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"Als ich ein Kind war, musste ich mich nie auf die Schultern von anderen stellen, um die Engel zu berühren. Sie waren stets um mich herum ... "
Jane ist neun Jahre alt, als ihr Vater stirbt. Ihre Mutter ist zum dritten Mal schwanger und voller Sorge um die Zukunft ihrer Kinder. Als der kleine Milo Turner mit seiner Familie in die Stadt zieht, begegnen die Menschen von Morgan Hill ihnen mit Misstrauen und Ablehnung. Nur Jane und ihre Familie gehen mit offenem Herzen auf die Neuankömmlinge zu.
Aber dann geschieht ein schreckliches Unglück. Janes Mutter steht vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens, und Milo braucht Janes Freundschaft so dringend wie nie zuvor. In dieser schweren Zeit erkennt Jane, dass auch Engel in menschlicher Gestalt die Hand über sie halten.
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Seitenzahl: 320
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Danksagung
Zitat
Prolog
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Epilog
Donna VanLiere
Die Engelvon Morgan Hill
Eine Geschichte voller Hoffnung
Aus dem amerikanischen Englischvon Anita Krätzer
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»The Angels of Morgan Hill«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2006 by Donna VanLiere
Dieses Werk wurde im Auftrag von St. Martin’s Press, L. L. C, durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen, vermittelt.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2008 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Margit von Cossart, Bergisch Gladbach
Umschlaggestaltung: Christina Krutz Design
Titelillustration: © Michael Breuer, Riedstadt
E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-8387-1246-8
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für meine Mutter Alice Jane Payne,die in einem Ort aufwuchs, der Morgan Hill ähnelt
Meine Anerkennung und mein Dank gehen an:
Troy, Gracie und Kate dafür, dass sie das Schönste in meinem Leben waren.
Meine Mutter, weil sie mich zu dieser Geschichte inspiriert hat. Vor vielen Jahren erzählte sie mir, dass sie schon fast erwachsen war, als sie zum ersten Mal einen schwarzen Menschen aus der Nähe sah. Sie und mein Vater, Archie, wuchsen in Greene County, Tennessee, auf, und viele ihrer Kindheitsgeschichten darüber, wie sie die Bahnschienen entlanggingen, Kühe molken, Tabak anpflanzten und sich in kleinen Läden wie dem von Henry auf hielten, werden auf den folgenden Seiten wiedergegeben.
Jennifer Gares und Esmond Hammsworth, die mein Manuskript wieder und wieder und wieder gelesen haben. Ohne ihre Anregungen wäre es nicht zu dem jetzt vorliegenden Buch geworden!
Jennifer Enderlin für ihren Glauben an Morgan Hill und dafür, dass sie anderen diesen Glauben vermittelt hat. Wunderbar! Dankbar bin ich auch Sally Richardson, George Witte, Matthew Shear, John Karle, Matthew Baldacci, Mike Storrings und allen Mitarbeitern von St. Martin’s Press, die zum Zustandekommen dieses Buches beigetragen haben.
Meine Tante Geraldine Culbertson, die mich während meiner Reise durch Greene County herumgefahren hat. Ich danke ferner meiner Tante Maxine Harrison und ihrem Mann Merrill für ihre lange Gastfreundschaft und zahlreiche vorzügliche Mahlzeiten!
Rhonda Julian, die ich bei ihr zu Hause antraf, während ihre vier kleinen Kinder in der Nähe spielten. Rhonda bat ihren Vater Jack Lawson und ihren Onkel Tom Lawson zu sich, um mir vom Tabakanbau in den Vierzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts zu erzählen. Sie war freundlich und gütig, und man merkte, dass ihre Kinder sehr an ihr hingen. Sie starb viel zu früh an Leukämie (auch ihr Vater verschied, während dieses Buch geschrieben wurde). Ich bin dankbar für die Art, in der Rhonda mich willkommen hieß, und für den Glauben, den sie in diese Geschichte setzte.
James »Spud« Ailshie, um 1940 Gemischtwarenhändler (und Tabakbauer!), der Henrys Laden lebendig werden ließ.
Meinem Pastor Chris Carter und alle von der Orchard Church in Franklin für ihre Freundschaft und ständige Inspiration.
Ich habe mit dem Schreiben dieses Buches vor ein paar Jahren im Blockhaus von Johnny und Janet Hunt, Raymond und Glenda Pumphrey und Jim und Kathy Law begonnen. Ich danke ihnen allen für die ideale Umgebung!
»Miss« Karen Parente, »Miss« Carole Consiglio und »Miss« Kelly Long von der Little School für ihre Herzlichkeit!
Und erneut Bailey, der alles in seinen Kräften Stehende tut, um stets in meiner Nähe zu sein.
Ich bin ein Teil all jener, denen ich begegnet bin.
ALFRED TENNYSON, ULYSSES
An dem Tag, an dem wir meinen Daddy beerdigten, regnete es in Strömen. Mama sagte, das sei so, weil die Engel weinten. Aber nachdem es stundenlang wie aus Kübeln geschüttet hatte, bezweifelte ich, dass die Engel Freudentränen vergossen, weil Daddy bei ihnen im Himmel war. Vielmehr vermutete ich, dass sie über seine dortige Anwesenheit schlicht bestürzt waren.
Mein Vater war Diabetiker und ein Trunkenbold gewesen – zwei Voraussetzungen, die nicht gut miteinander harmonieren. Doc Langley hatte ihn ständig ermahnt, dass die Trinkerei ihn umbringen werde, aber Daddy schenkte seinen Worten keine Beachtung. Eines Abends spielte er mit Beef, Dewey und den übrigen Jungs mal wieder Karten, als er, wie sie aussagten, »eine Art Anfall« bekam und verschied. Sie dachten, er hätte einfach zu viel getrunken, und ließen ihn die nächsten zwölf Stunden mit dem Kopf auf dem Tisch dasitzen, während sie ihr Spiel beendeten. Schließlich merkte einer der Jungs, dass Daddy nicht nur ein Nickerchen machte. (Sie können mir glauben, dass es für sie eine Meisterleistung war, nach nur zwölf Stunden etwas begriffen zu haben.) Sie holten einen Arzt, aber Daddy war längst tot. Der Arzt sagte, dass es nichts genützt hätte, wenn er früher zu ihm gekommen wäre. Der Alkohol hatte sein Blut vergiftet und ihn in ein diabetisches Koma versetzt. Er war achtundzwanzig Jahre alt geworden. Ich war damals neun.
Der Tag, an dem wir ihn beerdigten, war zugleich auch der Tag, an dem ich zum ersten Mal ein schwarzes Gesicht aus der Nähe sah. Im östlichen Tennessee gab es während des Bürgerkriegs keine Sklaven, darum hatte sich dort auch nie eine größere Zahl von Schwarzen angesiedelt. Viele wohnten in Greeneville, aber während meines neunjährigen Lebens war ich noch nie irgendwo anders als in Morgan Hill gewesen.
Mein Bruder John und ich fuhren mit Tante Dora in deren Auto, als wir uns einem alten Lastwagen näherten. Tante Dora suchte nach einer Möglichkeit, ihn zu überholen, als plötzlich ein winziger Kopf auf der Pritsche des Lastwagens auftauchte. Er gehörte einem kleinen Jungen, ungefähr so alt wie John, und hatte die Farbe von Milchschokolade. Sein Kopf war rund und kahl und die Augen groß und schwarz wie glänzende Murmeln. Der Junge klammerte sich an die hintere Wagenklappe und starrte uns an. Ich erinnerte mich, dass Mama über ein paar Farbige gesprochen hatte, die in die Stadt gezogen waren, aber ich hatte sie nie gesehen, also gaffte ich zurück. Der kleine Junge verlor fast den Halt, als der Lastwagen über eine Unebenheit holperte, und grinste dann – es war das breiteste, weißeste Grinsen, das ich je gesehen hatte. So unvermittelt, wie er aufgetaucht war, zog er sich plötzlich wieder in den Laster zurück, bevor dieser in die Abzweigung bog, die zur Cannon Farm führte.
»Na seht mal«, sagte Tante Dora. »Das sind die Farbigen, von denen eure Mama erzählt hat, dass sie in die Stadt gezogen sind. Sie werden vermutlich einiges durcheinanderbringen.« Ich verstand damals nicht recht, was sie meinte, aber das sollte sich schon bald ändern.
All dies geschah im Frühjahr 1947 in Morgan Hill, Tennessee. Morgan Hill liegt knapp neunzig Kilometer nordöstlich von Knoxville in der schönsten, sich sanft dahinziehenden grünen Hügellandschaft, die man sich nur vorstellen kann. Thomas Morgan war der Erste, der sich im Jahre 1810 dort ansiedelte. Er wohnte am Fuße eines kleinen Berges, den er sich selbst zu Ehren Morgan’s Hill nannte. Schließlich wurde das »s« aus Bequemlichkeit weggelassen.
Die imposantesten Gebäude von Morgan Hill waren 1947 Walker’s, ein winziger Gemischtwarenladen mit einer einzelnen Benzinzapfsäule an der Vorderseite, die Morgan Hill Baptist Church und die nach Doc Langleys Urgroßvater benannte Langley-Schule, die in einem sich im Sommer rasch auf heizenden, engen Ziegelsteingebäude auf der Spitze des Hügels in der Mitte der Stadt die Klassen eins bis zwölf beherbergte.
Wir waren eine arme Gemeinde. Einige der nur drei Jahre zuvor ans Stromnetz angeschlossenen Haushalte, darunter auch unserer, hatten nicht das erforderliche Geld, um die Stromrechnung zu bezahlen, und benutzten daher weiterhin Kerosinlampen. Wir hielten unsere eigenen Milchkühe, schlachteten unsere eigenen Schweine, bauten unser Gemüse selbst an und bemühten uns, so gut wir konnten, über die Runden zu kommen.
Möglicherweise denken Sie jetzt, dass sich dieses Buch vorwiegend um meinen Vater und eine ärmliche Kindheit im östlichen Tennessee dreht. Aber es geht um viel mehr. Nämlich darum, dass mein Herz von der Hoffnung auf ein Dazugehören und dem Traum von einer Familie ergriffen wurde. Inzwischen sind vierundfünfzig Jahre vergangen, und viele Einzelheiten sind mir nur noch verschwommen gegenwärtig. Aber die Erinnerungen des Herzens sind für mich heute noch genauso lebendig wie damals.
Die Frau, die ich bin, hat sehr viel mit jenem zehnten Jahr meines Lebens zu tun. Es begann wie jedes andere Jahr ohne ungewöhnliche Vorkommnisse. Aber mit jedem sich entfaltenden Tag wurde es bemerkenswerter. Es gibt Zeiten, in denen ich mich noch immer wundere, dass wir es durchgestanden haben. Es heißt, dass jedes Leben seine eigene Geschichte hat. Dies ist meine Geschichte, auch wenn so viele andere Menschen darin eingebunden sind, weil ich nie allein war. Sie waren immer bei mir und sind es noch heute.
Der Friedhof von Morgan Hill lag direkt hinter der Kirche. Sie können sich also vorstellen, wie bequem Beerdigungen damals waren. Nach der Predigt des Pfarrers gingen wir einfach durch die Hintertür und verabschiedeten uns von der armen Seele des Verstorbenen im Sarg. An Regentagen taten wir dies in der Kirche und ließen den Sarg dort stehen, bis der Regen aufhörte. Dann kamen die Totengräber zurück und begruben ihn. Aber an dem Tag, an dem wir Daddy beerdigten, fand um elf Uhr eine Hochzeit statt, und verständlicherweise wollte die Braut seinen Sarg nicht vor sich stehen haben, wenn sie und der Mann, den sie liebte, einander das Jawort gaben.
Noch nie in der Geschichte der Morgan Hill Baptist Church hatte es eine Terminüberschneidung gegeben. Die Beerdigung war auf zehn Uhr angesetzt, aber die Leute blieben wegen des Regens in ihren Häusern. Es war schon fast halb elf, als die ersten Trauergäste eintrafen. Die Braut und ihre Mutter hatten den Eingang der Kirche bereits mit Girlanden geschmückt. Ein großes rotes Spruchband mit der Aufschrift »Naomi und Cal für immer« war über die Kanzel gehängt worden – nett für eine Trauung, aber nicht gerade die passende Abschiedsdekoration für einen toten Mann. Eine Handvoll Trauernder stapfte in die Kirche. Die arme Naomi war außer sich.
»Mama, da liegt ein toter Mann vor dem Altar!«, schluchzte sie. »Er wird meine Hochzeit verderben!«
Naomis Mutter tätschelte ihr die Schulter und beruhigte und tröstete sie, so gut sie es vermochte. Sie begrüßte die ersten frühen Hochzeitsgäste, die vereinzelt durch die Tür eintraten, mit einem breiten, strahlenden Lächeln, um sie erst einmal zu den hinteren Bankreihen zu geleiten.
Man beschloss, die Totenandacht auf dem Friedhof abzuhalten, aber jeder wollte warten, bis sich der Regen wenigstens abgeschwächt hatte. Um Zeit zu gewinnen, sangen wir Kirchenlieder, die bei jedem Begräbnis gesungen wurden. Zunächst stimmten wir In the Sweet Bye and Bye an. Der Regen verstärkte sich, und Naomi schluchzte weiter vor sich hin. Dann sangen wir Shall We Gather at the River – angesichts des Wassers, das sich mittlerweile auf dem Friedhof angesammelt hatte, machte es den Eindruck, dass wir uns tatsächlich sehr bald an einem Fluss versammeln würden. Wir warteten und warteten und sangen und sangen, und je länger wir warteten und je lauter wir sangen, desto nervöser wurden Naomi und ihre Mutter.
Also begaben wir uns schließlich an das ausgehobene Grab. Wir beteten, dass die Blätter der Bäume uns ein wenig vor der Nässe schützen würden, das taten sie aber nicht. Wie halb ertrunkene Ratten standen wir eng gedrängt um das große schwarze Loch und versuchten zu trauern, während uns das Wasser bis auf die Unterhosen durchnässte. Der Priester, der uns die vergangenen dreißig Jahre betreut hatte, war in den Ruhestand getreten. Deshalb hatte Mama Pete Fletcher gefragt, ob er den Trauergottesdienst für Daddy abhalten könne. Pete war kein Priester, sondern ein Farmer und Mechaniker, und ich erinnere mich, dass er bei der Vorstellung, einen toten Mann zu seiner irdischen Ruhestätte verabschieden zu sollen, fast in Ohnmacht gefallen wäre.
Pete gab jedoch sein Bestes, um von der in Christi Auferstehung begründeten Hoffnung und davon zu sprechen, dass wir eines Tages wieder mit Daddy im Himmel vereint sein würden, aber ehrlich gesagt waren wir alle viel zu nass, um zuhören zu können. Vier Männer ließen den Sarg in das Grab hinabsinken. Die dicken Taue waren so glitschig, dass sie ihnen aus den Händen rutschten, weshalb der Kasten mit einem dumpfen Schlag auf dem feuchten Boden aufschlug. Es war nicht gerade das ergreifendste, aber sicher eines der unvergesslichsten Begräbnisse von Morgan Hill.
Mama ließ meinen siebenjährigen Bruder John und mich wieder mit Tante Dora nach Hause fahren. Sie war Daddys einzige Schwester und den weiten Weg von Cleveland, Ohio, zum Begräbnis gekommen. Tante Dora war dreißig, hatte dicke Knie und geschwollene Knöchel und befand sich in der unglücklichen Lage, ein hoffnungsloser Single zu sein. Wenn sich ein Junggeselle, wie alt oder zahnlos er auch sein mochte, irgendwo in der Nähe befand, schlang sie ihre wurstförmigen Arme um Johns Hals, um demonstrativ zu zeigen, dass sie der perfekte mütterliche Typ war. John sagte, dass er ihre Heimreise kaum noch abwarten könne. Aber wenn wir nicht mit Tante Dora gefahren wären, hätte sich auch nicht bis heute die Erinnerung an Milos kleines schwarzes Gesicht auf der Pritsche des Lastwagens in mein Gedächtnis eingebrannt.
Wir wohnten in einem kleinen weißen Farmhaus, in dem Mama geboren worden war. Es hatte zwei Schlafzimmer und an zwei Hauswänden eine Veranda. Die Vorderseite des Hauses war den Bahngleisen zugewandt, was keinen Sinn machte, weil man sie nur sah, wenn man die Schienen entlanglief oder mit dem Zug fuhr. Unser Haupteingang ging von der zur Straßenseite weisenden Küche an der Rückseite des Hauses ab. Ich war drei Jahre alt, als wir einzogen. Ich erinnere mich nicht mehr, wo wir davor wohnten, aber Mama sagte immer, dass in der Wohnung noch nicht einmal ein kleiner Hund mit dem Schwanz habe wedeln können.
Ich zog trockene Sachen an, während die Erwachsenen in die Küche drängten und lärmend so viel Essen bereitstellten, dass wir alle und außerdem noch Naomis und Cals Hochzeitsgäste hätten verköstigt werden können. Mit einem vollgepackten Teller verzog ich mich mit John im Schlepptau auf die Veranda.
Nachdem Daddy Mama vor zwei Jahren an die Wand geschleudert hatte, war John zu der Überzeugung gelangt, dass sich der Butzemann in unserem Haus auf hielt, und zwar unter seinem Bett, um genau zu sein. Jeden Abend musste ich deshalb unter seinem Bett nachsehen. Als John zu sprechen anfing, stotterte er. Er blieb an einem Wort oder Laut wie der Motor eines im Winter angeworfenen Traktors hängen. »Ab-b-b-ber«, stammelte er. Mit zunehmendem Alter verschwand das Stottern, doch ich wusste immer, wann er sich fürchtete, weil er dann Probleme mit der Aussprache der Wörter hatte. Wenn nur Mama, John und ich im Haus waren, konnte er fließend sprechen, aber wenn Daddy heimkam, brauchte John Ewigkeiten, etwas zu sagen. Seit Daddys Tod hat John fast nie mehr gestottert.
John hatte seine nasse Kleidung nicht gewechselt, und das erzürnte Mama. »John Charles, hast du nicht genug Grips, die nassen Sachen auszuziehen?« Ich wusste nie, ob sich Mama tatsächlich sorgte, dass John zu wenig Grips haben könnte, oder ob es um die Tatsache ging, dass John Verhaltensweisen zeigte, die sie an Daddy erinnerten. Wie auch immer, sie war fest entschlossen, ihm die Leviten zu lesen.
»Sie stören mich nicht, Mama. Sie sind gar nicht so nass.«
»Das Wasser läuft dir die Beine runter und tropft dir zwischen den Zehen durch«, erwiderte sie und zeigte auf den fußförmigen nassen Fleck auf der Veranda.
John ließ seinen Fuß auf den Boden klatschen, um einen weiteren nassen Abdruck zu hinterlassen. »Ich weiß. Ich finde das schön!«
Mama verdrehte die Augen, murmelte, dass John weniger Grips habe als Bohnenstroh, und ging ins Haus zurück. Da wir das Gerede vom Grips schon hundertmal zuvor gehört hatten, machten wir uns nichts draus, stürzten uns auf unseren Teller und schlangen das Essen wie die Schweine in uns hinein. Wir sahen zu, wie der Regen an der Vorderseite der Veranda hinabrann, hielten unsere Füße unter das vom Verandavorsprung herabfließende Wasser und erwähnten Daddy mit keinem Wort. Nicht, dass wir es nicht wollten; wir wussten einfach nicht, was wir sagen sollten. Wir verspürten keinerlei Traurigkeit über seinen Tod.
Daddy hatte als Schreiner gearbeitet (wobei es schwierig gewesen wäre, jemanden aufzutreiben, der hätte bezeugen können, dass er je auch nur einen Hammer in die Hand genommen hatte), und seine Arbeit ließ ihn zuweilen wochenlang die Stadt verlassen. Häufig fuhr er mit Beef und ein paar der anderen Jungs nach Knoxville, um dort zu arbeiten, aber irgendwo auf der Strecke zwischen Knoxville und zu Hause verschwand immer fast das gesamte Geld. Das Geld, das er nicht vertrunken oder verspielt hatte, ging an Mama. Sie hatte schon vor Jahren gelernt, ihm deshalb keine Vorhaltungen zu machen, weil ihn das nur erzürnte. Er war dürr, aber schnell und konnte sie mit einem raschen, harten Schlag mit dem Handrücken zu Boden strecken. Mama hütete sich vor einer Auseinandersetzung mit ihm. Wenn er ihr das wenige übrig gebliebene Geld aushändigte, nahm sie es einfach an und machte sich damit aus dem Staub; sie versteckte es in einer Kaffeekanne, die sie im Hinterhof vergrub.
Sie hatten am 6. Mai 1937 geheiratet; am selben Tag, an dem die Hindenburg explodierte. Mama sagte Jahre später, dass ihre Ehe »ebenso dem Untergang geweiht war wie jener riesige Zeppelin«. Ich kam neun Monate später zur Welt und erregte, wenn überhaupt, nur wenig Jubel. (Inzwischen wusste Mama, in was sie sich da hineinbugsiert hatte, und ein weiteres Leben in ein mit Daddy geteiltes Zuhause hineinzubringen war nicht gerade ein Grund zum Feiern.)
In ihrer Jugend war Mama schick, fröhlich und hübsch mit ihrem langen braunen Haar, ihren blauen Augen, ihrem zarten Gesicht und ihrer einer Porzellanpuppe gleichenden Haut gewesen. Sie ging jeden Morgen mit ihrer besten Freundin Margaret und einem Jungen namens Joe Cannon zur Schule. Margaret pflegte meine Mutter damit zu necken, dass Joe außergewöhnlich nett zu ihr sei. Aber es blieb unklar, ob das stimmte, denn Joe näherte sich ihr nie. Er war zu schüchtern und zurückhaltend, um mehr zu tun, als mit ihr zur Schule und von dort wieder nach Hause zu gehen. Wie die Leute in der Gemeinde stets sagten, begriff niemand, »wie die hübsche Francine Parker je bei Lonnie Gable landen konnte«. Selbst damals schon war mein Daddy ein unverschämter Besserwisser gewesen, der auf dem schnellsten Wege ins Nirgendwo zu rasen schien.
Mama hatte ihre eigene Mutter Jahre zuvor verloren. Wer weiß, ob sie sich, wenn ihre Mutter noch gelebt hätte, in gleicher Weise nach der Aufmerksamkeit, die Daddy ihr schenkte, gesehnt hätte und nach ihrem Schulabschluss mit ihm davongelaufen wäre. Aber Mama war nie ein Mensch gewesen, der erwartete, dass andere sie aus dem selbst verursachten Schlamassel herausholten. Möglicherweise hoffte sie, Daddy werde einfach zu einer seiner »Arbeiten« auf brechen und nicht wieder nach Hause kommen. Aber das passierte nie. Ich glaube, dass sein Tod für sie eine Befreiung von einer ganzen Anzahl von Problemen war.
John und ich blieben auf der Veranda und stopften uns schweigend mit Zitronen- und Schokoladentorte und Schokoladennusskuchen voll, als seien wir Überlebende in einem Kriegsgefangenenlager. Wenn jemand zu uns nach draußen auf die Veranda kam, hoben wir das Essen an unsere Münder, blickten tieftraurig drein und seufzten. Ab und zu steckte Mama ihren Kopf durch die Tür, und wir blickten mit jammervollen Hundeaugen zu ihr hoch. »Jane, bekommt ihr zwei, du und John, genug zu essen?« Wir nickten und schielten auf unsere Teller, die aussahen, als hätten Geier auf ihnen herumgehackt. Es wirkte pathetisch, aber wenn die Annahme, dass wir über Daddys Tod tatsächlich traurig waren, ihr ein wenig Frieden gab, dann wollten wir ihr das weiter vorspielen.
Tante Dora schob ihr dickes Gesicht über Mamas durch die Tür und sagte: »Euer Daddy ist jetzt bei den Engeln.« Wir nickten erneut und sahen düster vor uns hin, während sie und Mama die Zwischentür hinter sich schlossen.
Henry jedoch verstellte sich nicht. Henry Walker, der Besitzer unseres Gemischtwarenladens, hatte drei erwachsene Kinder, … feine Haarbüschel oben auf seinem sich lichtenden Schädel, die sich wie die zarten Flaumfedern von Jungvögeln bei jedem Windzug bewegten und ein größeres Herz als alle mir bekannten Menschen. Er erzählte John und mir die tollsten Geschichten, die wir je gehört hatten. Unsere Lieblingsgeschichte war die über die drei Musketiere. Wir wussten nie, ob er sich nicht den Großteil der Geschichte ausdachte, aber wir glaubten stets, dass wir zwei der drei Musketiere waren, die Frauen und Kinder aus der Gefahr retteten.
»Eines Tages werde ich ein Buch schreiben«, versicherte ich Henry. »Und du kommst darin vor.«
»Achte darauf, dass du den Leuten erzählst, wie gut ich aussehe«, erwiderte er stets.
Mama mochte es nicht, wenn ich dergleichen erzählte. »Es gibt noch Arbeit, die erledigt werden muss, Jane«, pflegte sie zu sagen. »Du kannst nicht arbeiten, wenn du träumst.« Also lernte ich, meine Buchideen für Henry aufzusparen, weil er mein bester Freund war.
Henry behauptete nie Dinge wie: »Jane, dein Daddy hat dich sicher geliebt.«, oder: »Jane, du warst Daddys Augapfel.«, wie das so viele andere taten. Er kam raus auf die Veranda, schloss mich fest in seine Arme, sodass ich das Gefühl hatte, im Himmel zu sein, und sagte: »Hallo, meine Hübsche.« Er nannte mich immer seine Hübsche, obwohl das der Wahrheit keineswegs entsprach. Ich konnte mich schließlich im Spiegel sehen und wusste, wie ich aussah – so unscheinbar wie mein Name. Ich hatte dünnes, ungleichmäßiges kurzes Haar, das Mama mir selbst schnitt, abstehende Ohren und Sommersprossen auf der Nase. Ich war fade und ungraziös, alles andere als hübsch. Aber irgendwie glaube ich Henry, wenn er mich seine Hübsche nannte.
»Wir haben die Farbigen gesehen, die in die Stadt gezogen sind«, erzählte ich.
»Sie haben einen dünnen kleinen farbigen Jungen, der nicht älter ist als ich«, ergänzte John. »Er hat große runde Augen und ein trauriges Hundegesicht.«
»Er sieht ganz anders aus«, widersprach ich. »Was tun sie draußen bei den Cannons, Henry?«
»Sie helfen ihnen bei der Tabakernte.«
»Was essen Farbige?«, wollte John wissen. Er stellte immer die dümmsten Fragen.
»Sie essen dasselbe wie wir«, antwortete Henry.
»Wie riechen sie?«
»Was für eine blöde Frage ist das denn?«, sagte ich. »Sie riechen wie Menschen!«
»Tante Dora sagt, dass sie die Dinge durcheinanderbringen«, sagte John. »Wie bringen sie die Dinge durcheinander, Henry?« Das war eine berechtigte Frage.
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Henry. Aber an dem Blick, mit dem er uns ansah, merkte ich, dass er wusste, was Tante Dora gemeint hatte. Er wollte nur nicht darüber sprechen. Er legte seinen Arm um meine Schulter. »Es tut mir wirklich leid, dass ihr euren Vater verloren habt, Jane.«
Zum ersten Mal an jenem Tag wurde mir bewusst, dass ich Grund hatte, traurig zu sein. Nicht darüber, dass mein Daddy gestorben war, sondern darüber, dass ich nie wirklich einen gehabt hatte. Als ich Henry ansah, merkte ich, dass er alles über meinen Daddy wusste, sogar Dinge, die mir unbekannt waren. Und es kam mir merkwürdig vor, dass jemand, der achtundzwanzig Jahre lang auf dieser Erde herumgelaufen war, selbst im Tod nicht vermisst wurde … noch nicht einmal von seiner eigenen Familie.
Als Henry und seine Frau Loretta aufbrechen und sich verabschieden wollten, fand Henry Fran im Stall. Sie stellte gerade die Kannen zum Melken bereit. Es war erst kurz nach Mittag, zu früh, um sich auf das abendliche Melken vorzubereiten. Henry wusste, dass sie einen Grund suchte, sich von den im Haus Versammelten zurückzuziehen. Ihr Aussehen erschreckte ihn. Wann ist Frannie so alt geworden?, überlegte er und musste an das kleine Mädchen denken, das kicherte, wenn er so tat, als zöge er einen Zehner aus ihrem Ohr.
»Brauchst du Hilfe, Fran?« Sie war durch eine Infektion in der Kindheit auf einem Ohr taub geworden und hatte ihn nicht gehört. Er trat vor sie hin, und sie wischte sich erschrocken über die Augen.
»Mein Gott, Henry!« Sie holte eilig einen Melkschemel, damit er sich setzen konnte. »Hast du etwas gegessen?«
»Ob ich etwas gegessen habe?« Er tätschelte seinen Bauch. »Ich habe genug für zehn gegessen.« Henry beobachtete, wie sie sich ein Stück Seil griff und damit herumspielte. Sie zwirbelte es in ihren Händen und wickelte es sich um die Finger, bis das Blut aus den Knöcheln wich.
In den Hügeln von Tennessee gab es das ungeschriebene Gesetz, dass man nicht um Hilfe bitten und nicht über seine wahren Gefühle sprechen und vor allem niemals sein Herz auf der Zunge tragen durfte. Henry kannte dieses Gesetz, aber er war stets der Erste, der sich darüber hinwegsetzte, vor allem gegenüber jemandem, den er so lange kannte wie Fran. »Wie geht es dir, Fran?« Er griff nach einem weiteren Melkschemel, stellte ihn neben sich und schlug einladend mit der flachen Hand darauf, damit sie Platz nahm.
Fran sah Henry nicht an. Sie konnte es nicht. »Gut«, flüsterte sie und setzte sich auf die zum Heuboden führenden Leitersprossen. Sie wirkte gequält.
Henry lehnte sich vor und neigte den Kopf, um ihr in die Augen sehen zu können. »Fran?« Eine einzelne Träne rann über ihre Wange, aber sie blieb stumm und wickelte weiter das Seil um ihre Finger. Er stand auf und tätschelte ihr Bein, dann setzte er sich rechts neben sie, damit sie ihn besser hören konnte. »Ich weiß, dass du es im Moment nicht glaubst, aber alles wird gut werden, Frannie.«
Weitere stille Tränen tropften auf ihre Hände, und sie schüttelte den Kopf. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft ich mir den Tag ins Gedächtnis gerufen habe, an dem Lonnie sagte, dass wir heiraten würden. In meiner Vorstellung brenne ich nicht durch und heirate ihn, Henry. Ich heirate ihn auf gar keinen Fall.« Sie sah zu den Dachbalken hoch. »Ich weiß nicht, was ich machen soll«, sagte sie mit brechender Stimme.
Henry lehnte ihren Kopf an seine Schulter und legte den Arm um sie. Es gab immer ein Gefühl der Hoffnung, wenn Henry da war. »Es wird gut, Fran. Alles wird gut.« Lange saß er einfach nur da, während sie weinte.
»Ich glaube, ich wollte, dass er stirbt«, flüsterte sie und wischte sich über das Gesicht. »Ich lag nachts wach und wünschte, dass er nie wieder durch die Tür kommen würde … aber er kam. Manchmal ging er tage- und sogar wochenlang weg, um dann irgendwann wieder durch die Tür zu stürzen. Ich blieb still liegen und hoffte, dass er dachte, ich schliefe. Aber er scherte sich nicht darum. Er roch nach Schnaps und Schweiß, und ich sage dir, dass ich ihn hasste, Henry. Ich hasste seinen Geruch, und ich hasste seine Hände auf meinem Körper, und ich hasste ihn, weil er mit anderen Frauen schlief und sich dann auf mich warf.« Sie drückte die Handflächen an die Oberschenkel und rieb sie auf und ab. »Warum habe ich ihn geheiratet, Henry? Was hat nicht mit mir gestimmt?« Sie sah zu Henry auf. »Ich habe mir so oft … einfach nur gewünscht … dass er stirbt.«
Henry bemerkte die Falten um ihren Mund und die dunklen Ringe unter ihren Augen. Die zehn Jahre Ehe mit Lonnie hatten ihr schwer zugesetzt. »Fran, deine Wünsche haben Lonnie nicht sterben lassen«, sagte er. »Das jahrelange starke Trinken und schlechte Entscheidungen haben ihn umgebracht.«
Ein unauf hörlicher Tränenstrom rann ihr über die Wangen. »Ich bin schwanger, Henry.« Er sah sie lange durchdringend an. »Du blickst so irritiert drein, wie ich es bin«, sagte sie.
»Bist du sicher, Fran?«
Sie nickte und wischte sich über die Augen. »Ich bin sicher.«
»Es könnte die Magengrippe sein. Lotties Kinder hat’s vergangene Woche alle erwischt.«
»Nein, das ist es nicht. Mir ist jetzt schon ein paar Wochen lang übel, und mir wurde letzte Nacht schlecht, nachdem ich Abendbrot gegessen hatte, und dann heute Morgen vor der Beerdigung wieder.«
»Nun, es könnte ja sein, dass du etwas Verdorbenes gegessen hast.« Er sah hoch und bemerkte, dass Loretta den Stall betrat. Sie blieb am Eingang stehen.
»Jedes Mal, wenn ich mich übergebe, ist es genauso wie in der Zeit, als ich mit Jane und John schwanger war«, beharrte sie. »Es ist die gleiche Art von Übelkeit.« Sie beugte sich vor und weinte in ihre Hände: »Was soll ich tun? Ich kann nicht noch ein Baby bekommen.«
Loretta kniete sich vor sie hin. »Wer weiß schon vorher, was aus einem kleinen Baby wird? Vielleicht entwickelt dieses Baby später einmal ein Mittel gegen Kinderlähmung.« Fran rührte sich nicht. »An dem einen Tag sind sie noch schreiende, fordernde kleine Dinger, und ehe du dich versiehst, führen sie ein Land durch den Krieg wie Roosevelt oder Churchill.« Loretta sah Fran in die Augen. »Ein neues kleines Leben bringt immer so viel Hoffnung mit sich, wenn es auf die Welt kommt.«
Fran hatte Loretta, die seit zehn Jahren mit Henry verheiratet war, schon immer gemocht. Lorettas erster Mann war bei einem Grubenunglück in Kentucky ums Leben gekommen, und Edith, Henrys erste Frau, war fünf Jahre vorher gestorben. Loretta hatte auf dem Weg zu ihrer Schwester, die sie besuchen wollte, in Morgan Hill angehalten, um zu tanken. Sie ahnte nicht, dass sie hier ihren nächsten Ehemann finden sollte, der gerade im Gemischtwarenladen Hühnerfutter ins Regal räumte. Loretta hatte dunkles, kastanienbraunes Haar und ein Gesicht voller Sommersprossen. Sie sagte immer, sie würden von ihren Falten umhergeschoben. Loretta erinnerte Fran in vielerlei Hinsicht an ihre eigene Mutter. Dennoch, Loretta befand sich in diesem Fall, wie Fran glaubte, im Irrtum. Noch ein Baby bedeutete überhaupt keine Hoffnung.
»Fran, jetzt ist möglicherweise nicht der beste Zeitpunkt, darüber zu sprechen«, schaltete sich Henry ein und stand auf, »aber ich bin hergekommen, um dich zu fragen, ob du bereit wärest, mir in den nächsten Tagen im Laden zu helfen.«
Sie blickte zu ihm hoch. »Du hast noch nie sonderlich viel Hilfe benötigt.«
Henry klopfte seine Hose ab. »Loretta hat Rückenprobleme, und in den letzten Tagen ist es schlimmer geworden.« Fran sah Loretta an.
»Ich kann keine Futtersäcke mehr tragen. Ich habe vor ein paar Tagen ein Knacken gespürt, und seither habe ich Schmerzen.« Fran musterte ihr Gesicht. Loretta wusste, dass Fran den Job niemals annehmen würde, wenn sie den Eindruck hatte, dass sie ihn ihr aus Barmherzigkeit gaben. »Das letzte Mal, als ich mir den Rücken verrenkt habe, hat uns Mavis Duke geholfen«, erklärte Loretta.
»Frag bloß nicht wieder diese schnaufende Mavis Duke!«, rief Henry. »Als sie mir bei der Inventur geholfen hat, dachte ich, dass eine Katze im Lagerraum stirbt.«
Fran schnäuzte in ihr Taschentuch. »Gut, Henry«, sagte sie dann.
Er lächelte und hoffte, dass ihm etwas einfiel, was er sagen konnte. Aber Henry konnte nicht die rechten Worte finden. Ihm war klar, dass dies keine gute Situation war. Überhaupt keine gute Situation.
In jener Nacht schlief Tante Dora in dem Zimmer, das ich mir mit John teilte, und das fand ich unerträglich. Ich wusste nicht, warum sie zu der Beerdigung gekommen war. Sie und Daddy hatten ihre Mutter verloren, als sie noch klein waren. Daraufhin war Dora zu einer Tante nach Ohio gezogen, während Daddy bei meinem Großvater geblieben war. Sie hatte meinen Vater jahrelang nicht gesehen.
Nachdem ich sie dabei beobachtet hatte, wie sie auf ihrem blassen, teigigen Gesicht kalte Sahne verteilte, wusste ich, dass ich nicht bleiben konnte; ich wollte nicht erleben, wie sie die Prozedur ihre wurstigen Arme und stämmigen Beine hinab fortsetzte. So beschloss ich, mit John in der Diele auf dem Boden zu schlafen. Irgendwie erschien mir die Aussicht, auf einem Hartholzboden zu schlafen, angenehmer als der Gedanke, von meiner glitschigen Tante einen Gutenachtkuss zu bekommen.
Wir hörten, wie Mama in der Küche das übrig gebliebene Essen in den Kühlschrank stellte, Essensreste in den Mülleimer warf und die leeren Platten und Schüsseln abwusch. John und ich lagen still da und lauschten ihrer Arbeit. Solange ich zurückdenken konnte, hatten hier immer Mama, John und ich gelebt. Ich hätte alles für einen Daddy gegeben, einen richtigen, der uns mochte und Mama nicht schlug.
Ich glaube, jedes Kind erlebt einen Moment, in dem es weglaufen möchte. Dann wirft es ein Stofftier in einen Koffer und setzt sich auf die Vordertreppe oder entfernt sich vielleicht sogar bis ans Ende der Auffahrt. Ich hatte oft daran gedacht, das zu tun, weil ich spürte, dass es für uns einen besseren Platz zum Leben geben musste, einen Ort, an dem wir eine wirkliche Familie sein konnten, und ich war fest entschlossen, diesen Platz zu finden.
Ich streckte meinen Arm aus und griff nach Johns Hand, während wir zuhörten, wie Mama in der Küche herumlief. Wir störten sie nicht. Wir boten ihr noch nicht einmal unsere Hilfe an, weil sie das nicht gewollt hätte; das war nicht ihre Art. Es war nicht so, dass wir uns nicht mit unserer Mutter verstanden hätten, aber sie war stets umgeben von einer nicht zu greifenden Traurigkeit, und John und ich wussten, wann sie allein sein wollte. Ich blieb noch lange wach und grübelte wie schon so oft darüber nach, wo wir einen Daddy finden konnten, damit wir eine richtige Familie wurden. Aber ich war zu müde zum Nachdenken und fiel mit dem rhythmischen Gezirp der Grillen in unserem Hinterhof und dem leisen Klirren von Mamas Teelöffel, mit dem sie den Kaffee in ihrer Tasse umrührte, in den Schlaf.
Am nächsten Morgen stolperte ich zur Küche. Mama sah erschöpft aus. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt zu Bett gegangen war. »Jane, hol deine Tante Dora zum Frühstück!«, sagte sie.
Ich ging zur Schlafzimmertür und klopfte. »Tante Dora, es ist Zeit zu frühstücken.« Sie antwortete nicht. Ich klopfte erneut, diesmal lauter. Mama hasste es, wenn wir zu spät zum Frühstück kamen. »Tante Dora! Wach auf!«
Ihre Füße tappten über den Boden, und die Tür öffnete sich. John und ich rangen bei dem Anblick nach Luft. Ihre herabhängenden Brüste schaukelten in schockierender Realität hin und her. »Komme gleich«, sagte sie gähnend und gab mir einen Nasenstüber.
John und ich legten die Decken zusammen, bevor wir in die Küche eilten. Tante Dora folgte uns gleich darauf. Ihre Brüste waren nun ordentlich verstaut.
Nach dem Frühstück lud John Tante Doras Tasche hinten in ihr Auto. Wir logen, dass wir sie sehr vermissen würden, und drehten uns weg, um wieder ins Haus zu gehen. »Kommt ihr nicht her und gebt mir einen Kuss?«, drang es an unsere erschrockenen Ohren. Gebt mir einen Kuss. Gebt mir einen Kuss. Ich gab John einen Schubs, worauf hin er seine Hacken in den Kies bohrte.
»Benehmt euch und geht hin und gebt eurer Tante Dora einen Kuss«, sagte Mama.
Der dringlichste Wunsch jedes Kindes, das irgendeinen Kuss über sich ergehen lassen muss, ist der, dass er kurz und nur auf die Wange ist. Der scheußlichste aller Küsse hingegen, vor dem sich jedes Kind seit jeher fürchtet, ist der Kuss auf den Mund. Das ist einer zum Weglaufen.
Armer John. Der Kuss kam schnell. Ein harter, feuchter Pfeil, der einen großen roten Ring um seinen Mund hinterließ. John taumelte zurück. Nun streckten sich Tante Doras Arme nach mir aus. »Auf Wiedersehen, Janie-Schatz, mein Püppchen.« Ich trat vor und drehte mein Gesicht blitzschnell ein winziges Stück zur Seite, sodass der Kuss auf meiner Wange landete. Während sie fortfuhr, hob ich die Hand und bewegte die Finger in einem kraftlosen Versuch, ihr nachzuwinken, hin und her.
»Endlich ist sie weg!«, sagte John und wischte sich den Mund ab.
»Los«, sagte Mama. »Wir haben bereits die Sonntagsschule versäumt. Ziehen wir uns für die Kirche um.«
Ich trug zwei Jahre lang immer dasselbe Kleid zur Kirche. Jemand hatte es aus einem Mehlsack geschneidert (selbst Frauenkleider wurden aus Mehlsäcken gemacht) und es an mich weitergegeben, als ich sieben war. Damals war es mir zu groß gewesen. Inzwischen war es mir ein wenig zu klein und schob sich über meine Knie hoch.
»Zieh das Kleid an und fertig«, befahl Mama. »Du trägst die alten Overalls so oft, dass du noch zum Jungen wirst.«
Ich zog mir das Kleid über den Kopf und blickte an meinen Armen hinab; die Ärmel des Kleides waren gut zehn Zentimeter zu kurz. Ich betete, dass das Kleid bei der nächsten Wäsche auseinanderfiel.
Fran saß stets in derselben Reihe: in der dritten von vorn auf der rechten Seite. Die Kirchenbänke waren hart und an manchen Stellen rau. Die Wände waren weiß, und ungeachtet der Trostlosigkeit des Tages schien die Sonne durch die hohen Fenster auf beiden Seiten und tauchte das aus Pappelholz gefertigte Kreuz und die Bankreihen in goldene Kegel aus Licht.
Frans Freundin Margaret kam herein und setzte sich direkt hinter sie. Ihre Familie hatte, soweit sich alle erinnern konnten, stets hinter Fran gesessen. Margaret war in Frans Alter, und obwohl sie stämmiger war, wirkte sie jünger als Fran. Sie hatte einen dunklen Teint und seidiges flachsfarbenes Haar, das sie zu einem Knoten geschlungen trug, den sie mit Haarklemmen feststeckte. »Wie geht es dir, Frannie?«, fragte Margaret.
»Es geht mir gut.« Wenn man im Krankenhaus im Sterben lag und gefragt wurde, wie es einem ging, antwortete man stets: Es geht mir gut. Es geht mir wirklich gut.
Fran und Margaret kannten einander seit ihrer Kindheit, und sie verhielten sich eher wie Schwestern als wie Freundinnen. Margaret drehte sich suchend nach ihrem Mann um und lächelte Joe Cannon zu, der hinten in der Kirche stand. Joe hatte welliges dunkelblondes Haar, dunkelbraune Augen, eine gerade Nase und ein stumpfes Kinn. Seine Haut nahm im Sommer die Farbe von Milchkaffee an. Margaret beugte sich zu Fran hinüber. »Siehst du gar nicht, wenn dich ein Mann anschaut?«
Fran schlug die Arme übereinander. »Natürlich sehe ich das«, raunte sie ihrer Freundin zu. »Schließlich habe ich Augen im Kopf.«
Margaret lachte. »Na, die scheinen aber nicht zu funktionieren.«
»Was um alles in der Welt meinst du?«
Margaret warf einen bedeutungsvollen Blick in den hinteren Teil der Kirche. »Joe Cannon steht da und hat direkt zu dir rübergesehen.«
»Nun, natürlich hat er zu mir rübergesehen. Schließlich sind wir hier nur fünf Leute. Er ist doch nicht blind.«
»Ich sitze hier auch, aber er hat mich keines Blickes gewürdigt.«
Fran blockte Margaret mit einer nach hinten ausholenden Handbewegung ab. »Sei still. Solche Reden schicken sich nicht in der Kirche.«
»Du bist ganz rot geworden, Fran Gable.«
»Natürlich bin ich das. Ich sitze hier in der Kirche und muss mir dummes Zeug anhören.«
»Es gab eine Zeit, in der du ihm sehr zugetan warst.«
»Das ist so viele Jahre her, dass ich mich noch nicht mal mehr daran erinnern kann, wie alt wir waren.«
»Er ist seit einiger Zeit aus Atlanta zurück, und er sieht dich wieder an, also solltest du ihn lieber auch ansehen.«
Frans Kopf fuhr zu Margaret herum. »Bist du verrückt geworden?«
Margaret lehnte sich auf ihrer Bank vor und ergriff lachend Frans Arm.