Die dunkle Seite - Bernd Hoffmann - E-Book

Die dunkle Seite E-Book

Bernd Hoffmann

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Beschreibung

Jan-Hendrik Sölter ist ein gutmütiger Altenpfleger, der mit seinem Leben im Großen und Ganzen zufrieden ist. Allerdings macht die Überbelastung durch den Pflegenotstand auch ihm zu schaffen. Und als er auf einen Bewohner trifft, der mit seiner Arroganz und Unverschämtheit seines Gleichen sucht gerät auch Jan-Hendrik an seine Grenzen. Nur zu gerne würde er diesem Herrn einmal die Realität um die Ohren hauen, aber das ist im Grunde nicht seine Art. Erst als die ebenso attraktive wie zwielichtige Nicole Reuter in sein Leben tritt ändert sich seine Einstellung. Der Wunsch nach Rache für die respektlose und oft erniedrigende Behandlung seines Berufsstands wird immer größer. Und eines Tages ergibt sich dann die Gelegenheit "ein wenig Gerechtigkeit" zu üben . . .

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Bernd Hoffmann

Die dunkle Seite

ROMAN

Hober Verlag

HOBER Verlag

Hamburger Straße 6

32760 Detmold

www.hober.verlag.de

[email protected]

Druck:

WmD GmbH

71522 Backnang

Copyright: HOBER Verlag 2017

Die Menschen fürchten Ungerechtigkeit,

weil sie Angst haben, ihr zum Opfer zu fallen,

nicht weil sie es verabscheuen, sie zu begehen.

(Plato)

Inhaltsverzeichnis

1

2

3

4

5

6

7

8

9

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Titel

1

Die Leiche lag halb auf der linken Seite, eingeklemmt zwischen dem Bettgestell und dem Nachtschrank. Die Haut wirkte wässrig weiß und bildete einen makaberen Kontrast zu den Unmengen von Kot, die über den gesamten Oberkörper verteilt waren.

Somit drängte sich der Verdacht auf, dass die Frau infolge eines Ileus und dem daraus resultierenden Kot-Erbrechen gestorben war. Aber dieser Verdacht klärte nicht die Frage warum die Leiche erst mit dem Eintreffen des Frühdienstes entdeckt worden war.

„Verdammt, wo bleiben Iris und Tatjana!?“, wandte Karin Littmann sich aufgebracht an Hendrik. „Ich habe denen schon vor zehn Minuten gesagt dass sie herkommen sollen - und zwar augenblicklich!“

Hendrik zuckte mit den Schultern.

„Dann werden sie auch kommen.“, entgegnete er so ruhig wie möglich. Er kannte seine Chefin gut genug um zu wissen, dass die zehn Minuten wohl eher Zwei bedeuteten. Seit Karin Littmann vor vier Jahren die Hausleitung übernommen hatte war sie als aufbrausend und unsensibel berüchtigt. Aber ihre Kompetenz stand dennoch außer Zweifel.

„Wann hast du die Leiche denn entdeckt?“, erkundigte Hendrik sich unwillig. Schließlich hatte er auch schon einen besseren Dienstbeginn erlebt als heute. „Und hast du schon den Arzt verständigt?“

„Quatsch. Natürlich nicht!“, entgegnete Karin, obwohl das keineswegs vorauszusetzen war. „Ich will erst mit Iris und Tatjana reden, damit ich weiß was hier los war.“

Hendrik nickte. Auch er hielt es für besser diese Frage erst zu klären.

„Was steht denn im Pflegebericht?“, erkundigte er sich. Karin machte eine verächtliche Handbewegung.

„Nichts natürlich!“, stellte sie aufgebracht fest. „Nach dem Pflegebericht hatte Frau Zenner gestern Nachmittag etwas Bauchschmerzen. Danach gibt es keinen Eintrag mehr.“

„Scheiße!“, entfuhr es Hendrik.

„Genau!“, konterte Karin mit einem Blick auf die Leiche. „Im wahrsten Sinne des Wortes!“

Noch bevor Hendrik auf die Mehrdeutigkeit reagieren konnte ging die Tür auf und Iris kam herein. Sie war kreidebleich und machte sich offensichtlich große Sorgen.

„Ich habe keine Ahnung wie das passieren konnte.“, war dann auch gleich ihr erster Satz. „Ich war selber noch um kurz nach fünf im Zimmer und da war nichts Besonderes. Sie hat ganz normal geschlafen.“

„Das kann doch gar nicht sein!“, brauste Karin auf. „Irgendwas muss doch in der Nacht gewesen sein. Der Spätdienst hat ja schließlich auch schon irgendwas von Bauchschmerzen einge-tragen!“

Hendrik holte einmal tief Luft, schluckte einen Einwand jedoch hinunter. Es nervte ihn, dass Karin wieder einmal nicht einen Gedanken daran verschwendete wie Iris sich fühlen musste. Statt dessen erhob sie sogleich Vorwürfe. Aber dies war weder der richtige Ort noch die richtige Zeit um über Personalführung zu diskutieren.

„Ja, das stimmt schon.“, hatte Iris unterdessen zugegeben. „Das ist auch bei der Übergabe gesagt worden. Michaela hat ja sogar noch Dr. Ringwald hier gehabt deswegen. Aber da ging es wohl eher um die Schlaftabletten. Frau Zenner war ja total fixiert darauf. Sie glaubte ja immer sie hätte die Falschen oder zu wenige bekommen. Das mit den Bauchschmerzen hat sie wohl erst gesagt als Dr. Ringwald schon wieder gehen wollte.“

„Aber ihr müsst doch irgendwas gemerkt haben!“, setzte Karin

Littmann unverdrossen nach. „So ein Darmverschluss macht doch eindeutige Symptome. Auch wenn Frau Zenner das nicht mehr einordnen konnte. Aber Herr Gott, das verursacht doch heftige Schmerzen. Und die Bauchdecke muss knallhart gewesen sein!“

Iris wirkte eindeutig verlegen.

„Naja Frau Zenner hat sich ganz oft gemeldet in der Nacht.“, gab sie sichtlich widerstrebend zu. „Aber sie klagte immer nur darüber, dass sie nicht schlafen könne. Sie wollte die richtigen Tabletten haben. Beklagte sich darüber das wir ihr die richtige Medikation verweigern würden. Nun ja, wie immer halt. Von den Bauchschmerzen hat sie nichts mehr gesagt“

„Aber die müssen dagewesen sein!“, beharrte Karin nun unnachgiebig. „Erzähl mir doch nichts!“

Iris war knallrot im Gesicht, aber nicht vor Verlegenheit. Es war wohl eher Wut, weil sie sich zu Unrecht angegriffen fühlte. Außerdem war sie offenbar im Stress, denn inzwischen ertönte der Notruf ihres Telefons schon zum zweiten mal.

„Ich habe gestern Abend noch den Bauch abgetastet.”, entgegnete sie dann auch eher trotzig. „Aber nicht weil sie über Schmerzen klagte, sondern weil sie so verkrümmt im Bett lag, dass es nach Schmerzen aussah. Aber da war die Bauchdecke noch weich!“

„Wann genau war das?“, verlangte Karin zu wissen.

„So gegen dreiundzwanzig Uhr.“

„Und wieso steht das nicht im Pflegebericht ?“

„Weil ich bis jetzt noch keine Zeit hatte irgendwelche Einträge zu machen!“, konterte Iris, während der Notruf zum dritten mal ertönte.

Karin hob zu einer Erwiderung an, begnügte sich dann aber zur Erleichterung aller Beteiligten mit einem resignierenden Kopf-schütteln.

„Na schön. So wie sie da liegt, muss sie ja wohl versucht haben

selbstständig aufzustehen.“, stellte sie statt dessen nüchtern fest.

Iris nickte.

„Ja, natürlich.“, bestätigte sie sodann. „Frau Zenner war heute Nacht genauso unruhig wie sonst auch. Sie hat ständig versucht aufzustehen. Wollte nach Hause, glaubte sie würde gleich abgeholt und so ...“

Einige Sekunden sagte niemand etwas. Dann jedoch schien Karin Littmann eine Entscheidung getroffen zu haben.

„Es ist passiert als sie aufstehen wollte.“, verkündete sie. „Irgendwie muss Frau Zenner ja gespürt haben dass etwas nicht stimmte. Vielleicht wollte sie auf die Toilette, als das Erbrechen losging. Aber dann ist sie doch zusammengebrochen und letztendlich an ihrem eigenen Kot erstickt.”

Iris nickte, wobei sie so blass und zitterig war, als würde sie selbst jeden Moment umkippen.

„So muss es wohl gewesen sein.“, entgegnete sie etwas verunsichert. „Aber in der Nacht sah es wirklich nicht danach aus als ob …”

„Ja schon gut!“, unterbrach Karin sie. „Du setzt dich jetzt sofort an den Pflegebericht und trägst alles ein, was in der Nacht war. Trag auf jeden Fall auch ein, dass Dr. Ringwald da war.”

„Ja, mache ich sofort.“, versicherte Iris.

„Hat Dr. Ringwald eigentlich was wegen der Bauchschmerzen verordnet?“

„Ja, MCP bei Bedarf.”

„Mehr nicht?”

„Nein. Er wollte heute im Laufe des Tages noch einmal vorbeischauen. Vor allen Dingen aber sollten wir ihr keine zusätzlichen Schlaftabletten geben.“

„Gut.“ entschied Karin. „Dann trag das genau so ein! Schreib vor allen Dingen, dass du die Bauchdecke abgetastet hast und

dass sie noch weich war. Schreib auch rein, dass du aufgrund

unklarer Symptomatik MCP verabreicht hast. Das muss alles gut dokumentiert sein für den Fall, dass wir doch noch die Polizei ins Haus kriegen.“

Iris nickte.

„Ja mache ich.“, versprach sie.

Und wo bleibt Tatjana eigentlich?“, verlangte Karin unvermittelt zu wissen. „Ich hatte doch ausdrücklich verlangt, dass sie mitkommt.“

„Sie ist noch bei Herrn Uhland.“, verteidigte sich Iris. „Außer-dem schellen in Haus B schon wieder drei Leute.“

„Egal!“, entschied Karin. „Sie soll herkommen und helfen die Leiche fertig zu machen.”

Iris nickte.

„Ich rufe sie gleich nochmal an.“

„Gut - Dann lasst uns beten, dass wir das Ganze ohne Polizei über die Bühne kriegen!“

Titel

2

Nun war es fast dreizehn Uhr und es sah so aus, als hätten sie es wieder einmal geschafft. Dabei hatte der unerwartete Tod von Frau Zenner den heutigen Zeitplan gewaltig durchein-ander gebracht. Mehr als nur einmal hatte es so ausgesehen, als würde für die Versorgung der übrigen 39 Bewohner im Haus A einfach nicht genügend Zeit bleiben.

Aber wie gesagt: Sie hatten es trotz allem wieder einmal ge-schafft, und Hendrik empfand deshalb durchaus einen gewis-sen Stolz. Schließlich hatte er nur drei weitere Arbeitskräfte zur Verfügung, um die gesamte Station zu versorgen. Zwei Pflegehilfskräfte und einen Zivildienstleistenden. Und mit dieser Besetzung war es schon unter Idealbedingungen sehr schwierig, eine optimale Betreuung aller Bewohner sicherzustellen.

Hendrik hatte durchaus schon „normale“ Tage erlebt, an denen es ihm kaum möglich gewesen war alle anstehenden Aufgaben zu bewältigen. Arztgespräche, Angehörigenkontakte, Medikamentenverwaltung und Behandlungspflege erforderte oft so viel Zeit, dass für Pflegeplanung und Dokumentation am PC einfach keine Minute mehr übrig blieb.

Aber derartige Überlegungen führten zu nichts, und so war Hendrik fast froh, als ihn das Klingeln des Diensttelefons aus seinen Überlegungen riss.

„Seniorenzentrum am Schlossberg Haus A. Mein Name ist Jan Hendrik Sölter. Was kann ich für Sie tun?“, meldete er sich vorschriftsmäßig.

„Hallo Hendrik. Ich bin`s, Iris.“

„Iris!?“, entgegnete er überrascht. „Du solltest doch eigentlich schlafen.”

„Wenn ich das mal könnte!“, bemerkte sie. „Der letzte Nacht-dienst lässt mich einfach nicht los. Ich wollte eigentlich nur wissen, ob es irgendwelche Probleme gibt wegen Frau Zenner? Hattet ihr noch die Polizei im Haus, oder hat Karin noch irgend etwas gesagt?“

„Nein, mach dir keine Sorgen!“, erwiderte Hendrik und hoffte das er dabei überzeugend klang. „Dr. Ringwald war heute Morgen da und hat im Totenschein eine natürliche Todesursache dokumentiert. Karin hat sich dann um die Angehörigen gekümmert und auch sonst alles in die Wege geleitet. Heute Nachmittag wird noch die Aussegnung stattfinden, und wenn du heute Abend zum Dienst kommst, wird die Leiche schon weg sein.“

„Gott sei Dank!“, entfuhr es Iris. „Ich konnte einfach nicht ein-schlafen, und habe praktisch jede Stunde damit gerechnet, dass das Telefon klingelt. Das war so blöd gelaufen heute Mor-

gen. Also habe ich jetzt gedacht, ich frage selber mal nach.”

„Ja, das verstehe ich sehr gut.“, versicherte Hendrik durchaus aufrichtig. „Aber du musst dir wirklich keine Sorgen machen. Versuch jetzt lieber zu schlafen, damit du heute Abend ...“

Weiter kam er nicht, da gleichzeitig die Tür des Dienstzimmers aufgerissen wurde und Carola den Raum betrat.

„Ach, hier bist du!“, bemerkte sie überflüssigerweise. „Ich habe schon versucht dich telefonisch zu erreichen, aber da ist ja besetzt.“

Hendrik beendet das Gespräch mit Iris und wandte sich Carola zu.

„Was gibt es denn so Wichtiges?“, erkundigte er sich.

„Wir sind gerade dabei Frau Koller zu versorgen. Die war mal wieder total eingenäßt. Und da haben wir gesehen, dass sie so komische rote Flecken an der Hüfte und den Oberschenkeln hat. Und Olga meinte es wäre besser, wenn Du dir das mal ansiehst!“

Für einen kurzen Augenblick war Hendrik geneigt die Bitte mit einer flapsigen Bemerkung abzutun, denn er kannte Olgas Neigung zu Übertreibungen nur allzu gut. Aber schließlich rang er sich zur korrekten Handlungsweise durch.

„Okay, ich komme mit.“, entschied er und folgte Carola auf den Flur. Kaum hatten sie das Zimmer von Frau Koller erreicht, da bereute er sein Handeln auch schon. Alles was er im ersten Moment wahrnahm, sollte er eigentlich nicht sehen. Da lag die nasse Windelhose auf dem Fußboden, statt im Mülleimer. Weder Carola noch Olga trugen Handschuhe und der Vorhang am Fenster war halb zurückgezogen, so dass man von draußen die nackte Frau Koller im Bett liegen sah.

Hendrik war kurz davor laut zu werden, beherrschte sich aber im letzten Moment. Schließlich wusste er nur zu gut, unter welchem Stress Carola und Olga heute gearbeitet hatten. Da war es schon gut, dass sie Verantwortung genug zeigten um ihn wegen der Hautrötungen zu holen.

„Also gut, was haben wir denn hier?“, erkundigte er sich mit etwas mühseliger Beherrschung.

„Siehst du die Rötungen hier?“, wandte sich Olga an ihn. „Die waren gestern noch nicht da. Und heute Morgen waren die auch noch viel blasser.“

Olga hatte Recht. Die Hüfte und Teile der Oberschenkel zeigen großflächige, punktuelle Rötungen.

„Ja, das sieht schlimm aus.“, gab Hendrik zu. „Also zieht euch auf jeden Fall erstmal Handschuhe an. Wir wollen uns hier ja nichts einfangen. Und dann macht das Fenster zu. Sonst erfriert uns die arme Frau noch.“

„Ja gut, machen wir.“, entgegnete Olga, wobei ihr anzumerken war das sie sich ertappt fühlte. „Aber was machen wir wegen der Rötungen? Sie hat ja überhaupt keine Salbe hier. Noch nicht einmal Körperlotion!“

„Seit wann hat sie denn die billigen blauen Windeln?“

“Seit gestern!“, stellte Carola fest.

„Gut, dann nehmt wieder die weißen Windeln.“, entschied Hendrik. „Wahrscheinlich reagiert sie allergisch auf dieses blaue Plastikkram. Wäre ja nicht das erste Mal. Außerdem werde ich mal sehen ob ich Dr. Ventner noch erreiche. Dann kann uns die Apotheke noch heute Nachmittag alles liefern was er verordnet.“

Für weitere Anweisungen blieb keine Zeit, da erneut sein Telefon klingelte. Er sah auf die Nummer im Display und nahm das Gespräch an.

„Hallo Karin. Was gibt es?“

„Hendrik, komm gleich nochmal schnell in mein Büro.“, verlangte Karin wie üblich ohne jede Begrüßung. „Ich muss dir leider noch eine Neuaufnahme aufs Auge drücken.“

„Jetzt?!“

„Ja. Der Herr Benning. Du weißt schon.“

„Ich denke der kommt erst morgen.“

„Tja, das dachte ich auch.“, entgegnete Karin genervt. „Aber nun kommt er eben heute schon.”

„Das kann doch Heike heute Nachmittag machen.“, schlug Hendrik vor.

„Vergiss es!“ entschied Karin. „Damit kommt Heike nicht klar. Die sind heute Nachmittag ohnehin nur zu dritt. Und Nora muss Frau Pohl noch zum Augenarzt begleiten. Außerdem weißt du doch, was mit Herrn Benning los ist.“

„Nur weil die mit Neitmanns befreundet sind, haben die auch nicht mehr Rechte als alle Anderen!“

„Red doch keine Scheiße!“, konterte Karin ungeduldig. „Natürlich haben die andere Rechte, wenn sie mit der Geschäftsführung befreundet sind. Das sollte zwar nicht so sein, aber es ist so!“

„Ja, schon gut.“, lenkte Hendrik ein. „Hast ja Recht.“

„Also sieh zu, dass der Einzug hier vernünftig über die Bühne geht. Ich hatte mit den blöden Angehörigen schon genug Stress. Wenn du wüsstest, was die hier schon für einen Aufriss gemacht haben! Neitmanns hier und Neitmanns da. Und Vater möchte … und Vater ist gewohnt … und Vater muss aber … usw. Mensch, hör bloß auf!“

Titel

3

Es war seltsam für Nicole Reuter ihren jahrelangen Peiniger hier so hilflos liegen zu sehen. Sie hatte erwartet, dass sie zumindest Genugtuung empfinden würde, aber seltsamerweise fühlte sie nichts dergleichen.

Irgendwie kam es ihr vor, als wenn eine gänzlich andere Per-son in dem Bett vor ihr liegen würde. In ihrer Erinnerung war der verhasste Stiefvater immer ein dominanter und herrischer Mann gewesen. Hier jedoch lag nur noch ein Häufchen Elend vor ihr.

Helmut Benning war nach seinem Schlaganfall halbseitig ge-lähmt und konnte höchstens noch undeutliche Laute artikulieren. Nicole war sich nicht einmal sicher, ob ihr Stiefvater sie überhaupt erkannt hatte. Zum wiederholten Male an diesem Tag fragte sie sich warum sie überhaupt hergekommen war. Und das gleich am ersten Tag nach seiner Einlieferung.

Schließlich hatte sie eher durch Zufall von dem Schlaganfall ihres Stiefvaters erfahren. Niemand hatte sie hierher gebeten. Und da sie garantiert auch nicht willkommen war, hatte sie sich klugerweise für einen Besuch in den späten Abendstunden entschieden.

Seit ihre Mutter vor vier Jahren an Krebs gestorben war, hatte sie nur noch geschäftlichen Kontakt mit der Familie Benning gehabt. Daher war sie auch ziemlich überrascht gewesen, als sie vor zwei Tagen einen Anruf aus dem Krankenhaus bekommen hatte. Ob denn das neue Elektrobett für ihren Vater rechtzeitig an das Seniorenzentrum geliefert werden würde, hatte man von ihr wissen wollen. Im ersten Augenblick hatte sie das für einen schlechten Scherz gehalten. Aber dann war ihr doch recht schnell klar geworden, dass der Anruf echt war.

Nach einigem Hin und Her hatte sie es dann auch geschafft die Adresse des Seniorenzentrum am Schlossberg in Erfahrung zu bringen. Dennoch hatte sie gezögert, bis sie sich endlich entschlossen hatte hierher zu kommen.

Zunächst war sie dann überrascht gewesen von der betonten Freundlichkeit mit der man ihr begegnete. Aber schließlich war ihr klar geworden, dass Ralf und Julia Benning wohl wieder einmal ganze Arbeit geleistet hatten.

Sie konnte sich sehr gut vorstellen, welchen Druck ihr Stiefbruder Ralf Benning auf die Leitung des Seniorenheims ausgeübt hatte. Ralf Benning war der einzige legitime Sohn ihres Stiefvaters Helmut Benning. Und Ralf Benning war nun wohl auch der Geschäftsführer des Familienbetriebes.

Und daLeuchten Benning immerhin eines der größten Unternehmen in der Region war, reichte sein Einfluss bestimmt auch bis in dieses Haus.

In diesem Augenblick wurde die Zimmertür nach einem kur-zen Klopfen aufgerissen und eine ältere Schwester kam in den Raum.

„Ist alles in Ordnung Frau Benning?“, wollte sie wissen. „Kann ich Ihnen einen Kaffee bringen? Oder möchten Sie sonst ir-gend etwas?“

Nicole schüttelte den Kopf.

„Nein danke“, entgegnete sie. „Und ich bin auch nicht Frau Benning. Mein Name ist Nicole Reuter. Ich bin die Stieftoch-ter.“

Die ältere Schwester stutzte einen Moment und wusste wohl nicht so recht wie sie darauf reagieren sollte. Schließlich deu-tete sie ein eher unbeabsichtigtes Schulterzucken an und meinte: „Nun ja, sie wissen ja wie sie uns erreichen können, wenn sie irgendwelche Wünsche haben.“

Nicole bestätigte, dass sie dies wisse, aber die Schwester war bereits wieder verschwunden. Durch die Unterbrechung je-doch, schien ihr Stiefvater wach geworden zu sein. Jedenfalls strich er mit der linken Hand leicht über die Bettdecke und starrte sie mit einem Ausdruck völliger Ungläubigkeit an.

„Ja, mit mir hast du nicht gerechnet nicht wahr!?“, fragte sie ihn nachdem sie direkt ans Bett getreten war. Sie bemerkte mit einer gewissen Verärgerung, dass ihre Stimme leicht zit-terte, aber den drohenden Unterton schien ihr Stiefvater den-noch wahrgenommen zu haben. Sie bemerkte, dass er irgendwas sagen wollte, aber es gelang ihm nicht.

Alles was er hervorbrachte war nur ein unverständliches Ge-

brabbel, was jedoch keineswegs freundlich gemeint war.

„Na, wie fühlt sich das an, wenn man Anderen hilflos ausgeliefert ist?“, setzte sie nach. „Ich bin wirklich froh, dass ich das noch erleben darf!“

Wieder erhielt sie nur dieses unverständliche Gebrabbel als Antwort, aber die Handbewegung die ihr Stiefvater dabei zu machen versuchte war eindeutig abwehrend.

Fast gegen ihren Willen legte sich ein höhnisches Grinsen auf Nicoles Züge. Dann drehte sie sich um und öffnete ihre Um-hängetasche, die sie auf dem Tisch abgestellt hatte. Sie holte ein paar gerahmte Bilder hervor und suchte in der Tasche nach den Nägeln und dem Hammer den sie ebenfalls eingesteckt hatte. Schließlich begannen sie damit die Nägel in die Wand zu treiben und die Bilder aufzuhängen.

„Na, siehst du, was ich dir mitgebracht habe?“, wandte sie sich hasserfüllt an ihrem Stiefvater. „Das sind alles Bilder aus deiner glorreichen Vergangenheit. Hauptsächlich natürlich von meiner Mutter. Wir wollen doch nicht, dass du Monika vergisst, nicht wahr?“

Sein Gesicht war krebsrot und die Bewegungen seiner Hand wurden immer fahriger.

„Ah, du möchtest das nicht?“, forderte sie ihn heraus, wäh-rend sie das letzte Bild auf den Nachtschrank stellte.

Es war ein Bild ihrer Mutter, das kurz nach der Hochzeit auf-genommen worden war. Es zeigte eine glückliche lächelnde Zwanzigjährige, die noch fest davon überzeugt war, dass ihre Zukunft rosig sein würde. Damals hatte sie noch nicht geahnt, dass ihr die nackte Hölle bevorstand.

Helmut Benning starrte seine Stieftochter unterdessen an und versuchte wütend mit der linken Hand nach Nicole zu schla-gen. Natürlich gelang ihm das nicht, aber der Versuch führte immerhin dazu, dass Nicole zurückwich und dabei das Bild ihrer Mutter vom Nachtschrank stieß.

Trotz seiner Hilflosigkeit war Helmut Benning der Triumph deutlich anzusehen den er empfand. Es gelang ihm sogar ein verächtliches Lachen hervor zu stoßen und einige Wörter so klar zu artikulieren, dass Nicole den Begriffblöde Schlampe herauszuhören glaubte. Und mit einem Mal war sie nun auch da – die Gewissheit, dass hier der richtige Mann vor ihr lag. So wie er nun im Bett lag und mit wutverzerrten Gesicht nach ihr schlug, war die Erinnerung an vergangene Tage schlagartig wieder da.

Völlig gegen ihren Willen baute sich ein Schreckensbild aus der Vergangenheit in ihrem Bewusstsein auf und drohte die Gegenwart zu verdrängen.

Mit einem Mal war sie wieder ziebzehn Jahre alt und stand zitternd vor Angst im Wohnzimmer der Benningschen Villa. Seit gut zwei Jahren kam ihr Stiefvater nun schon regelmäßig zu ihr, um seine perversen sexuellen Fantasien auszuleben. Anfangs hatte er sie „nur“ dazu gezwungen ihm einen zu blasen, aber schon bald hatte ihm das nicht mehr gereicht. Schon sehr früh war er dazu übergegangen sie immer brutaler zu nehmen und alslüsterne Schlampe oder geiles Dreckstück zu beschimpfen. Als er dann auch noch anfing sie zu fesseln und etwas von gerechter Strafe faselte, hatte sie all ihren Mut zusammengenommen und ihrer Mutter vor den Übergriffen erzählt.

Aber Ihre Mutter war leider keine starke Frau. Sie hatte zu-nächst versucht alles zu verharmlosen und ihr dann gebeichtet, dass sie selbst schon seit Jahren seine brutalen Fantasien erdulden musste. Die Aussprache hatte Tränenreich, aber ohne Aussicht auf Besserung geendet. Alles was sie ihrer Mutter hatte abtrotzen können war das Versprechen ihren gemeinsamen Peiniger zur Rede zu stellen.

Und wegen genau dieser Konfrontation stand sie nun zitternd vor Angst im Wohnzimmer. Auch hatte ihre Mutter ihn nicht etwa zur Rede gestellt, sondern sie hatte ihrem Mann lediglich mit unterwürfiger Stimme gebeten doch bitte ihre Tochter Nicole in Ruhe zu lassen.

Helmut aber hatte nur gelacht und war zur Tür gegangen. Er hatte den Raum abgeschlossen und den Schlüssel in seiner Hose gesteckt. Dann war er zu Monika zurückgegangen und hatte sie mit einem teuflischen Grinsen gefragt, ob sie denn überhaupt wisse, was für eine dauergeile Schlampe sie ihm da ins Haus geschleppt habe. Wenn hier einer unter Übergriffen zu leiden hätte, dann wäre das ja wohl eher er selbst. Ob sie ihm das glauben würde?

Monika hatte all ihren Mut zusammengenommen und ihm klipp und klar gesagt, dass sie ihm kein Wort glaubte. Aber genau darauf hatte er wohl nur gehofft.

Noch in der gleichen Sekunde versetzte er ihr einen Schlag ins Gesicht, und zwar so heftig, das Monikas Lippe aufplatzte und sie zurücktaumelte. Gleich darauf schlug er ihr mit aller Kraft in die Magengrube, so dass sie zu Boden stürzte.

Nicole hatte vor Entsetzen aufgeschrieben, aber das hatte ihren Stiefvater natürlich nicht beeindruckt. Eher im Gegen-teil: Er schien die Situation zu genießen.

Du blöde Schlampe glaubst auch jede Lüge! hatte er Monika beschimpft, während er fast genüsslich um sein Opfer her-umgegangen war. Aber ich werde dir schon noch zeigen wie man die Wahrheit erkennt hatte er sodann hinzugefügt, begleitet von einem Fußtritt in die Nierengegend.

Nicole war vor Angst wie erstarrt gewesen. Und sie hatte zu weinen begonnen, als sie sah, dass Monika hilflos zusammengekrümmt am Boden lag, während das Blut aus ihrem Mundwinkel floss. Mit tränenerstickter Stimme hatte sie ihren Stiefvater angefleht damit aufzuhören. Aber das hatte er na-türlich nicht getan.

Stattdessen hatte er nun Nicole beschimpft, und von ihr ein Schuldeingeständnis verlangt. Wenn sie ihre Mutter retten wolle, dann solle sie halt zugeben, dass alles gelogen sei.. Es wäre ja wohl ganz offensichtlich, dass sie es nur darauf anlege ihn bei jeder Gelegenheit aufzugeilen.

Ihre Mutter lag inzwischen blutend und röchelnd am Boden und war kaum noch bei Bewusstsein. Nicole war daher bereit alles zuzugeben, nur damit er aufhörte.

Ja, beteuerte sie also. Ja, sie sei an allem Schuld. Sie allein würde ihrem Stiefvater immer wieder nachstellen und ständig versuchen ihn zu verführen.

Daraufhin ließ Helmut endlich von der blutenden Monika ab, wandte sich mit einem teuflischen Grinsen zu Nicole um und verlangte: „Beweise es !“

Erst da hatte Nicole in vollem Umfang begriffen mit was für einem Teufel sie ist zu tun hatte. Er würde erst aufhören ihre Mutter zu schlagen und zu treten wenn sie – Nicole - sich hier und jetzt von ihm nehmen ließ. Vor den Augen ihrer Mutter.

Trotz ihres namenlosen Entsetzens, wagte sie es nicht an Ge-genwehr zu denken. Viel zu sehr war er in Rage und konnte seine Machtfantasien immer weniger kontrollieren.

Also fügte sie sich in das scheinbar Unvermeidliche und zog sich so schnell aus, wie es ihre unkontrolliert zitternden Finger zuließen.

Ein lauter Knall ließ den Alptraum urplötzlich zerbersten.

Im ersten Moment wusste sie nicht recht wo sie war, aber zum Glück klärten sich ihre Gedanken noch bevor die nächste Panikattacke anrollte. Obwohl sie den kalten Schweiß auf ihrer Stirn fühlte und das Gefühl hatte kaum Luft zu bekommen begriff sie, dass ein plötzlicher Windstoß das auf Kipp gestellte Fenster hatte zuknallen lassen.

Sie spürte mit absoluter Gewissheit, dass sie nun schnell von hier verschwinden musste. Also überlegte sie nicht lange, sondern warf ihre Jacke über den Arm, schnappte sich ihre Tasche und machte sich auf den Weg. Als sie die Zimmertür aufriss, stieß sie fast mit einem Pfleger zusammen der gerade mit einigen Akten den Flur hinunter eilte.

Sie murmelte jedoch nur eine undeutliche Entschuldigung und setzte ihren Weg fast fluchtartig fort, auch wenn sie den verwunderten Blick des Pflegers noch im Rücken spürte.

Titel

4

„Nee, ich habe es jetzt endgültig satt!“, hörte Hendrik die Stimme von Maria, als er das Dienstzimmer verließ. „Ich bin hier nicht die Sklavin vom Dienst. Und in diesem Ton redestDu schon mal gar nicht mit mir!“

„Jetzt reg dich doch nicht so auf.“, kam die prompte Erwiderung. Hendrik erkannte Claudias Stimme sofort. „Ich habe doch nur gesagt, dass wieder mal kein Material da ist. Und es ist nun einmal deine Aufgabe dafür zu sorgen.“

„Ich schleppe hier oft genug Material durch die Gegend. Aber ich bin ganz bestimmt nicht die Einzige, die dafür zuständig ist. Jeder der sieht das irgendwo etwas fehlt, kann das ja wohl auch auffüllen. Außerdem haben wir ...“

„Ich habe mit meinen eigenen Sachen schon genug zu tun!“, fuhr Claudia ihr dazwischen. „Du weißt ganz genau, dass das zu deinen Aufgaben gehört. Und bei den Anderen klappt das ja schließlich auch.“

Hendrik war inzwischen nah genug heran um schlichtend einzugreifen.

„Was ist denn hier los?!“, verlangte er zu wissen.

„Es ist wieder mal kein Material auf den Zimmern!“, erklärte Claudia sogleich aufgebracht. „Ich kann hier für jede blöde

Windelhose dreimal über den Flur rennen, nur weil Maria im-

mer noch nicht mit dem Getränke verteilen fertig ist.“

„Das stimmt doch gar nicht!“, warf Maria wütend ein. „Die Getränke sind schon längst verteilt, und als Frau Kemmler vorhin eingeschissen war, hat mir auch kein Mensch geholfen. Das habe ich ganz alleine machen müssen. Sonst wäre ich ja schon längst ...“

„Schon gut.“, unterbrach Hendrik sie beruhigend. „Das krie-gen wir schon alles noch geregelt. Aber erstmal hört Ihr jetzt auf euch hier mitten auf dem Flur anzuschreien. Es sind meh-rere Besucher und Angehörige im Haus und die müssen ja nicht unbedingt mitkriegen ...“

Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment klingelte sein Telefon. Also meldete er sich vorschriftsmäßig und hatte Dr. Ulmer in der Leitung.

„Wie sind denn die Vitalwerte von Herrn Tallus?“, wollte dieser wie üblich ohne jede Begrüßung wissen. „Ist der BZ morgens immer noch so niedrig?“

„Ja, leider noch keine Änderung.“, bestätigte Hendrik. „Der Nüchtern-Wert liegt selten über 60.“

„Na gut, was bekommt er jetzt an Metformin?“

„Eine halbe Tausender morgens.“

„Und die 2 mg Amaryl laufen weiter?“

„Ja sicher. So wie sie es verordnet haben.“

„O.k. Dann lassen wir mal versuchsweise die 500 mg Metformin weg. Das lassen wir bis Montag so laufen, und dann sehen wir mal wie sich die Blutzuckerwerte entwickeln. Am Montag faxen sie dann bitte die aktuellen Vitalwerte an die Praxis.“

„Ja, in Ordnung.“, bestätigte Hendrik und beendete das Ge-spräch, bevor er sich wieder seinen beiden Mitarbeiterinnen zuwandte.

„Sorry.“ bemerkte er entschuldigend, während er beide zu einer Sitzgruppe dirigierte, die etwas abseits aufgestellt war.

„Also, wie weit sind wir denn jetzt?“, verlangte er sodann zu

wissen. „In einer guten Stunde müssen wir schon anfangen bei den Bettlägrigen das Abendessen anzureichen. Bis dahin sollten die Pflegewagen aufgefüllt und die Wäschesäcke einge-sammelt sein.“

„Ja, das mache ich schon noch.“, beteuerte Maria fast trotzig. „Aber ich konnte Frau Kemmler ja nicht einfach so da liegen lassen. Das dauert nun mal seine Zeit.“

„Das wissen wir doch.“, versicherte Hendrik ihr, in dem Be-mühen die Wogen zu glätten. „Und wenn du jetzt sofort damit anfangen kannst, dann kommen wir zeitlich auch noch hin.“

„Ja ... gut.“, lenkte Maria etwas einsilbig ein. „Aber dann kann ich meine Pause natürlich schon wieder nicht nehmen.“

Hendrik sah wie Claudia die Augen verdrehte und konnte es ihr nicht einmal übelnehmen

„Unsere Pause kriegen wir alle nicht.“, stellt Hendrik deshalb fest. „Du siehst doch selbst, was auf Station los ist.“

„Ja, aber in Ordnung ist das nicht.“, entgegnete Maria trotzig. „Sei doch mal ehrlich. Im Arbeitsvertrag steht schließlich et-was anderes. Und ich muss da auch echt nochmal mit Karin drüber reden. So hatte ich mir das jedenfalls nicht vorge-stellt!“

Hendrik zog es vor nicht weiter darauf einzugehen, zumal er ganz genau wusste, dass sie ohnehin nicht mehr Mitarbeiter bekommen würden.

Stattdessen wandte er sich direkt an Claudia.

„Denk bitte mit daran, das wir Frau Fiering bis spätestens um siebzehn Uhr in ihren Pflege-Rollstuhl umgesetzt haben müs-sen.“

„Ach ja, heute kommt ja ihre Schwester zu Besuch.“, bemerkte Claudia wenig begeistert. „Dann lass uns das lieber jetzt machen. Ich muss ja gleich noch zu Frau Mikus, und das dauert garantiert wieder länger.“

Hendrik nickte.

„O.K., dann los.“, entschied er. „Das schaffe ich gerade noch, bevor ich die Abendmedikamente stellen muss.“

Doch kaum waren sie ein paar Schritte in Richtung des Zim-mers von Frau Fiering gegangen, da kam ihnen eine sichtlich erboste ältere Frau entgegen.

„Ach, Herr Sölter. Gut dass ich sie sehe.“, stellte sie fest, wobei sie keineswegs erfreut wirkte. „Jetzt kommen Sie doch bitte einmal mit!“

„Guten Tag, Frau Müller-Lorenz.“, entgegnete Hendrik so freundlich wie möglich. „Worum geht es denn?“

„Also jetzt sehen Sie sich bitte einmal meine Mutter an.“, forderte sie ihn auf. „Ich will ja eigentlich nichts sagen, aber diese dreckigen Sachen hatte meine Mutter schon vor drei Tagen an. Und schon damals klebten Speisereste auf dem Pullover. Also, so geht das wirklich nicht. Mutti war immer eine feine Frau, die sehr auf ihre Kleidung geachtet hat.“

„Ja, da haben sie sicher recht.“, versuchte Hendrik zu ver-mitteln. „So kennen wir ihre Mutter ja auch.“

„Sehen Sie! Und deswegen ist es für Mutti ja auch so schlimm in schmutzigen Sachen herumliegen zu müssen. Dabei habe ich schon vorgestern einen frischen Pullover heraus gelegt. Aber der lag jetzt wieder im Schrank. Und nicht einmal schön zusammengelegt, sondern einfach so hineingeworfen!“

„Das tut mir wirklich sehr leid, Frau Müller-Lorenz.“, versicherte Hendrik ihr, obwohl er die Version von derfeinen Frau insgeheim stark bezweifelte. „Ich werde persönlich darauf ach-ten, dass ihre Mutter noch vor dem Abendessen umgekleidet wird.“

„Nun, ich denke das können wir ja auch erwarten.“, entgegnete Frau Lorenz zirmlich blasiert. „Schließlich bezahlen wir hier nicht gerade wenig!“

Hendrik nickte und bemühte sich um einen verständnisvollen Gesichtsausdruck. Die Notwendigkeit einer Antwort blieb ihm aber zum Glück erspart, da in diesem Augenblick erneut sein Diensttelefon klingelte. Also nahm er das Gespräch mit einer gewissen Erleichterung entgegen, begleitet von einer bedauernden Geste an Frau Müller-Lorenz.

„Hallo. Judith Meiners hier, von der Verwaltung.“

„Hallo Frau Meiners. Was gibt es?“, erkundigte er sich, wäh-rend er Claudia ein Zeichen gab, schon zu Frau Fiering vor-auszugehen.

„Es geht um eure Neuaufnahme. Den Herrn Benning. Ich habe gerade die gefaxten Unterlagen durchgesehen, und da ist mir aufgefallen, dass die Apothekenvereinbarung nicht dabei ist. Kann es sein das die noch bei euch liegt?“

„Oh, das weiß ich nicht. Aber ich will bei Gelegenheit gerne mal nachgesehen.“

„Das wäre super. Und können Sie es bitte auch gleich faxen falls es noch bei ihnen liegt?“

„Ja natürlich.“, versprach Hendrik und beendete das Gespräch mit der Überzeugung, dass die Unterlagen garantiert nicht bei ihnen vergessen worden waren. Aber darum konnte er sich später noch kümmern. Jetzt war es erst einmal wichtig Frau Fiering mit dem Patientenlifter in den Pflegerollstuhl zu hieven. Und das war bei einem Gewicht von 107 kg und den starken Kontrakturen nun mal wirklich nicht alleine möglich.

Er sah, dass Claudia bereits damit begonnen hatte das Liftertuch bereit zu legen und half ihr deshalb sogleich dabei Frau Fiering auf die Seite zu lagern.

„Also du kannst ja sagen was du willst, aber Maria geht mir echt auf die Nerven.“, begann Claudia sogleich aufs Neue, kaum dass er im Zimmer war. „Die hat einfach nicht den Überblick. Die arbeitet nur ihr Programm runter. Was um sie herum passiert, ist der doch völlig egal. Da kann hier ruhig die Hölle brennen. Also, ich sage dir ...“

„Stopp!“, unterbrach Hendrik ihren aufgeregten Redeschwall.

„Das bringt doch nichts, Claudia. Maria ist halt so wie sie ist. Die werden wir nicht mehr ändern. Schließlich ist sie ja auch nicht mehr die Jüngste.“

„Ja und?“, konterte Claudia, während sie das Liftertuch korrekt ausrichtete und Frau Fiering dann auf die andere Seite drehte. „Deswegen können wir uns hier jeden Tag die Hacken abrennen, oder was?!“

„Komm, lass gut sein!“

Claudia machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Ist doch wahr, Mensch!“

Hendrik befestigte das Liftertuch am Tragarm des Patientenlifters und vermied jeden weiteren Kommentar.

„War eigentlich gerade irgendwas mit Herrn Benning?“, fragte er stattdessen.

Claudia schien erstaunt.

„Nein.“, beteuerte sie. „Nicht das ich wüsste. Wieso?“

Hendrik schüttelte leicht den Kopf.

„Nur so ein Gedanke.“, stellte er fest. „Vorhin kam eine junge Frau aus seinem Zimmer gestürmt, als sei der Leibhaftige persönlich hinter ihr her. Die hat mich fast umgerannt.”

Claudia zögerte ein wenig.

„Maria hat vorhin erzählt, dass seine Stieftochter zu Besuch sei. Aber ich habe die nicht gesehen.“

Hendrik konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Stieftochter?“, fragte er ungläubig. „Wohl eher die Enkelin. Die war doch höchstens Dreißig.“

„Bist Du sicher?“

„Absolut!“, bekräftigte er wahrheitsgemäß. Schließlich erinnerte er sich nur zu gut an die äußerst attraktive Blondine.

Claudia zuckte ziemlich uninteressiert mit den Schultern.

„Maria hat nur was von einer Stieftochter erzählt.”

Hendrik dachte daran, wie aufgewühlt die Frau gewesen war und ahnte Böses.

„Na, da werde ich Maria wohl besser noch einmal fragen.“, beschloss er, während sie Frau Fiering in den Pflegerollstuhl umsetzten.

Claudia grinste mit kaum unverhohlener Schadenfreude.

„Ja, tut das.“, bemerkte sie.

Hendrik ging nicht weiter darauf ein.

„Den Rest schaffst du hier doch alleine nicht wahr?“, fragte er stattdessen, kaum dass Frau Fiering korrekt in ihrem Rollstuhl saß.

„Ja klar. Danke dir.”

Hendrik nickte und sah auf die Uhr.

Es wurde höchste Zeit für ihn. Er musste noch den Arztkontakt im PC eintragen, die Medikamenten-Änderung stellen, die Tropfen für die Abendmedikation vorbereiten, bei drei Leuten Insulin spritzen, die verfluchte Apothekenvereinbarung suchen und auch dafür sorgen dass Frau Lorenz noch einen anderen Pullover angezogen bekam …

Titel

5

Nicole Reuter war erschöpft aber zufrieden. Dies war ein guter Tag gewesen. Die erste größere Ausstellung in ihrer kleinen Galerie war ohne Probleme über die Bühne gegangen. Und das obwohl sie erstmals ausschließlich Werke eines einzigen Künstlers gezeigt hatte.

Eine Entscheidung, die ihr nicht leicht gefallen war, denn immerhin machte sie den größten Teil ihres Umsatzes im Internet. Eine Ausstellung in der Galerie konnte also zwangsläufig nur von einem kleinen Teil ihrer Kundschaft wahrgenommen werden.

Dennoch war es wichtig derartige Veranstaltungen durchzu-führen, denn allein die Tatsache, dass einem Künstler eine Ausstellung gewidmet wurde, ließ den Preis seiner Werke steigen.

Und Timor Baruh war im Augenblick der Star unter ihren Künstlern. Er war ein enorm vielseitiger Mensch, der jedoch oft verschlossen und schwer zugänglich wirkte.

Angefangen hatte er mit großformatigen Strukturbildern in denen er neben den üblichen Farben auch Materialien wie Gips, Holz oder Stoff verwendete. Aber schon bald hatte er sich nicht mehr damit begnügt die Wände nur mit einem Bild zu schmücken. Er sah die gesamte Wand als Projektionsfläche seiner Kunst. Und so hatte er begonnen seine Werke direkt auf die Wand zu bringen und Möbel zu entwerfen die nicht nur vor der Wand standen sondern ein Teil dieser Wand waren.

Er selbst nannte dieses GesamtkonzeptReflektionswände, denn es war sein Anspruch die verschiedenen Wünsche, Hoffnungen und Wertvorstellungen seines Kunden auf seiner Wand zu reflektieren.

Dass ihm dies sehr gut gelang, konnte sie mühelos an ihren Auftragsbüchern ablesen. Allein der letzte Auftrag den sie für Timor Baruh angenommen hatte, wies einen Umfang von fast 50.000 € auf.

„Na, kannst du jetzt wieder ruhiger schlafen?“, erkundigte sich in diesem Moment ihre Assistentin und einzige Angestellte. „Ich jedenfalls bin begeistert!“

Nicole lächelte.

„Mensch Kirsten, das war einfach traumhaft!“, bestätigte sie mit einem langen Blick in die nun wieder menschenleere Galerie. „Hast du mitbekommen, dass Professor Jacobs den Auftrag ohne irgendwelche Abzüge unterschrieben hat?“

„Ja, habe ich.“, erklärte Kirsten begeistert. „Was hat denn Ti-mor dazu gesagt?“

Nicole richtete in gespielter Entrüstung im Blick zur Decke.

„Du kennst doch Timor!“, bemerkte sie. „Er hat kaum zwei Worte dazu herausgebracht. Im Grunde hat er nur mit ernster Miene genickt, so als sei das völlig selbstverständlich!“

Kirsten schüttelte den Kopf, konnte aber ein Lächeln dabei nicht unterdrücken.

„Man müsste halt Künstler sein. Was man sich da so alles erlauben kann...“

Nicole lachte.

„Das klappt aber erst wenn du Erfolg hast.“

„Echt? So was Blödes!“, spielte Kirsten die Ungläubige. „Dann muss ich ja auch weiterhin mein Geld mit ehrlicher Arbeit ver-dienen!“

„Unbedingt!“, bestätigende Nicole. „Aber nicht mehr heute Abend. Für heute haben wir genug getan.“

Kirsten lachte.

„Ja, das finde ich auch.“, erklärte sie sodann mit unverkennbarer Erleichterung. „Dann werde ich dich jetzt einfach allein lassen. Und drück die Daumen dass meine Mistkarre wenigstens heute Nacht anspringt!“

Nicole sah sie überrascht an.

„Ich denke, dein neuer Verehrer hat das schon repariert!?”

„Ach, hör mir bloß mit dem auf!“, konterte Kirsten verbittert, verzichtete aber auf weitere Erklärungen.

Statt dessen schlüpfte sie in ihre Jacke und verschwand in Richtung Hinterausgang.

Nicole überlegte kurz ob sie ihr folgen sollte, aber in diesem Moment hörte sie, wie sich die Tür der Galerie öffnete.

Um diese Zeit konnte das eigentlich nur Timor sein, der sich entschlossen hatte, doch noch einmal in die Galerie zurück zu kommen. Zwar hatte Nicole nach dem langen Tag keine rechte Lust mehr auf die anstrengende Persönlichkeit Timors, aber sie wusste natürlich, was sie ihren Star schuldig war.

Also bemühte sie sich um ein freundliches Lächeln und ging zurück in den Empfangsraum. Aber kaum hatte sie das Foyer erreicht, da gefror ihr Lächeln zu einer Maske.

Es war keineswegs Timor der dort stand, sondern ihr verhasster Halbbruder Ralf Benning.

„Na Schwesterchen.“, begrüßte er sie, wobei dasSchwesterchen wie ein Schimpfwort klang. „Wie ich hörte hattest Du einen erfolgreichen Tag!“

Nicole bemühte sich ihre Haltung zu bewahren.

„Was willst du hier?“, erkundigte sie sich kühl.

„Dir gratulieren natürlich!“, erklärte er dreist. „Es ist doch immer wieder schön zu sehen, dass die eigenen Investitionen Profit abwerfen.“

„Du hast hier gar nichts investiert!“, rutschte es Nicole heraus. „Das war ausschließlich dein Vater.“

Ralf Benning schüttelte in scheinbarer Resignation den Kopf.

„Wenn ich bedenke welche Summen in diesen Laden geflos-sen sind, dann bist du ganz schön undankbar.“, stellte er einen Ton schärfer fest. „Du solltest deine Position in diesem Punkt wirklich überdenken!“

„Da muss ich nichts überdenken.“, konterte Nicole. „Es gibt Verträge in denen alles eindeutig geregelt ist.”

„Eindeutig ist in diesem Fall ein dehnbarer Begriff, meine Liebe.“, stellte er fast genüsslich fest und ging ohne Aufforderung an ihr vorbei in Richtung Büro.

„Was soll das heißen?“, verlangte Nicole zu wissen, während sie ihm zwangsläufig in ihr eigenes Büro folgte.

Ralf Benning schien jedoch nicht die Absicht zu haben ihre Frage zu beantworten. Statt dessen ging er dreist um ihren Schreibtisch herum und setzte sich in ihrem Sessel.

Nicole blieb folglich nichts weiter übrig, als vor ihrem eigenen Schreibtisch stehen zu bleiben. Dass sie dadurch praktisch in die Rolle eines Bittsteller gedrängt wurde war zweifellos Ab-sicht von ihm. Er hatte die Beine ausgestreckt und musterte sie mit aufdringlichen Blicken.

Nicole wusste, dass sie ihm dieses Verhalten sofort hätte verbieten müssen. Aber nun war es zu spät. Dafür hatte sie einfach zu lange gezögert und so musste sie nun das Beste aus der Situation machen.

„Wenn du denkst, dass du an den Verträgen herum fummeln kannst, dann wirst du dein blaues Wunder erleben!“, ging sie zum Angriff über. „Dein Vater hat den Aufbau dieser Galerie finanziert, und über die Rückzahlung dieser Gelder gibt es eindeutige Regelungen. Bevor du also irgendwelche Pläne machst, solltest du deinen Vater fragen ob die ...“

„Blödsinn!“, unterbrach er sie mitten im Satz. „Du weißt genau was mit Vater los ist. Schließlich hast du dich ja schon selbst von seinem Zustand überzeugt. Oder hast du etwa im Ernst geglaubt, dass ich von deinem Auftritt im Heim nichts erfahren würde ?!“

„Es ist mir scheißegal ob du was erfährst oder nicht!“, kon-terte sie ruhig aber entschlossen. „Du hast ganz bestimmt nicht zu entscheiden, ob ich meinen Stiefvater im Heim be-suche. Ich werde dort aufkreuzen wann immer ich will!“

Ralf Benning beugte sich etwas vor, um seinen nächsten Worten mehr Nachdruck zu verleihen.

„Jetzt hör mir mal gut zu, Schwesterchen!“, erklärte er so-dann. „Wie du selbst gesehen hast, ist Vater nicht mehr in der Lage die Firma weiter zu führen. Das heißt, ich bin jetzt offizieller und alleiniger Geschäftsführer des Benning Konzerns. Und für genau diesen Fall gibt es eine hochinteressante Klau-sel in deinen Verträgen. Die besagt nämlich, dass in einem solchen Fall die Bedingungen des Vertrags neu ausgehandelt werden können. Und jetzt erzähl mir bloß nicht, dass du nichts davon weißt!“

Nicole war blass geworden.

Natürlich wusste sie von diesem Punkt in den Verträgen, aber sie hatte nicht damit gerechnet dass Ralf Benning so schnell reagieren würde.

„Ja, natürlich weiß ich davon.“, gab sie also widerstrebend zu. Ralf Benning begnügte sich mit einem zufriedenen Nicken und genoss ansonsten den Anblick ihrer Unsicherheit.

Sie spürte wie sein Blick mit einem gewissen Triumphgefühl über ihren Körper glitt und verfluchte gleichzeitig die Wahl ihrer Kleidung.

Zur Feier der Ausstellung hatte sie sich entsprechend festlich gekleidet. Das bedeutete aber auch, dass ihr Kleid kürzer und Figurbetonter war als üblich. Auch ihr Dekolletee war heute um einiges gewagter als sonst. Und es war offensichtlich, dass Ralf Benning diesen Anblick genoss.

„Zu schade.“, stellte er schließlich fest, ohne dass ein direkter Zusammenhang erkennbar war. „Wir beide sollten wirklich an unserer Beziehung arbeiten. Gerade dir würde das bestimmt gut tun. Dir fehlt die leitende Hand in deinem Leben!“

„Blödsinn!“ stellte Nicole klar, schon weil sie sich gar nicht erst damit befassen wollte, was er mitBeziehung und leitende Hand meinte. „Sag jetzt endlich klipp und klar was du willst!“

Er grinste triumphierend, ohne seinen lüsternen Blick von ihr abzuwenden.

„Gewinnbeteiligung!“, stellte er sodann klar. „Wenn sich dei-ne Erfolge fortsetzen, werde ich für den Rest der Laufzeit eine Gewinnbeteiligung einfordern!“

Mit diesen Worten stand er auf und kam direkt auf sie zu. Noch ehe Nicole irgendwie reagieren konnte, hatte er seinen Arm um ihre Taille gelegt und ihr einen Kuss auf die Wange gedrückt.

„Ich wünsche dir noch einen schönen Abend.“, meinte er sodann und verließ die Galerie ohne ein weiteres Wort.

Titel

6

Der Anblick der kleinen, gebeugt gehenden Frau war ihm seltsam vertraut. Dennoch dauerte es einige Sekunden, bis Hendrik klar wurde, dass es Frau Allersfeld war die dort ent-lang ging.

Er fluchte einmal kurz, während er auf den Firmenparkplatz einbog und beeilte sich damit den Wagen abzustellen. Das war jetzt schon das dritte Mal innerhalb einer Woche, dass Frau Allersfeld ihnen ausgerissen war. Sie mussten wirklich dringend Maßnahmen gegen ihre zunehmende Weglauften-denz ergreifen.

Zum Glück hatte er noch einige Minuten Zeit, bis sein Dienst begann und so brauchte er nicht lange zu überlegen. Er nahm seine Arbeitstasche und eilte vom Parkplatz aus in jene Rich-tung in der die Frau verschwunden war. Dennoch brauchte er einige Minuten bis er auf Rufweite heran war.

„Frau Allersfeld!“, rief er. „Bitte warten Sie!“

Sein Rufen hatte jedoch nicht die gewünschte Wirkung.

Frau Allersfeld war zwar stehen geblieben, aber der angst-volle Blick mit dem sie sich umschaute, ließ nichts Gutes ahnen. Hendrik bemerkte augenblicklich, dass sie sich wieder in ihrer eigenen Welt befand.

Offensichtlich fühlte sie sich von irgendetwas bedroht und war weder zeitlich noch örtlich orientiert. Natürlich blieb sie auch nicht stehen, als sie Hendrik auf sich zueilen sah. Statt dessen tat sie das genaue Gegenteil.

Sie drehte sich um und lief vor ihm davon.

Hendrik verfluchte seine Unbedachtheit und beschleunigte seine Schritte. Eigentlich hätte er es besser wissen müssen.

Frau Allersfeld flüchtete in ihrer Vorstellung häufig in eine Zeit, in der sie noch jung war, und fühlte sich dann diversen Bedrohungen ausgesetzt. In diesen Phasen befand sie sich wieder in der Zeit der russischen Besatzung, kurz nach dem Kriegsende.

Da er diese Wahnvorstellungen aber nicht durchbrechen kon-nte, begnügte er sich damit erneut ihren Namen zu rufen. Viel erreichte er damit jedoch nicht. Frau Allersfeld war auf das Grundstück eines nahe gelegenen Hauses gegangen und somit aus seinem Blickfeld verschwunden.

Kaum hatte er das nahe gelegene Grundstück erreicht, da sah er Frau Allersfeld neben einem kräftig gebauten Mann in Jogginghose und T- Shirt stehen. Der Blick mit dem dieser ihm entgegensah war jedoch eindeutig feindselig.

„Was wollen Sie hier!?“, blaffte er Hendrik an. „Lassen sie die arme Frau in Ruhe!”

„Hey sachte, ja?!“, entgegnete Hendrik, der auf diesen ver-balen Angriff nicht vorbereitet war. „Das ist eine von unseren Bewohnerinnen, und ich werde sie jetzt …”

„Du wirst hier gar nichts!“, unterbrach der Mann ihn. „Du verschwindest jetzt von meinem Grundstück. Und zwar ganz schnell!“

Hendrik sah ein, dass er so nicht weiter kam und versuchte sich zu beruhigen.

„OK“, entgegnete er also beschwichtigend. „Fangen wir noch mal von vorne an.”

„Hast Du Tomaten auf den Ohren, oder was!?“, fuhr der Mann ihn an. „Ich sagte du sollst verschwinden!“

„Hören Sie zu!“, verlangte Hendrik so ruhig wie möglich. „Ich bin Pfleger im Seniorenzentrum am Schlossberg, und die Da-me neben ihnen ist Frau Allersfeld.”

„Erzähl keinen Scheiß!“, konterte der Mann. „Erstens laufen die Pfleger in Weißzeug rum, und nicht in Jeans und Pullover. Und Zweitens, habe ich genau gesehen, dass du der Frau nachgelaufen bist. Aber da bist du an den Falschen geraten. Also mach die Fliege!”