheinlich auch den Sauriern glaubte, zweifellos in seiner Forschungsrichtung bestätigt sah.

Andere Notizen, die sich fanden, dienten dem gleichen Zweck. Die meisten von ihnen waren, vielleicht mit voller Absicht, so verschwommen abgefaßt, daß sie mir auf den ersten Blick nahezu sinnlos erschienen. Was sollte zum Beispiel eine Seite wie diese? »1857. St. Augustine. Henry Bishop. Haut sehr schuppig, aber nicht ichthyoid. Ist angeblich 107 Jahre alt. Keine Verfallserscheinungen. Alle Sinne noch immer scharf. Herkunft unsicher, aber Polynesien-Handel in der Familie. 1861. Charleston. Familie Balacz. Hände schuppig. Ausgebildete Doppelkiefer. Die ganze Familie zeigt ähnliche Ausbildungen. Anton 117 Jahre alt. Anna 109. Fühlen sich fern von Wasser nicht wohl. 1863. Insmouth. Familien Marsh, Waite, Eliot, Gilman. Kapitän Obed Marsh trieb Handel in Polynesien, verheiratet mit einer Polynesierin. Alle weisen Gesichtszüge ähnlich denen Aseph Goades auf. Leben sehr zurückgezogen. Die Frauen zeigen sich selten auf den Straßen, aber des Nachts schwimmen viele – ganze Familien – zum Teufelsriff hinaus, während die übrige Bevölkerung in den Häusern bleibt. Beziehung zu D. T. sehr ausgeprägt. Beträchtlicher Verkehr zwischen Innsmouth und Ponape. Ein dunkler religiöser Kult. 1871. Jed Price, Zirkuskünstler. Angekündigt als ›Alligatormensch‹. Tritt in einem Krokodilsteich auf. Saurierhaftes Aussehen. Hagere, eingefallene Wangen. Soll spitze Zähne haben, konnte jedoch nicht feststellen, ob sie natürlich oder zugefeilt sind.«

Das war der allgemeine Tenor der Eintragungen in dem Buch. Sie umspannten den ganzen Kontinent – es gab Notizen, die sich auf Kanada und Mexiko, aber auch auf die östliche Meeresküste Nordamerikas bezogen. Aus ihnen ergab sich ein Bild Dr. Jean-François Charrieres als eines Mannes, der von dem seltsamen Zwang besessen war, den Beweis für die Langlebigkeit gewisser Menschen zu erbringen, die anscheinend mit lurch- oder saurierartigen Vorfahren verwandt waren.

Zugegeben, das Gewicht der angehäuften Beweise, hätte man alles als Tatsache nehmen können und nicht bloß als vom Wunschdenken gefärbte Beschreibung von Menschen mit einem ausgeprägten körperlichen Defekt, schien Dr. Charriere und seine Überzeugungen auf eine merkwürdige und herausfordernde Weise zu bestätigen. Und doch hatte der Chirurg nur selten den Bereich reiner Mutmaßungen verlassen. Er schien nach dem fehlenden Bindeglied in den verschiedenen ihm bekanntgewordenen Fällen zu suchen. Er hatte diesem Bindeglied in drei verschiedenen Sagenkreisen nachgespürt. Am bekanntesten davon waren die Vudu-Legenden der Neger. Ihnen folgte im Bekanntheitsgrad die Tierverehrung im alten Ägypten. Am wichtigsten war schließlich nach den Aufzeichnungen des Chirurgen eine völlig außerirdische Kultur, die so alt war wie die Erde oder sogar älter. Dazu gehörten die Alten Götter der Urzeit und ihr schreckeneinflößender unaufhörlicher Kampf mit den gleichermaßen urzeitlichen Alten, die Namen trugen wie Cthulhu, Hastur, Yog-Sothoth, Shub-Niggurath und Nyarlathotep, und die wiederum von solch seltsamen Wesen wie den Tcho-Tcho-Menschen, Den Tiefen, den Shantaks, den Furchtbaren Schneemenschen und anderen verehrt wurden, von denen manche anscheinend eine Untergattung des Menschen waren; bei anderen wieder handelte es sich eindeutig um Mutationen oder sie waren überhaupt nicht menschlich. Dieses Ergebnis von Dr. Charrieres Forschungen war zwar faszinierend, in keinem einzigen Fall war es ihm jedoch gelungen, eine unumstößliche, beweisbare Verbindung herzustellen. Im Vudu-Kult gab es gewisse Anspielungen auf Saurier; ähnliche Verbindungen treten in der religiösen Kultur des alten Ägypten auf; und es gab auch viele dunkle und quälende Andeutungen von Verbindungen zwischen den Cthulhu-Mythen und Saurierarten, die weit tiefer in die Vergangenheit zurückreichten als Crocodylus und Gavialis, einschließlich Tyrannosaurus und Brontosaurus, Megalosaurus und anderer mesozoischen Reptilien.

Zusätzlich zu diesen interessanten Notizen fanden sich schematische Darstellungen, scheinbar von sehr merkwürdigen Operationen, deren Natur mir zum damaligen Zeitpunkt nicht ganz begreiflich war. Sie waren anscheinend aus uralten Texten übernommen worden, besonders aus einem, der häufig als Quelle angegeben wurde, De Vermis Mysteriis von Ludvig Prinn, eine weitere jener dunklen Quellen, die mir gänzlich fremd waren. Die Operationen legten einen Beweggrund nahe, der zu abseitig war, als daß man ihn für bare Münze hätte nehmen können. Eine dieser Operationen diente dem Zweck, die Haut zu strecken, und bestand aus vielen Einschnitten, die durchgeführt wurden, um »Wachstum zu ermöglichen«. Ein weiterer Eingriff war ein einfacher Kreuzschnitt am Ende des Rückgrats, der den Zweck verfolgte, den »Schwanzknochen zu verlängern«. Was diese phantastischen Skizzen bedeuten mochten, war zu entsetzlich, um in Betrachtgezogen zu werden. Dennoch waren diese Eingriffe gewiß ein untrennbarer Bestandteil der sonderbaren Forschungen, die Dr. Charriere jahrelang durchgeführt hatte. Sie lieferten auch eine einleuchtende Erklärung für seine zurückgezogene Lebensweise, handelte es sich dabei doch um ein Vorhaben, das nur im geheimen durchgeführt werden konnte, um ihm nicht den Spott und das Gelächter der anderen Wissenschaftler einzutragen.

Unter den Papieren fanden sich auch gewisse Hinweise, die dergestalt abgefaßt waren, daß ich nicht daran zweifeln konnte, daß es sich um eigene Erfahrungen des Berichtenden handelte. Obwohl sie jedoch alle vor 1850 lagen, in einigen Fällen Jahrzehnte vorher, stammten sie unzweideutig von der Hand Dr. Charrieres, so daß – immer die Möglichkeit ausgenommen, daß er die Erfahrungsberichte eines anderen abgeschrieben hatte–es klar wurde, daß er zum Zeitpunkt seines Todes über achtzig Jahre alt war, sogar so beträchtlich älter, daß der bloße Gedanke daran mir unheimlich war und meine Überlegungen auf jenen anderen Dr. Charriere lenkte, der ihm vorangegangen war.

Faßte man Dr. Charrieres Lehre zusammen, so lief sie auf die äußerst hypothetische Ansicht hinaus, daß ein Mensch mittels bestimmter Operationen, verbunden mit ungewöhnlichen Praktiken makabrer Natur, die Langlebigkeit erlangen konnte, durch die sich die Saurier auszeichneten; daß die Lebensspanne des Menschen um eineinhalb Jahrhunderte, vielleicht sogar um zwei, verlängert werden konnte; und daß darüber hinaus nach einer in halb bewußtlosem Dämmerzustand an einem feuchten Ort verbrachten Periode, einer Schwangerschaft vergleichbar, das Individuum wieder auftauchen würde, wenn auch etwas im Aussehen verändert, um eine weitere verlängerte Lebensspanne zu beginnen, die infolge der physiologischen Veränderungen, die mit ihm stattgefunden hatten, sich notwendigerweise von seiner früheren Daseinsform in mancher Hinsicht unterscheiden mußte. Zur Stützung seiner Ansicht hatte Dr. Charriere lediglich sehr viel Legenden- und Sagenstoff zusammengetragen, dazu gewisse Daten von verwandter Natur und bestenfalls auf Mutmaßungen beruhende Darstellungen eigenartiger menschlicher Mutationen, die es in den vergangenen zweihunderteinundneunzig Jahren gegeben hatte – eine Zahl, welche später für mich eine ganz andere Bedeutung erhalten sollte, als ich erkannte, daß dies exakt die Zeitspanne von der Geburt des früheren Dr. Charriere bis zum Tod des späteren Chirurgen war. Nirgendwo in dieser Fülle des Stoffs fand sich etwas, was einem konkreten Forschungsgang mit überprüfbaren Beweisen auch nur entfernt geähnelt hätte. Andeutungen, verschwommene Hinweise, entsetzliche Mutmaßungen – all das mochte hinreichen, um dem arglosen Leser schreckliche Zweifel und entsetzliche, halbgeformte Überzeugungen einzugeben – es war aber bei weitem zu wenig, um die nüchterne Aufmerksamkeit eines echten Gelehrten zu erregen.

Wie tief ich in Dr. Charrieres Forschungen noch eingedrungen wäre, vermag ich nicht zu sagen.

Wäre das nicht eingetreten, was mich unter Entsetzensschreien aus dem Haus in der Benefit Street forttrieb, wäre ich möglicherweise viel weiter gegangen, anstatt das Haus und alles, was es barg, den Ansprüchen eines Nachkommen zu hinterlassen, der, wie ich jetzt weiß, nie kommen wird, so daß das Haus der Stadt zum Abriß anheimfallen wird.

Während ich mir die »Ergebnisse« Dr. Charrieres durch den Kopf gehen ließ, spürte ich, daß ich beobachtet wurde, jene Erscheinung, die man gern als »sechsten Sinn« beschreibt. Da ich mich nicht umdrehen wollte, tat ich das nächstbeste: Ich öffnete meine Taschenuhr, stellte sie vor mich hin und verwendete die Innenseite des auf Hochglanz polierten Gehäuses als eine Art Spiegel, in dem sich die Fenster hinter mir widerspiegelten. In diesem schwachen Widerschein erblickte ich das entsetzliche Zerrbild eines menschlichen Antlitzes. Das erschreckte mich derart, daß ich mich umwandte, um mit eigenen Augen das im Spiegel Erblickte zu sehen. Am Fenster war jedoch außer dem Schatten einer Bewegung nichts zu erkennen. Ich sprang auf, löschte das Licht und eilte zum Fenster. Sah ich damals eine große, merkwürdig gekrümmte Gestalt, die mit geducktem, unbeholfenem Gang in die Dunkelheit des Gartens schlurfte? Ich glaube es, war aber kein solcher Narr, um mich zur Verfolgung hinauszuwagen. Wer immer es war, würde wiederkommen, wie schon in der vorhergegangenen Nacht.

Folglich lehnte ich mich zur Beobachtung zurück und ließ mir verschiedene mögliche Erklärungen durch den Kopf gehen. An der Spitze der Liste möglicher Herkunft meines nächtlichen Besuchers rangierten, das gebe ich zu, die Nachbarn, die seit langem verlangten, daß das Haus Dr. Charrieres abgerissen werde. Möglicherweise wollten sie mich verscheuchen, da ihnen die kurze Mietdauer nicht bekannt war. Möglicherweise befand sich im Arbeitszimmer auch etwas, was sie haben wollten, obwohl diese Vermutung an den Haaren herbeigezogen war, hatten sie doch reichlich Zeit gehabt, das Haus zu durchsuchen, solange es leergestanden hatte. Sicher ist, daß mir die Wahrheit nicht einmal in den Sinn kam. Ich bin von Natur aus nicht skeptischer, als man es von einem Liebhaber alter Dinge eben erwarten kann; die wahre Identität meines Besuchers drängte sich mir nicht auf, trotz all der eigenartigen, ineinander greifenden Umstände, die einem weniger wissenschaftlich ausgerichteten Kopf eher Aufschluß gegeben hätten als mir.

Während ich so im Dunkeln saß, wirkte die Atmosphäre des alten Hauses noch stärker als früher auf mich. Die Dunkelheit schien lebendig zu sein, aber dem Leben von Providence, das rings um uns pulsierte, unglaublich entrückt. Die Dunkelheit im Inneren des Hauses war vielmehr voll von übersinnlichem Niederschlag der Jahre – dem durchdringenden Geruch von Feuchtigkeit und Moschus, welch letzteren man allgemein mit den Reptiliengehegen in Tiergärten verbindet; dem Geruch alten Holzes, alten Kalksteinmauerwerks des Kellers; und dem Geruch des Verfalls, denn im Verlauf der Jahrhunderte hatten Holz und Stein begonnen, sich zu zersetzen. Und da war noch etwas – ein Hauch von einem Geruch, der auf die Nähe eines Tieres deutete und sich mit jedem Augenblick, der verstrich, zu verstärken schien.

Ich saß dort mehr als eine Stunde, ehe ich ein ungewohntes Geräusch vernahm.

Seine Herkunft war erst nicht festzustellen. Zunächst hielt ich es für ein Bellen, ähnlich dem Geräusch, das Alligatoren von sich geben; dann aber hielt ich es weniger für eine Sinnestäuschung meiner überreizten Phantasie als für das wirkliche Geräusch einer zufallenden Tür. Es verging einige Zeit, ehe ein anderes Geräusch an mein Ohr drang – das Rascheln von Papier. Erstaunlicherweise hatte ein Eindringling unter meinen Augen den Weg ins Arbeitszimmer gefunden, ohne daß ich ihn entdeckt hatte! Ich schaltete die Taschenlampe ein, deren Lichtstrahl auf den Tisch wies, den ich eben verlassen hatte.

Was ich sah, war schier unglaublich und entsetzlich. Vor mir stand kein Mensch, sondern das Zerrbild eines Menschen. Einen vernichtenden Augenblick lang glaubte ich, ich würde das Bewußtsein verlieren; doch überkam mich ein Gefühl drängender Gefahr, und ohne seine Sekunde zu zögern, schoß ich viermal aus nächster Entfernung, so daß jeder Schuß, wie ich wußte, den Körper des bestialischen Etwas getroffen haben mußte, das sich in dem finsteren Arbeitszimmer über Dr. Charrieres Schreibtisch beugte.

Von dem, was folgte, habe ich barmherzigerweise nur eine sehr ungefähre Erinnerung. Der Eindringling schlug wild um sich – entkam schließlich – unsicher folgte ich ihm. Ich hatte ihn bestimmt getroffen, denn eine Blutspur führte vom Arbeitszimmer zu dem Fenster, durch das er geflohen war, wobei er Glas und Fensterrahmen zertrümmert hatte. Im Freien glitzerte das Licht meiner Taschenlampe auf den Blutstropfen, so daß ich ihnen unschwer folgen konnte. Selbst ohne diese Spur hätte mir der starke Moschusgeruch, der die Nacht erfüllte, die Verfolgung ermöglicht.

Die Spur führte mich nicht vom Haus auf die Straße, sondern tiefer in den Garten hinein, geradewegs zur Einfassung des Brunnens hinter dem Haus. Und über den Rand in den Brunnen hinein, wo ich zum ersten Mal im Schein der Taschenlampe die raffiniert angelegten Stufen erblickte, die in den dunklen Rachen hinunterführten. So groß war der Blutverlust am Brunnenrand, daß ich zuversichtlich hoffte, den Eindringling tödlich verwundet zu haben. Diese Zuversicht war es auch, die mich beflügelte, ihm trotz der offenkundigen Gefahr zu folgen.