Die Farbe des Feuers - Jakob Augstein - E-Book
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Die Farbe des Feuers E-Book

Jakob Augstein

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Beschreibung

»Jakob Augstein ist angekommen in der Literatur.« Die Zeit.

Ein vornehmes Haus im Süden, zwei Frauen, die sich lieben und ein Fest, auf dem kein Segen liegt: Auf dem Anwesen einer Industriellenfamilie in der Provence wird die Hochzeit der Tochter Rebecca vorbereitet. Wehmütig macht sich ihre Freundin Swann auf den Weg nach Südfrankreich. Swann liebt Rebecca, die Gabriel heiratet, der wiederum nur seine Kunst liebt, aber immerhin adelig ist. Und dann ist da noch Sami. Auch er liebt Rebecca. Aber er ist nur der Gärtner und ein Muslim. Ausgerechnet jetzt hat es ihn nach Paris verschlagen, und während sein Orangengarten zur Bühne einer Hochzeit wird, die nicht sein sollte, blickt er vom Dach der Kathedrale Notre-Dame hinab auf eine Welt der Sünde.

In seinem neuen Roman erzählt Jakob Augstein von der Liebe in Zeiten der Ungewissheit, der Wut der Unsichtbaren und der Schönheit der Natur als letzter Zuflucht. Ein großer Familien- und Gesellschaftsroman vor dem Hintergrund der lichten Landschaft der südlichen Provence.

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Seitenzahl: 443

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Über das Buch

Voller Wehmut fährt Swann zur Hochzeit ihrer engsten Freundin Rebecca nach Südfrankreich. Dort, südlich von Montpellier, in der kargen Landschaft der Garrigue, hat Rebeccas Familie ein Haus mit einem wunderschönen Garten, wo die Freundinnen endlose Sommer miteinander verbracht haben. Inzwischen sind sie beide nicht mehr jung, und Swann hatte nicht damit gerechnet, dass Rebecca noch heiratet. Die ganze Familie findet sich in dem uralten Haus ein, nur Sami, der marokkanische Gärtner fehlt. Auch er hat nicht mehr mit Rebeccas Hochzeit gerechnet, auch er hat sie in den langen Wintermonaten, die er allein in dem großen, schlafenden Garten verbracht hat, herbeigesehnt. Jetzt ist er in Paris, während die Hochzeitsvorbereitungen in Südfrankreich laufen und die Spannungen in der Familie zunehmen. Dann kommt die Nachricht, dass Notre Dame brennt …

Jakob Augsteins Figuren sind flirrend und vielschichtig, so wie ihre Gefühle füreinander. Ein großer Familien- und Gesellschaftsroman vor dem Hintergrund der lichten Landschaft der südlichen Provence.

Über Jakob Augstein

Jakob Augstein, geboren 1967, ist Verleger und Publizist. 2022 erschien sein hochgelobtes Romandebüt »Strömung«. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

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Jakob Augstein

Die Farbe des Feuers

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Motto

Paris

Swann

La Garrigue

Der Garten

Notre-Dame

Liebe

Gabriel

Das Feuer

Das Meer

Sami

Die Familie

Stiere

Ortolan

Die Gäste

Epilog

Impressum

Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...

Cette nuit, dans mon sommeil, une bête de feu s’est tapie tout au fond de mon être. Et quand elle bouge, quand sa langue darde et qu’elle me donne un coup de griffe, je suis forcé de parler de toi, ô bien-aimée.

Während der Nacht, als ich schlief, hat sich tief in meinem Inneren ein feuriges Tier niedergelassen. Und wenn es sich bewegt, wenn seine Zunge zuckt und wenn es mit seiner Klaue nach mir greift, dann muss ich von dir sprechen, o meine Geliebte.

Blaise Cendrars

Paris

Es war am frühen Morgen des elften Aprils im Jahr des Herrn 2019, als sie eilig die Treppen hinuntersprang. Sie warf das rote Tor hinter sich zu, wich geschickt der grünen Abfalltonne aus, die links neben dem Eingang stand, und rannte die schmale Straße hinunter. Sie befand sich mitten in Paris, aber um diese Zeit waren nur wenige Menschen unterwegs. Das Pflaster war noch nass. Zwei alte Leute blieben stehen und blickten ihr nach, so wie alte Leute einem Schulkind hinterherblicken, vielleicht, um sich zu ärgern, vielleicht, um sich zu erinnern.

Sie bog nach rechts in die Rue Saint-Bon ab, die sie mochte, weil sie so schmal war, eigentlich keine richtige Straße, sondern eine Gasse. Wie jeden Morgen streckte sie ihre Arme nach rechts und links und prüfte, ob sie so schon die Wände der gegenüberliegenden Fassaden berühren konnte. Noch fehlte ein kleines Stück. Nach dem Sommer, dachte sie, spätestens im nächsten Jahr! Dann kam sie zu der Treppe mit den sieben Stufen, die sie mit einem Satz hinunterzuspringen pflegte, wobei die siebte Stufe nicht richtig zählte, weil sie nur halb so hoch war wie die anderen. Sie nahm ihren üblichen Anlauf, schaffte heute aber nur sechs Stufen, landete auf der siebten, rutschte ab und verlor das Gleichgewicht. Sie stürzte und blieb einen Moment atemlos auf dem Rücken liegen. Der Himmel über der Stadt war heute von einem besonders strahlenden Blau.

Sie raffte sich wieder auf und lief weiter zu den Brücken, die auf die Île de la Cité führen. Victor Hugo schreibt über diese Insel, sie habe die Form einer Wiege, aber eigentlich wird sie von zwei Armen der Seine gehalten, als sei sie das Kind. Entlang der westlichen Seite der Rue d’Arcole erstrecken sich die hohen Mauern, die vergitterten Fenster und die blauen Stahltore des Hôpital Hôtel-Dieu.

Die östliche Seite der Straße gehört seit jeher den kleinen Andenkenläden und den schlichten Restaurants, die hier dicht an dicht liegen. Nicht selten geht so ein Etablissement vom Vater auf die Tochter über und von der Mutter auf den Sohn und befindet sich darum seit Generationen im Besitz ein und derselben Familie. Die Rue d’Arcole wird beherrscht von einer wahren Aristokratie der Wirte und Andenkenverkäufer.

Er war in eine solche Familie hineingeboren. Seit hundertfünfzig Jahren lebten sie auf der Insel, und genauso lange betrieben sie das kleine Geschäft, das in dieser Zeit weder Phasen besonderen Wachstums erlebt hatte noch solche des bedrohlichen Niedergangs. Als er die Boutique von seinem Vater übernommen hatte, vor vierzig Jahren, war gerade die Belle Époque groß in Mode: Moulin Rouge, Chat Noir, Aristide Bruant, Toulouse-Lautrec. Aber er hatte die Beobachtung gemacht, dass sich das Andenkengeschäft in den vergangenen Jahren immer mehr auf den Eiffelturm konzentriert hatte. Ja, der Laden hatte sich von einem Geschäft für Pariser Souvenirs in ein reines Eiffelturmgeschäft verwandelt: Eiffelturm, überall nur Eiffelturm. Außerdem zeigten die Kunden ein anderes Kaufverhalten als früher. Sie gaben zwar nicht weniger Geld aus, verwendeten es aber anders. Sie kauften lieber ein paar billige Gegenstände als einen teuren.

Er bedauerte diese Entwicklung, aber er konnte sie im Interesse des Überlebens seines Geschäfts nicht ignorieren. Also passte er sein Angebot dem schlichter werdenden Geschmack seiner Kunden an, für die er eine mit den Jahren zunehmende Verachtung empfand.

Die jüngste Etappe auf dem Weg dieses Niedergangs – so empfand er das, obwohl Umsatz und Gewinn keinen Grund zur Klage boten – bestand darin, dass die kleinen aufklappbaren Spiegel nicht mehr im Sortiment zu halten waren. Es gab sie in eckiger, ovaler oder runder Ausführung, und ihre Oberseite war mit hinter Glas gelegten Motiven der Stadt verziert. Er mochte diese Spiegel, aber im Verkauf musste er mindestens elf Euro neunzig dafür nehmen. Das war zu teuer. Was noch im Lager war, wollte er darum für einen Sonderpreis veräußern. Er räumte gerade das Regal ein, als ihm ein länglich-schmales Exemplar auffiel. Er hielt inne und holte die Brille aus der Brusttasche des Kittels, den er jeden Morgen über die Strickjacke zog, wenn er das Geschäft öffnete und die Stellagen besetzte. Er hielt sich den flachen Gegenstand, der kühl in seiner Hand lag, vors Gesicht wie ein Buch, er drehte und wendete ihn und studierte ihn so aufmerksam, als könne er daraus etwas über die Zukunft des Andenkenhandels erfahren. Die Rückseite war glatt und glänzend, und in der leicht nach außen gewölbten Oberfläche spiegelte sich sein runder Kopf mit der Halbglatze wie eine kleine haarige Rosine. Auf der anderen Seite war das Abbild der Kirche von Sacré-Cœur zu sehen. Er schob sich die Brille in die Stirn und stellte fest, dass der Himmel über ihm jetzt gerade ganz genauso blau war. Das gefiel ihm. Dann machte er sich daran, den Aufsteller mit den Postkarten auf den Bürgersteig zu schieben.

Dabei achtete er darauf, den beiden Männern von der Straßenreinigung nicht in den Weg zu kommen. Sie trugen grüne Overalls und gelbe Warnwesten und sahen mit ihren langen Besen wie Papageien aus, die sich über den Schmutz der Straße hermachten. Ihre Schicht hatte vor zwei Stunden am Depot der Stadtreinigung bei der Gare de l’Est begonnen und endete am frühen Nachmittag unten am Port-Royal. Sie stammten aus Burundi, aus der Gegend der heißen Quellen von Mugara. Während sie die Steine der Pariser Trottoirs fegten, sehnten sie sich nach den schattigen Wäldern der Karyambuto-Hügel. Und wenn ihnen einmal, wie an diesem Tag, das Blau des Himmels über Paris auffiel und sie blinzelnd den Kopf in den Nacken legten, dann dachten sie an das leuchtende Wasser des Tanganjikasees, an dessen Ufer sie früher Barsche geangelt hatten.

Den ganzen Weg hinüber sprachen sie leise und ernst in der weichen Sprache ihrer Heimat, die niemand, an dem sie vorbeikamen, verstehen konnte, und darum wusste auch niemand, worüber sie sprachen. Sie blickten nur auf den Weg vor sich, weil das ihre Arbeit so mit sich brachte und weil das gleißende Licht des Pariser Kalksteins ihre Augen blendete. Sie bemerkten die alte Dame an der Ecke der Rue Chanoinesse nicht, die ihnen im Vorübergehen aus Gewohnheit einen aufmunternden Blick zuwarf.

Sie war einmal Schauspielerin gewesen und immer noch eine auffallende Erscheinung. Sie trug den Gürtel um ihren langen, hellen Mantel locker geknotet, und ihr buntes Tuch hing ihr nachlässig über die Schultern. Wenn sie in ihrer Jugend um diese Uhrzeit in den Straßen unterwegs war, war sie noch nicht im Bett gewesen, so viel ist sicher. Damals galten die Quartiers am rechten Ufer noch als verrufene Gegend, Saint-Merri, Enfants Rouges und natürlich die Hallen, dieser Umschlagplatz des Lebens, auf dem alles käuflich war, damals, als die Rue Antoine Carême, die seit dem Neubau des Viertels in keinem Pariser Stadtplan mehr zu finden ist, noch mitten durch Austern, Fisch und Langusten führte, durch Gemüse, Geflügel und Fleisch, tot und lebendig.

Neben der alten Schauspielerin ging sehr langsam und vorsichtig die Witwe eines Leiters der Unterabteilung Steuer, Finanz- und Wirtschaftsberatung in der Abteilung für Kommunalverwaltung in der Generaldirektion der Öffentlichen Finanzen. Sie war kleiner und unscheinbarer, allerdings auch eleganter als ihre flamboyante Freundin, von der sie sich, wie an jedem Donnerstag, auf ihrem Weg zum Augenarzt begleiten ließ, dessen Praxis sich am unteren Ende des Boulevard Saint-Germain befand. Denn vor einigen Jahren, als ihr Mann schon tot war, hatten ihre Augen plötzlich die graugrüne Farbe des Atlantiks angenommen, an dessen bretonischen Stränden sie mit ihm die Sommer verbracht hatte, und sie begann zu erblinden. Sie hatte festgestellt, dass mit dem langsamen Verlöschen ihres Augenlichts auch ihre Erinnerungen verblassten, aber weil sie ohnehin nie so farbig gewesen waren wie die ihrer Freundin, trauerte sie ihnen nicht hinterher, sondern amüsierte sich stattdessen über die Erzählungen von den Nächten im »Gravillons«, im »Belle de Nuit«, im »Caveau« und im »Les Miroirs« am Boulevard de Sébastopol, wo früher die Schwarzen ihren Jazz spielten.

Sie lebten im selben Haus und kannten sich schon lange. Im Erdgeschoss war das Geschäft eines Buchbinders, das auf Schnittverzierungen spezialisiert war. Die Witwe des Finanzbeamten lebte im ersten Stock und hatte einen Balkon, die Schauspielerin lebte im Stockwerk darüber und hatte keinen. Das Haus stand an der Place Dauphine, auf der westlichen Seite der Insel, in der Nähe des Pont Neuf, wo sich beinahe alle der letzten hier verbliebenen Wohnungen befinden. Auf der Île de la Cité wohnten ja nur noch wenige Menschen. Die prächtigen, in der Sonne leuchtenden Gebäude beherbergten beinahe ausschließlich Institute eines höheren Zwecks: Sie standen im Dienst der Ordnung, der Gesundheit oder des Glaubens, allerdings nicht der Geldvermehrung, die fand anderswo statt, wenn man von den wenigen und bescheidenen Ladengeschäften und Restaurationen absah.

»Heute ist ein schöner Tag, nicht wahr?«, sagte die Witwe, und die Schauspielerin antwortete: »Ja, mein Reh, es ist ein schöner Tag.«

»Ist der Himmel blau?«

»Ja, er ist so blau …«, und sie zögerte, weil sie nach einem Vergleich suchte, der ihrer Freundin Freude machen würde, und weil ihr dann doch nichts Besseres einfiel, sagte sie: »Er ist so blau wie das kleine Moped, das uns eben beinahe überfahren hätte. Aber – immerhin – der Fahrer sah gut aus.«

»Wie sah er aus?«, fragte die Witwe, und die Schauspielerin, die den Mann nur flüchtig gesehen hatte, aber über eine gute Auffassungsgabe verfügte, erzählt es ihr: »Er hatte keinen Bart, und olivfarbene Haut, also ein Maghrébin, keine Frage, mit kräftiger Nase und hohen Wangenknochen, aber das war nicht das Interessante an ihm.«

»Was war es dann?«, fragte die Witwe.

»Es waren die Augen«, sagte die Schauspielerin. »Ich bin es wegen meines Berufs gewohnt, bei Menschen vor allem auf die Augen zu achten. Und dieser Mann, den ich auf Anfang vierzig schätze, also nicht alt, hatte besondere Augen. Ich habe sie nur einen Moment gesehen, aber ich werde sie nicht vergessen.«

»Erzähl mir von diesen Augen.«

»Was soll ich sagen?«, sagte die Schauspielerin, »sie waren dunkel und schwer, und vor allem waren sie uralt.«

»Ich dachte, es war ein eher junger Mann – vor allem im Vergleich zu solchen Wracks, wie wir es sind.«

»Ja, er schien mir jung. Aber sein Blick war so … traurig.«

»Du hast dich in einen marokkanischen Mopedfahrer verliebt?«, fragte die Witwe.

»Papperlapapp«, sagte die Schauspielerin. »Beeilen wir uns, mein Küken, sonst kommen wir zu spät.«

Der Mann, den ein zufälliger Beobachter für jünger gehalten hätte, als er war, war am frühen Morgen des sechsten Schaban im Jahr 1440 der Hidschra in der Rue des Rosiers im etwa zwanzig Kilometer nordöstlich des Pariser Stadtzentrums gelegenen Drancy vor ein zweistöckiges Haus getreten, dessen metallene Fensterläden beinahe immer geschlossen sind. Er hatte sich eilig auf ein hellblaues Moped gesetzt, wie es auch in diesem Teil der Stadt nicht mehr oft zu sehen war, aber es war ihm erst beim dritten Versuch gelungen, die Maschine anzuwerfen. Er war in der schmalen Straße gegen die erlaubte Richtung gefahren, wie er es an jedem Morgen der vergangenen Woche getan hatte, bei dem kleinen Elektrofachgeschäft links abgebogen und hatte sich dann auf den Weg nach Paris gemacht. Er hatte Bobigny und Pantin durchquert, am nördlichen Rand des 19. Arrondissements die Auffahrt zum Boulevard Périphérique genommen, den er erst an der Porte de Bercy verlassen hatte, er war dem Quai de Bercy gefolgt, hatte am Pont d’Austerlitz die Seine überquert, den Jardin des Plantes links liegen lassen und war dann über den Pont de l’Archevêché nach rechts auf die Île de la Cité abgebogen. Wegen des unerwartet dichten Verkehrs hatte die Fahrt länger gedauert als die übliche Stunde.

Er hatte es inzwischen so eilig, dass er in der Rue Chanoinesse beinahe mit zwei alten Frauen zusammengestoßen wäre, die achtlos auf die Straße getreten waren. Aber anstatt sich zu entschuldigen, hatte ihm die größere von beiden irgendetwas hinterhergerufen. Sie hatte nicht geschimpft, es klang eher wie ein Kompliment. Was dachte die sich dabei? Er war als Kind nach Frankreich gekommen und in der Zup von Bayonne Sainte-Croix aufgewachsen, aber diese forschen französischen Frauen beunruhigten ihn immer noch, vor allem die alten. Er stellte die Mobylette an der Ecke Rue Massillon ab und blickte nach oben, um zu prüfen, ob sie schon angefangen hatten. Dazu trat er aus dem Schatten der Kathedrale, die vor ihm steil in die Höhe ragte, Unsere Liebe Frau von Paris, die jeder Notre-Dame nennt, auch Abd-Sami al Wafi, der manchmal dachte: »Es ist eure Liebe Frau, nicht meine.«

Er legte den Kopf in den Nacken, aber der Himmel war noch so leer und blau wie die Augen der Engel Munkar und Nakir, die die Toten in ihren Gräbern aufsuchen und ihnen drei Fragen stellen. Als er sich gerade erleichtert abwenden wollte, tauchte plötzlich über Strebepfeilern und Fialen eine sonderbare Erscheinung auf, schwebte aufrecht von rechts nach links, hoch über dem Kirchenschiff, ein Schemen, ein Traumbild, dunkel, schmal, die Konturen nicht deutlich auszumachen. Es dauerte nur einen Augenblick, und die Gestalt wechselte lautlos vom Schatten ins Licht und strahlte plötzlich in einem so grellen Grün, dass der Kontrast zum Blau des Himmels beinahe in den Augen schmerzte. Dann begann sie zu sinken, bis ihre Umrisse deutlicher wurden und sich erkennen ließ, dass sie in der einen Hand ein Buch hielt, in der anderen ein Schwert und dass ihr der Kopf fehlte.

Abd-Sami al Wafi konnte den Blick nicht abwenden. So erging es im selben Moment noch fünf anderen Menschen, die gleichzeitig dasselbe Bild sahen: ein Mädchen, das sich auf dem Weg zur Schule verspätet hatte, weil es auf einer Treppe ausgerutscht war, ein Andenkenhändler, der gerade seine letzten Verkaufsständer aufstellte, zwei Straßenkehrer aus Burundi, die sich rauchend auf ihre Besen stützten, und eine ehemalige Schauspielerin, an deren Seite eine alte Witwe ging, deren Augen aber zu schwach für das ungewöhnliche Spektakel waren.

Diese Menschen, die nichts voneinander wussten und sich auch in ihrem weiteren Leben nie begegnen würden, nahmen dieses ungewöhnliche Bild alle gleichzeitig wahr. Ja, sie waren überhaupt die Ersten, die es sahen. Warum gerade sie und keine anderen? Ebenso gut könnte man fragen, warum nicht sie? Vor Gott sind alle Menschen gleich, heißt es, und vor dem Teufel erst recht. Und diese Menschen hatte der Zufall hier zusammengeführt oder der göttliche Plan. Denn ob wir durch den Zufall leben oder nach einem Plan, erfahren wir erst, wenn es zu spät ist.

Wenig später entdeckten auch andere Augen die sonderbare Erscheinung, Kameras, die schon gewartet hatten, fingen sie ein, und das Internet verbreitete die Bilder um die Welt: Der Apostel Paulus schwebt kupfern und kopflos, an einem ungeheuren Kran hängend, über der großen Kathedrale, die sich wie ein Gebet über die Stadt erhebt. Und im Verlauf des Tages folgten ihm Andreas mit dem Kreuz, der mädchenhafte Johannes mit dem Kelch, Matthäus mit dem Winkelmaß und die übrigen der Zwölf, alle ohne Kopf, aber jeder an seinem heiligen Attribut zu erkennen. Sie hatten 160 Jahre lang unbewegt zu Füßen des schlanken Vierungsturms gestanden, drei an jeder Seite, der aus der Mitte der Kathedrale emporbricht wie ein Pfeil und der darum Flèche genannt wird, genau aus dem Punkt heraus, an dem Haupt- und Querschiff aufeinandertreffen, so als würden Glaube, Liebe und Hoffnung in einem Höhepunkt ungebremster Schaffenskraft miteinander verschmelzen und in einer gewaltigen Eruption aufwärtsstreben.

Abd-Sami al Wafi war kein Christ. Es waren nicht seine Heiligen, die da zur Restaurierung abtransportiert wurden. Aber es waren die Apostel Christi, und über den hat der Prophet, Gott segne ihn und schenke ihm Heil, gesagt: »Unter allen Menschen der Welt ist mir Jesus, Marias Sohn, der nächste. Denn die Propheten sind Brüder, und wenn sie auch andere Mütter haben, teilen sie eine Religion, und es gibt neben mir und Jesus keinen anderen Propheten.« So steht es geschrieben im Buch der Tugenden des Sahih Muslim.

Deshalb wohnte Abd-Sami al Wafi diesem Moment also andächtig bei und wartete geduldig, bis die grün leuchtende Statue hinter dem Bleidach der Apsis verschwunden war. Er wusste, dass auf dem Spielplatz neben der Fontaine de la Vierge der Sattelschlepper mit der blauen Plane wartete. Dann lief er zur Sicherheitsschleuse, zeigte wie an allen Tagen der vergangenen Woche seinen Ausweis und erhielt ohne Umstände Zutritt zur Baustelle.

Sami bedeutet der Hörende und ist einer der 99 schönen Namen Gottes, er sei gepriesen und erhaben. Sami hatte einen Zwillingsbruder, der keine Stunde älter war und den Namen Samad trug, das bedeutet der Unabhängige. Der eine sah aus wie der andere, aber Sami war Gärtner geworden und Samad Gerüstbauer. Im Sahih al-Bukhari steht, Allahs Bote, Gott segne ihn und sein Erbarmen sei mit ihm, hat gesagt: »Hilf deinem Bruder, gleich ob er ein Unterdrücker ist oder ob er unterdrückt wird.« Also hatte Sami seinem Bruder geholfen, als der ihm gesagt hatte, er solle in dieser Woche statt seiner auf die Baustelle im Himmel über Paris kommen. Denn er war der Jüngere und der andere der Ältere, und dass der eine der Hörende sei und der andere der Unabhängige, das war ihnen in die Wiege gelegt.

Als Sami schon im weißen Container saß, in dem die Männer der Gerüstbaukolonne ihre blauen Overalls und die Sicherungsgurte anlegen konnten, rief sein Bruder an.

»As-Salamu ’alaikum wa Rahmatullahi wa Barakatuhu, mein Bruder«, sagte Samad, und Sami antwortete, wie es Brauch ist: »Wa Alaikum Assalam wa Rahmatullah.«

»Hast du es gesehen?«

»Ja, ich bin hier.«

»Meine Augen haben gelacht! Wenn sie selbst ihren Heiligen die Köpfe abschneiden, müssen wir es nicht mehr tun.«

»Ich mag es nicht, wenn du so redest.«

»Gott ist groß, mein Bruder. Aber Frankreich ist ein dār al-Harb, ein Land des Krieges, vergiss das nicht. In der Schule nennen sie uns ›bougnoule‹, und wenn dein Bart zu lang ist, glauben sie, dass du Bomben legst. Freiheit, Gleichheit, Undankbarkeit, mein Bruder.«

»Ja, Mann, Paris ist nicht Tizi, ich weiß.«

»Siehst du!«, sagte Samad, der es gewohnt war, recht zu behalten. »Du machst alles so, wie es besprochen wurde.«

Mit diesen Worten beendete er das Gespräch. Sami blieb still sitzen und blickte auf seine Hände, die groß und schrundig waren, aber nicht grob. Er war kein Handwerker, er wollte nach Hause. Der Winter war lang und kalt gewesen, die Orangenernte hatte spät begonnen, und als sein Bruder anrief und ihn hieß, nach Paris zu kommen, waren noch längst nicht alle Früchte gepflückt. Vielleicht ist es sogar ganz gut, dachte er plötzlich, dass die Bäume am Rand der großen Wiese noch voller Früchte hingen. Wenn dort in der nächsten Woche das große Fest gefeiert wird, werden sie einen schönen Hintergrund bilden im dunklen Grün der Blätter, lauter orangefarbene Sterne für Fräulein Rebecca.

Sami, der Gärtner, pflegte jeden Tag nach seinen Bäumen zu sehen. Wenn er den Stamm mit der Rechten umfasste, konnte er spüren, wie es um einen Baum bestellt war, ob ein Pilz dabei war, sich in einem Astloch breitzumachen, ob dem Baum die Nahrung fehlte oder Wasser, ob er gedeihen oder sterben würde. Es war eine besondere Fähigkeit, die er eines Tages an sich bemerkt hatte. Und gerade bevor er nach Paris gereist war, hatte er festgestellt, dass einer der Orangenbäume krank war. Das bekümmerte ihn. Vielleicht konnte er noch etwas für ihn tun, wenn er wieder daheim sein würde, dachte Sami.

Er stand auf und nahm Gurt, Seil und Haken und schnallte sich den Gürtel mit seinem Werkzeug um, den spitzen Hammer mit dem gespaltenen Kopf und die lange, dornenförmige Ratsche. Sie heiratet tatsächlich. Nach so langer Zeit. Als er vor beinahe 25 Jahren den Posten des Hausmeisters auf dem Anwesen der Familie Bächle in der Nähe von Montpellier angenommen hatte, war Rebecca 14. Seitdem hatte er sie jeden Sommer gesehen. Jedes Jahr im Juli, wenn der Hibiskus blühte, bezog die Familie ihren Sommersitz und blieb bis Ende August. Wenn die Sieben-Söhne-des-Himmels-Sträucher, die Sami selber gepflanzt hatte, in weißer Blüte standen, kam der Fahrer der Familie, der in all den Jahren kein Wort mit ihm gewechselt hatte, belud den großen schwarzen Mercedes mit dem Gepäck des Sommers und fuhr zurück nach Deutschland, während die Familie ein Taxi zum Flughafen nach Marseille nahm.

Im Herbst, wenn die letzten Gäste der Familie abgereist waren und es still im Haus und auf dem Anwesen wurde, begann Sami, auf das nächste Jahr zu warten. Und wenn er seiner Arbeit nachging, dann waren es auf seinem Weg zwischen den Obst- und Olivenbäumen, entlang der von alten Platanen gesäumten Auffahrt, um Pool, Hauptgebäude und Nebengelass herum, mit den Garagen, über denen seine eigenen drei kleinen Zimmer lagen, die Farben, die ihm Auskunft darüber gaben, wann Fräulein Rebecca wiederkommen würde.

Im Oktober verdämmerte das leuchtende Rot der Bougainvilleen, im Dezember strahlte das Gelb der Wintermimosen, der Februar gehörte dem blauen Gamander, im April begannen die chinesischen Mandelbäume lila zu leuchten, und im Juni kündigte der rosablühende Schmetterlingsflieder ihm endlich Fräulein Rebeccas nahende Rückkehr an.

Er freute sich darauf, und ein bisschen fürchtete er sich auch davor. Denn jeden Sommer rechnete Sami damit, dass sie nicht allein kommen würde, dass sie in der Zwischenzeit eine eigene Familie haben könnte, einen Mann, ein Kind. Rebecca brachte natürlich ihre Freunde mit, Männer, die offenbar ihre Liebhaber waren, aber es waren immer andere, und Sami war immer erleichtert, wenn er sah, dass es ihr mit ihnen nicht ernst war.

Jedes Jahr bemerkte er, dass sie ein bisschen älter geworden war. Er sah die Falten, die sich um ihre Augen legten, jene, die vom Lachen kommen, und die auf der Stirn auch, die von den Sorgen kommen.

Als er hörte, dass sie heiraten würde, freute er sich für sie, aber er war auch traurig. Es gibt vier Gründe, eine Frau zu heiraten: wegen ihres Besitzes, wegen ihres Rangs, wegen ihrer Schönheit und wegen ihrer Frömmigkeit. Natürlich musste man sich für die fromme Frau entscheiden, aber Rebecca war schön.

Sami legte den Gurt an und hakte das Seil ein. Er ging zum Fahrstuhl, der an der nördlichen Fassade bis zur ersten Plattform in 24 Meter Höhe führte. Der Mann, der das Gitter bewachte, fragte: »Wohin willst du, Bruder?« Auf der Brust trug er ein Schild, darauf stand »Burak«, und weil so auch der Name des himmlischen Pferdes lautet, das den Propheten, Heil sei über ihm, auf seiner nächtlichen Reise getragen hat, nahm Sami das als ein gutes Zeichen, also sagt er: »Ich will nach oben, in die Höhe.«

»Al-ḥamdu l-illāhi rabbi l-ʿālamīn«, murmelte Burak und ließ Sami einsteigen.

Swann

Es war ein trüber, kalter Tag. Die Äste der Bäume standen schwarz in den Himmel. Aber zwei Stunden hinter Köln, als Swann auf der Höhe von Luxemburg war, öffnete sich der Himmel, und frühes Grün schimmerte in der milden Frühlingssonne. Je weiter sie nach Süden kam, desto dichter stieg das Leben in grünen Wolken über die Felder. Als Swann die Mosel überquerte, freute sie sich darüber, dass die ersten Blüten hier keine Angst mehr vor dem Nachtfrost haben mussten. So reiste sie vorwärts in die Zeit, und der Frühling hätte vor ihr liegen können wie der Anfang einer schönen Geschichte.

Aber Swann war gefeuert worden. Die Rittmeisterin hatte es anders verkauft. Die Kollegen beim Radio brauchen dringend gute Leute, hatte sie gesagt, und es sei auch nur für eine Weile, zwei Jahre maximal, nach der Bundestagswahl sollte Swann wiederkommen. Das war natürlich eine Lüge. Wenn man einmal vom Bildschirm verschwunden war, gab es kein Zurück. Swann war nicht sehr überrascht. Ihr war schon aufgefallen, dass es in diesem Jahr nach den Sendungen mehr Kritik gegeben hatte als zuvor. Sie habe unkonzentriert gewirkt und ein paar Mal Namen verwechselt. Aber sie hatte sich davon nicht beeindrucken lassen. Ebenso wenig wie von der Geschichte mit Franz. Sie hatte einfach weitergemacht. Die Wahrheit war doch, dass die Rittmeisterin sie nie gemocht hatte. Ich war eine Provokation, dachte Swann. Es ist ihre Sendung, ihre Redaktion, und ich war eine Provokation. Aber dass die Rittmeisterin die Stirn haben könnte, sie zum Hörfunk zu versetzen, das hatte sie tatsächlich nicht erwartet. Bei dem Treffen, das am Vormittag stattgefunden hatte, war die Hörfunkdirektorin auch schon gleich dabei gewesen. »Ich leih Sie mal den Kollegen aus«, hatte die Rittmeisterin gesagt und gelacht. Und dann noch: »Aber dass ich mein bestes Stück ja unversehrt zurückbekomme.«

Die Hörfunkdirektorin lachte auch und sagte, sie wolle mal schauen, was sie da tun könne. Auch Swann lachte und sagte, das sei ja hier wie auf dem Basar und sie sei wohl der Teppich, worauf die Hörfunkdirektorin wiederum lachte und sagte, sie wolle hoffentlich nicht auf ihre migrantische Herkunft anspielen, und dann lachten alle drei zusammen. Alle waren ungeheuer gut gelaunt, nur Swann hätte kotzen können.

Swann hatte nichts gegen das Radio. Warum auch? Als sie vor fünfzehn Jahren mit ihrer Arbeit angefangen hatte, hätte sie ebenso gut beim Radio landen können. Aber inzwischen hatte sie sich an das Fernsehen gewöhnt. Maske, Verkabelung, Studio, ihr gefiel das. Auf der Straße wurde sie manchmal erkannt. Nicht zu oft, aber von den richtigen Leuten. Montag, erstes Programm, 22.45 Uhr, politisches Magazin, das war kein Unterschichtenfernsehen, was sie da machte. In Köln und Berlin bekam sie jederzeit einen Tisch, auch am Samstagabend, das genügte ihr.

Die Rittmeisterin war der Star der Sendung, natürlich, Swann stand in ihrem Schatten. Kamera läuft, das Studio in der Totalen, anschwellendes Tremolo, Fanfare, Stille, Schnitt auf ihr Gesicht: »Hier ist Susanne Rittmeister mit ›Memo, Ihrem Wochenmagazin‹, und das sind unsere Themen …« Von einem Moment zum nächsten lässt sie ihre Augen warm strahlen oder kalt leuchten, in ihren Mundwinkeln, in denen eben noch Herzlichkeit lag, zuckt plötzlich der Spott, und ihre Stimme durchschneidet den Raum, den sie eben noch sanft erfüllte. Sie bediente sich ihrer selbst wie einer Maschine. Ihre Professionalität hatte Swann immer beeindruckt und erschreckt.

Ihr eigener Auftritt kam ungefähr eine Viertelstunde nach Sendungsbeginn. Fünf Minuten Interview, live, und nicht jeder Gast ist ein Profi. Sie beherrschte ihr Handwerk. Die Rittmeisterin hatte ihr immer wieder gesagt, sie solle Fragen und Antworten vorher mit den Gästen absprechen, vorbereiten, scripten, aber sie hatte sich geweigert. Spontaneität sei Risiko, hatte sie gesagt, und genau darin liege die Lebendigkeit des Augenblicks. Sie war sich sicher, dass die Rittmeisterin gemerkt hatte, dass sie im Recht war. Sie hat es natürlich nie zugegeben. Meine fünf Minuten, dachte Swann, waren nicht selten unterhaltsamer, überraschender, lehrreicher als ihre vierzig. Und dann war sie rausgeflogen.

Gegen Mittag hatte sie sich in ihren weißen Mercedes gesetzt, die Tasche auf den Rücksitz geworfen und war den Fluss entlanggefahren, der grau und müde in seinem Bett lag.

Sie hatte ausgerechnet, dass sie gegen elf Uhr abends in der Gegend von Montpellier sein würde. Rebecca hatte ihr gesagt, sie solle nach Marseille fliegen, am Flughafen werde sie auf sie warten. Swann hatte sich über diese Fürsorglichkeit gefreut. Sie erinnerte sich an solche Szenen: sie kommt mit ihrem Handgepäck durch eine milchglasige Schiebetür, hinter der Absperrung warten Menschen, Rebecca steht am Rand, beinahe verdeckt von den Schultern großer Männer in Anzügen und Lederjacken, aber Swann erkennt sie sofort, ihren schwarzen Haarschopf, ihre Medusenlocken, die in alle Richtungen abstehen und sich bewegen, als führten sie ein eigenes Leben. Arm in Arm gehen die beiden Frauen zum Auto, und unterwegs haben sie Zeit füreinander. Das wäre schön, dachte Swann, beinahe wie früher. Letztes Jahr hatten sie noch den Sommer miteinander verbracht. Sie waren in Nizza und in Cannes und in Saint-Tropez und dann im Haus von Rebeccas Eltern gewesen. Nur Rebecca und Swann, niemand sonst. Nachts hatte Rebecca ihre Freundin geweckt und gesagt, dass sie von ihr geträumt habe. Und Swann hatte sie in den Arm genommen und gesagt, dass sie nicht träumen müsse, sie sei doch da und sie würde immer da sein. Sie fragte sich, ob sie sich etwas vorgemacht hatte. Aber sie konnte keinen Fehler entdecken. Ihre Erinnerung war vollkommen klar und rein und schön. Und dann war im Winter die Nachricht gekommen, dass Rebecca heiraten würde.

Sie durchquerte eine trostlose und leere Landschaft, die gleichförmige Weite des Grand Est. Vor ihr die graue Eintönigkeit der Straße, über ihr ein schläfriger Himmel, jede Bewegung erstarb, es gab keine Dauer mehr und keine Entfernung, und in der ganzen Stille, die sie umgab, hallten ihre Gedanken umso lauter. Ausgerechnet Gabriel. Rebecca hatte sie angerufen, um es ihr zu erzählen, und sie hatte ihr gleich gratuliert und nicht nachgefragt. Es war nicht notwendig. Sie konnte es sich denken. Gabriels Mutter, die große hagere Karoline Wisner von Morgenstern mit den rastlosen Augen und dem unzufriedenen Mund, war eine Freundin von Rebeccas Tante Zita. In diesen Familien kümmern sich die Frauen um die Ehe. Die Väter tragen safranfarbene Cordhosen und dazu passende Einstecktücher und streiten den ganzen Tag mit den Sägewerken um ein paar Euro, die ihre vom Borkenkäfer zerfressenen Wälder gerade noch abwerfen, während die Mütter auf der Suche nach einer guten Partie für den Nachwuchs sind.

Ja, Swann hätte sich gefreut, wenn Rebecca am Flughafen auf sie gewartet hätte. Aber die Fahrt dorthin dauerte vom Haus ihrer Eltern mindestens zwei Stunden. Das konnte man ihr so kurz vor der Hochzeit nicht zumuten. Swann fuhr außerdem gerne Auto. Sie hatte sich schon vor Jahren für lange Strecken extra Tod’s gekauft, aus weichem Leder, mit Noppen an den Fersen. Echte Autoschuhe. Die Pumps hatte sie auf dem Parkplatz in den Kofferraum geworfen. Schwarzes Wildleder mit einer großen eckigen Schildpatt-Schnalle. Für die Redaktion waren sie ein bisschen zu elegant, aber sie hatte sich für den Termin bei der Rittmeisterin tatsächlich schick machen wollen. Jetzt ärgerte sie sich über sich selbst. War das noch Unsicherheit, oder war das schon Unterwürfigkeit gewesen?

Nach etwa fünf Stunden war Swann auf der Höhe von Dijon, und ihre Laune besserte sich schlagartig. Hier begann ihre alte Route. Sie dachte plötzlich, dass sie nur deshalb mit dem Auto gefahren war, weil sie an den Orten vorbeikommen wollte, die sie früher gemeinsam mit Rebecca so oft besucht hatte. Mehr als zwanzig Jahre war das her. Himmel! Sobald der Frühling kam, hatten sie jede Gelegenheit genutzt, mit Swanns altem Polo in den Süden zum Haus von Rebeccas Eltern zu fahren. Gleich nach der Schule machten sie sich auf den Weg, die ersten Male saß nur Swann am Steuer, weil Rebecca noch keinen Führerschein hatte. Vom Kloster Wald nach Montpellier dauert es über den Genfer See acht Stunden. Aber sie nahmen meistens den Umweg über Freiburg und Besançon, wichen dann bei Dôle noch einmal von der kürzesten Route ab und nahmen den Umweg über Dijon, nur weil sie sich an den Straßenschildern erfreuen wollten: Marsannay-la-Côte, Gevrey-Chambertin, Chambolle-Musigny, Vosne-Romanée, Nuits-Saint-Georges, Savigny-lès-Beaune. Sie badeten in Rotwein damals, im klaren, rubinroten, duftigen Wein der Bourgogne. Ungeheure Mengen tranken sie. Sie sprangen sozusagen direkt aus ihrem katholischen Mädcheninternat in ein Meer aus Burgunder. Sie hatten Geld, sie hatten sich, und ihre Eltern waren weit weg. Nachts schliefen sie nebeneinander in einem Bett, und wenn sie sich küssten, gab Swann Rebecca den Wein aus ihrem Mund zu trinken. Sie war in ihrem Leben nie glücklicher.

Ausgerechnet Gabriel. Es war schon eine Weile her, dass Swann ihn das letzte Mal gesehen hatte. Sie hatte ihn als dicklichen Mann mit langen dunklen Haaren und trägen Hüften in Erinnerung. Er war eine somnambule Erscheinung, mit müden Augen und einem schönen, sinnlichen Mund, etwas Schläfriges ging von ihm aus, wenn er sich näherte, war es so, als verringere sich der Energiegehalt des Raumes. Gabriel war ungefähr in Swanns Alter, vielleicht ein bisschen älter, er war Opernregisseur, aber soweit sie wusste, hatte er in seinem Leben noch nie eine Oper inszeniert. Womit verbrachte er seine Zeit?

Rebecca war das genaue Gegenteil. Sie war immer in Unruhe, in Bewegung, sie hatte etwas Flüchtiges. Gabriel und Rebecca, das war, als würde ein Mehlsack einen Schmetterling heiraten. Sie war eine so zarte Erscheinung, beinahe durchsichtig. Ja, tatsächlich hatte Rebecca die Gabe zu verschwinden. Swann hatte das oft erlebt: Eben war sie noch da, und dann war sie plötzlich fort. Es war erstaunlich. Das war ihre Art, mit den Dingen umzugehen. Manche Menschen laufen weg und versuchen, alles hinter sich zu lassen, manche bleiben und kämpfen, andere lassen sich fallen. Rebecca löste sich in Luft auf. Swann hatte sie um diese Gabe immer beneidet. Man musste einfach immer mit ihr rechnen, mit ihrem Verschwinden, ihrem Erscheinen, ihrer Gegenwart, ihrer Abwesenheit.

Swann folgte im Licht des späten Nachmittags dem Lauf der Saône, links und rechts lagen noch die sanften Erhebungen des Mâconnais, aber als sie das Fenster einen Spaltbreit öffnete, spürte sie schon den hereinströmenden Duft der Provence, der durch das Rhonetal nach Norden zieht. Der Süden hatte etwas Befreiendes.

Um 18 Uhr schaltete sie zum ersten Mal an diesem Tag die Nachrichten ein. Eigentlich war sie Newsjunkie und musste alle halbe Stunde wissen, was los ist. Aber sie hatte sich fest vorgenommen, dem Rat ihrer Therapeutin zu folgen, den sie ihr vor ein paar Wochen gegeben hatte: »Lassen Sie die Dinge mal ein Stück weit hinter sich.« Diese schreckliche Therapeutensprache, die hinter lebloser Distanziertheit nur schlecht ihre Gleichgültigkeit verbirgt. Also wollte sie die Dinge ein Stück weit hinter sich lassen und hatte schon mal damit angefangen, auf die Nachrichten zu verzichten. Um sechs belohnte sie sich für ihre Standhaftigkeit mit Neuigkeiten vom Hexagon auf France Bleu.

In Strasbourg war ein Auto in den Rhein gefallen, in Grand-Auverné waren 5400 Fasane bei einem Feuer gestorben, der Zoo von Beauval bereitete sich auf den ersten Ausgang seiner neuen Tasmanischen Teufel vor, und die Gelbwesten wollten am Wochenende in Lille demonstrieren, bekamen aber keine Erlaubnis. Alles in allem war es kein besonders ereignisreicher Tag gewesen. Und während sie auf dem Sandwich herumkaute, den sie sich an der BP-Tankstelle gekauft hatte – der erste Stopp nach sechshundert Kilometern –, stellte sie fest, dass sie das alles nicht besonders interessierte.

Die Nachrichten aus Paris kamen zuletzt. Swann erfuhr, dass zwölf Apostelstatuen und der Tetramorph vom Dach der Notre-Dame entfernt worden waren, um sie zur Restaurierung in eine Werkstatt nach Marsac-sur-l’Isle in der Dordogne zu bringen. Das Wort »Tetramorph« musste sie nachsehen: die Viergestalt, in der die Symbole der Evangelisten zu einer Figur zusammengefasst werden. Sie liebte neue Worte. In Notre-Dame war sie nie gewesen, dabei kannte sie Paris sehr gut. Aber der Bogen, den man um die touristischen Höhepunkte eines Ortes macht, ist umso größer, je besser man den Ort kennt. Sie hatte drei Jahre in Paris gelebt und hatte sich weder Notre-Dame angesehen noch den Eiffelturm. Aber jetzt erfuhr sie, dass die Kupferapostel drei Meter hoch waren und das Evangelistensymbol nur halb so hoch und dass alle Figuren erst im Jahr 1870 vom Architekten Eugène Viollet-le-Duc aufs Dach der Kirche gestellt worden waren, als er ihr auch den schlanken Vierungsturm aufgesetzt hatte.

Die Figuren von Notre-Dame vergaß Swann nicht mehr. Sie hatten ihren Platz auf dem Dach der Kirche vorübergehend geräumt und dafür einen dauerhaften in Swanns Erinnerung gefunden. Wahrscheinlich wäre es ohne die folgenden Ereignisse dazu nicht gekommen. Aber wenn etwas ganz und gar Unwahrscheinliches und Unerwartetes geschieht, dann prüft man nachher die eigenen Erinnerungen und sucht darin nach Vorzeichen, weil man sich nicht vorstellen kann, dass ein umstürzendes Ereignis sich gar nicht angekündigt habe.

So war es Swann nach dem Tod ihres Vaters gegangen. Sie war vierzehn, als sie in sein Arbeitszimmer kam und er tot auf seinem Stuhl saß. Danach war sie alle vorherigen Tage genau durchgegangen. Sie hatte sie gesichtet und geordnet und auf diese Weise vor dem Verschwinden bewahrt, wie alte Unterlagen, die man aus dem Papierkorb holt, weil man gerade noch rechtzeitig ihren Wert erkannt hat. In der Woche davor war sie Schulmeisterin im Fechten geworden, sie hatte einen überfahrenen Fuchs am Straßenrand gesehen, in das leer stehende Haus gegenüber war eine Familie gezogen, die einen Sohn hatte, und ihre Mutter war zu spät nach Hause gekommen, so dass man sich Sorgen um sie machte. An all das erinnerte sich Swann genau, aber es gelang ihr nicht, zwischen diesen Dingen und dem Tod ihres Vaters einen Zusammenhang zu entdecken. Wir versuchen immer, unser Leben wie eine Erzählung zu lesen, und wir suchen verzweifelt nach dem Sinn. Aber es gibt keinen. Dinge stoßen uns zu, Tag für Tag, Stunde für Stunde, ihnen folgen andere Dinge. Wir sind nicht in einer Geschichte. Die Zufälligkeit des Lebens ist unsere größte Kränkung.

Swanns Vater war mit 65 Jahren gestorben, das war kein ungewöhnliches Alter für einen Mann seiner Generation. Swann hielt es jedoch für möglich, dass er länger gelebt hätte, wenn er nach dem Fall der Mauer nicht zwei Jahre lang vergeblich um die Rückgabe irgendeines Schlosses an der tschechischen Grenze gerungen hätte. Um ihretwillen hätte er das nicht tun müssen, fand sie später. Sie war auf der Familienburg bei Reutlingen immer glücklich gewesen. Sie war das einzige Kind, die Letzte der Achalm. Einen Sohn, der den Namen weitergeben konnte, hatte Swanns Vater nicht. Aber er hat das nicht bedauert. Im Gegenteil. Er war immer davon überzeugt gewesen, dass mit seiner Tochter das Geschlecht der Achalm aussterben würde und dass das auch ganz in Ordnung sei. Manchmal glaubte Swann, ihr Vater hätte von ihr geradezu erwartet, keine Kinder zu bekommen.

Sie fuhr zu schnell. Sie drängelte sogar einen Provinzler mit Renault Espace und 62er-Kennzeichen von der Überholspur. Als sie an dem Familienwagen vorbeifuhr, machte der Mann eine zornige Geste mit der linken Faust, und die Frau neben ihm guckte böse herüber. Swann rief, so laut sie konnte: »Amusez-vous bien dans le chud!« – als hätten die Leute sie hören können – und brauste davon.

Das Radio ließ sie einfach laufen. Es folgte eine Reportage über eine Kommission, die jedes Jahr im Frühling aus der kleinen Stadt Dax in der Gascogne nach Spanien geschickt wird, um Stiere für die großen Kämpfe im August und September auszusuchen. Das okzitanisch gefärbte Französisch machte ihr ein bisschen Mühe, aber sie verstand, dass ein Stier zwischen 7000 und 18 000 Euro kostete und dass Roca Rey, offenbar der Star der Stierkämpfer, in diesem Jahr nicht nach Dax kommen würde, weil er, wie ein grummelndes Mitglied der Stierfindungskommission vor sich hin nörgelte, 50 Prozent mehr Gage gefordert habe als im Jahr zuvor. Das interessierte sie. Sofort wollte sie alles über diesen Stierkämpfer wissen und googelte ihn noch während der Fahrt.

Sie sah Bilder eines schlanken jungen Mannes, mit verwuscheltem dunklem Haar und dem verschlossenen, beinahe trotzigen Gesicht eines kleinen Jungen. Er lächelte mit zusammengepressten Lippen und hielt mit einer Geste des demütigen Triumphs in jeder Hand etwas Schwarzes in die Höhe. Sie guckte genauer hin, es waren die zwei Ohren eines Stieres. Zwei grausige Trophäen. Aber sie fand, dass er wunderschön aussah. Schmal und schüchtern, mit müden Schatten unter den Augen. Sie hätte weinen können, so gerührt war sie von der Schönheit dieses jungen Mannes. Ein Bild zeigte ihn in einem grünen, mit gelben Rüschen verzierten Anzug, in feinen schwarzen Schuhen und rosafarbenen Strümpfen, der schmale Körper war nach hinten gebogen wie eine gespannte Feder, um Platz zu machen für den Stier, der in seiner ganzen Wucht und Schwärze den Kopf mit den tödlichen Hörnern durch das rote Tuch rammte, das der ausgestreckte rechte Arm des jungen Mannes ihm hinhielt – und genau in der Mitte des Bildes, unter Roca Reys eng anliegender Hose, zeichnete sich die Silhouette eines riesigen Stierkämpferpenis ab.

Sie war bis zu diesem Zeitpunkt noch nie bei einem Stierkampf gewesen, das ganze Thema hatte sie nicht interessiert. Rebecca hatte in ihrer Einladung geschrieben, dass sie gemeinsam die Osterkämpfe in Arles besuchen könnten, sozusagen als Vorprogramm ihrer Hochzeit. Swann war darauf nicht eingegangen. Bisher hatte sie kein besonderes Bedürfnis gespürt, dabei zuzusehen, wie ein Mann einen Stier tötet. Andererseits interessierte sie sich auch zu wenig für den Tierschutz, um sich über solche Praktiken aufzuregen. Bislang war ihr das einfach alles gleichgültig gewesen, Stiere und Stierkämpfer. Das änderte sich nun. Die Vorstellung, mit Rebecca zusammen einen Stierkampf zu sehen, versetzte sie plötzlich in einen unerwarteten Zustand der Erregung.

Swann begeisterte sich nicht schnell für Männer. Ihr letzter richtiger Freund war ein Fotograf, der fünf Jahre jünger war als sie und im Gefängnis gesessen hatte, weil er an der Alster mit einem Schwan auf jemanden eingeschlagen hatte. Rebecca wollte ihr das nicht glauben, als sie es ihr erzählte. Aber es stimmte. Er war ein ziemlich impulsiver Mensch und eines Tages beim Joggen mit jemandem in Streit geraten, Swann hatte nicht verstanden, worum es ging, aber am Ende hatte er einen Schwan genommen, der gerade vorbeilief, und den anderen damit verprügelt. Es tat ihm danach leid. Aber weil er vorher schon Probleme wegen Alkohols im Straßenverkehr hatte, musste er für ein halbes Jahr ins Gefängnis. Vielleicht ist man in Hamburg besonders streng, wenn es um die Alsterschwäne geht. Rebecca zog ihre Freundin damit immer noch auf. Ihr Kosename für Swann lautete seit jeher »Schwan«, und dass ausgerechnet ihr Schwan an einen Schwanenschläger geraten war, machte ihr Spaß. Aus der Beziehung war jedenfalls genauso wenig geworden wie aus den früheren. Wenn ein Mann Swann nahekam, war ihr das zu viel. Und wenn er ihr nicht nahekommen wollte, war es ihr zu wenig. Vor ein paar Monaten hatte sie es mal mit Tinder probiert und erlebt, wie man an einem Abend zwischen 20.25 Uhr und 20.45 Uhr eine Beziehung durchläuft, ohne das Haus verlassen zu haben.

»Schick mal Fotos.«

»Was für Fotos?«

»Fotos!«

»Ich habe keine Fotos.«

»Dann mach welche.«

Im selben Moment schickte er ein Bild von seinem erigierten Penis.

»Ich glaube, das ist mir zu viel.«

»Du bist voll langweilig.«

»Ja, voll.«

Die ganze lange Fahrt dachte Swann darüber nach, was Rebecca zu verzeihen ihr schwerer fiel: dass sie heiraten wollte oder dass sie Gabriel heiraten wollte.

Und plötzlich wurde ihr klar, dass es zu dieser Hochzeit gar nicht kommen würde. Ja, je näher sie ihrem Ziel kam, desto überzeugter war sie, dass ein Irrtum wie dieser nicht vollzogen werden könne. Als sie kurz nach elf Uhr schon bei Dunkelheit ankam, war sie zwar müde – sie hatte zum Schluss sogar ein bisschen Mühe gehabt, das abgelegene Haus zu finden, das sie doch so gut kannte –, aber sie war beruhigt. Endlich sah sie im Licht der Scheinwerfer Rebeccas kleine Gestalt. Ihr Bébé. Swann stoppte den Wagen und lief ihr entgegen.

La Garrigue

Das Haus stand am westlichen Rand eines kleinen Tals, das zwischen niedrigen Höhenzügen lag, die von den Cevennen zum Meer liefen. Dichte Wälder aus Steineichen, Zedern und Olivenbäumen bedeckten die Hänge. Sie wurden nach Süden hin lichter, und bis zur Hochebene von Aumelas waren die letzten Bäume dem niedrigen Wacholder und dem Mastixstrauch mit seinen kleinen ledrigen Blättern und den roten Früchten gewichen.

Von November bis Mai blühte hier die Strauchige Kugelblume mit ihren großen lila Quasten, aus dem weißen Kalkstein brach ab Januar der Stechginster in leuchtendem Gelb hervor, und im Schutz der Felsen leuchtete das ganze Jahr hindurch die schlichte blaue Blüte der Binsenlilie. Rosmarin, Zistrosen und Thymian erfüllten im Sommer die Luft mit ihrem Duft, und in den Blättern der Stechwinde, im Dickicht der Heckenkirschen und über den hohen Dolden der Weißen Affodillen tanzten dann Insekten in der flirrenden Luft.

Was hier wuchs, ertrug eine erbarmungslose Sonne, widerstand den hungrigen Tieren und überlebte die vom Wind getriebenen Feuer, die regelmäßig über die trockenen Hügel kamen. Diese Landschaft war das Ergebnis eines Wettstreits der Anspruchslosigkeit und hatte doch so viel Schönheit hervorgebracht. Garrigue wird sie genannt, und sie hatte auch dem Haus seinen Namen gegeben: Mas de la Garrigue. Und weil hier im Süden eine rauere Sprache gesprochen wird als in der Touraine oder der Île-de-France, klang das S scharf wie ein Messer.

Man fuhr von Montpellier in westlicher Richtung, wechselte bei Montarnaurd auf die Départementale, hinter der Abzweigung nach La Boissière fuhr man noch etwa zwei Kilometer weiter in Richtung Gignac, dann musste man höllisch aufpassen, das Schild nach Mas d’Alhen nicht zu übersehen. Eine schmale Landstraße, die von altmodischen Telefonmasten gesäumt war, führte durch eine struppige Landschaft. Im Schatten einer Zeder stand ein steinernes Wegkreuz, hier musste man links abbiegen und dem Feldweg folgen, der im lichten Schatten alter Korkeichen aufwärts führte. Kurz bevor er als schmaler Pfad in der Dunkelheit des Waldes verschwand, befand sich auf der linken Seite ein in freundlichem Hellblau gestrichenes Holztor, das von zwei ordentlich geweißten Steinsäulen eingefasst war.

Wenn sich das Tor öffnete, gab es den Blick frei auf eine Allee aus mächtigen Platanen, ein hoher, lichter Tunnel aus goldenem Blätterwerk, der rechts und links von zwei säuberlich angelegten Spazierwegen gesäumt war.

Nach etwa einhundert Metern bog die Allee nach links ab, da schien rechter Hand durch einen Hain aus Korkeichen schon die Fassade des Hauses. Aber bevor man dorthin gelangte, musste man dem goldenen Tunnel weiter folgen, der nach fünfzig Metern wieder eine Rechtskurve machte, und dann noch eine und schließlich eine dritte, so dass der Weg das Haus einmal zur Hälfte umrundete und ein Besucher, der zum ersten Mal hierherkam, sich über den merkwürdigen Einfall des Hausherrn wundern konnte, anstelle des kürzesten Wegs vom Tor zum Haus einen so komplizierten gewählt zu haben. Aber Höhe und Alter der Platanen ließen keinen Zweifel daran, dass dieser Zugang seit jeher so und nicht anders gedacht war. Denn der Weg und das Haus und alles andere hier gehorchten jenem alten Meister, der schon immer der wahre Herrscher in diesem Landstrich war: dem Wind.

Der Mistral fährt die epochale Senke hinab, die das Tal zwischen den Alpen und dem Massif Central darstellt, hinter Valence beginnt er, seine Kraft zu sammeln, bei Montélimar, wo das Rhônetal am engsten ist, verdoppelt er seine Stärke, und zwischen Arles, Istres und Aix-en-Provence entfaltet er seine ganze Macht.

Die Gegend um Montpellier liegt am Rand der Provence, die seit jeher das Königreich dieses mythischen Nordwinds ist, und seine Autorität lässt hier schon nach. Aber das schmale Tal, an dessen westlichem Rand das Haus lag, war ein Abbild des großen Rhônetals, und es bündelte zwischen seinen Hügelkämmen, was von der Kraft des Windes im äußeren Südwesten übrig war und ließ ihn auf diese Weise noch einmal zu ganzer Kraft auflaufen, bevor er sich in der Weite des Meeres erschöpfte.

Früher hat man gesagt, wenn die Katzen sich jagen und die Schafe sich zerstreuen und dabei Luftsprünge machen, kommt der Mistral, und wenn er länger als fünf Tage anhält, werden die Menschen wahnsinnig. Also haben sie gelernt, sich vor dem Wind zu schützen, der im Winter wie ein Räuber in ihre Gärten einfällt. Nach Norden bauen sie ihre Häuser wie Burgen, blind, ohne Fenster, mit abweisenden Mauern, und auch nach Osten, wo die Sturmböen gegen die Läden schlagen wie Schwerter, sind die Fenster schmal. Alles, was hier Leben ist, strebt nach Süden, wo die Türen und Terrassen sind, die großen Balkons und die Bänke unter den hohen Bäumen. So war auch dieses Haus gebaut, der Mas de la Garrigue.

Die Zufahrt kam wie der Wind von Norden, darum musste sie einen so großen Bogen um das Haus machen. Dort endete der sandige Weg an einem kreisrunden Platz, mit steinernen Platten gepflastert, in dessen Mitte eine alte Wintermimose stand.

Das Haus war um das Jahr 1840 herum für einen Fabrikanten aus Marseille errichtet worden, der sich auf dem Land zur Ruhe gesetzt hatte, um sich der Manade zu widmen, der Zucht von Stieren und Pferden. Wie für ein Mas de Manade üblich, war es ein lang gezogenes, zweistöckiges Gebäude, unten waren früher die Stallungen untergebracht und oben die Wohnräume. Am oberen Ende des Hauses hatte man später nach Osten hin noch einen kurzen Seitenflügel hinzugefügt, an den sich ein geräumiger, rechteckiger Turm anschloss, der das Gebäude um ein Stockwerk überragte. Früher wurden in seiner Spitze die Tauben gehalten. Es sah ein bisschen aus wie ein römisches Kastell. Aber das Haus war strahlend weiß getüncht, die Blendläden an den Fenstern waren im gleichen hellen Blau gestrichen wie das Gartentor, und die Dachziegel waren von kräftigem Rot – alles zusammen leuchtete in der Sonne wie eine fröhliche Trikolore.

Einmal hatten sich nach Westen und Süden weite Felder erstreckt, die den Tieren als Weiden dienten, und einen Garten gab es nicht. Nur im oberen Teil des Anwesens hatte ein verwilderter Orangenhain gestanden, aber die Bäume waren alt und vernachlässigt, und viele hatten schon lange keine Früchte mehr getragen. Bis zu Beginn der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts ein Deutscher das Anwesen erwarb, der Textilunternehmer in dritter Generation aus dem Raum Stuttgart Heinz Bächle. Er verwandelte es im Lauf der Jahre in einen großen Garten. Unter seiner Anleitung wurden Rasenflächen und Beete angelegt, und ein Netz aus wohldurchdachten Wegen erschloss das weitläufige Land. Denn Bächle war ein Mann von Geschmack und Vernunft, und beides zeigte sich in seinem Garten, der seine große Leidenschaft war. Er stellte einen Gärtner ein, der sich auf die Pflanzung und Pflege von Zitrusfrüchten aller Art verstand und seine Kenntnisse in Bächles Dienst in rascher Zeit so vertiefte und erweiterte, dass niemand im Süden Frankreichs ihn darin übertraf. Es war Bächles größte Freude mitzuerleben, wie unter den Händen dieses Mannes aus dem alten Orangenhain im Lauf der Jahre eine kostbare Sammlung der schönsten Zitrusfrüchte wurde.

Und weil er nicht nur seinen Garten liebte, sondern auch seine Tochter, ließ er einen Pool bauen, der war so groß, dass es drei Tage dauerte, ihn zu füllen.

An diesem Pool lag Rebecca hingestreckt in einen Deckchair, den sie, so weit es ging, in eine waagerechte Position gebracht hatte. Ihr rechter Arm war von der Lehne gerutscht und hing neben ihr im Gras. Sie hatte die Augen geschlossen und strich nur hin und wieder mit ihrem Handrücken über die dichten Halme, wie man das Fell eines Hundes streichelt oder den Kopf eines schlafenden Kindes.

Swann stand am offenen Fenster ihres Schlafzimmers und sah in den Garten hinab. Sie sah Rebeccas dunkle Haare, die über den hellhölzernen Rand des Liegestuhls fielen, sie sah die Orangenbäume, noch voller leuchtender Früchte, sie sah neben sich die lila strahlende Bougainvillea, die an der weißen Hauswand rankte, und weiter im Westen sah sie das dunkle Graugrün des sanft ansteigenden Waldes aus Korkeichen und Olivenbäumen.

Anstatt hinunterzurufen, streifte sie die Schuhe mit den Bastsohlen ab, die sie eben erst angezogen hatte, um sich zu überzeugen, dass sie nun im Süden war, und ging nach unten. Das Wohnzimmer, das einmal Tieren als Stall gedient hatte, war leer, das ganze Haus war still, nur der Wind ging durch die großen Fenster, die nach allen Seiten hin offen standen, und bewegte den hellen Stoff der Vorhänge. Die Steine der Treppe waren kühl unter ihren Füßen. Der kostbare, helle Teppich war weich. Das Gras, durch das sie barfuß ging, war kühl und noch feucht vom Tau des Morgens. Sie spürte alles genau, und ihr Körper merkte es sich.