Die Erbtante - Jutta von Kampen - E-Book

Die Erbtante E-Book

Jutta von Kampen

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Beschreibung

Nun gibt es eine exklusive Sonderausgabe – Fürstenkrone Classic In der völlig neuen Romanreihe "Fürstenkrone" kommt wirklich jeder auf seine Kosten, sowohl die Leserin der Adelsgeschichten als auch jene, die eigentlich die herzerwärmenden Mami-Storys bevorzugt. Romane aus dem Hochadel, die die Herzen der Leserinnen höherschlagen lassen. Wer möchte nicht wissen, welche geheimen Wünsche die Adelswelt bewegen? Die Leserschaft ist fasziniert und genießt "diese" Wirklichkeit. »Ja, mein Liebster! Du bleibst ewig jung! Aber ich habe gestern meinen siebzigsten Geburtstag gefeiert. Siebzig. Und von wegen gefeiert! Nun ja, da waren meine Freunde. Gott sei Dank habe ich einige wirkliche gute Freunde. Aber vor allem waren die Aasgeier da: Ich spreche von meiner Verwandtschaft. Nun, es ist überstanden. Und irgendwann werde ich alles überstanden haben, und dann werden wir uns wiedersehen. Ein seltsames Paar werden wir beide dann sein: Du, so jung und heiter, und ich … Aber vielleicht hat der Herr der Welten ein Einsehen und lässt mich jung und schön auferstehen. Damit du mich auch erkennst, mein Geliebter …« Mit einem müden Seufzer stellte Fräulein Gundula von Weyarn das silbergerahmte Foto ihres im letzten Krieg gefallenen Verlobten auf seinen Platz auf ihrem Nachttisch zurück. Es zeigte einen strahlend lächelnden jungen Mann von Mitte zwanzig, in schicker Luftwaffenoffiziersuniform. Er sah blendend aus – und würde sicher auch heute, mit Mitte siebzig, blendend aussehen, wenn das grausame Schicksal ihm erlaubt hätte, so alt zu werden. Gundula von Weyarn wandte sich ab und setzte sich vor den Spiegel ihres Schminktisches. Sonst war sie schon immer um diese Zeit auf dem Weg durch ihr Gut. Es war ein prächtiges Rittergut, das sie von ihren Vorfahren geerbt hatte, und dank des geschickt angelegten Vermögens konnte sie sich mehr als alles leisten, was sie sich ein Leben lang erträumt hatte. Wenn sie Wünsche gehabt hätte! Aber da sie keine eigenen Kinder hatte und ihre Neffen und Nichten nicht so waren, wie sie es sich gewünscht hätte, hatte sie sich zu einem drastischen Schritt entschlossen.

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Fürstenkrone Classic – 66 –

Die Erbtante

Warum Gräfin Gundula ein Waisenkind ins Herz schloss

Jutta von Kampen

»Ja, mein Liebster! Du bleibst ewig jung! Aber ich habe gestern meinen siebzigsten Geburtstag gefeiert. Siebzig. Und von wegen gefeiert! Nun ja, da waren meine Freunde. Gott sei Dank habe ich einige wirkliche gute Freunde. Aber vor allem waren die Aasgeier da: Ich spreche von meiner Verwandtschaft. Nun, es ist überstanden. Und irgendwann werde ich alles überstanden haben, und dann werden wir uns wiedersehen. Ein seltsames Paar werden wir beide dann sein: Du, so jung und heiter, und ich … Aber vielleicht hat der Herr der Welten ein Einsehen und lässt mich jung und schön auferstehen. Damit du mich auch erkennst, mein Geliebter …«

Mit einem müden Seufzer stellte Fräulein Gundula von Weyarn das silbergerahmte Foto ihres im letzten Krieg gefallenen Verlobten auf seinen Platz auf ihrem Nachttisch zurück.

Es zeigte einen strahlend lächelnden jungen Mann von Mitte zwanzig, in schicker Luftwaffenoffiziersuniform. Er sah blendend aus – und würde sicher auch heute, mit Mitte siebzig, blendend aussehen, wenn das grausame Schicksal ihm erlaubt hätte, so alt zu werden.

Gundula von Weyarn wandte sich ab und setzte sich vor den Spiegel ihres Schminktisches. Sonst war sie schon immer um diese Zeit auf dem Weg durch ihr Gut. Es war ein prächtiges Rittergut, das sie von ihren Vorfahren geerbt hatte, und dank des geschickt angelegten Vermögens konnte sie sich mehr als alles leisten, was sie sich ein Leben lang erträumt hatte. Wenn sie Wünsche gehabt hätte!

Aber da sie keine eigenen Kinder hatte und ihre Neffen und Nichten nicht so waren, wie sie es sich gewünscht hätte, hatte sie sich zu einem drastischen Schritt entschlossen.

Sie hatte sich von ihrem alten Freund und Verehrer, dem Rechtsanwalt Gunther Graf von Marsik, einen Termin geben lassen, um mit ihm ihr Testament ausführlich zu besprechen.

Sorgfältig kämmte sie ihr schönes weißes Haar, legte einen Hauch von Rouge auf ihre heute etwas blassen Wangen, zog ganz zart die Augenbrauen nach, tuschte die noch immer dichten Wimpern, so dass das helle Grau ihrer Augen betont wurde, und wählte einen zartrosa Lippenstift.

Das Ergebnis war durchaus befriedigend. Sie war das, was man eine »schöne alte Dame«, nannte, und sie war froh, dass sie nicht zu jenen schnell verblühenden Hübschheiten gehörte, die ihre beste Zeit mit zwanzig hatten. Ganz bestimmt würde sie Gerhard auch heute noch gefallen – wenn er da wäre!

Wieder seufzte sie. Aber nein, sie wollte nicht traurig sein! Sie wollte gut gelaunt zu Gunther fahren und sich wieder einmal darüber amüsieren und auch ein wenig geschmeichelt fühlen, dass er noch immer in sie verliebt war.

Graf Marsik hatte erst mit achtundfünfzig Jahren geheiratet, weil er bis dahin verzweifelt darauf gehofft hatte, Gundula möchte doch noch sein Werben erhören. Aber sosehr sie ihn auch mochte und schätzte – sie konnte sich nie vorstellen, einmal einem anderen zu gehören, nachdem sie sich Gerhard auf seinem letzten Urlaub hingegeben hatte. Wohl aus einer bitteren Ahnung heraus. Und weil sie ihn wirklich von Herzen liebte.

Es tat ihr leid, dass er ausgerechnet die dumme Gans von Christa Walsenberg genommen hatte. Sie hätte ihm gleich sagen können, dass er mit ihr nicht glücklich würde – auch wenn sie eine Prinzessin war!

Ein Wunder, dass die beiden einen so reizenden Sohn wie Erik bekommen hatten! Er erinnerte sie sehr an den jungen Gunther: klug, amüsant und sehr gut aussehend. Ja, seltsam, dass sie sich nie in ihn verliebt hatte – damals …

Dafür war Eriks ältere Schwester ein Abklatsch ihrer grässlichen Mutter. Sie fing schon jetzt, mit Mitte zwanzig an, ihre Hübschheit einzubüßen. Der scharfe Zug um ihren immer schmaler werdenden Mund, der böse Blick ihrer porzellanharten blauen Augen – da konnte sie noch so süß lächeln und flöten und die Erbtante umtanzen – nein, sie war nicht der Typ, den Gundula einst nach ihrem Tod auf Weyarn sehen wollte!

Es klopfte an die Tür ihres Ankleidezimmers, und ihre Zofe trat ein.

»Verzeihung, gnädiges Fräulein. Der Chauffeur wartet bereits. Bei dem zu erwartenden Verkehr auf der Straße meint er, dass Sie sonst zu spät zu Ihrem Anwaltstermin kommen.«

Gundula lachte leise.

»Danke, Frieda! Holen Sie mir bitte das hellgraue Kostüm und den dazugehörenden Schmuck. Ich bin schon fast fertig.«

Keine Sorge! Auch wenn sie eine Stunde zu spät kam – sie wusste, dass Gunther sich den ganzen Vormittag für sie reserviert hatte und außerdem noch auf ein gemeinsames Mittagessen hoffte.

Zu dem klassisch geschnittenen hellgrauen Kostüm trug Gundula eine Hemdbluse aus etwas dunklerer Seide im gleichen Ton und die passenden Pumps mit halbhohem Absatz. Ganz hohe Absätze waren ihr inzwischen unbequem. Man wurde eben älter! Eine lange Perlenkette aus rosig schimmernden Perlen mit einem funkelnden Brillantschloss, passende Perlen mit einem kleinen Brillanten als Ohrstecker, den Verlobungsring mit dem Wappenring an der Linken und an der Rechten den Brillantring, den ihr Gunther schenkte, als er sich damals mit der dummen Christa verlobte. Es war der Verlobungsring seiner Mutter und er bestand darauf, dass sie, Gundula, ihn annahm.

»Sie sehen wunderbar aus, gnädiges Fräulein!«, sagte Frieda. »Niemand würde glauben, dass Sie schon siebzig Jahre sind!«

»Danke, Frieda«, erwiderte Gundula und lächelte die treue Frau freundlich an. Sie waren gleich alt. Nur war Friedas Verlobter aus dem Krieg zurückgekehrt. Wenn auch nur mit einem Bein. Bis zu seiner Pensionierung hatte er im Gutsbüro als Buchhalter gearbeitet. Frieda hatte sich geweigert, in Rente zu gehen.

Mein Arzt sagt etwas anderes!, dachte Gundula, während sie durch den breiten Gang zu der schönen, geschnitzten Holztreppe ging, die hinunter in die Eingangshalle führte, in der bereits Karsten, der Chauffeur, mit der Mütze in der Hand auf sie wartete.

»Guten Morgen, gnädiges Fräulein!«, begrüßte er seine Arbeitgeberin.

»Guten Morgen, Karsten. Es tut mir leid, dass Sie warten mussten! Aber auf gestern hin, war ich heute etwas spät dran!«

»Das macht doch nichts, gnädiges Fräulein!«, antwortete er und hielt ihr mit einer Verbeugung die schwere Eingangstür auf. Dann eilte er vor ihr die Treppe hinunter und öffnete den Schlag ihres großen Wagens. Erst als er hinter dem Steuer saß, setzte er wieder seine Dienstmütze auf.

Gundula von Weyarn hatte ihr Leben lang darauf bestanden, dass man sie mit »Fräulein«, ansprach. Zu ihrer Jugendzeit war das üblich gewesen, und sie fand es albern, dass jede Achtzehnjährige heute schon auf der Anrede »Frau« bestand.

Es wurde Herbst. Auch in der Natur. Und, so fand Gundula, eigentlich war der Herbst mit seinen prächtigen Farben, den Nebelschleiern über den feuchten Wiesen und dem tiefblauen Föhnhimmel eine wunderschöne Jahreszeit!

Auch im Leben eines Menschen konnte der Herbst sehr schön sein.

Wenn man nicht allein war.

Wenn man Kinder hatte.

Oder wenigstens Verwandte, von denen man sicher sein konnte, dass sie nicht nur darauf warteten, wann man endlich das Zeitliche segnete!

Nun ja! Sie würden sich schön anschauen!

Gundula lächelte mit boshafter Freude.

Gunther Marsik tat ihr ein wenig leid. Sie wusste, dass er es gerne gesehen hätte, wenn Erik einmal alles erbte. Aber im Gegensatz zu seiner Schwester hielt der sich sehr zurück. Er besuchte die Nenntante nur bei offiziellen Anlässen – so wie dem gestrigen siebzigsten Geburtstag, oder wenn sie ihn ausdrücklich einlud. Er war nicht bereit, sich wie die anderen, bei ihr einzuschmeicheln.

Das machte ihn zwar sympathisch – aber wohl kaum zum Erben eines großen Vermögens!

Mit fünf Minuten Verspätung traf Gundula von Weyarn in der renommierten Kanzlei ihres alten Freundes ein.

»Das gnädige Fräulein ist eingetroffen!«, meldete seine Sekretärin über die Sprechanlage, und Sekunden später kam Graf Marsik aus seinem Büro.

»Mein lieber Gunther!«, begrüßte ihn Gundula mit dem leicht amüsierten Lächeln, das sie für seine überschwengliche Freude stets hatte. »Ich hoffe, es ist dir recht, dass ich dem Chauffeur gesagt habe, er solle mich erst um drei Uhr in der Kanzlei abholen, da wir zusammen essen würden!«

»Großartig, dass du noch daran gedacht hast! Bestellen Sie bitte einen Tisch für uns – Sie wissen schon!«

»Wie immer, Herr Graf!«, erwiderte die Sekretärin, die das Ritual kannte.

Sobald sich die gepolsterte  Tür seines eleganten Büros geschlossen hatte, küsste Gunther nochmals beide Hände seiner Klientin.

»Wie machst du das nur? Du wirst immer jünger und schöner!«

»Sei nicht albern!« Gundula lachte. »Oder solltest du eine neue Brille brauchen?«

»Du weißt, dass ich es so meine!«, erwiderte er etwas gekränkt und schob ihr den Sessel vor seinem antiken Schreibtisch zurecht, ehe er sich selbst wieder in den gobelinbezogenen Renaissancesessel, der dazu passte, setzte.

Dank der hohen Fenster war das Büro trotz seiner schweren, alten Möbel und der in dunklen Farben gehaltenen  Ahnenbilder an den Wänden nicht düster, sondern nur sehr exklusiv und vornehm.

Graf Marsik war wohlhabend, wenn auch nicht im entferntesten so reich wie seine über Jahrzehnte hinweg vergeblich Angebetete. Trotzdem wusste Gundula, dass er nie an ihr Vermögen, sondern immer nur an ihre Person gedacht hatte, wenn er um sie warb.

»Ich kann mir vorstellen, weshalb du hier bist«, sagte er mit einem tiefen Seufzer.

»Nun, wir sind beide in dem Alter, in dem man an so etwas denken muss!«, erwiderte sie leichthin. »Und es gibt niemandem, dem ich so vertraue wie dir.«

»Also. Bringen wir es hinter uns!«, sagte er mit einem nochmaligen Seufzer. »Wie hast du es dir vorgestellt?«

»Ich habe es schon fertig!«, erwiderte Gundula lächelnd. »Ich möchte nur, dass es hieb- und stichfest ist. Und diesbezüglich sollst du mich beraten.«

Sie nahm aus ihrer passend zu ihrem Outfit hellgrauen Lacktasche einen eng beschriebenen Bogen. »Kannst du das in die juristisch unanfechtbare Form bringen?«

Er überflog das Schreiben, zuckte ein wenig und nickte dann.

»Selbstverständlich. Ich hatte so etwas – erwartet.«

Gundula nickte.

»Es tut dir leid wegen Erik?«

»Ja!«, erwiderte er ehrlich. »Aber ich weiß, dass es eine Menge Verwandte gibt, die mehr Rechte haben als er. Zumindest nach ihrer Ansicht«, schränkte er ein.

»So ist es«, lächelte Gundula. »Mach’ mir also bitte ein schönes, unanfechtbares Testament daraus und sorge dafür, dass die Legate alle ausbezahlt werden.«

Er sah sie erschrocken an:

»Gundula! Ich bin drei Jahre älter als du!«

»Manche werden neunzig – andere – sterben früher. Es kommt nicht auf die Jahre an, lieber Gunther!«

»Hat der Arzt …« Er war so entsetzt, dass er nicht weitersprechen konnte.

»Lass uns nicht über so unangenehme Dinge sprechen«, schlug Gundula ausweichend vor. »Wann kann ich zur Unterschrift kommen?«

»Heute in einer Woche?« Am liebsten hätte er sie gleich für den nächsten Tag bestellt.

»Einverstanden. Wieder einschließlich Mittagessen?« Sie sah ihn ein wenig kokett an.

»Ach, Gundula, du machst mich wirklich zu einem alten Esel«, murmelte er und trug den Termin in seinen Kalender ein. In seinen privaten.

*

Dieses Mal würde man sie nicht so schnell wiederfinden! Viola Blau hatte sich nicht, wie die letzten Male, aus dem Waisenhaus davongemacht, um in der Stadt unterzutauchen. Sie war in den nächsten Bus gestiegen und hinaus aufs Land gefahren.

Auch nicht mit der S-Bahn! Da würde man zuerst suchen.

Sie kicherte vergnügt vor sich hin, obwohl sie eigentlich keinen Grund zu lachen hatte.

Sie hatte ihr ganzes Leben im Waisenhaus verbracht. Ihre Mutter hatte sie gleich nach der Geburt auf den Stufen des Waisenhauses ausgesetzt und sich dann nie wieder gemeldet. Sie nahm an, dass sie zwar einen Vater hatte, einfach, weil jeder Mensch einen Vater und eine Mutter haben musste. Aber offensichtlich hatte er sich nicht mehr für sie interessiert als ihre Mutter.

Die Schwestern, die damals noch das Waisenhaus leiteten, hatten sie »Viola« getauft – Viola Maria natürlich, – weil damals gerade die ersten Veilchen blühten. Und als Familiennamen hatten sie ihr »Blau« eingetragen – weil sie von der Kälte ganz blau gefroren war und es die ersten Tage ziemlich unsicher schien, dass sie überleben würde.

So hatte sie nun den komischen Namen: Viola Blau.

Doch im Grund war er genauso gut wie jeder andere Name auch. Fand jedenfalls Viola.

Die frommen Schwestern waren schon alt gewesen, als sie Viola fanden. Inzwischen waren sie uralt, soweit sie überhaupt noch am Leben waren, und die Leitung und Betreuung des Hauses war allmählich ganz in die Hände weltlicher Erzieherinnen übergegangen.

Und diese waren nicht nach Violas Geschmack.

Sicher, sie waren kompetent und tüchtig und bestimmt besser ausgebildet als die guten Nonnen. Aber sie hielten sich strikt an die vorgeschriebenen Arbeitsstunden, weil draußen der Freund oder die Familie wartete, und kaum eine schenkte den armen Würmern, die in dem Haus ihr Zuhause haben sollten, die mütterliche Zuneigung und vor allem Allgegenwart, die gerade solche Kinder brauchten.

Viola war ein besonders liebebedürftiges Kind gewesen und war es mit ihren jetzt vierzehn Jahren eigentlich immer noch. Sie hatte tagelang geweint, als die letzte Klosterfrau vor einem Jahr das Waisenhaus verlassen hatte. Obgleich es nur mehr die schwerhörige Schwester Pförtnerin gewesen war, und dann hatte sie beschlossen, das Heim aufzusuchen, in welchem die alten Schwestern bis zu ihrem Tode untergebracht waren.

Es war einfach, die Adresse herauszufinden, da sie behauptete, den Schwestern schreiben zu wollen.

Bereits am nächsten Tag war sie verschwunden.

Die alten Klosterfrauen freuten sich unbeschreiblich über ihren Besuch und ihre Anhänglichkeit. Aber natürlich konnte sie nicht bei ihnen bleiben! Sie mussten der Heimleitung mitteilen, dass Viola bei ihnen aufgetaucht war, und sie wurde umgehend wieder abgeholt.

Sie musste also, wenn sie aus dem schrecklichen Heim wegwollte, es anders anfangen …

Sie verschwand nach einiger Zeit wieder, und dieses Mal ging es nicht so glimpflich ab wie das erste Mal, wo man ihr Ausreißen ihrer Anhänglichkeit zugute schrieb.

Die Polizei griff das Kind auf dem Bahnhof auf, wo es ziemlich hilflos herumstand.

Als sie es trotzdem nochmals versuchte, wenn es auch erst nach geraumer Zeit gelang, hatte sie endgültig den Ruf einer Streunerin weg.

Im Grunde war das Viola egal. Es hatte nur den Nachteil, dass man sie besonders streng überwachte!

Für ihr diesmaliges Ausreißen hatte sie ein halbes Jahr ihr Taschengeld gespart. Sie kam sich mit ihren über hundert Euro geradezu wohlhabend und auf alle Fälle sehr unabhängig vor.

Mit ihrem Schulsack auf dem Rücken war sie bis zur Bus-Endstation gefahren und hatte dann den nächsten Weg über die Felder eingeschlagen. Auf dem Wegweiser stand Weyarn, 3 km.

Gut. Vielleicht fand sie Arbeit auf einem Bauernhof. Jetzt um die Zeit war doch Kartoffelernte. Sicher, es gab inzwischen Maschinen für alles, aber für die Nachlese oder auch im Wald für das Aufpflanzen neuer Baumkulturen wurden immer noch Hilfskräfte gebraucht.

Gerade weil sie immer mitten in der Stadt, in einer Steinwüste gelebt hatte, hatte sich Viola immer besonders für die Natur interessiert.