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Forester, eine Kleinstadt im Süden. Eine Gruppe jugendlicher Außenseiter kurz nach dem Schulabschluss. Mit billigen Jobs und kleinen Deals schlagen sich Gary, Hödel und ihre Freunde durch einen trostlosen Alltag im Landleben. Abwechslung verspricht das unerwartete Eintreffen der Amerikanerin Janet, die für ein Jahr in Forester leben will, bevor sie an die Uni gehen wird. Janet ist das Traumgirl auf das alle gewartet haben, charmant, schön, cool, anders. Alles scheint gut zu laufen. Schnell ist Janet in die Gruppe integriert und immer besser kommt die Gruppe ins lukrative Drogengeschäft. Als Hödel sich beim russischen Roulett erschießt und Mike mit einer großen Menge Drogen in Wien untertaucht, gerät die Situation schnell außer Kontrolle, denn die Enthemmten schrecken vor nichts zurück.
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Seitenzahl: 289
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Elmar Weihsmann
Die Enthemmten
Thriller
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
1. Teil: Russisches Roulett
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2. Teil, Kugel in den Kopf
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3. Teil, Anschlag bei Nacht
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Impressum neobooks
Die Enthemmten
Thriller über die Jörg Haider-Jahre in Kärnten
Von Elmar Weihsmann
Hödel saß im Bett und spielte russisches Roulette. Er steckte eine Patrone in seinen 38er Revolver und drehte die Trommel. Nach drei, vier Umdrehungen stoppte er das Magazin, richtete die Magnum an die Schläfe und drückte ab.
Klack!
Der Stahlbolzen schlug in eine leere Patronenkammer. Hödel hatte sein Spiel gewonnen.
Nach ein paar Spielen erhöhte Hödel das Risiko und steckte zwei, vierzehn Tage später drei Kugeln in die Sechser Trommel. Nach jedem gewonnenen Spiel legte Hödel die Waffe auf die zerwühlte Matratze und zündete das erste Stäbchen des Tages an. Er rauchte zwei Tschiks, dann nahm er die Waffe, zielte aus dem Fenster und drückte solange ab, bis die Schüsse krachten.
Es machte Hödel Spaß aus dem Fenster zu ballern und er steckte neue Patronen in die Revolvertrommel.
Am ersten Tag erschoss er zwei Krähen, die dritte Kugel verfehlte ihr Ziel und durchschlug die Wetterplane von Pepe Rojas Traktor, der auf dem Fahrersitz einen gewaltigen Rausch ausschlief. Die Kugel verfehlte Pepes Rücken um Haaresbreite. Damals hatte Hödel die Flugbahn der Geschossen genau verfolgt und unsicher beobachtete er den Traktor, den die dritte Kugel traf, doch als er gegen Mittag Pepe Roja in den Kreuzwirt taumeln sah, den Einschuss in der Wetterplane hatte er noch nicht bemerkt, wusste Hödel, dass er sich umsonst Sorgen machte.
Am nächsten Morgen feuerte Hödel wieder aus dem Fenster. Diese Mal traf er noch einen unvorsichtigen Spatzen und die Vogelscheuche auf Pepe Rojas abgeerntetem Maisfeld, die prompt in zwei Teile zerbrach und die niemand mehr vor dem Winter aufstellen würde.
Seit dem dritten Tag kümmerte sich Hödel nicht mehr um die Ziele seiner Projektile. Im Gegenteil. Er verlor das Interesse an jedem Ziel und beschränkte sich darauf aus dem Fenster zu feuern.
Erst Anfang September, gut einen Monat nach dem er den amerikanischen Revolver in der Steindorfer Bucht aus dem Ossiacher See heraufgeholt hatte, war sein ungewöhnliches Training aktenkundig geworden.
Zwei Corps trommelten gegen Hödels Zimmertür im Blue Star Hotel, das er seit den Sommerferien bewohnte, als Hödel den Streit mit seinen Eltern hatte, die nicht einsehen konnten, dass er niemals in einer kleinbürgerlichen Existenz stranden wollte.
Es war elf Uhr am Vormittag und Hödel, der nie vor Mittag aufstand, war die einzige Menschenseele im Hotel. Die anderen Mieter waren längst an ihren Arbeitsplätzen, die Diebe hielten schon nach unbewachten Häusern Ausschau, die Huren hatten vor Zwölf noch keine Kunden.
Die beiden Cops standen vor der Tür. Der eine läutete Sturm, der andere trommelte mit den Fäusten gegen die schwache Spannplattentür und brüllte mit hochrotem Kopf: Im Namen des Gesetztes! Aufmachen!“
In aller Ruhe duschte Hödel, frisierte Gel ins Haar, er zog sein T-Shirt und die Jeansuniform an, mit einem Tschik im Maul öffnete er einen Spalt breit die Zimmertür.
Sofort warfen sich die beiden Greifer gegen die Tür, doch die Kette hielt dem Anprall der wild gewordenen Bullen stand und die Amtspersonen krachten mit Schultern und Schädeln gegen das Holz.
„Mach sofort auf, du Arschloch“, knurrte Postenkommandant Metall Hödel an, der ihm provozierend den Zigarettenrauch ins Gesicht blies. Leider stand Hödel zu nahe an der Tür und Metalls Kumpane, ein junger Spund, den sie gerade aus der Polizeischule auf die Menschheit losgelassen hatten, gelang es, Hödel bei den Haaren zu packen. Der Jungbulle ließ sich fallen und Hödel krachte mit dem Kopf gegen den Türstock.
Postenkommandant Metall nützte die Gelegenheit und trat mit dem Stiefelabsatz in Hödels Schulterblatt, er zog seine Gummiwurst aus dem Gürtel und zertrümmerte mit drei Schlägen die Türkette. Dass sie keinen Durchsuchungsbefehl hatten kümmerte die Bullen nicht. Wer sollte sie anzeigen?
Von Hödel drohte keine Gefahr, der saß bereits mit gefesselten Händen im Streifenwagen, Hotelportier gab es in der Absteige nur für die Huren in der Nacht und Hödels Eltern standen auf der Seite des Gesetzes, wenn es um die Verfolgung ihres missratenen Sohnes ging.
Doch die Bullen hatten ein gewaltiges Brett vorm Kopf.
Sie vermuteten hinter Hödels ungewöhnlichen Verhalten ein Rauschgiftdelikt und suchten vergeblich nach einer Droge. Sie beschlagnahmten ein Fahrtenmesser und zwei Päckchen Tabak, dann schleppten sie ihren jungendlichen Gefangenen zum Polizeirevier. Dort wurde er von vier Cops und einem Kriminalbeamten verhört. Das heißt, die Hände wurden an die Sesselbeine gefesselt und abwechselnd schlugen die vier uniformierten Bullen mit den Gummiknüppeln auf die Oberschenkel und den Rücken.
Der Kriminalbeamte schlug nicht.
Hödel schrie und weinte und weil kein vernünftiges Wort aus ihm heraus zu bekommen war, sperrten ihn die Bullen in den Gemeindekotter, um Hödel vorsichtshalber für ein paar Tage von der Öffentlichkeit fernzuhalten, zumindest solange, bis die Striemen der Knüppelhiebe nicht mehr zu sehen waren.
Fünf Tage später wurde Hödel entlassen. Die Cops ließen ihn das Vernehmungsprotokoll unterschreiben, aus dem hervorging, dass er in der U-Haft weder physisch, noch psychisch misshandelt wurde, dann jagten sie ihn mit ein paar Fußtritten auf die Strasse hinaus.
Hödel ging sofort in Harrys Bar und ließ sich vollaufen. Er soff bis Sonntagfrüh, schlief auf einer bequemen Polsterbank in der Bar seinen Fetzen aus und soff den Sonntag durch bis zum Montagmorgen. Auf die Frage, wo er die letzten Tage über gesteckt hatte, antwortete er: „In einem Hundezwinger.“
Mitte der Woche fuhr Hödel, wieder ernüchtert, nach Triest und kaufte am Schwarzmarkt einen Schalldämpfer für seinen Revolver. Seit damals feuerte er kaum hörbare Schüsse ab. Das lautlose Schießen langweilte Hödel und er feuerte nur noch widerwillig aus dem Fenster.
Die Erlebnisse im Polizeigewahrsam bestätigten sein Österreichbild. Er lebte in einem Scheißland unter angeschissenen Menschen, die eines Tages träge aufwachen würden, um gleichgültig festzustellen, dass sie in einem Polizeistaat wohnten.
Mit oder ohne Polizeistaat war sich Hödel sicher, dass er durch den Zwang seiner Geburt in einem Land lebte, in dem der Staat seine Bürger nicht einmal einen Furz lassen ließ, ohne, dass sie ein Zertifikat, eine Prüfung oder sonst irgendeine Bescheinigung vorweisen konnten. Deshalb versuchte es Hödel nach seinem Schulabschluss im vergangenen Sommer erst gar nicht mit einer bürgerlichen Arbeit. Seine Neigung zum Fotografen wurde von einem verstaubten Gewerberecht sabotiert und um den Zahlkellner oder den Barkeeper in Harry Bar spielen zu können, hätte Hödel drei Jahre in die Lehre gehen müssen.
Da verabschiedete er sich beim Arbeitsamt, um den Sommer am Strand zu verbringen, die jungen Holländerinnen zu vögeln und deutsche Touristinnen aufzureißen. Im Sommer erleichterte er zwei Engländerinnen um ihr Bargeld und nebenbei verdingte er sich als Bademeister und Boodsvermieter am Ossiachersee. Damals hatte Hödel Gary noch gewarnt.
„Du wirst schon sehen. Die nehmen dich nie in der Kunstakademie auf. Ohne Protektion geht dort gar nichts und dass die Akademie nichts taugt, ist allgemein bekannt.“
„Du hast das selbe Brett vorm Kopf, wie meine Mutter“, hatte Gary geantwortet und es kam zu einer kurzen Schlägerei zwischen den Droogs. „Du wirst sehen. Ich werde es schaffen. Im Herbst bin ich aus dem Sumpf heraus“, erzählte Gary überall und jedem und im September war er tatsächlich mit 100 Ölbildern, Zeichnungen und Skizzen nach Wien aufgebrochen, um zur Aufnahmsprüfung anzutreten.
Gestern war er zurückgekommen. Es war ein Samstagabend Mitte November. Genau zwei Monate hatte es Gary außerhalb des verhassten Sumpfes ausgehalten. Plötzlich stand er unter den Tänzern auf dem Parkett im Gemeindesaal. Die Schülerkapelle drosch „Mr. Goldfinger“ von Tav Falco herunter. Sein Kopf glühte vom Alkohol, den er während der langen, bitteren Eisenbahnfahrt von Wien nach Kärnten hinunterschwemmte, um seine Enttäuschung zu ersäufen, nicht an die Hochschule für angewandte Kunst aufgenommen worden zu sein. Gary ließ einen Champagnerkorken knallen und bespritzte die Freunde mit Campus. Die Gruppe war wieder komplett und es sollte eines der legendärsten Besäufnisse werden, die es je auf einem Schulkränzchen gegeben hatte. Alle die im Frühling noch Rang und Namen am städtischen Gymnasium hatten und mittlerweile mit der Matura auf der Straße standen, waren zur Schulparty gekommen und es wurde ein rauschendes Fest. Unzählige Gläser und Flaschen gingen zu Bruch. Gary, Hödel und Mike fickten abwechselnd die Mädels aus der 6. Klasse, bis Doris und Ariane eifersüchtig wurden und eine Schlägerei mit drei sechzehnjährigen Schnepfen anzettelten, denen sie die Miniröcke vom Hintern rissen und mit ein paar Fußtritten in den nackten Arsch und Ohrfeigen aus dem Gemeindesaal prügelten. Den Mädels eilten fünf Teenager aus der Unter 21 Mannschaften zu Hilfe und Doris und Ariane verdrückten sich für zwanzig Minuten in Harrys Bar.
Nach Mitternacht pisste ein Schüler aus der 5. Klasse in eine Ecke des Gemeindesaals und würde prompt von zwei Lehrern aus dem Saal getreten. Aus Solidarität zu ihren Klassenkameraden zogen die Schüler der Fünften geschlossen die Hosen hinunter und verrichteten ihre Notdurft auf den Tanzboden. Im Gemeindesaal verbreitete sich ein bestialischer Gestank. Die Tänzer und die fröhlichen Trinker an der Theke ergriffen die Flucht. Die eine, viel kleinere Gruppe zog sich in die überfüllte Kellerbar zurück und löste dort ein beängstigendes Gedränge aus. Andy, Doris, Gary und Mike versuchten einen wilden Bogo zu tanzen und warfen sich gegen die zusammengepferchten Teenager, was lebensgefährliche Wogen von zu Boden fallende, aufraffende und zurückgestoßene Mädchen und Jungen auslöste. Viele Teenies kreischten hysterisch und heulten. Die Ohrfeigen pfiffen. Die Hits der Killing Joke gingen im Tumult unter. Der weitaus größere Teil der Partygäste holte angewidert die Jacken und Mäntel aus der Garderobe und ging einfach nach Hause.
Die Schüler der 7. Klasse, die das Fest organisiert hatten, krempelten die Ärmel hinauf, um die 5. Klassler zu verdreschen. Sie sollten ihre Scheiße zusammenpacken und dorthin stecken, wo sie hergekommen war. Bei der Saalschlacht ging die gesamte Bestuhlung zu Bruch. Dem Klassenvorstand der Siebenten gelang es, sich mit ein paar Schwingern den Weg aus dem Saal frei zu boxen. Er rannte auf den Hauptplatz und telefonierte mit den Cops.
Postenkommandant Metall weigerte sich sein Revier zu verlassen. In der Nacht sei die Polizeistation immer unterbesetzt und bei dem Gesindel, das sich in der Gegend herumtrieb sei es unverantwortlich die Sicherheit der Bürger durch einen verlassenen Polizeiposten aufs Spiel zu setzten. Erst als der Klassenvorstand droht, über den Notruf im Landespolizeikommando Alarm zu schlagen, rückte Metall mit drei Kollegen, einem fetten, betrunkenen, altgedienten Dorfbullen und zwei Jungspunden an.
Alle vier Ordnungshüter waren vom Alkohol gezeichnet und versuchten mit der Gummiwurst die Ruhe wieder herzustellen, was den Zorn der Teenager erst recht anheizte. Die Gewalttätigkeiten drohten endgültig zu eskalieren, als Metall in letzter Not seine Pistole zog und gezielte Schüsse über die Köpfe der Teenager hinweg abfeuerte. Die beiden Jungspunde zogen ebenfalls ihre Dienstwaffen, doch Metall hielt sie zurück.
Der Form halber wurden fünf Verhaftungen durchgeführt und der Gemeindesaal geräumt.
„Wohin gehen wir jetzt?“ fragte Doris, als sie auf der Strasse standen.
Im Gemeindesaal waren nur die Schüler der 7. und der tobende Wirt zurückgeblieben, der ankündigte, die Veranstalter für die Verwüstungen haftbar zu machen. Viele Schüler weinten. Ihr Fest endete in einem Desaster. Statt der erhofften fetten Gewinne, war ein riesiger Schaden entstanden.
Noch einmal wiederholte Doris ihre Frage, sie hatte keine Lust nach Hause zu gehen. Niemand machte einen Vorschlag. Hödel konnte aus eigener Kraft nicht mehr stehen. Andy hatte ein Cut am linken Auge, Mike und Gary hatten schwere Schlagseite und stützten Hödel. Von Ariane wusste niemand, wohin sie sich verkrochen hatte. Irgendwann im Laufe des Abends war es ihr wieder einmal gelungen unbemerkt von allen unterzutauchen. So beschlossen die Droogs nach Hause zu gehen, außer Doris, die noch in Harrys Bar weiterzog, um einen zu heben.
Das war Garys erster Abend nach seiner Rückkehr. Ein gelungener Einstand nach zwei Monaten Abwesenheit, wie Hödel meinte.
Hödel richtete die Waffe auf sein Bett. Unter der Decke schlief Doris ihren Rausch aus. Er zielte auf ihren schlanken, athletischen Körper, auf ihre Beine, sie wälzte sich auf die Seite, er nahm ihren Rücken ins Visier.
Hödel überlegte, wie sie in sein Bett gekommen war, doch es war sinnlos sich an den gestrigen Abend zu erinnern. An eines von vielen Besäufnissen, das im Morgengrauen im Bett endete und sie waren beide zu blau, um mehr als einen Fick landen zu können.
Hödel zielte auf Doris Kopf und drückte ab.
Statt eines Schusses hörte er den Bolzen ins leere Magazin schlagen. Unschlüssig betrachtete Hödel die Waffe. Er steckte drei Patronen in die Kammern und drehte die Trommel. Drei, vier Mal drehte sie um die eigene Achse, dann stoppte er und hielt die Magnum an seine rechte Schläfe.
Er drückte ab.
Wieder krachte kein Schuss. Hödel ließt die Waffe sinken und steckte ein Stäbchen zwischen die Lippen. Er sah aus dem Fenster, suchte den Horizont nach einem Lebenszeichen ab. Der Wind zog aus den Bergen über die Ebene und trieb hohe Staubwolken über die abgeernteten Felder. Gierig rauchte Hödel ein paar Brustzüge, dann klappte er die Trommel aus dem Lauf und steckte fünf Patronen in die freien Magazinkammern. Er spannte den Hahn, die erste Kugel steckte im Lauf.
Er schaute zum Türkenacker hinüber.
Briefträger Bock radelte auf seinem verrosteten Waffenrad den Feldweg entlang. Hödel legte an. Im Visier verfolgte er den Radfahrer, dann zog er den Revolver nach links und feuerte drei Mal sicher ins Leere.
Auf dem Feldweg verriss der Postler die Lenkstange und verlor prompt die Herrschaft über das Vehikel. Im hohen Bogen landete er auf dem staubigen Feldweg. Die Briefe langen über dem Acker verstreut und der eisige Nordwind trug die Post davon. Ohne besonderen Spaß daran zu haben, beobachtete Hödel, wie der Briefträger über den Acker jagte, um die verlorene Post einzusammeln, was der alte Bock auch schaffte. Seine blaue Uniform wurde von einem schmutzigen grauen Schleier überzogen. Bock schwang sich auf sein Vehikel. Mit der Faust drohte er in Hödels Richtung.
„Der Teufel soll dich holen!“ schrie er. „Eines Tages findet sich schon einer, der dich umlegt“, waren Briefträger Bocks letzte Worte.
Fünf Kugeln steckten noch im Magazin. Mühsam widerstand Hödel der Wut, dem frechen Kerl nach zu feuern, doch der Briefträger war schon außer Sicht.
Schon der erste Tag in der Heimat wurde Gary von seiner Familie gründlich vermiest.
Nach dem gelungenen Einstand bei der Schulparty stand Gary am Sonntag erst sehr spät auf. Viel mehr wurde er durch die Bratendüfte aus der Küche geweckt, doch er blieb bis nach dem Mittagessen im Bett liegen, um nicht dem Spott seines Vaters und den höhnischen Blicken seiner Geschwister ausgesetzt zu sein, ganz abgesehen von den Bevormundungen seiner Mutter. Kurz nach Eins, als die Anderen sich zum Mittagsschlaf hingelegt hatten, stand Gary auf, duschte ausgiebig und zog sorgfältig frische Kleidung an. In der Küche trank er eine Tasse schwarzen Kaffee. Er zog den Trenchcoat über und setzte seinen Borsalino auf. Den ersten Tschik des Tages rauchend, schleppte er die Staffelei in den Garten und stellte sie in der reiffeuchten Wiese, zwischen den verwaisten, über viele Winter hinweg verwitterten Gartenmöbeln auf, die niemand im Herbst wegräumte. Gary stellte eine Flasche Bourbon auf den Eisentisch und mischte die Farben ab.
Er sah über die Felder hinweg, um den Horizont nach einem unbekannten Ziel abzusuchen, einer Person, die er kannte, er versuchte das Blue Star Hotel an der Grenze zum Sumpfgebiet zu erkennen, in dem Hödel seit kurzem wohnte, doch die ersten Nebelschwaden und der staubige Wind nahmen ihm die Sicht.
Gary trank einen Schluck Whisky aus der angebrochenen Flasche. Er führte einige Pinselstriche über die Leinwand. Tav Falco and the Pantherburns dröhnten aus dem Lautsprecher des Ghettoplasters. Über eine Stunde malte Gary bis sein Vater im ersten Stock das Schlafzimmerfenster aufriss.
„Mach endlich die Affenmusik aus!“ trompetete er in den Garten und Gary antwortete mit einem mürrischen Gebrumm und einer obszönen Gäste.
Sein Vater verschwand augenblicklich.
Zufrieden nicht einen größeren Streit provoziert zu haben, trank Gary einen guten Schluck Bourbon, als ihn ein eiskalter Schwall Wasser traf. Der Plastikkübel flog hinterher und riss die Staffelei um.
„Ich habe dich gewarnt, du Wichser! Ich brauche mir deine Frechheiten nicht länger gefallen zu lassen!“ schrie der Vater und knallte, ohne den obszönen Beschimpfungen seines Sohnes Gehör zu schenken, die Fensterläden zu.
Gary ließ die Malerei Malerei sein. Rasend suchte er einen Knüppel, um seinem Vater den Schädel zu spalten. Aber kein geeigneter Gegenstand lag im Garten herum. Er rannte zur Haustür, doch die war versperrt. Gary trommelte gegen die Tür.
„Lasst mich rein! Ihr Arschlöcher! Dann reiß ich euch den Hintern auf, ihr Schweine!“ Er zitterte vor Wut. Erst nach ein paar Minuten beruhigte er sich.
Gary sank vor der Haustür zusammen. Wieder schweifte sein Blick über den Horizont. Er saß im Sumpf fest. In Wien hätte er bleiben und dort irgendeinen Job annehmen sollen, als Barkeeper, Kellner oder Platzanweiser im Theater, irgendetwas hätte er sicher gefunden. Alles wäre besser gewesen, als im Morast unterzugehen, um weiter unter diesen Besessenen zu leben.
Er musste einen Job suchen, um wenigstens finanziell unabhängig zu sein, wollte er nicht in wenigen Tagen seine Familie ausräuchern.
Zwischen den Feldern erkannte Gary den kleinen Hof von Madison und Marianne. Ob die einen Job für ihn hätten? In der Landwirtschaft gab es immer Arbeit, auch auf dem Hof von Biobauern und Aussteigern. Aber konnten die sich einen Knecht leisten? Und hatte er nicht das Landleben schon satt genug? Die Landwirtschaft hatte Gary nie interessiert, aber was kostete es ihm, bei Madison vorbei zu schauen? Im Sommer hatte Madison ihn einmal eingeladen, als er Gary in seinem Pritschenwagen bei strömenden Regen auf der Bundesstrasse auflas.
Damals unterhielten sie sich ausführlich über Popmusik und Kunst. Damals begriff Gary sofort, dass Madison einer von ihnen war, einer, der in ihrer Clique aufgenommen werden sollte, wäre da nicht seine Frau, die Gary im vergangenen Sommer noch nicht kannte.
Er raffte sich vom Boden auf. Zog den durchnässten Trenchcoat aus, holte Hammer und Nagel aus der Garage und nagelte den Mantel an die Haustür.
Zufrieden warf er einen abschließenden Blick auf sein Werk, dann klemmte er sich hinters Steuer seines verrosteten Golf GTI und brauste davon.
Durch die Hammerschläge aufgeschreckt beobachtet sein Vater hinter den Fensterländen Garys Abfahrt. Er sah den Mantel an der Haustür hängen und ballte die Fäuste.
„Eines Tages findet sich schon einer der dich umlegt“, stieß er zwischen den Zähnen hervor.
Der Besuch bei Madison und Marianne war ein Fehlschlag. Kaum hatte Gary den GTI im Hof geparkt, kam aus dem Hinterhalt eine Dogge herausgeschossen und umkreiste zähnefletschend und bellend den Golf.
Das Untier sprang auf die Kühlerhaube und zerkratze mit seinen scharfen Krallen den Lack. Der Hund ignorierte die jaulende Hupe und sprang erst vom Kühler, als Gary Gas gab. Er drehte eine 180 Grad Runde und jagte die Dogge vor dem Golf her durch den Hof, ehe das Vieh mit einem linken Haken ausbrach und mit einem Satz über die Hofmauer die Flucht gelang.
Gary brauste die Ausfahrt zur Bundesstrasse hinunter. Von Links preschte die verrückte Dogge die verdorrte Wiese hinunter, um den Golf bis zur B 94 zu verfolgen. Der klapprige GTI raste, ohne das Tempo zu drosseln in die Kreuzung hinein und schnitt um haaresbreite den Pritschenwagen von Pepe Roja, der sich mit einem wütenden Hupkonzert bedankte. Gary salutierte lässig. Grinsend sah er im Rückspiegel, wie Pepe Roja ihm mit der Faust drohte und das Fernlicht aufblendete. Gary schaltete den CB-Funk ein.
„Totenkopf an Stinktier, Q.Z.“, posaunte Pepe Rojas Stimme aus dem Lautsprecher.
„Torpedo an Stinktier, Q.Z.“, antwortete Gary.
„Irrtum, Hosenscheißer. Das Torpedo bin ich. Bleib stehen, damit ich dir die Eier ausreißen kann!“ donnerte Pepe Rojas Stimme aus dem Lautsprecher.
„Fuck you! Du hast wohl nichts zwischen den Beinen“, antwortete Gary und schaltete in den vierten Gang.
Auf der Geraden, die den Hügel hinunter in die Stadt führte blieb Pepe Rojas Pritsche auffällig zurück. Gary beschleunigte weiter.
Flash.
Der einbeinige Radarbandit blitze den Golf ab. Gary fluchte. Im Rückspiegel sah er den Blechbullen, den die Polypen erst vor kurzem aufgestellt hatten. Im Sommer gab es im Bezirk noch keine Radargeräte. Pepe Roja ließ die Hupe zu einem Freudengeheul aufjaulen, mehrmals blendete er zum Zeichen des Triumphes das Fernlicht auf. „Hey, hast du noch nie etwas von Geschwindigkeitsbeschränkungen gehört, du Arsch?“ säuselte er zuckersüß ins Mikrophon.
Gary schaltete auf eine andere Frequenz um.
Zwei geile Teenager lieferten sich ein akustisches Stöhnduell. Gary versuchte mit einem angenehmen, gleichmäßigen atmen in den Ätherbums einzusteigen, doch die beiden Zapperdoings waren so in ihrem phonetischen Fick vertieft, dass sie ihn einfach ignorierten. Er versuchte das Geschlecht der Gehörficker zu erraten, konnte jedoch nicht feststellen ob es sich um ein Mädchen und einem Jungen, oder um zwei Stuten handelte, so bellte er einfach ins Mikro: „Seit ihr ein geiles Pärchen oder zwei geile Stuten?“
„Halt die Klappe, schwule Sau“, meldete sich eine vierte Stimme.
Gary schaltete die Frequenz weiter.
Über den Polizeifunk hörte er, dass Metall und seine Mannen irgendwo im Bezirk eine Straßensperre aufgebaut hatten, um einen kleinen Kriminellen zu stellen, einen Hühnerdieb oder einen Jungfrauenentferner, andere Missetaten wurden auf dieser Insel der Depperten sowieso nie begangen.
Wieder wechselte er die Frequenz.
Zwei Fernfahrer unterhielten sich auf der Autobahn über die Ligaergebnisse.
Der verrostete Golf erreichte die Stadt und fuhr von der Durchzugsstrasse ab in Richtung Zentrum.
Wieder wechselte Gary die Frequenz.
„Willst du mich ficken?“ – „Ja.“ – „Willst du mir den Schwanz in den Arsch stecken“ – „Ja.“ – kamen wieder Stimmen aus dem Lautsprecher.
„Yeah! Und von vorne auch!“ schnitt jemand Gary das Wort ab.
Verärgert schaltete Gary von CB-Funk aufs Radio um. Irgendwo in Ktn. hatte eine Einbrecherbande das Waffenarsenal eines Biedermannes ausgeräumt. Sofort dachte Gary an Metalls Straßensperre, doch er verwarf wieder den Gedanken. Er drehte den Frequenzregler weiter.
Der Golf fuhr schon durch das Zentrum. Gary scherte sich einen Dreck um die Fußgängerzone. Im Gegenteil, er gab Gas und hätte fast einen Jungen übersehen, der sein Mädchen über die Schultern geworfen, die Gasse entlang schleppte. Sie kreischte vor Lachen. Im Rückspiegel beobachtet Gary die beiden. Es waren zwei aus der siebenten Klasse. Er gab ihr einen Klaps auf den, von einer Stretchjean hauteng umspannten Po.
Gary erreichte den Hauptplatz und verlor das Pärchen aus dem Rückspiegel. Er konzentrierte sich auf die Plakate an den Litfassäulen. Volksmusikkonzerte, eine Tombola, die Radioclubparty wurden angekündigt. In diesem Nest war einfach nichts los. Wieder wechselte die Frequenz.
In einem Privatsender jenseits der italienischen Grenze machte ein Klagenfurter Puff Reklame für Freestylfucks am Wochenende. Komplettes Herrenservice ab sechzig Euro. Full Leatherjacket-Service für siebzig Euro. Sechser Block ab hundertneunzig Euro. Normalfick je nach Nationalität der Nutte ab vierzig Euro.
Gary hatte endgültig genug. Er parkte den Golf vor Harrys Bar und schaltete das Radio ab.
Zwei Discoziegen kamen aus dem Valentino und tänzelten an Harrys Bar vorbei über den Hauptplatz. Gary blendete die Schweinwerfer auf, um die Mädels zu grüßen. Doch die warfen angewidert von seinen Lichtspielen die Hände vors Gesicht, kreischten hysterisch wie bei einem Beatleskonzert und rannten über den Hauptplatz davon, um im Rathauskeller zu verschwinden. Einen Moment dachte Gary daran ins Valentino zu gehen, dort hingen um diese Zeit fünf bis zehn Provinzmachos an der Bar herum und bogen, ohne Girls, einen schwulen Sonntagabend im November hinunter. Oder sollte er noch einmal starten und ans andere Ende der Stadt fahren, um im Papageio vorbei zu schauen? Gary stieg aus und ging in Harrys Bar.
An der Theke stellte Harry dem Droog unaufgefordert ein kleines Bier hin. „Das erste Kleine nach der Rückkehr aus dem Exil geht auf Kosten des Hauses“, bemerkte er und schenkte sich selbst ein Kleines ein. Sie prosteten einander zu.
Gary sah sich im Lokal um. Nichts hatte sich in den vergangenen zwei Monaten geändert.
Hinten bei den Billardtischen grölten ein paar Teenager aus der Schicki-Szene herum. Laufend gingen Biergläser zu Bruch. Ludwig „Lou“ Hofer, ein neunzig Kilo, einsfünfundachtzig Elefantenbaby ließ sich mit seiner ganzen Fülle auf die Kaffeehausstühle fallen, die, zum Gaudium seiner Clique, der, bis auf eine langhaarige Brünette mit einem idiotischen Lächeln, ausschließlich Burschen angehörten, regelmäßig unter seinem fetten Hintern zu Bruch gingen.
Harry rannte nach hinten, um das Elefantenbaby rauszuschmeißen. Lou wischte den Barkeeper mit einem Schwinger gegen den Sparvereinskasten.
Harry ging unter dem Applaus der Teenager zu Boden. Lou Hofer raffte die Holztrümmer der zerschmetterten Sessel zusammen und schleuderte sie Harry in die Arme.
„Bis morgen, Arschloch“, lallte der siebzehnjährige Bengel, „für heute lass ich anschreiben.“
Er holte zu einem mächtigen Schwinger aus, der ziellos die Luft durchschnitt und seiner ultracoolen Gang das Zeichen zum Aufbruch gab.
„Wer wird denn bezahlen?“ mähte die brünette Ziege. Einer der charmanten Herren brachte sie mit einem Klaps auf den Hintern zu schweigen. Hysterisch kreischte sie auf und spürte sofort sieben Burschenhände auf ihre knallenge Jean klatschen. Lou, der Leader, legte seiner Puppe schützend den Arm um den Hals und nahm sie im nächsten Moment in den Schwitzkasten. Die Horde trollte sich aus der Bar. Auf dem Hauptplatz standen sie noch für eine Minute zusammen, um dem Mädel den Hintern zu versohlen. Dann zog Lou Hofer endlich mit seiner heulenden Mieze ab.
Harry stand schwerfällig vom Boden auf. Er knallte die Holztrümmer in den Mülleimer und kam, sich das schmerzende Kinn reibend zu Gary an die Theke zurück. „Der dem Arsch einmal eine knallt, der geht für eine Woche hier gratis ein und aus“, raunte Harry zerknirscht und spülte mit einem halben Liter Whisky seinen Groll hinunter.
Gary sah sich im Lokal um.
„Von deinen Freunden war heute noch keiner hier“, sagte Harry und zapfte für sich und Gary zwei Bier ab. Beide tranken gut die Hälfte in einem Zug aus.
„Ariane, hat sich bis drei Uhr früh vollaufen lassen, ohne ein Wort zu sagen. Blödsinnig hat sie in die Luft gestarrt, der Musik gelauscht und war auf einem Horrortrip durch die Gehirnachterbahn. Na ja, um drei war sie sternhagelblau. Wie ein Sack ist sie vom Barhocker gefallen. Wir haben sie auf die Bank gelegt und dort hat sie bis zehn Uhr Vormittags gepennt. Sie ist gerade noch vor den ersten Kirchgängern abgezogen, die nach der neuner Messe einen heben“, berichtete Harry.
„Wo ist sie denn hingegangen?“ fragte Gary, er ließ seinen Blick durch die Bar schweifen. Ein paar Teenager spielten Abalone. Zwei Mädchen blätterten in Illustrierten herum. Sie warfen abwechselnd prüfende Blicke zur Theke hinüber, um weiter stupid in die Klatschblätter zu schauen.
„Was weiß ich. Wahrscheinlich nach Hause“, antwortete Harry, der an Gary vorbeieilte, um Bier zu servieren. Hinten, an einem der letzten Tische vor dem Billardzimmer, saß Madison bei einem Mittelschüler und unterhielt sich mit dem Burschen über Popmusik. Plötzlich verabschiedete sich der Junge. Madison stand auf und kam zur Theke herüber. Sofort erkannte er Gary und begrüßte ihn wie einen alten Kumpel.
„Wir trinken noch einen“, schlug er ohne Umschweife vor. Der Mittelschüler zahlte und zog ab.
„Warum bist du nie zu Besuch gekommen?“ wollte Madison wissen, während sie an einem Tisch, im hinteren Teil der Bar Platz nahmen.
„Ich war in Wien“, antwortete Gary und sie steckten für gut zwei Stunden die Köpfe zusammen.
Um sechs Uhr früh öffnete Harry seine Bar. Zwei Schichtarbeiter kamen mit ihm ins Lokal, um vor der Frühschicht ein Bier zu trinken. Sie lehnten wortlos an der Theke und starrten durch die Spiegel auf den Hauptplatz hinaus.
Um halb sieben kam der Zeitungsausträger El Kamal und bracht die Morgenausgaben der „Kleinen“ und der „Krone“. Noch im Halbschlaf schlug Harry die Zeitung auf. Er las die Fußball- und Eishockeyergebnisse, mit seinem Totoschein hatte er schon gestern Abend den Arsch gewischt. Harry trank einen Kaffee. Er überflog die Stellenangebote. Das Valentino suchte eine Kellnerin, in der Schuhfabrik wurden wieder Arbeitskräfte aufgenommen, die meisten Anzeigen waren Saisonstellen in den Schigebieten.
Flüchtig las er das Kinoprogramm. In Klagenfurt und Villach wurde ausschließlich Blockbustermovies gezeigt, die Verrückten vom Programmkino spielten ein polnisches Filmmeisterwerk aus den sechziger Jahren. Seit seinem Schulabgang war Harry nicht mehr im Kino gewesen, sein Filmkonsum beschränkte sich auf die Raubkopien, die von Straßenverkäufern angeboten wurden und die er einmal im Monat, nach dem er die Bar dicht gemacht hatte in seiner Wohnung ansah. Oft fragte er sich, wie die Cineasten vom Programmkino über die Runden kamen, doch er konnte keine Antwort finden.
Um fünf vor Sieben kamen Ute Schober und Renate Unterweger in die Bar geschneit, zwei aufgedonnerte Bürokatzen, um vor dem Dienstbeginn im Rathaus den ersten Kaffee des Tages zu trinken. Beide waren bekannte Kaffeetanten, immer standen auf ihren Schreibtischen die Tassen und Kannen herum.
Ute trug unter dem halb offenen Staubmantel einen winzigen Minirock und hohe Stöckelschuhe, ihre Freundin war bis unters Kinn zu geknöpft. Beide hatten am Wochenende ihren Liebhabern den monatlichen Laufpass gegeben, was im Fall von Leo Schmidt eine Alkoholvergiftung auslöste und den Ex-Freund von Fräulein Renate das entscheidende Eigentor im Ligaspiel schießen ließ.
Harry schlug den Lokalteil der Zeitung auf und stockte. Ein Foto von Lou Hofer, mit übel zugerichteter Visage, war über eine halbe Seite gedruckt. Ein unbekannter Gewalttäter hatte dem siebzehnjährigen Bengel mit einer Eisenstange aufgelauert und für zwei Wochen ins Krankenbett befördert. Lou Hofer war zum Zeitpunkt des Überfalls ziemlich angesäuselt, denn im Krankenhaus mussten sie ihm den Magen auspumpen, damit er nicht an einer Alkoholvergiftung abdankte.
Der besonders dreiste Gangster begnügte sich nicht damit seinem Opfer die Knochen zu brechen, er hielt sich an Lous Freundin Marie-Antoinette gütlich. Jetzt lagen beide im Landeskrankenhaus. Er in der Unfallchirurgie und sie in der Irrenanstalt.
Die Cops teilten mit, dass die Ermittlungen vor dem Abschluss standen, doch jeder Zeitungsleser wusste, dass es sich um reine Phrasendrescherei handelte, kein Wald- und Wiesenbulle würde wegen einer Schlägerei unter Jugendlichen den Arsch lüften und auf Gangsterjagd gehen.
Harry schlug die Zeitung zu. Er zündete einen Tschik an. Warum hatte er nichts von dem Überfall erfahren? Die Bar galt als Zentrale des städtischen Klatsches. Wer konnte so ein Verbrechen verüben? Gründe gab es genug. Doch wer hatte wirklich die Härte so zuzuschlagen? Sicher war es kein Fighter aus Lou Hofers Clique, die hatten die Hosen gestrichen voll. Wer war’s?
Um halb acht gingen Ute und Renate. Ab halb neun war Harry alleine in der Bar. Um zehn kamen vier Schulschwänzer. Sie verdrückten sich sofort zu den Billardtischen. Harry hörte sie von Lou und Marie Antoinette reden, die Nachricht vom Überfall macht die Runde.
Um ein Uhr parkte Gary seinen grünen GTI vor der Bar. Er stieg in Begleitung von Hödel und Mike aus. Sie waren in bester Stimmung.
„Ab heute gehen wir eine Woche bei dir frei!“ rief Gary und die drei ließen sich an einem Kaffeehaustisch nieder.
Gary, Hödel und Mike leerten bis achtzehn Uhr gut dreißig Krügel Bier und einen Liter Whisky. Alle drei hatten schwere Schlagseite, als sie ohne einen Grossen hinzulegen aus Harrys Bar wankten. Sie trabten zu Garys GTI und zuckelten in Schlangenlinien davon, um zum Fußballtraining zu fahren.
Trainer Herdhitze schäumte vor Wut, als er die drei Alkleichen auf dem Sportplatz sah.
„Ihr schwulen Ärsche! Ihr wagt es in diesem Zustand beim Training aufzukreuzen! Kein Wunder, dass wir jedes Spiel verlieren! Die einen Blindgänger sind Säufer, die anderen Zylinder sind Hurenböcke! Ab unter die Dusche mit euch!“
Mike kotzte Trainer Herdhitze auf den frisch gebügelten Trainingsanzug und fing einen Hammer ab, der ihn zu Boden streckte.
„Los, schnappt euch das homosexuelle Schwein und ab unter die Dusche“, schnauzte Herdhitze Gary und Hödel an.
Mit ein paar Fußtritten bugsierte der Trainer seine angeschlagenen Spieler in die Garderoben. Alle drei mussten sich in den Duschtassen übergeben. In den Umkleidekabinen verbreitete sich ein ekeliger Gestank, der den Groll der eintrudelnden Mannschaft auslöste. Der Rechts- und der Linksaußen krempelten die Ärmel hoch um die Mittelfeldspieler für ihre Schweinereien zu verdreschen.
Die beiden Torhüter weigerten sich überhaupt die Dressen anzuziehen. Die Jorda-Brothers zogen in die Kantine ab.
Trainer Herdhitze stoppte den Exodus.
„Wer wird denn bei dem bisschen Kotze schlappmachen, ihr Hosenscheißer? Das sind nicht die ersten Vollidioten, die blau zum Training kommen.“
Er sperrte die Garderoben der Gästemannschaft auf und verscheuchte die Jorda-Brothers aus der Kantine.
„Wenn ich euch in zehn Minuten nicht auf dem Spielfeld sehe, gibt es Senge“, fauchte Herdhitze seine Spieler an, die über die Kälte in der Gästekabine unkten.
Gary, Hödel und Mike kamen aufs Spielfeld getrottet und begannen mit einem mühsamen Aufwärmtraining. Sie trabten im Schritttempo über die Aschenbahn. Trainer Herdhitze feuerte einen Fußball nach dem Trio ab.
„Vorwärts, ihr Lahmärsche! Ihr lauft heute drei Runden extra und wenn ihr mit dem Training fertig seit, dann bringt ihr die Sauerei wieder in Ordnung!“ bestimmte er.
Eine gute Stunde trieb Trainer Herdhitze seine Mannschaft auf dem Spielfeld herum. Dann wurden Standardsituationen geübt und ein kurzes Testspiel durchgeführt. Hödel setzte drei von fünf Freistößen, die ihm Mike zuspielte mit dem Kopf ins Kreuzeck.
„Ihr braucht wohl euer Quantum, bevor ihr auf Touren kommt“, kommentierte der Trainer grollend.
Gary verbuchte einen Lattenschuss und wurde von Tommy Fortuna hart gefault, als er versuchte das Raubein auszudribbeln. Herdhitze pfiff sofort ab und schickte Tommy mit einem Fußtritt auf die Aschenbahn.
„Genügt dir deine Sperre nicht? Zwei Runden extra und dribbeln den Medizinball vor dir her“, brüllte der Trainer.
Ute Schober und Renate Unterweger kreuzten auf der Tribüne auf. Beide trugen knappste Minis, Netzstrümpfe und Lackstiefel bis über die Knie, dazu Windjacken und Borsalinos. Trainer Herdhitze baute sich gewichtig vor dem Westsektor auf.
„Verschwindet, ihr Schlampen! Ich lass meine Jungs nicht von euch fertig machen!“, schrie er.
„Halt dein verhurtes Maul“, schnauzte Renate zurück.
„Und was ist mit Tony Grill? Den habt ihr auch fertig gemacht. Der schießt seit neuestem aufs eigene Tor und das gar nicht schlecht“, gab Trainer Herdhitze zurück.
Ute brach in Tränen aus.
„Ja heul nur, du Schickse. Der geht auf dein Konto! Jetzt sitzt Tony zu Hause herum, säuft und miaut kläglich vor sich hin.“ Der Trainer drehte sich um, er ließ in Richtung der Mädchen einen gewaltigen Furz fahren und rannte zu seiner Mannschaft zurück, die schon in Richtung Kabinen abtrat.
„Wer hat das Training beendet? Ihr spielt noch einmal zwanzig Minuten! Gary, Mike und Hödel drehen noch drei runden extra und vergesst ja nicht die versaute Kabine zu schrubben!“
Fluchend zog Renate mit der heulenden Ute von den Tribünen ab. Die Mädels stiegen in einen brandneuen roten Alfa Guilietta ein und brausten davon.