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Die eiserne Ferse ist der Titel eines 1906 publizierten dystopischen Romans des amerikanischen Schriftstellers Jack London. Der Roman besteht hauptsächlich aus dem fiktiven Manuskript der Sozialistin Avis Everhard, in dem sie vom revolutionären Kampf ihres Mannes gegen eine kapitalistische Oligarchie in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts erzählt. Die eigentliche Handlung der "Eisernen Ferse" ist ein fiktiver Bericht aus dem 20. Jh., der in einer Herausgeber- bzw. Manuskriptfiktion in eine rudimentäre Rahmenhandlung eingebunden ist. Die aus 25 Kapiteln bestehende Ich-Erzählung Avis Everhards wird vom Herausgeber Anthony Meredith als ein Dokument präsentiert. London vermittelt dem tatsächlichen Leser seiner Zeit auch seine Vorstellung vom Zeitalter der Menschenbrüderschaft. London schrieb einen, von der Entstehungszeit aus gesehen, in der nahen Zukunft spielenden Science-Fiction-Roman, bei dem jedoch im Gegensatz zu diesem Genre nicht der technische Fortschritt im Vordergrund steht. Avis Everhard und die Kommentare des Herausgebers beschreiben v. a. die politischen und sozialen Änderungen. Der dystopische Charakter des Romans mit dem Schwerpunkt auf Unterdrückung durch die Eiserne Ferse wird durch die Aussicht auf die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft abgemildert und in Richtung auf eine positive Utopie gelenkt. Londons Leben als armer Jugendlicher hat Ähnlichkeiten mit der Biographie seines Protagonisten Ernst Everhard. Auch er hat körperlich hart gearbeitet, las Schriften von Karl Marx und war Mitglied der Socialist Party der Vereinigten Staaten. Zu seinem Roman angeregt wurde er durch die gescheiterte Russische Revolution 1905, in die er große Erwartungen gesetzt hatte.
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Seitenzahl: 359
Jack London
Texte: © Copyright by Jack London
Umschlag: © Copyright by Gunter Pirntke
Verlag:
Das historische Buch, Dresden / Brokatbookverlag
Gunter Pirntke
Mühlsdorfer Weg 25
01257 Dresden
Inhalt
Impressum
Vorwort
Mein Adler
Anklagen
Jacksons Arm
Sklaven der Maschine
Die Wissbegierigen
Schatten
Die Vision des Bischofs
Die Maschinenstürmer
Die Mathematik eines Traumes
Der Strudel
Das große Ereignis
Der Bischof
Der Generalstreik
Der Anfang vom Ende
Die letzten Tage
Das Ende
Die scharlachrote Livree
Im Schatten der Sonoma-Berge
Verwandlung
Ein verlorener Oligarch
Die brüllende Bestie des Abgrunds
Die Chicagoer Kommune
Das Volk des Abgrunds
Alpdrücken
Die Terroristen
Man kann nicht sagen, dass das Everhard-Manuskript ein wichtiges historisches Dokument sei. In Bezug auf das Historische strotzt es von Irrtümern — Irrtümern nicht betreffs der Tatsachen, sondern deren Auslegung. Wenn wir auf die sieben Jahrhunderte zurückblicken, die seit Vollendung des Manuskripts durch Avis Everhard vergingen, sind uns die Ereignisse, die ihr verworren und verschleiert erscheinen mussten, klar. Ihr fehlte die Perspektive. Sie war den Ereignissen, über die sie schreibt, zu nahe, ja, sie war mit ihnen verschmolzen. Nichtsdestoweniger ist das Everhard-Manuskript als persönliches Dokument von unschätzbarem Wert. Aber auch hier sind ihr Irrtümer unterlaufen, die ihre Ursache sowohl in ihrem Mangel an Perspektive wie in den Vorurteilen haben, welche ihr die Liebe eingegeben hat. Aber wir verzeihen Avis Eberhard lächelnd die Heldenverehrung ihres Gatten. Heute wissen wir, dass er nicht so bedeutend war, nicht so groß in den Ereignissen jener Zeit, wie das Manuskript uns glauben machen möchte.
Wir wissen, dass Ernst Everhard ein ungewöhnlich befähigter Mensch war, aber nicht so außergewöhnlich, wie seine Frau glaubte. Alles in allem war er nur einer in der großen Zahl von Helden, die, über die ganze Welt verstreut, ihr Leben der Revolution weihten, wenn auch zugegeben werden muss, dass er Ungewöhnliches, namentlich in seinem Werk über die Philosophie der Arbeiterklasse, leistete. Er bezeichnete sie als »Proletarische Wissenschaft« oder »Proletarier-Philosophie«, ein Beweis für die Enge seines Geistes — ein Mangel, der jedoch der Zeit zuzuschreiben ist und dem sich niemand in jenen Tagen zu entziehen vermochte. Doch zurück zu dem Manuskript. Ganz besonders wertvoll darin ist, dass es das Gefühl jener schrecklichen Zeiten übermittelt. Nirgends finden wir lebendiger die Psychologie der Personen dargestellt, die in dieser wilden Periode, in den Jahren 1912 bis 1932 lebten — ihre Irrtümer und ihre Unwissenheit, ihre Zweifel, Befürchtungen und Missverständnisse, ihren Wahn, ihre heftigen Leidenschaften, ihre unbeschreibliche Gewinn- und Selbstsucht. Diese Dinge sind für unser erleuchtetes Jahrhundert so schwer begreiflich. Die Geschichte berichtet jedoch, dass sie existierten, und Biologie und Psychologie erwecken sie nicht wieder zum Leben. Wir nehmen sie als Tatsache hin, ohne jedoch Mitgefühl und Verständnis für sie aufbringen zu können.
Dieses Mitgefühl empfinden wir jedoch, wenn wir das Everhard-Manuskript aufmerksam lesen. Wir identifizieren uns mit den Darstellern in diesem längst vergangenen Weltdrama, und für die Dauer unseres Lesens ist ihr Denken das unsere. Wir verstehen nicht allein Avis Everhards Liebe für ihren Heldengatten, wir fühlen, wie er in jenen ersten Tagen, das undeutliche und schreckliche Auftauchen der Oligarchie. Wir fühlen, wie die (so treffend genannte) Eiserne Ferse heraufstieg und die Menschheit zerstampfte.
Und nebenbei finden wir, dass dieser historisch gewordene Ausdruck, die Eiserne Ferse, Ernst Everhard zum Urheber hat. Dies ist die eine strittige Frage, die durch das kürzlich aufgefundene Dokument geklärt wird. Vorher ist der Ausdruck, soweit bekannt, nur in dem im Dezember 1912 von George Milford veröffentlichten Pamphlet »Ihr Sklaven« angewandt. Dieser George Milford war ein unbedeutender Agitator, von dem nichts bekannt ist außer dem wenigen, das man aus dem Everhard-Manuskript erfährt, wonach er in der Chicagoer Kommune erschossen wurde. Offenbar hatte er den Ausdruck Ernst Everhards in irgendeiner öffentlichen Rede anwenden hören, höchstwahrscheinlich bei dem Wahlkampf für den Kongress im Herbst 1912. Aus dem Manuskript erfahren wir, dass Ernst Everhard den Ausdruck in einer Privatgesellschaft im Frühling 1912 gebrauchte. Es ist dies zweifellos die erste bekannte Gelegenheit, bei der die Oligarchie so bezeichnet wurde.
Die Erhebung der Oligarchie wird stets der Anlass geheimer Verwunderung für Historiker und Philosophen bleiben. Andere große historische Ereignisse haben ihren Platz in der sozialen Entwicklung. Sie waren unvermeidlich, und ihr Kommen hätte mit derselben Sicherheit vorausgesagt werden können, wie Astronomen heute die Bewegung der Sterne voraussagen. Ohne diese anderen großen historischen Ereignisse hätte die soziale Entwicklung sich auch nicht vollziehen können. Primitiver Kommunismus, Besitzsklaverei, Leibeigenschaft und Lohnsklaverei waren die notwendigen Meilensteine auf dem Wege der menschlichen Entwicklung. Es wäre jedoch lächerlich, zu behaupten, dass die Eiserne Ferse ein solcher notwendiger Meilenstein gewesen sei. Heute wird sie vielmehr als ein Fehltritt oder Rückschritt zu der gesellschaftlichen Tyrannei beurteilt, die die Erde früher zur Hölle machte, die aber für ihre Zeit ebenso notwendig, wie die Eiserne Ferse unnötig war.
So schwarz der Feudalismus auch war, sein Kommen war doch unvermeidlich. Was sonst als Feudalismus konnte dem Zusammenbruch der großen zentralisierten Regierungsmaschine folgen, die man als Römisches Kaiserreich kennt? Nicht so jedoch die Eiserne Ferse. In dem ordnungsgemäßen Vorwärtsschreiten der sozialen Entwicklung war kein Platz für sie. Sie war weder notwendig noch unvermeidlich. Sie wird immer die große Merkwürdigkeit der Geschichte bleiben, eine Laune, eine Phantasie, eine Erscheinung, etwas Unerwartetes, Ungeahntes; und sie sollte den übereiligen politischen Theoretikern von heute, die mit Gewissheit von sozialen Prozessen sprechen, zur Warnung dienen.
Nach dem Urteil der Soziologen jeder Zeit bedeutete der Kapitalismus den Höhepunkt der bürgerlichen Herrschaft, die reife Frucht der bürgerlichen Revolution. Und wir können heute dieses Urteil nur unterschreiben. Selbst geistige Riesen und Kämpfer wie Herbert Spencer glaubten dass auf den Kapitalismus der Sozialismus folgen würde Man glaubte, dass auf dem Schutt des selbstsüchtigen Kapitalismus die Blume des Zeitalters, die Brüderlichkeit der Menschheit, erblühen würde. Statt dessen gebar der Kapitalismus, zum Entsetzen für uns, die wir heute auf jene Zeit zurückblicken, wie für die, die damals lebten, in seiner Überreife einen ungeheuren Spross, die Oligarchie.
Zu spät erriet die sozialistische Bewegung zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts das Kommen der Oligarchie.
Als man sie kaum ahnte, war sie schon da. Eine zutiefst begründete Tatsache, eine staunenerregende furchtbare Wirklichkeit. Wie das Everhard-Manuskript zeigt, glaubte man selbst damals nicht an eine Dauer der Eisernen Ferse, Das Urteil der Revolutionäre war, dass ihre Niederringung eine Sache weniger kurzer Jahre sein würde. Es ist wahr, man vergegenwärtigte sich, dass die Bauernrevolte unvorbereitet, die erste Revolution vorzeitig erfolgt war; aber man vergegenwärtigte sich kaum, dass die zweite, wohlvorbereitete Revolution zu derselben Zwecklosigkeit und zu noch schrecklicherer Strafe verurteilt war.
Offenbar beendete Avis Everhard ihr Manuskript in den letzten Tagen der Vorbereitung für die zweite Revolution. Daher die Tatsache, dass sie deren unglückseliges Ergebnis mit keinem Worte erwähnt. Es ist klar, dass sie das Manuskript zur sofortigen Veröffentlichung nach Vernichtung der Eisernen Ferse bestimmt hatte, damit alles, was ihr soeben verstorbener Gatte gewagt und vollbracht hatte, anerkannt wurde. Dann aber erfolgte die furchtbare Zerschmetterung der zweiten Revolution, und wahrscheinlich hat sie in einem Augenblick der Gefahr, ehe sie floh oder durch die Söldner gefangen genommen wurde, das Manuskript in der hohlen Eiche zu Wake Robin Lodge versteckt. Über Avis Everhard gibt es keine weiteren Nachrichten. Zweifellos ist sie von den Söldnern hingerichtet worden; bekanntlich wurden keine Berichte über derartige Hinrichtungen seitens der Eisernen Ferse aufbewahrt. Aber selbst damals, als sie das Manuskript versteckte und sich zur Flucht vorbereitete, hat sie sich kaum vergegenwärtigt, wie schrecklich der Zusammenbruch der zweiten Revolution sein würde. Sie hat sich kaum gedacht, dass die qualvolle, irregehende Entwicklung der nächsten drei Jahrhunderte eine dritte und vierte und viele weitere Revolutionen nötig machen sollte, die alle in Seen von Blut erstickt wurden, ehe die Weltrevolution der Arbeiter zu ihrem Rechte kommen konnte. Und wenig ließ sie sich träumen, dass das Zeugnis ihrer Liebe zu Ernst Everhard sieben Jahrhunderte lang ungestört im Herzen einer alten Eiche zu Wake Robin Lodge ruhen sollte.
Ardis, 27. November 419 B. d. M. Anthony Meredith
Der sanfte Sommerwind rauscht in den Riesentannen, und das Wildwasser plätschert liebliche Kadenzen über sein moosiges Gestein. Schmetterlinge spielen im Sonnenschein, und überall erhebt sich das einschläfernde Summen der Bienen. Es ist so still und friedlich, und ich sitze hier, sinne und bin ruhelos. Die Stille ist es, die mich ruhelos macht. Sie scheint unwirklich zu sein. Die ganze Welt ist ruhig, aber es ist die Ruhe vor dem Sturm. Ich strenge meine Ohren, all meine Sinne an, um etwas von dem drohenden Sturme zu spüren. Ach, dass er nur nicht zu früh losbricht! Dass er nur nicht zu früh losbricht!
Ist es ein Wunder, dass ich ruhelos bin? Ich denke und denke und kann nicht aufhören zu denken. So lange bin ich im Schwärm des Lebens gewesen, dass ich mich jetzt bedrückt fühle von der Ruhe und dem Frieden rings, und ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass der tolle Wirbel von Tod und Vernichtung plötzlich losbrechen muss. In meinen Ohren tönt das Geschrei der Getroffenen, und wie ich es früher sah, so sehe ich auch jetzt, wie all die frische, schöne Jugend zerfleischt und zerstückelt wird, und wie die Seelen gewaltsam aus den stolzen Leibern gerissen und zu Gott emporgeschleudert werden. So erreichen wir armen Sterblichen unser Ziel, indem wir durch Blut und Vernichtung der Welt dauernden Frieden zu bringen suchen. Und ich bin so einsam. Wenn ich nicht an das denke was kommen muss, so denke ich an das, was war und nicht mehr ist — an meinen Adler, den seine unermüdlichen Schwingen durch den Raum trugen, hinauf zu dem, was stets seine Sonne war, dem flammenden Ideal der menschlichen Freiheit. Ich kann nicht müßig dasitzen und auf das große Ereignis warten, das sein Werk ist, wenn er es auch nicht mehr sehen soll. Ihm weihte er all seine Mannesjahre und gab sein Leben dafür. Es ist sein Werk. Er hat es geschaffen.
Und so will ich denn in dieser bangen Zeit des Harrend von meinem Gatten schreiben. Viel Licht kann ich allein von allen Lebenden auf seinen Charakter werfen, und ein so edler Charakter kann gar nicht leuchtend genug geschildert werden. Er war eine große Seele, und wenn meine Liebe auch zu immer größerer Selbstlosigkeit wächst, so ist es doch mein größter Schmerz, dass er die kommende Zeit nicht mehr erleben soll. Es kann nicht fehlschlagen. Dazu hat er zu hartnäckig und zu sicher gebaut. Wehe der Eisernen Ferse! Bald wird sich die niedergetretene Menschheit unter ihr erheben. Wenn der Ruf dazu ergeht, werden die Arbeiterscharen der ganzen Welt aufstehen. Nie hat die Weltgeschichte dergleichen gesehen. Die Arbeiter stehen zusammen, und in der ersten Stunde wird eine Revolution ausbrechen, die die ganze Welt umspannt.
Ihr seht, ich bin erfüllt von dem, was da kommen soll. Tag und Nacht habe ich es immer und immer wieder so durchlebt, dass es mir stets vor Augen steht. Und so oft ich n meinen Gatten denke, muss ich auch daran denken. Er war die Seele von alledem, und wie könnte ich ihn in Gedanken davon trennen?
Wie ich schon sagte, bin ich allein imstande, viel Licht auf seinen Charakter zu werfen. Man weiß, dass er für die Sache der Freiheit hart arbeitete und schwer litt. Wie hart er arbeitete, und wie schwer er litt, weiß ich selbst am besten, denn diese zwanzig aufreibenden Jahre war ich bei ihm, und ich kenne seine Geduld, sein unermüdliches Streben, seine grenzenlose Hingabe für die Sache, für die er nun, vor kaum zwei Monaten, sein Leben gegeben hat.
Ich will versuchen, schlicht zu erzählen, wie Ernst Everhard in mein Leben trat — wie ich ihm zuerst begegnete, wie er groß wurde, bis ich ein Teil von ihm ward, und welch ungeheure Veränderungen er in mein Leben brachte. So mögt ihr ihn durch meine Augen sehen und ihn kennen lernen, wie ich ihn kennen lernte — in allem, außer in dem, das zu heilig und zu süß ist, als dass ich es erzählen könnte.
Es war im Februar 1912, dass ich ihm zum ersten Male begegnete, und zwar als Gast im Hause meines Vaters in Berkeley. Ich kann nicht sagen, dass der erste Eindruck, den er auf mich machte, besonders günstig war. Bei Tisch war er einer von vielen, und im Salon, wo wir die Gäste empfingen, wirkte er etwas seltsam. Es war »Pastorentag«, wie mein Vater unter vier Augen sagte, und unter diesen Männern der Kirche war Ernst sicher nicht recht am Platze. Erstens saß sein Anzug nicht. Es war ein fertig gekauften aus dunklern Stoff, der sich seinem Körper schlecht anschmiegte. Fertig gekaufte Anzüge passten ihm überhaupt nie. Wie immer beutelte sich auch an diesem Abend der Stoff über seinen Muskeln, während der Rock zwischen den überbreiten Schultern ein Labyrinth von Falten zeigte. Sein Hals war der eines Preiskämpfers, dick und stark. So also sieht der Sozialphilosoph und frühere Hufschmied aus, den mein Vater entdeckt hat, dachte ich. Und wahrlich: Man sah ihm seine Vergangenheit an den schwellenden Muskeln und dem Stiernacken an. Sofort war ich mir klar über ihn — eine Sehenswürdigkeit, dachte ich, ein Blinder Tom der arbeitenden Klasse.
Und als er mir dann die Hand schüttelte! Sein Händedruck war stark und fest, seine schwarzen Augen aber sahen mich kühn an — fast zu kühn, wie mir schien. Ihr seht, ich war ein Produkt meiner Umgebung und besaß damals ein ausgeprägtes Klassenbewusstsein. Bei einem Manne meiner eigenen Klasse wäre eine solche Kühnheit fast unverzeihlich gewesen. Ich weiß noch, wie ich unwillkürlich die Augen senken musste; ich fühlte mich ganz erleichtert, als ich ihn stehen lassen konnte, um Bischof Morehouse zu begrüßen — einen meiner Lieblinge, ein Mann von mildem Ernst in reiferen Jahren, eine gütige Christuserscheinung und dabei ein tüchtiger Gelehrter.
Aber diese Kühnheit, die mir als Anmaßung erschien, war ein Grundzug in Ernst Everhards Wesen. Er war einfach und geradezu, fürchtete sich vor nichts und verschmähte es, Zeit auf konventionelles Getue zu verschwenden. »Du gefielst mir,« erklärte er mir viel später einmal; »und warum sollten sich meine Augen nicht sattsehen an dem, was mir gefiel?« Ich sagte, dass er sich vor nichts fürchtete. Er war der geborene Aristokrat — und das trotz der Tatsache, dass er im Lager der Nichtaristokraten stand. Er war ein Übermensch, eine blonde Bestie, wie Nietzsche sie beschrieben hat, und zu alledem ein glühender Demokrat.
Die Begrüßung der übrigen Gäste nahm mich in Anspruch, und dazu kam der ungünstige Eindruck, den der Arbeiterphilosoph auf mich gemacht hatte, so dass ich ihn ganz vergessen haben würde, hätte er nicht ein- oder zweimal meine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, und zwar durch ein Aufblitzen seiner Augen, während er den Worten eines der Geistlichen lauschte. Er hat Humor, dachte ich und verzieh ihm fast seine Kleidung. Aber das Essen ging seinem Ende zu, ohne dass er den Mund zum Sprechen geöffnet hätte, während die Geistlichen ununterbrochen von der arbeitenden Klasse und ihren Beziehungen zur Kirche, sowie von dem redeten, was die Kirche für sie getan hatte und noch tat. Ich merkte, dass mein Vater sich ärgerte, weil Ernst nichts sagte. Einmal nahm er eine Pause wahr, um ihn zu bitten, etwas zu sagen; Ernst aber zuckte mit einem »Ich habe nichts zu sagen« die Achseln und fuhr fort, Salzmandeln zu essen.
Vater ließ sich jedoch nicht abweisen. Nach einer Weile sagte er:
»Wir haben ein Mitglied der arbeitenden Klasse unter uns. Ich bin sicher, dass er manches von einem neuen, interessanten und erfrischenden Standpunkt aus beleuchtet! könnte. Was meinen Sie, Herr Everhard?«
Die ändern bezeigten geziemendes Interesse und baten Ernst um eine Darlegung seiner Ansichten. Ihr Benehmen gegen ihn war so duldsam und liebenswürdig, dass es schon beinahe herablassend wirkte. Und ich sah, dass Ernst es bemerkte und belustigt war. Er blickte sich langsam um, und ich sah das Lachen in seinen Augen.
»Ich bin nicht in der Höflichkeit geistlicher Unterhaltung bewandert«, begann er, stockte dann aber bescheiden und unschlüssig.
»Nur zu«, drängten die ändern, und Dr. Hammerfield sagte: »Wir stoßen uns nicht an der Aufrichtigkeit eines Menschen, wenn sie nur ehrlich ist.«
»Sie machen also einen Unterschied zwischen Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit?« Ernst lächelte flüchtig bei diesen Worten.
Dr. Hammerfield schnappte nach Luft; dann erwiderte er: »Die besten unter uns können irren, junger Mann, die besten unter uns.«
Ernst änderte sein Benehmen augenblicklich. Er wurde ein anderer.
»Also schön«, sagte er, »dann lassen Sie mich Ihnen gleich von vornherein sagen, dass Sie alle irren. Von der arbeitenden Klasse wissen Sie nichts, weniger als nichts. Ihre Soziologie ist ebenso falsch und wertlos wie ihre ganze Denkart.«
Es war nicht so sehr, was er sagte, wie die Art, wie er es sagte.
Beim ersten Klang seiner Stimme war ich aufgerüttelt.
Diese Stimme war ebenso kühn wie seine Augen. Sie durchdrang mich wie eine Fanfare. Und die ganze Tafelrunde war aufgerüttelt und aus ihrer Eintönigkeit und Schläfrigkeit geweckt.
»Was ist denn so Falsches und Wertloses an unserer Denkart, junger Mann?« fragte Dr. Hammerfield, und schon war eine gewisse Unliebenswürdigkeit in seiner Stimme und Sprechweise zu spüren.
»Sie sind Metaphysiker. Durch Metaphysik können Sie alles beweisen; und demzufolge kann jeder Metaphysiker jedem ändern Metaphysiker — zu seiner eigenen Genugtuung — beweisen, dass er irrt. Sie sind Anarchisten im Reiche des Gedankens. Und schlechte Weltordner sind Sie dazu! Jeder von Ihnen lebt in seiner selbst geschaffenen Welt, die seiner Phantasie und seinen eigenen Wünschen entsprungen ist. Die wirkliche Welt, in der Sie leben, kennen Sie nicht, und in der wirklichen Welt hat Ihr Denken nur insofern Platz, als diese Welt eine durch Geistesverwirrung hervorgerufene Erscheinung ist.
Wissen Sie, woran ich denken musste, als ich bei Tisch Ihren Gesprächen lauschte? Sie erinnerten mich ganz an die Welt der Scholastiker im Mittelalter, die feierlich und unter Aufgebot ungeheurer Gelehrsamkeit die fesselnde Frage behandelten, wie viele Engel auf einer Nadelspitze tanzen könnten. Ja, meine verehrten Herren, dem geistigen Leben des zwanzigsten Jahrhunderts stehen Sie ebenso fern wie ein indianischer Medizinmann, der vor zehntausend Jahren im Urwald seine Beschwörungen vornahm.«
Eine schöne Leidenschaft schien Ernst beim Sprechen zu erfüllen; sein Antlitz glühte, seine Augen leuchteten und sprühten, und Kinn und Kiefer zeigten eine angriffslustige Beredtheit. Aber es war dies nur seine Art. Sie war es, die stets die Menschen aufrüttelte. Seine Art, anzugreifen, wie ein Hammer niederzuschmettern, ließ sie alles um sich vergessen. Und so geschah es auch jetzt. Bischof Morehouse beugte sich vor und lauschte gespannt. Zorn und Ärger röteten das Gesicht Dr. Hammerfields. Einige von den ändern waren auch aufgebracht, während wieder andere belustigt und überlegen lächelten. Ich selbst fand es außerordentlich drollig. Ich warf einen Blick auf meinen Vater und bekam Angst, dass er im nächsten Augenblick losplatzen würde über den Erfolg der Bombe, die er selbst geschleudert hatte.
»Ihre Worte sind recht unklar«, unterbrach Dr. Hammerfield das Schweigen. »Präzisieren Sie bitte, das Sie damit meinen, wenn Sie uns Metaphysiker nennen.«
»Ich nenne Sie Metaphysiker, weil Sie metaphysisch denken«, fuhr Ernst fort. »Sie denken alles andere eher als! wissenschaftlich. Ihre Folgerungen haben keine Gültigkeit. Sie können alles und nichts beweisen, ohne dass auch nur zwei von Ihnen einig wären. Jeder von Ihnen sucht sich und das All nach seiner eigenen Überzeugung zu erklären. Ebenso gut können Sie sich an Ihren eigenen Stiefelstrippen hochheben, wie eine Überzeugung durch die andere erklären.«
»Ich verstehe Sie nicht«, sagte Bischof Morehouse. »Mir scheint doch, dass alles Geistige metaphysisch ist. Die exakteste und überzeugendste aller Wissenschaften, die Mathematik, ist durch und durch metaphysisch. Jeder Denkprozess eines Wissenschaftlers ist es. Geben Sie mir da nicht recht?«
»Ja, insofern Sie sagen, dass Sie mich nicht verstanden haben«, erwiderte Ernst. »Der Metaphysiker urteilt deduktiv aus seiner eigenen Subjektivität heraus. Der Wissenschaftler urteilt induktiv aus der Erfahrung heraus. Der Metaphysiker schließt von der Theorie auf die Tatsachen, der Wissenschaftler von den Tatsachen auf die Theorie. Der Metaphysiker erklärt das Universum aus sich, der Wissenschaftler sich aus dem Universum.«
»Gott sei Dank, dass wir keine Wissenschaftler sind«, murmelte Dr. Hammerfield selbstgefällig.
»Was sind Sie denn?« fragte Ernst.
»Philosophen.«
»Ach so!« Ernst lachte. »Sie haben den festen Boden verlassen und sich mit einer Nachricht für ein Flugzeug in die Luft begeben. Bitte, kommen Sie wieder zur Erde herab und sagen Sie mir kurz und bündig, was Sie unter Philosophie verstehen.«
»Philosophie ist —«, Dr. Hammerfield machte eine Pause und räusperte sich, »etwas, das nur denen verständlich gemacht werden kann, die selbst nach Geist und Temperament Philosophen sind. Der begrenzte Wissenschaftler, der seine Nase in ein Reagenzglas steckt, versteht von Philosophie nichts.«
Ernst überging den Stich. Es war stets seine Art, die Spitze gegen den Gegner zu kehren, und er tat es auch jetzt, wobei seine Miene seine Worte ausdrucksvoll unterstrich.
»Dann werden Sie aber zweifellos die Erklärung verstehen, die ich Ihnen jetzt von der Philosophie geben werde. Zuvor aber ersuche ich Sie, etwaige Irrtümer darin festzustellen oder schweigender Metaphysiker zu bleiben. Die Philosophie ist unbedingt die umfassendste aller Wissenschaften. Ihre Denkmethode ist dieselbe wie die irgendeiner Sonderwissenschaft, und wie die aller Sonderwissenschaften. Und durch eben diese Methode, die induktive, sammelt die Philosophie alle Sonderwissenschaften zu einer einzigen großen Wissenschaft. Wie Spencer sagt, sind die Grundzüge jeder Sonderwissenschaft teilweise gleichartige Erkenntnisse. Die Philosophie vereinigt das Wissen, das von allen ändern Wissenschaften zusammengetragen ist. Die Philosophie ist die Wissenschaft der Wissenschaften, die Meisterwissenschaft, wenn Sie wollen. Wie gefällt Ihnen meine Erklärung?«
»Nicht schlecht, nicht schlecht«, murmelte Dr. Hammerfield zögernd.
Aber Ernst war unerbittlich.
»Vergessen Sie nicht«, warnte er ihn, »dass meine Erklärung für die Metaphysik verhängnisvoll ist. Wenn Sie jetzt keine Lücke in meiner Erklärung finden, sind Sie später nicht berechtigt, metaphysische Argumente vorzubringen. Sie müssen Ihr ganzes Leben nach dieser Lücke suchen und metaphysisch schweigen, bis Sie sie gefunden haben.«
Ernst hielt inne. Das Schweigen war peinlich. Dr. Hammerfield war verlegen und zugleich verblüfft. Der scharfe Angriff hatte ihn aus der Fassung gebracht. Diese einfache und direkte Kampfmethode war er nicht gewöhnt. Er sah sich flehend am Tische um, aber niemand sprang für ihn in die Bresche. Ich ertappte meinen Vater, wie er lachend in seine Serviette biss.
»Es gibt noch eine Art, die Metaphysiker zu widerlegen«, sagte Ernst, als die Niederlage Dr. Hammerfields besiegelt war. »Beurteilen Sie sie nach ihren Werken. Was haben sie für die Menschheit getan, außer dass sie lästige Phantasiegebilde ersannen und ihre eigenen Schatten für Götter hielten . Sie haben zur Erheiterung der Menschheit beigetragen, das gebe ich zu; aber was haben Sie Greifbares für die Menschheit getan? Sie philosophierten, wenn Sie mir den Missbrauch des Wortes verzeihen wollen, über das Herz als den Sitz der Regungen, während die Wissenschaftler den Kreislauf des Blutes feststellten. Sie redeten von Pest und Hungersnot als Geißeln Gottes, während die Wissenschaftler Kornspeicher bauten und Städte kanalisierten. Sie schufen Götter nach ihrem eigenen Bilde und ihren eigenen Wünschen, während die Wissenschaftler Straßen und Brücken bauten.
Sie erklärten unsre Erde für den Mittelpunkt des Alls, während die Wissenschaftler Amerika entdeckten und den Himmelsraum nach den Sternen und ihren Gesetzen durchforschten. Kurz, die Metaphysiker haben nichts, absolut nichts für die Menschheit getan. Fuß um Fuß sind sie vor dem Fortschritt der Wissenschaft zurückgewichen. Ebenso schnell, wie die festgestellten wissenschaftlichen Tatsachen ihre subjektiven Erklärungen über den Haufen warfen, ebenso schnell stellten sie wieder neue subjektive Erklärungen auf, die die letzten wissenschaftlichen Tatsachen einbezogen. Und das werden sie zweifellos bis ans Ende der Dinge tun. Meine Herren, ein Metaphysiker ist ein Medizinmann. Der Unterschied zwischen ihm und dem Eskimo, der sich einen pelzbekleideten, walspeckfressenden Gott macht, besteht nur in einigen tausend Jahren festgestellter Tatsachen. Das ist alles.«
»Und doch haben die Gedanken des Aristoteles Europa zwölfhundert Jahre lang beherrscht«, verkündete Dr. Ballingford feierlich. »Und Aristoteles war Metaphysiker.«
Dr. Ballingford blickte sich um und erntete beifälliges Nicken und Lächeln.
»Ihr Beispiel ist sehr unglücklich gewählt«, erwiderte Ernst. »Sie beziehen sich auf eine sehr dunkle Periode der menschlichen Geschichte. Diese Periode nennen wir in der Tat das dunkle Mittelalter. Es war eine Periode in der die Wissenschaft von den Metaphysikern vergewaltigt wurde, in der die Physik den Stein der Weisen suchte, die Chemie zur Alchimie und die Astronomie zur Astrologie wurde. Die Herrschaft der Gedanken des Aristoteles ist ein trauriges Kapitel.«
Doktor Ballingford sah verstimmt aus, dann aber erheiterte sich seine Miene, und er sagte:
»Wenn ich auch zugebe, dass das schreckliche Bild, das Sie gezeichnet haben, der Wirklichkeit entspricht, so müssen Sie doch gestehen, dass die Metaphysik insofern Gutes bewirkt hat, als sie die Menschen aus diesem dunklen Zeitalter heraus und in die Erleuchtung der glücklichen Jahrhunderte getrieben hatte.«
»Damit hatte die Metaphysik nichts zu tun«, entgegnete Ernst.
»Wie?« rief Dr. Hammerfield. »War es nicht ihr Denken und Grübeln, das zu den Entdeckungsreisen führte?«
»Ach, mein Lieber«, Ernst lächelte. »Ich dachte, Sie wären erledigt, denn bis jetzt haben Sie die Lücke in meiner Erklärung der Philosophie nicht gefunden. Sie stehen nicht auf dem Boden der Wirklichkeit. Aber das ist die Art der Metaphysiker, und ich verzeihe Ihnen. Nein, ich wiederhole: Die Metaphysik hat nichts damit zu tun. Brot und Butter, Seide und Juwelen, Dollars und Cents und, nebenbei, die Unterbindung des Verkehrs auf dem Landwege nach Indien, das waren die Ursachen der Entdeckungsreisen. Mit dem Fall Konstantinopels im Jahre 1453 blockierten die Türken den Karawanenweg nach Indien. Die Kaufleute Europas mussten einen ändern Weg finden. Das war der eigentliche Anlass zu den Entdeckungsreisen. Kolumbus schiffte sich ein, um einen neuen Weg nach Indien zu suchen. Das steht in jedem Geschichtsbuch. Zufällig erfuhr man dabei manches Neue über die Natur, die Form und Größe der Erde, und das ptolemäische System begann seinen Glanz zu verlieren.«
Doktor Hammerfield schnaufte.
»Sie pflichten mir nicht bei?« fragte Ernst. »Worin habe ich denn unrecht?«
»Ich kann meine Behauptung nur aufrechterhalten«, erwiderte Doktor Hammerfield mürrisch. »Es würde jetzt zu viel Zeit in Anspruch nehmen, wollte man sich in die Sache vertiefen.«
»Für den Wissenschaftler dauert nichts zu lange«, sagte Ernst liebenswürdig. »Daher erreicht der Wissenschaftler eben sein Ziel. Daher kam er nach Amerika.«
Ich will nicht den ganzen Abend schildern, obgleich es mir eine Freude ist, mir jeden Augenblick, jede Einzelheit dieser ersten Stunde meiner Bekanntschaft mit Ernst Everhard ins Gedächtnis zurückzurufen.
Ein prachtvoller Kampf entspann sich, die Geistlichen bekamen rote Köpfe und regten sich auf, namentlich, als Ernst sie romantische Philosophen, Schattenspieler und dergleichen mehr nannte. Und immer wieder wartete er ihnen mit Tatsachen auf.
»Tatsachen, Verehrtester, unwiderlegbare Tatsachen!« rief er triumphierend, sobald er einen von ihnen zu Fall gebracht hatte. Er strotzte von Tatsachen. Mit Tatsachen stellte er ihnen eine Falle, mit Tatsachen überfiel er sie, mit den Breitseiten von Tatsachen bombardierte er sie.
»Sie scheinen den Altar der Tatsachen anzubeten«, spöttelte Doktor Hammerfield.
»Es gibt keinen Gott außer der Tatsache, und Herr Everhard ist ihr Prophet«, zitierte Doktor Ballingford.
Ernst lächelte zustimmend.
»Ich bin wie der Mann aus Texas«, sagte er, und um eine Erklärung gebeten, fuhr er fort: »Ja, der Mann aus Missouri sagt immer: >Sie müssen es mir zeigen.< Der Mann aus Texas aber sagt: >Sie müssen es mir in die Hand legen.< Was beweist, dass er kein Metaphysiker ist.«
Als Ernst einmal geradezu sagte, dass die metaphysischen Philosophen nie den Wahrheitsbeweis erbringen könnten, fragte Dr. Hammerfield hastig: »Was ist der Wahrheitsbeweis, junger Mann? Wollen Sie uns freundlichst erklären, worüber klügere Leute als Sie sich so lange den Kopf zerbrochen haben?«
»Gern«, antwortete Ernst. Seine absolute Sicherheit irritierte die ändern. »Die klugen Leute haben sich den Kopf so über der Wahrheit zerbrochen, weil sie auf der Suche nach ihr ins Blaue gerieten. Wären sie auf dem festen Boden geblieben, so würden sie sie leicht gefunden haben — ja, sie hätten entdeckt, dass sie selbst mit allem praktischen Tun und Denken ihres Lebens eben den Wahrheitsbeweis erbrachte.
»Den Beweis, den Beweis«, wiederholte Dr. Hammerfield ungeduldig, »ohne Umschweife. Geben Sie uns, was wir so lange gesucht haben: den Wahrheitsbeweis. Geben Sie ihn uns, und wir werden Götter sein.«
Seine Worte und sein ganzes Benehmen zeigten einen unhöflichen, höhnischen Skeptizismus, an dem jedoch die meisten bei Tische heimliches Gefallen fanden. Nur Bischof Morehouse schien aufgebracht.
»Dr. Jordan hat es ganz klar ausgesprochen«, sagte Ernst. »Sein Wahrheitsbericht ist: >Wird es wirken? Willst du dein Leben daran wagen?<«
»Pah!« höhnte Dr. Hammerfield. »Sie haben nicht mit Bischof Berkeley gerechnet. Er wurde nie widerlegt.«
»Der prächtigste Metaphysiker von allen«, Ernst lachte. »Aber Ihr Beispiel ist unglücklich gewählt. Berkeley bezeugt selbst, dass seine Metaphysik wirkungslos sei.«
Jetzt war Dr. Hammerfield zornig, rechtschaffen zornig. Es war, als hätte er Ernst bei einem Diebstahl oder einer Lüge ertappt.
»Junger Mann«, stieß er hervor, »diese Behauptung ist allen ändern Äußerungen, die Sie heute abend getan haben, ebenbürtig. Sie ist eine niedrige, unverantwortliche Anmaßung.«
»Ich bin ganz zerschmettert«, murmelte Ernst demütig Nur weiß ich noch nicht, wodurch. Sie müssen es mir in die Hand legen, Herr Doktor.«
»Das will ich, das will ich«, sprudelte Doktor Hammerfield heraus. »Woher wissen Sie das? Woher wissen Sie, dass Bischof Berkeley bezeugte, seine Metaphysik sei wirkungslos. Sie haben keinen Beweis dafür, junger Mann, sie war immer wirksam.«
»Ich halte es für einen Beweis für die Unwirksamkeit von Berkeleys Metaphysik, dass« — Ernst hielt einen Augenblick inne — , »dass Berkeley die unabänderliche Gewohnheit hatte, durch Türen statt durch Mauern zu gehen. Dass er sein Wohl Brot und Butter und gebratenem Fleisch anvertraute. Dass er sich mit einem Messer rasierte, welches wirkte, indem es die Haare aus seinem Gesicht entfernte.«
»Aber das sind wirkliche Dinge«, rief Doktor Hammerfield. »Metaphysik ist etwas Geistiges.«
»Und sie wirkt — geistig?« fragte Ernst ruhig.
Der andere nickte.
»Dann können also unzählige Engel auf einer Nadelspitze tanzen — geistig«, fuhr Ernst sinnend fort. »Und ein pelzgekleideter, speckfressender Gott kann existieren und wirken — geistig; und es gibt keine Gegenbeweise — geistig. Ich nehme an, Herr Doktor, dass Sie geistig leben?«
»Mein Geist ist mein Königreich«, lautete die Antwort.
»Mit ändern Worten, Sie leben im Blauen. Aber ich bin überzeugt, dass Sie zur Erde herabkommen, wenn Essenszeit ist, oder wenn ein Erdbeben stattfinden sollte. Oder, sagen Sie, Herr Doktor, fürchten Sie beim Erdbeben nicht, dass Ihr unkörperlicher Leib von einem unkörperlichen Ziegelstein getroffen werden könnte?«
Im selben Augenblick fuhr Doktor Hammerfields Hand unbewusst nach dem Kopfe, wo er eine Narbe unter dem Haar hatte. Zufällig hatte Ernst ein passendes Bild gewählt.
Doktor Hammerfield wäre bei dem Großen Erdbeben fast von einem herabstürzenden Schornstein erschlagen worden. Alles brach in schallendes Gelächter aus.
»Nun?« fragte Ernst, als sich die Heiterkeit gelegt hatte. »Ihre Gegenbeweise!«
Aber Doktor Hammerfield hatte für einen Augenblick genug bekommen, und der Kampf nahm eine andere Wendung. Punkt für Punkt forderte Ernst die Geistlichen heraus. Behaupteten sie, die arbeitende Klasse zu kennen, so sagte er ihnen gründlich die Wahrheit, bewies ihnen, dass sie die arbeitende Klasse gar nicht kannten, und forderte sie auf, ihn zu widerlegen. Er wartete ihnen mit Tatsachen auf, bremste ihre Ausflüge ins Blaue und holte sie mit seinen Tatsachen auf den festen Boden zurück.
Wie klar sehe ich die Szene vor mir! Noch jetzt kann ich ihn mit dem kriegerischen Ton in seiner Stimme hören, wie er seine Gegner mit seinen Tatsachen quälte, deren jede wie ein Peitschenhieb war, und er war unerbittlich. Er verlangte keinen Pardon und gab keinen. Nie vergesse ich den Hieb, den er ihnen zum Schluss versetzte.
»Sie haben mehrmals, teils offen, teils unbewusst, bewiesen, dass Sie die arbeitende Klasse gar nicht kennen. Aber daraus mache ich Ihnen keinen Vorwurf. Wie könnten Sie etwas von ihr wissen? Sie wohnen nicht mit ihr zusammen. Sie wohnen mit der kapitalistischen Klasse zusammen in ändern Gegenden. Und warum nicht? Die kapitalistische Klasse bezahlt Sie, ernährt Sie, gibt Ihnen die Kleidung, die Sie tragen. Und dafür predigen Sie eben die Metaphysik, die Ihren Brotherren angenehm ist. Und diese Metaphysik ist Ihnen wiederum angenehm, weil sie die hergebrachte Gesellschaftsform nicht bedroht.« Bei diesen Worten erhob sich lärmender Widerspruch. »Oh ich stelle Ihre Lauterkeit nicht in Frage«, fuhr Ernst fort »Sie sind ehrlich. Sie predigen, was Sie glauben. Darin liegt eben Ihre Kraft und Ihr Wert — für die kapitalistische Klasse. Sollten Sie aber Ihrem Glauben irgendeine Richtung geben, die bedrohlich für die bestehende Ordnung wäre, so würde man Ihre Predigten unangenehm empfinden und Sie Ihres Amtes entheben. Hin und wieder geschieht das ja auch wohl nicht wahr?«
Diesmal erhob sich kein Widerspruch. Die Geistlichen saßen stumm ergeben da, und nur Dr. Hammerfield sagte:
»Wenn ihre Anschauungen unrichtig sind, werden sie ersucht, ihren Abschied zu nehmen.«
»Mit ändern Worten, wenn diese Anschauungen unbequem sind«, antwortete Ernst und fuhr dann fort: »Und darum sage ich Ihnen, machen Sie weiter, predigen Sie und verdienen Sie sich Ihr Geld damit, aber lassen Sie um Himmels willen die arbeitende Klasse in Frieden. Sie stehen im Lager des Feindes. Sie haben keine Gemeinschaft mit der arbeitenden Klasse. Ihre Hände sind weich von der Arbeit, die andere für Sie getan haben. Sie essen so viel, dass Sie schon Bäuche haben. (Hier fuhr Doktor Bailingford zusammen, und alle Augen richteten sich auf seinen mächtigen Bauch. Man sagte von ihm, dass er seit Jahren seine eigenen Füße nicht mehr gesehen hätte.) Sie haben keine anderen Lehren im Kopfe als die, welche die mächtigen Grundpfeiler der herrschenden Ordnung sind. Sie sind Söldner — ehrliche Söldner, gebe ich zu — genau wie die Leute der Schweizer Garde.
Bleiben Sie Ihrem Salz und Sold treu. Behüten Sie mit Ihren Predigten die Interessen ihrer Brotherren, aber steigen Sie nicht zur arbeitenden Klasse hinab und dienen ihr als falsche Führer. Als ehrliche Menschen können Sie nicht in zwei Lagern auf einmal stehen. Die arbeitende Klasse ist ohne Sie ausgekommen. Glauben Sie mir, sie wird es auch ferner. Und mehr noch, sie wird besser ohne Sie auskommen.«
Als die Gäste gegangen waren, warf mein Vater sich auf einen Sessel und brach in ein schallendes Gelächter aus. Seit dem Tode meiner Mutter hatte ich ihn noch nie so lachen hören.
»Ich wette, Doktor Hammerfield ist noch nie in seinem Leben so aufgebracht gewesen«, meinte er dann. »>Die Höflichkeit geistlicher Unterhaltung!< Hast du es bemerkt, wie er sanft wie ein Lamm anfing — Everhard, meine ich —, und wie schnell er zum brüllenden Löwen wurde? Er hat einen glänzend geschulten Geist. Er hätte einen vorzüglichen Wissenschaftler abgegeben, wenn seine Energie in die Richtung gelenkt worden wäre.«
Ich brauche kaum zu sagen, dass Ernst Everhard mich ungeheuer interessierte. Es war nicht allein das, was er gesagt, und wie er es gesagt hatte, sondern der Mann an sich. Nie war ich einem solchen Manne begegnet. Ich glaube, es kam daher, dass ich trotz meiner vierundzwanzig Jahre noch nicht verheiratet war. Er gefiel mir, das gestand ich selber.
Und mein Gefallen an ihm beruhte auf Dingen, die jenseits von Intellekt und Argument lagen. Ungeachtet seiner schwellenden Muskeln und seines Preisboxer-Halses machte er auf mich den Eindruck eines geistreichen jungen Mannes. Ich hatte das Gefühl, dass unter der Maske eines intelligenten Eisenfressers ein zarter, empfindsamer Geist lebte. Woher dies Gefühl kam, weiß ich nicht, aber es muss wohl meine weibliche Intuition gewesen sein.
In dieser tönenden Stimme lag etwas, das mir zu Herzen ging. Sie klang mir noch in den Ohren, und ich fühlte, dass ich sie gern wiederhören und ebenso gern das Lachen in seinen Augen wieder sehen würde — dieses Lachen, das den leidenschaftlichen Ernst seines Antlitzes Lügen strafte.
Und eine ganze Reihe wirrer, unbestimmter Gefühle regten sich in mir. Schon damals liebte ich ihn, wenn ich auch überzeugt bin, dass, hätte ich ihn nie wieder gesehen, diese unklaren Gefühle vergangen wären und ich ihn mit Leichtigkeit vergessen hätte.
Aber ich sollte ihn wieder sehen. Das neu erwachte Interesse meines Vaters für Soziologie, die Gesellschaften, die er gab, waren die Ursache. Mein Vater war nicht Soziologe. Seine Ehe mit meiner Mutter war sehr glücklich gewesen, und in den Forschungen, die er in seiner eigentlichen Wissenschaft, der Physik, anstellte, hatte er ebenfalls Glück gehabt. Als aber meine Mutter starb, konnte seine Arbeit nicht die entstandene Leere ausfüllen. Zuerst befasste er sich ein wenig mit Philosophie, dann ließ er sich, als das Interesse wach wurde, in das Studium der Nationalökonomie und der Soziologie hineintreiben. Er hatte einen starken Gerechtigkeitssinn und fasste bald eine wahre Leidenschaft, geschehenes Unrecht wiedergutzumachen. Diese Zeichen neuerwachten Lebensmutes nahm ich dankbar wahr, wenn ich mir auch nicht träumen ließ, was dabei herauskommen sollte. Mit der Leidenschaft eines Jünglings stürzte er sich in diese neuen Studien, unbekümmert, wohin sie ihn führten.
Er war stets gewohnt gewesen, im Laboratorium zu arbeiten, und so wurde unser Esszimmer bald zu einem soziologischen Laboratorium. Hierher kamen zum Essen Männer aller Art und Klassen — Gelehrte, Politiker, Bankleute, Kaufleute, Professoren, Arbeiterführer, Sozialisten und Anarchisten. Er reizte sie zur Diskussion und analysierte ihre Gedanken über Leben und Gesellschaft.
Ernst hatte er kurz vor dem »Pastoren-Abend« kennen gelernt. Und als die Gäste gegangen waren, erfuhr ich, wie er seine Bekanntschaft gemacht hatte. Beim Passieren einer Straße war er eines Abends stehen geblieben, um einem Mann zuzuhören, der auf einer Seifenkiste stand und zu einer Schar von Arbeitern redete. Der Mann auf der Kiste war Ernst. Aber er war kein gewöhnlicher Seifenkistenredner. Er stand in hohem Ansehen bei der sozialistischen Parteileitung, war einer der Führer, und zwar der anerkannte Führer in der sozialistischen Philosophie. Aber er hatte eine klare bestimmte Art, Schwerverständliches in einfachen Worten auszudrücken, er war der geborene Erklärer und Lehrer und verschmähte die Seifenkiste nicht als ein Mittel, den Arbeitern seine Parteilehren darzulegen.
Mein Vater war stehen geblieben, um zuzuhören, hatte Interesse gefasst, ihn angeredet und ihn, nachdem die Bekanntschaft gemacht war, zum »Pastoren-Abend« eingeladen. Nach der Gesellschaft erzählte mir mein Vater das wenige, was er von ihm wusste. Er stammte aus der Arbeiterklasse, wenn er auch zu den Everhards gehörte, die schon vor mehr als zweihundert Jahren in Amerika ansässig gewesen waren. Im Alter von zehn Jahren musste er schon in der Mühle arbeiten, und später kam er in die Lehre und wurde Hufschmied. Er war Autodidakt, hatte sich selbst Deutsch und Französisch beigebracht, und fristete nun sein Leben durch das Übersetzen wissenschaftlicher und philosophischer Werke für einen schwer kämpfenden sozialistischen Verlag in Chikago. Seine Einnahmen wurden vermehrt durch das geringe Honorar, das seine eigenen volkswirtschaftlichen und philosophischen Schriften ihm eintrugen.
So viel erfuhr ich, ehe ich zu Bett ging, und lange lag ich wach und hörte im Geist noch den Klang seiner Stimme. Ich erschrak vor meinen eigenen Gedanken. Er war so anders als die Männer meiner Klasse, so fremdartig und so stark. Seine Überlegenheit entzückte und erschreckte mich zu-gleich, denn meine phantastischen Gedanken trieben ihr mutwilliges Spiel so weit, bis ich mich dabei ertappte, dass ich ihn mir als meinen Geliebten, als meinen Gatten vorstellte. Ich hatte stets gehört, dass die Stärke eines Mannes eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf Frauen ausübte; aber er war zu stark. »Nein! Nein!« rief ich. »Es ist unmöglich, unsinnig!« Und am Morgen erwachte ich mit der Sehnsucht, ihn wieder zu sehen. Ich wollte ihn sehen, wie er andere Männer mit dem kriegerischen Klang seiner Stimme in der Diskussion abtat; ihn sehen, in all seiner Sicherheit und Kraft, wie er sie aus ihrer Behaglichkeit herausriss und aus ihren ausgetretenen Gedankenbahnen rüttelte. Warum er seine Klopffechterei betrieb? Um seinen eigenen Ausdruck zu gebrauchen, weil es »zog«, Effekt machte. Und zudem war seine Klopffechterei ein prachtvolles Schauspiel. Sie erregte einen wie der Angriff zur Schlacht.
Mehrere Tage vergingen, in denen ich Ernsts Bücher las, die mein Vater mir lieh. Er schrieb, wie er sprach, knapp, klar und überzeugend. Eben diese klare Schlichtheit war es, die selbst dann überzeugte, wenn man noch zweifelte. Er hatte die Gabe, Klarheit um sich zu verbreiten. Er war der vollendete Erklärer. Und doch war ich trotz seines Stils in vielem nicht mit ihm einverstanden. Er legte zuviel Gewicht auf das, was er Klassenkampf nannte -- den Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital, den Streit der Interessen. Vater erzählte mir mit großem Vergnügen das Urteil, das Doktor Hammerfield über Ernst gefällt hatte, und das in der Behauptung gipfelte, Ernst sei »ein frecher junger Laffe, den sein bisschen sehr unzureichendes Wissen aufgeblasen hätte«. Doktor Hammerfield wünschte auch nicht wieder mit ihm zusammenzutreffen.
Dagegen erklärte Bischof Morehouse, dass Ernst ihn interessiere, und dass er ihn gern wieder sehen wolle. »Ein starker junger Mann«, sagte er. »Und lebhaft, sehr lebhaft. Aber er ist zu sicher, zu sicher.«
Eines Nachmittags kam Ernst mit Vater. Der Bischof war bereits anwesend, und wir tranken Tee auf der Veranda. Dass Ernst so oft in Berkeley war, erklärte sich aus der Tatsache, dass er an der Universität Vorlesungen über Biologie hörte, und dass er ferner stark an seinem neuen Buche »Philosophie und Revolution« arbeitete.
Die Veranda schien plötzlich zu eng geworden, als Ernst kam. Nicht, dass er außergewöhnlich groß gewesen wäre — er maß nur ein Meter fünfundsiebzig —, aber er schien eine Atmosphäre von Größe auszustrahlen. Als er mich begrüßte, verriet er eine leichte Verlegenheit, die befremdend wirkte und nicht im Einklang stand mit seinem kühnen Blick und seiner festen, sicheren Hand, die die meine im Augenblick der Begrüßung drückte. Und eben in diesem Augenblick waren seine Augen ruhig und sicher. Er betrachtete mich lange, und eine Frage schien in seinem Blick zu liegen.
»Ich habe gerade in Ihrer >Philosophie der arbeitenden Klasse< gelesen«, sagte ich und sah seine Augen zufrieden auf leuchten. »Sie haben doch natürlich das Publikum in Betracht gezogen an das das Buch sich richtet«, antwortete er. »Ja, und eben deshalb muss ich ein Wörtchen mit Ihnen reden«, sagte ich herausfordernd.
»Ich habe auch einen Strauß mit Ihnen auszufechten, Herr Everhard«, sagte Bischof Morehouse.
Ernst hob die Schultern und nahm eine Tasse Tee, die ich ihm reichte.
Der Bischof ließ mir mit einer Verbeugung den Vortritt. »Sie schüren den Klassenhass«, sagte ich. »Ich halte es für unrecht und sträflich, all die niedrigen und rohen Instinkte der arbeitenden Klasse wachzurufen. Klassenhass ist unsozial, und, wie mir scheint, antisozialistisch.«
»Falsch«, erwiderte er. »Weder im Wortlaut noch im Geist irgendeiner meiner Schriften ist Klassenhass.« »Oho!« rief ich vorwurfsvoll, nahm sein Buch und schlug es auf. Er nippte lächelnd an seinem Tee, während ich die Seiten überflog.
»Seite hundertzweiunddreißig«, las ich laut. >»Daher gibt es im jetzigen Stadium der sozialen Entwicklung als einziges Mittel den Klassenkampf zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.<«
Ich blickte ihn triumphierend an.
»Keine Spur von Klassenhass«, gab er lachend zurück.
»Aber Sie sprechen doch von Klassenkampf«, sagte ich.
»Etwas ganz anderes als Klassenhass«, erwiderte er. »Und glauben Sie mir, wir schüren den Hass nicht. Wir sagen, dass der Klassenkampf eine Folge der sozialen Entwicklung ist. Wir sind nicht dafür verantwortlich. Wir schaffen den Klassenkampf nicht. Wir erklären ihn nur, wie Newton das Gesetz der Gravitation erklärt hat. Wir erklären lediglich das Wesen des Interessenkonflikts, der den Klassenkampf hervorruft.«
»Aber es sollte keinen Interessenkonflikt geben!« rief ich.
»Da bin ich völlig mit Ihnen einig«, antwortete er. »Das ist es ja, was wir Sozialisten erstreben — die Beendigung des Interessenkonflikts. Entschuldigen Sie bitte einen Augenblick; lassen Sie mich vorlesen.« Er nahm das Buch und blätterte darin. »Seite hundertsechsundzwanzig: >Die Periode der Klassenkämpfe, die mit der Zersetzung der ursprünglichen Gütergemeinschaft und der Entstehung des Privateigentums begann, wird mit dem Aufhören des Privateigentums im Sinne des Sozialismus endigen.<«
»Aber da stimme ich nicht mit Ihnen überein«, fiel der Bischof ein, dessen blasses, asketisches Gesicht durch schwaches Erröten seine Erregung verriet. »Ihre Voraussetzung ist falsch. Es gibt nichts Derartiges wie einen Interessenkonflikt zwischen Arbeit und Kapital — oder, vielmehr, es sollte ihn nicht geben.«