Die Farben der Vergangenheit - Sara Pepe - E-Book

Die Farben der Vergangenheit E-Book

Sara Pepe

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Beschreibung

Ein geheimnisvolles Erbe, eine verlorene Mutter und der Traum eines Neuanfangs
Das berührende Familiengeheimnis, das zeigt, dass es nie zu spät ist den eigenen Weg zu finden

Rose De Benoit führt das Leben, das ihre Familie für sie vorgesehen hat: Als angesehene Anwältin in der erfolgreichen Familienkanzlei ihres Großvaters. Jedoch hat sie sich dieses Leben nie selbst gewünscht. Tief in ihrem Inneren sehnt sich Rose nach einem eigenen Buchladen und einem Leben fernab der Erwartungen ihrer einflussreichen Familie. Als ihre Großmutter im Sterben liegt, erhält Rose eine ungewöhnliche Erbschaft: 25 kunstvoll gestaltete Postkarten. Jede einzelne adressiert von ihrer Mutter, die sie als Kind ohne ein Wort einfach verlassen hat. Entschlossen, das Geheimnis um ihr Verschwinden zu lüften, folgt Rose den Spuren nach England. Dort stößt sie mit Hilfe des charmanten Postboten Kai auf Hinweise, die eine völlig neue Wahrheit über ihre Mutter und ein dunkles Bild ihrer eigenen Familie enthüllen. Rose muss sich schlussendlich entscheiden: Soll sie den vorgezeichneten Weg ihrer Familie weitergehen oder endlich ihren eigenen finden?

Erste Leser:innenstimmen
„Diese Familiensaga nimmt den Leser mit auf eine fesselnde Reise durch moralische Konflikte und jahrzehntelange Geheimnisse.“
„Diese tiefgreifende Familiengeschichte zeigt, wie stark die Suche nach Wahrheit und Liebe das Leben verändern kann.“
„Rose' Reise nach England und ihre Entscheidung, für ihren Traum zu kämpfen, regen zum Mitfiebern an und lassen einem das Familiengeheimnis nicht mehr los.“
„Ein zwei Zeitebenen-Roman, das in seinem fesselnden Schreibstil zum Nachdenken über familiäre Bande, Liebe und Selbstverwirklichung anregt.“

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 320

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses E-Book

Rose De Benoit führt das Leben, das ihre Familie für sie vorgesehen hat: Als angesehene Anwältin in der erfolgreichen Familienkanzlei ihres Großvaters. Jedoch hat sie sich dieses Leben nie selbst gewünscht. Tief in ihrem Inneren sehnt sich Rose nach einem eigenen Buchladen und einem Leben fernab der Erwartungen ihrer einflussreichen Familie. Als ihre Großmutter im Sterben liegt, erhält Rose eine ungewöhnliche Erbschaft: 25 kunstvoll gestaltete Postkarten. Jede einzelne adressiert von ihrer Mutter, die sie als Kind ohne ein Wort einfach verlassen hat. Entschlossen, das Geheimnis um ihr Verschwinden zu lüften, folgt Rose den Spuren nach England. Dort stößt sie mit Hilfe des charmanten Postboten Kai auf Hinweise, die eine völlig neue Wahrheit über ihre Mutter und ein dunkles Bild ihrer eigenen Familie enthüllen. Rose muss sich schlussendlich entscheiden: Soll sie den vorgezeichneten Weg ihrer Familie weitergehen oder endlich ihren eigenen finden?

Impressum

Erstausgabe Januar 2025

Copyright © 2025 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98998-354-0 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98998-368-7

Covergestaltung: D-Design Cover Art unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: © Masson, © Taiga, © Jim shutterstock.com: © Iuliia Fadeeva Lektorat: The Write Spirit

E-Book-Version 28.02.2025, 10:20:55.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Die Farben der Vergangenheit

Kapitel 1

Mit einem Seufzen kämpfte sich Rose durch einen Stapel von Dokumenten, während sie sich den Nacken massierte. Ein pochender Kopfschmerz kündigte sich an. Sie stand auf und stellte sich an das Fenster. Ihr großzügig geschnittenes Büro war mit einer Glasfront mit Blick auf den Kanal versehen. Der Herbst war ins Land gezogen, hatte die Blätter der Bäume verfärbt sowie eine Nebeldecke mitgebracht. Adaliz war eine Stadt mit bunten Häuschen, unweit der berühmten Lavendelfelder und den bekannten Weinbaugebieten der Provence. Es war eine taktische Entscheidung ihrer Familie gewesen, sich hier mit ihrem Firmensitz niederzulassen. Das Telefon klingelte, was sie aus ihrem Tagtraum riss.

»Rose, hörst du mich?«, ertönte die laute Stimme ihrer Großmutter, als sie abnahm.

»Salut Mamie, ich bin gerade beim Arbeiten.«

»Ich halte dich nicht lange auf, denn ich wollte dich nur fragen, wann du heute zum Essen kommst?«

Seit Rose von zu Hause ausgezogen war, nahmen sie mittwochabends gemeinsam das Abendessen ein. »19 Uhr?«

»In Ordnung, dann sehen wir uns später, ma puce.« Mein Floh – so nannte sie ihre Großmutter immer, da sie als Kind sehr lebhaft gewesen war.

Das Gespräch war beendet. Die Dokumente vor ihr verlangten nach Aufmerksamkeit, doch ihre Konzentration war dahin. Sie verließ ihr Büro, um zur Empfangsdame zu gehen, die stirnrunzelnd in den Computerbildschirm starrte.

»Kaffee?«, fragte Rose sie.

Lucie sah sie aus grünen Augen an. »Wer schickt dich, ein Engel?«

»Ärgert dich wieder der Drucker?« Die Schreibkraft und der Printer hatten so manche Differenzen ausgetragen. »Nein, aber ein Kunde hat eine seltsame E-Mail gesendet. Ich verschone dich mit den Inhalten.«

Sie gingen zum Aufenthaltsraum, in der eine Kaffeemaschine stand. »Mein Überlebenselixier«, murmelte Lucie, während sie ein paar Knöpfe drückte.

Rose schmunzelte.

»Was machen die Gesetze?«, fragte ihre Freundin, ließ sich auf einen Stuhl nieder und fasste ihre roten, schulterlangen Haare zu einem Dutt zusammen. Das Neonlicht verstärkte ihre Sommersprossen, denn es ließ ihre Haut bleicher wirken. Lucie trug ein elegantes, blaues Kostüm, das sich an ihrem zierlichen Körper schmiegte. Sie war stets tadellos gekleidet.

»Wie immer. Verträge, die ich studieren und aufsetzen muss.« Rose schenkte zwei Tassen Kaffee ein, um sich dann zu ihr an den Tisch zu gesellen.

Lucie hatte sich ihrer seit dem ersten Tag in der Firma angenommen. Ihr war es gleichgültig gewesen, dass Rose eine De Benoit war. Sie hatte eines Nachmittags an ihre Bürotür geklopft und ihr einen Kaffee gebracht. Das gemeinsame Kaffeetrinken hatte sich mit der Zeit eingebürgert.

»Woran denkst du?«, fragte Lucie.

Rose erzählte es ihr.

»Du hast so verloren ausgesehen, da habe ich mir gedacht, es muss nicht einfach sein, die Tochter des Chefs zu sein.«

Nein, das war es nicht. Der Gedanke an ihren Vater ließ sie seufzen. Thoma besaß einen messerscharfen Verstand. Er führte die Geschäfte der De Benoit mit eiserner Hand, wodurch er aus dem Familienunternehmen ein millionenschweres Unternehmen gemacht hatte. Der Name De Benoit war ein Segen und ein Fluch: Er öffnete Türen, ließ einen jedoch nie die Herkunft und die damit verbundenen Erwartungen vergessen.

»Mein Becher ist leer«, stellte Rose fest. Es war Zeit an die Arbeit zurückzukehren.

»Meiner auch«, murmelte Lucie, als sie aufstand.

***

Tock, tock, erklang der eiserne Türklopfer, als sie ihn betätigte.

Eine ältere Bedienstete öffnete die Tür. »Mademoiselle De Benoit, Sie werden bereits erwartet.«

»Danke, Aimee«, erwiderte Rose und trat ein. »Ich finde den Weg.«

Sie würde sich im Herrenhaus selbst mit verbundenen Augen zurechtfinden. Großzügige Flure, hohe Decken, unzählige Räume – ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Als sie zum Speisesaal ging, streifte ihr Blick einen Spiegel. Eine 32-jährige Frau mit grauen Augen starrte ihr entgegen, ihre Haut war alabasterfarben und die Haare fielen ihr in weißblonden Korkenzieherlocken bis zur Schulter. Ihr Gesicht erinnerte sie an einer Porzellanpuppe, wenn nicht ihre lange und spitzige Nase gewesen wäre. Rose trug ein cremefarbenes Zopfmusterkleid, das ihre großzügigen Kurven betonte. Sanft strich sie ihre Haare zurück, riss ihren Blick vom Spiegel los, um dann in den Speisesaal einzutreten. In dessen Mitte stand eine große Tafel, an der bis zu zehn Personen Platz fanden. Vorhänge ließen den Raum, obgleich der raumhohen Fenster, düster wirken.

»Rose«, sagte Anne De Benoit, ihre Großmutter, während sie sich erhob. »Es ist schön, dich zu sehen.« Sie war eine stolze Frau, und ihre Kleidung stets tadellos. Das Alter hatte sie mit Falten gezeichnet, ihr Haar weiß gebleicht, doch ihr Gang war trotz ihres kleinen Buckels aufrecht, was sie größer als ein Meter fünfzig erscheinen ließ. Zumindest war dies normalerweise der Fall, aber heute stützte sie sich auf einen Stock, wodurch sie zerbrechlich und wie die Frau mit 85 Jahren, die sie war, wirkte.

Rose küsste ihre Großmutter, welche sie um gut zwanzig Zentimeter überragte, auf die Wangen. »Bonsoir, wie geht es dir?«

»Das Alter, es macht, was es will.« Mamie winkte ab. »Du siehst blass aus, gehst du genug in die Sonne?«

»Ich bin immer blass«, wiegelte Rose ab. »Wo ist Thoma?« Seit sie sich erinnern konnte, hatte sie ihren Vater stets mit Vornamen angesprochen.

In diesem Moment erklangen Schritte und Thoma De Benoit trat ein. Er war ein hagerer gewachsener Mann, der Rose seine Augenfarbe und Locken vererbt hatte. Seine grau-melierten Haare trug er raspelkurz, was ihn älter wirken ließ als Anfang sechzig. »Bonsoir«, begrüßte er sie. »Schön dich zu sehen, Tochter.«

Das Essen wurde serviert. Rose genoss die Köstlichkeiten. Als Vorspeise gab es einen leichten Salat und als Hauptspeise ihr Leibgericht: Ratatouille, ein Gericht aus geschmortem Gemüse. Seit sie einer Jagd beigewohnt hatte, war sie Vegetarierin. Wenn sie so darüber nachdachte, war es seltsam, dass ihr Vater dies einfach so akzeptiert und dem Personal entsprechende Anweisungen erteilt hatte. Denn meistens hatte er wenig auf ihre Meinung gegeben. Sie hatte liebevolle Erinnerungen an ihren Vater, als sie noch ein Kind war: wie sie gemeinsam mit ihm durch den Raum tanzte, schief und laut dazu sang, doch irgendwann war diese Version durch einen distanzierten Thoma ersetzt worden. Als sie vierzehn war, steckte er sie in ein internationales Internat in Südfrankreich. Rose, die mit Mamie und diversen Au-pairs aufgewachsen war, sehnte sich nach der Gesellschaft von gleichaltrigen Jugendlichen, doch die Vorstellung von zu Hause wegzugehen, widerstrebte ihr. Sie rebellierte gegen die Entscheidung ihres Vaters – umsonst.

***

Eindrucksvoll ragten die eisernen Tore von Baron vor ihr auf, als sie ein Chauffeur absetzte. Mamie begleitete sie, denn Thoma hatte wichtige Meetings. Bevor sie sich versah, befand sie sich alleine in Südfrankreich wieder. Das Internat war luxuriös, auf die Bedürfnisse wohlhabender Kinder ausgerichtet: Von der Schwimmhalle, bis zum Pferdestall über den Schönheitssalon – nichts war vergessen worden. Doch Rose hatte sich noch nie so verloren gefühlt, nicht einmal als ihre Mutter sie verlassen hatte, denn Mamie war an ihrer Seite gewesen. Rose schwor sich eines: Sie würde alles tun, um sobald als möglich zurück nach Hause zu kommen. Nach der ersten Eingewöhnungsphase schmiedete sie einen Plan und so kam es, dass sie bei Schulschluss hinter die Sporthalle lief. Auf der Tribüne saßen einige Jugendliche, tranken Bier und rauchten.

»Salut«, grüßte Rose, während ihr Instinkt ihr zurief, zu verschwinden.

Ein junger Mann, der ihr vage bekannt vorkam, musterte sie von Kopf bis Fuß, dann hob er eine Augenbraue. Seine dunklen Haare waren verstrubbelt, er trug seine Schuluniform, einen blauen Anzug mit Krawatte, doch deren Knoten war gelockert. Er sah verwegen aus und nach Gefahr – perfekt für ihr Vorhaben.

»Salut«, erwiderte er. »Hast du dich verlaufen?« Er pustete eine Rauchwolke gen Himmel.

»Non.« Rose sah ihn mit einer Selbstsicherheit an, die sie nicht besaß. »Darf ich mal ziehen?« Sie hatte noch nie geraucht.

Er deutete auf den Platz neben sich und sie setzte sich.

»Wie heißt du?«, fragte er, während er ihr die Zigarette hinhielt.

Sie nannte ihren Namen. »Und du?«

Vorsichtig nahm sie einen Zug von der Kippe, wobei sie versuchte, nicht zu husten. Pah, das schmeckte ekelhaft.

»Marlon.« Er sah sie gelangweilt an. »Marlon Roux.«

Nun wusste sie, woher sie ihn kannte. Sein Vater hatte erfolgreich in die IT-Branche investiert und Millionen verdient. »Wir wurden uns einmal auf einer Benefizgala vorgestellt«, erinnerte sie sich.

Marlon zuckte mit den Achseln. »Kann sein. Du bist neu hier? Wie alt bist du eigentlich?«

»Ja, ich bin erst seit kurzem hier. Vorher wurde ich zu Hause unterrichtet. Ich bin vierzehn.«

»Ein Küken.« Erneut musterte er sie. Sein Blick blieb an ihren Brüsten hängen, die ein C-Körbchen füllten. »Du siehst nicht aus wie vierzehn. Hey, nicht, dass sie uns nachher verklagen, weil du mit uns abhängst. Ich bin zwar erst siebzehn, aber einige von uns sind bereits volljährig.«

»Ich fühle mich auch nicht wie vierzehn und ich bin sicher, du hast exzellente Anwälte«, entgegnete sie zynisch und zog erneut an der Zigarette.

»Du gefällst mir, poupette«, spöttelte er, um dann zu lachen. Er nannte sie Püppchen, ein Kosewort. Sie wusste noch nicht, ob ihr dies gefiel oder nicht.

»Ich stelle dir mal die Clique vor, vielleicht sehen wir uns ja öfter.« Er zwinkerte ihr zu. Der einzige Name, den sie sich merkte, war Judith. Eine junge Frau mit einem blonden Bob und grauen Augen.

»Nun da du alle kennst, willst du ein Bier?«

***

»Magst du einmal ziehen?«, fragte Judith sie einige Tage später, als sie sich neben sie setzte.

Es hatte sich eingebürgert, dass sie ihre Freizeit mit Marlon und seinen Freunden verbrachte. Marlon, der die Welt zu hassen schien. Doch manchmal überraschte er sie, zitierte Gedichte aus dem Gedächtnis oder regte eine interessante Diskussion über ein Buch an, das er kürzlich gelesen hatte.

Rose nahm die Kippe dankend entgegen.

»Marlon und du, läuft da was?«

»Wieso? Bist du eifersüchtig?«, entgegnete Rose.

»Ich nicht, aber Jeanne.«

Rose warf Jeanne, die hellrosa Haare hatte, einen flüchtigen Blick zu. Diese lehnte gemeinsam mit Héloise rauchend an einer Rückwand und beachtete sie nicht.

»Na ja, ich vermute, sie hatte ihre Chance. Entweder will sie etwas von ihm und kann ihn nicht haben oder sie hatten was miteinander und er wurde ihrer überdrüssig«, sprach Judith weiter.

Rose zuckte gespielt cool mit den Achseln, während ihr Herz laut pochte. »So oder so ist das nicht mein Problem.«

»Du bist tough.« Judith, die nur ein Jahr älter als sie war, lachte. »Jetzt verstehe ich, was Marlon an dir findet. Ich nenne dich Ro, weil du cool bist. Lass uns Freundinnen sein.«

»Einverstanden«, entgegnete sie scheinbar gelassen, doch ihr Herz hüpfte vor Freude.

»Rose.« Marlon setzte sich und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Wir haben gerade beschlossen, dass wir heute Party machen. Bist du dabei?«

»Klar. Sag mir wo und wann. Ich werde dort sein.«

»Das ist mein Mädchen«, meinte er, um sie anschließend auf die Wange zu küssen.

Das Ganze kam so unerwartet, dass Rose knallrot anlief, was nicht unbemerkt blieb.

»Wie süß, schaut sie euch an. Die Unschuld vom Lande«, rief Calvin und die anderen lachten.

»Hör nicht auf sie«, flüsterte Marlon an ihrem Ohr. »Ich freue mich, dass du dabei bist.«

Für alle hörbar rief er: »Wir sehen uns später. Ich muss nachsitzen, habe ein Chemie-Experiment verbockt und fast das Labor in die Luft gejagt.«

»Armer Marlon«, sagte Judith. »Seine Stärke liegt in Sprache und Literatur, doch sein Vater will davon nichts hören.«

Das kam ihr bekannt vor. Während Mamie jeden Tag anrief, hatte Thoma ihr einmal geschrieben und nachgefragt, ob sie sich gut eingelebt hatte. Das war vor einem Monat gewesen. Seitdem hatte sie nichts mehr von ihrem Vater gehört.

Am Abend zog Rose ihr neues Kleid an, das sie sich beim letzten Stadtbesuch gekauft hatte. Es war eng geschnitten, rot und betonte ihre Kurven. Gut sah sie aus, älter, befand sie, bevor sie das Zimmer verließ. Eine Limousine wartete auf Rose und ihre Freunde. Marlon und Héloise waren vorausgefahren. Im Grunde durfte Rose das Internatsgebäude nicht verlassen, aber das war ihr egal, sie hoffte sogar, dass sie entdeckt wurde, als sie losfuhren. Die Villa befand sich eine halbe Stunde entfernt, als sie ankamen, nickte Rose anerkennend. Es war ein neumodisches Gebäude mit Indoor-Swimmingpool.

Sie sah sich suchend nach Marlon um. Plötzlich spürte sie, wie sich zwei Arme um sie schlugen. »Salut, poupette.«

Als sie sich umdrehte, damit sie Marlon begrüßen konnte, weiteten sich seine Augen. »Du siehst scharf aus.«

Sie versuchte, ihre Verlegenheit zu überspielen, indem sie das Thema wechselte. »Merci. Das Haus ist wunderschön.«

»Es gehört den Eltern von Héloise, doch sie sind nie hier.«

»Héloise ist im Internat, obwohl sie ein Haus hier haben?«

»Tja, du weißt, wie das ist. Sie ist noch nicht volljährig und sie wollen keine Klage, wegen Verletzung der Aufsichtspflicht, blablabla.« Er nahm sie an der Hand. »Genug davon. Willst du etwas trinken? Ich mixe dir etwas zusammen.«

Sie nickte und folgte ihm an die Bar.

»Vertraust du meinem Urteil?«

»Klar.« Rose musterte Marlon. Sie hatte ihn noch nie so fröhlich gesehen. »Ist alles in Ordnung?«

»Ich genieße das Leben, denn der Countdown läuft. Nächstes Jahr um diese Zeit werde ich mein Studium in BWL antreten, um dann in der Firma meines Vaters einzusteigen.«

»Ist es das, was du willst?«

»Wen interessiert es, was ich will?« Bitter lachte er, während er einen Cocktail zubereitete. »Mein eigenes Business wollte ich aufbauen, einen Verlag, um fähige Autoren auf ihren Weg zu unterstützen und ihnen ein Sprachrohr zu geben. Ich habe versucht, mit meinem Alten zu verhandeln. Mein Vater will davon nichts hören. Ich habe zu gehorchen oder mir wird der Geldhahn zugedreht. Also mache ich, was er will, zumindest vorerst.«

Er drückte ihr ein Getränk in die Hand. Sie kostete vorsichtig. Es schmeckte nach Kokosnuss und fruchtigen Säften. Sie hätte es ausgetrunken, wenn Marlon sie nicht aufgehalten hätte. »Langsam, das steigt dir schneller zu Kopf als dir lieb ist. Du hängst dann den ganzen Abend über der Kloschüssel.«

»Danke für die Warnung.« Plötzlich war sie unsicher und umklammerte das Getränk. Sie war noch nie mit Marlon allein gewesen, und die Art, wie er sie ansah, machte sie verlegen.

»Tanz mit mir, ma poupette.« Er nahm sie an der Hand und zog sie in das Nebenzimmer, aus dem laute Töne erklangen. Vergessen war der Cocktail. Marlon tanzte mit ihr, die Musik sowie die bunten Lichter hatten etwas Hypnotisches an sich. Sie ließ sich treiben und bewegte sich im Rhythmus. Sanft schlang er seine Arme um sie, und bevor sie sich versah, spürte sie seinen Mund auf ihrem. Ihr erster Kuss. Mon Dieu! Hoffentlich machte sie nichts falsch. Marlon presste seine Lippen fester auf ihre, bis sie atemlos war. Lachend löste er sich von ihr, wirbelte sie im Kreis und küsste sie abermals.

»Lass uns von hier verschwinden!« Er nahm ihre Hand. Sie folgte ihm durch den Raum und den Flur entlang, bis sie vor einer angelehnten Tür stehen blieben, die er aufstieß. Dahinter befand sich ein ausgedehntes Schlafzimmer mit einer Lounge. Bevor sie überlegen konnte, schloss er die Tür hinter sich und zog sie an sich. Seine Küsse erstickten alle Gedanken im Keim, sie spürte seine Finger auf ihrem Oberschenkel, die Empfindungen, die er in ihr auslöste, waren ungewohnt. Ein Kribbeln, das sich von ihrem Bauch abwärts ausbreitete.

»Soll ich aufhören?«

»Ich, ähm …« Tief atmete Rose ein, denn ihr fehlte der Sauerstoff, um nachzudenken.

»Bist du noch … Jungfrau?«

Verschämt nickte sie, während ihre Wangen warm wurden.

»Merde.« Er legte sich zusammen mit ihr auf die Couch. »Ich wusste es.«

Fieberhaft überlegte sie: Wollte sie ihre Unschuld auf einer Party verlieren? Die alte Version ihrer selbst schrie: »Nein!«, doch die neue Rose rief: »Warum nicht?«. Tief in ihr knallte sie die Tür zu ihrer Vergangenheit zu und küsste Marlon.

»Fang nichts an, das du nicht beenden möchtest«, murmelte er, als er sie an sich zog.

»Wer sagt, dass ich aufhören will?«

In dieser Nacht schenkte sie ihm neben ihrer Unberührtheit, ihr Herz und sie wurden ein Paar. Doch am Ende des Schuljahres erreichte ihre Beziehung ein Ablaufdatum, als Marlon sein Studium begann, nebenbei in die Firma seines Vaters einstieg und sich keine minderjährige Freundin erlauben konnte. Im Sommer begegneten sie sich auf einer Gala in Paris, wo sie die Nacht gemeinsam verbrachten. Doch es war ein »au revoir« anstatt eines »bientôt«, sie sah es an seinem traurigen Blick, als sie sich verabschiedeten.

***

Ab dem darauffolgenden Herbst teilte sie sich das Internatszimmer mit Judith, die ihre beste Freundin wurde. Gemeinsam machten sie das Internat unsicher und luden zu geheimen Partys. Als Judith das Abitur abschloss und Rose allein zurückließ, suchte sie nach neuen Abenteuern. Der junge und hübsche Literaturstudent Mathieu Maurin, der ein Praktikum an der Schule absolvierte, kam ihr mit ihren siebzehn Jahren gelegen. Unter dem Vorwand, Hilfe bei der Entscheidung für die richtige Uni zu benötigen, kam sie ihm näher und wickelte ihn um den Finger, bis sie eine Affäre eingingen. Womit sie nicht gerechnet hatte, war, dass er ihre Liebe zur Literatur weckte und ihr zeigte, wie es war, mit einem Mann und keinem Jungen zu schlafen. Alles war gut, bis ein Klassenkamerad nach einer schlechten Note das Gerücht in die Welt setzte, dass Rose und Mathieu eine Affäre hätten. Der Student half dem Professor bei der Benotung der Arbeiten, was allgemein bekannt war, und Rose hatte letzthin gute Noten erhalten. Dies jedoch nicht aufgrund von Bevorzugung, sondern weil Mathieu einen guten Einfluss auf sie hatte. Die Anschuldigung des Mitschülers kostete ihrer Affäre beinahe seinen Praktikumsplatz. Fast hätte sie Früchte getragen, doch ihr Vater schaltete seine Anwälte ein, die die Unterstellungen im Keim erstickten. Es half, dass sie mittlerweile volljährig geworden war. Am selben Abend war ihre Liaison beendet und sie bewarb sich an einer der bekanntesten Justizfakultäten des Landes. Wenige Monate später trat sie ihr Jurastudium an.

»Rose? Ist alles in Ordnung?«, fragte Mamie, womit sie ihre Enkelin in die Gegenwart zurückholte. »Du hast dein Crème brûlée nicht angerührt.«

»Ja, entschuldige. Es war ein arbeitsintensiver Tag.« Sie löffelte ihr Dessert und schmeckte die vollmundige Süße. Als sie aufsah, bemerkte sie, wie ihre Großmutter und ihr Vater einen Blick wechselten.

»Rose, ich muss dir etwas erzählen.« Mamie räusperte sich, während sie nervös ihre Hände knetete.

Auf ihrem Körper breitete sich eine Gänsehaut aus, instinktiv wappnete sie sich, denn ihre Großmutter war stets gefasst. Wenn sie nun nervös war, musste dies Schlimmes bedeuten.

»Ich bin krank, sehr krank.« Ihre Worte schlugen wie eine Bombe in das Herz von Rose ein. Ohne es zu wollen, hielt sie den Atem an. »Die Ärzte haben alles getan, um es hinauszuzögern. Doch die Leukämie hat mich fest im Griff, ich schlage nicht auf die Behandlungen an und sie können meine Schmerzen zwar lindern, mir aber nicht nehmen. Ich wollte dich nicht damit belasten, doch nun ist die Zeit gekommen, es dir mitzuteilen. Meine Tage neigen sich dem Ende zu.«

»Warum hast du nichts gesagt?«, platzte es aus Rose heraus, die hastig nach Luft rang. Der Schmerz über diese Nachricht bohrte sich wie ein Messer in ihr Herz. Mamie durfte sie nicht allein lassen, egal, wie alt sie war. Was sollte sie ohne sie machen?

»Ich wollte dich nicht beunruhigen, solange es noch Hoffnung gab.«

»Wir könnten andere Meinungen einholen. Vielleicht gibt es alternative Möglichkeiten«, überlegte Rose fieberhaft, ignorierte den Part, wo Mamie sagte, dass es hoffnungslos war.

Sacht schüttelte Mamie den Kopf. »Wir haben alles ausgeschöpft. Niemand kann mich heilen. Ich bin müde vom Kämpfen.«

»Die besten Spezialisten auf diesem Gebiet haben dies bestätigt«, ergänzte Thoma. »Leider war dies auch für uns sehr plötzlich und unerwartet.«

»Wie lange wisst ihr davon?« Ein Kloß saß in ihrer Kehle.

Mamie senkte den Kopf. »Einige Wochen? Doch ich bemerke bereits seit geraumer Zeit, dass meine Kraft schwindet.«

»Ich wünschte, ihr hättet es mir gesagt.« Nur mit Mühe hielt sie ihre Gefühle im Zaum. Ihre Finger zitterten, sodass sie diese auf ihren Oberschenkeln ablegte.

Ihre Großmutter hob den Blick, der müde wirkte. »Das hätte nichts geändert. Es war meine Entscheidung, dich erst jetzt einzuweihen. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen.«

Rose atmete tief ein, bevor sie sacht nickte. Es würde ihr nichts anderes übrig bleiben. Zudem wusste sie, dass Mamie nur aus Liebe gehandelt hatte und sie beschützen wollte.

»Thoma«, richtete ihre Großmutter das Wort an ihren Sohn. »Begleitest du mich in mein Zimmer? Ich möchte mich ausruhen.«

Er nickte und half ihr hoch. Die Finger von Mamie klammerten sich an den Stuhl, während sie nach ihrem Gehstock tastete. Wie hatte ihr Mamies offensichtliche Schwäche nicht auffallen können? War sie so mit sich selbst beschäftigt gewesen?

Mamie lächelte sie beruhigend an und strich ihr übers Haar. »Sehen wir uns bald?« Das fragte sie immer zum Abschied.

»Natürlich.« Rose zwang sich zu einem Lächeln, sah ihnen nach, wie sie das Zimmer verließen, während ihre Welt zusammenbrach.

Kapitel 2

Müde sperrte sie die Haustür zu ihrem Loft auf. Es war eine moderne Konstruktion aus Beton und Glas, was zu ihrem Beruf, aber nicht zu ihrer Persönlichkeit passte. Lieber hätte sie ein Häuschen im Grünen gehabt, doch die Wohnung war eine gute Investition gewesen. Der Flur war aufgeräumt, es wirkte fast klinisch sauber, wofür eine Haushälterin sorgte. Dies nahm sie nur am Rande wahr, denn ihre Gedanken waren bei ihrer Großmutter. Im offenen Wohnraum saß ihr Partner Jérôme Sinclair und brütete über Unterlagen. Jérôme, von seinen Freunden, Jeri genannt, war Anwalt und stammte aus gutem Hause. Sie hatten sich beim Studium kennengelernt. Nachdem er das erste Mal seine Meinung bei einer Diskussionsrunde kundtat, hatte sie sich zu ihm hingezogen gefühlt. Er hatte einen Lockenkopf, braune, etwas verloren dreinblickende Augen und wählte seine Worte stets mit Bedacht. Als sie gemeinsamen einen Fall für die Uni vorbereiten sollten, funkte es zwischen ihnen. Anstelle einer Begrüßung küsste sie ihn auf den Kopf, denn sie wollte ihn nicht aus seiner Konzentration reißen. Jeri war einer von den Guten, der in seiner Freizeit Pro-bono-Fälle bearbeitete und Hunde aus dem Tierheim ausführte. Sie wusste, er wünschte sich mehr. Er wollte heiraten und Kinder mir ihr haben. Doch sie fühlte sich allein bei der Vorstellung daran gefangen, weshalb es ein schwieriges Thema zwischen ihnen war und sie dem deshalb regelmäßig auswich. Es fühlte sich an, als würde er von ihr fordern, eine hingebungsvolle Ehefrau und Mutter zu sein, wobei sie ihre Karriere automatisch zurücksetzen sollte. Dafür war sie noch nicht bereit.

»Salut«, sagte er, während er seine Arme um sie schlang.

»Schwieriger Fall?«, entgegnete sie automatisch. Sie würde Jeri vorerst Mamies Krankheit verschweigen, denn sobald sie es ihm erzählte, würde es real werden und sie brauchte Zeit alles zu verdauen.

Er brummte anstelle einer Antwort und ließ sie wieder los. Jeri war in Gedanken weit weg, was sie ihm nicht übelnahm – sie war daran gewöhnt. Rose ging ins Badezimmer, das in dunklen Farben gehalten war, um sich abzuschminken. Was sollte sie ohne Mamie machen, was hielt sie und ihren Vater nach deren Tod noch zusammen? Sie betrachtete sich im Spiegel, als sie etwas bemerkte. Im Grunde war sie all das geworden, was Thoma immer gewollt hatte: Anwältin in seiner Firma, einen respektablen Lebenspartner, sogar die Wohnung war mehr nach seinem Geschmack als nach ihrem. Doch ansonsten verband sie und ihren Vater nichts. Sie drängte die Gedanken beiseite, schlurfte müde ins Schlafzimmer, in dem Brauntöne überwogen, und legte sich ins Bett. Ihre Stimmung schlug um, denn ihre Großmutter fiel ihr wieder ein. Sie durfte nicht krank sein! Was sollte sie ohne sie machen? Tränen rannen über ihre Wangen, benetzten das Kissen, welches Zeuge ihres Kummers wurde. Die Gefühle überwältigten sie, laugten sie aus, bis sie sich in den Schlaf geweint hatte.

Irgendwann in der Nacht merkte sie, wie sich jemand an sie schmiegte. »Bist du noch wach?«, ertönte Jeris Stimme an ihrem Ohr.

Anstelle einer Antwort drückte sie ihre Lippen auf seine. Er verstand die stille Aufforderung und erwiderte den Kuss.

***

Die nächsten Tage regnete es in Strömen. Die Abende verbrachte sie bei Mamie, ihr Zustand verschlechterte sich rapide, was ihr Sorge bereitete. Unkonzentriert saß sie im Büro und sah aus dem Fenster, doch es schien am Nachmittag keine Verbesserung des Wetters in Sicht zu sein. Sie senkte den Blick wieder auf die Verträge vor ihr, aber ihre Gedanken schweiften zu ihrer Großmutter ab. Ihr Verstand weigerte sich, zu glauben, dass diese so schwer krank sei. Ihre Konzentration war ein fragiles Gebilde, das ständig in sich zusammenstürzte. Rose fasste die Haare zu einem Dutt zusammen und stand auf. Für eine Vereinbarung zwischen ihrem Mandanten und dem Kläger benötigte sie historische Informationen und der Platzwechsel ins Archiv würde ihr guttun. Auf dem Weg kam sie an Lucie vorbei, die am Telefon hing und die Augen verdrehte. Rose schmunzelte wider Willen und betrat wenig später das Archiv. Sie verbrachte gerne ihre Zeit mit Recherchen, abseits ihres Büros. In der Mitte des Raumes befand sich ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen, rundherum standen Bücherregale und an den Wänden hohe Aktenschränke. Sie zog einige dicke Wälzer heraus und vertiefte sich in ihrer Lektüre. Die Recherchen brachten ihre Gedanken zum Verstummen, weshalb sie sich auf ihre Arbeit fokussieren konnte. Bevor sie sich versah, war der Feierabend angebrochen. Sie räumte das Archiv auf, dann zückte sie ihr Handy, sobald sie wieder Empfang hatte, um die Nummer ihrer Großmutter zu wählen. Doch auf ihrem Telefon erschienen zwei Anrufe in Abwesenheit von ihrem Vater. Komisch, Thoma rief sie nie persönlich an. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, denn das konnte nichts Gutes bedeuten. Schnell wählte sie seine Nummer, während sie das Gebäude verließ. Aber der Anruf ging ins Leere. In der Zwischenzeit war eine Nachricht eingetroffen, die er vor einer halben Stunde versendet hatte.

Komm nach Hause. – Thoma

»Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte«, rief Rose, als sie wenig später das Herrenhaus betrat. Sie hatte ihren Schlüssel das erste Mal seit Jahren benutzt, da auf ihr Klingeln niemand reagiert hatte. Im Haus war es still, zu still. Es erinnerte sie an die Zeit, als ihre Mutter sie verlassen hatte und alle Geräusche plötzlich verstummt waren. »Mamie? Thoma?«

Keine Antwort. Zögerlich ging sie die Treppe hinauf, die zum Zimmer ihrer Großmutter führte. Ihr Magen verkrampfte sich. Sie spürte, wie Übelkeit in ihr aufstieg, die sie nur mühsam unter Kontrolle hielt. Rose nahm all ihren Mut zusammen, bevor sie an die Holztür am Ende des Korridors klopfte und eintrat, ohne auf eine Rückmeldung zu warten. Stickige Luft schlug ihr entgegen, die ihr das Atmen schwermachte. Die Vorhänge waren zugezogen, vereinzelte Kerzen brannten und im Himmelbett in der Mitte des Raumes lag Mamie. Thoma saß an ihrer Seite das Gesicht in den Händen vergraben. Zögerlich trat sie näher. Ihre willensstarke Großmutter sah zerbrechlich aus, wie sie so dalag in ihrem weißen Nachthemd und der Bettdecke. Es war, als hätte sich das Alter auf leisen Sohlen an sie herangeschlichen und sie plötzlich eingeholt. Sie war bleich und ihr Haar zerzaust. Der Holzboden knarzte, beim Geräusch hob Thoma den Blick und sah sie an. Seine Augen waren gerötet und auf seinen Wangen zeichneten sich Abdrücke ab.

»Gut, dass du gekommen bist«, sagte er, um Fassung bemüht. »Mamie geht es schlechter. Sie hat mich gebeten, dich zu rufen und das Personal nach Hause zu schicken.«

Rose blickte auf ihre Großmutter, auf das leichte Heben und Senken ihres Brustkorbes.

»Sie ruht sich aus. Du kannst meinen Platz einnehmen, dann lasse ich euch allein.« Er stand auf, während er sie unbeholfen ansah, fast so, als wollte er sie umarmen und ihr Trost spenden. Aber er blinzelte nur, nickte ihr dann zu und verließ das Zimmer.

Rose, die das Gefühl hatte, zu ersticken, riss die Vorhänge zur Seite und die Fenster auf. Gierig inhalierte sie die frische Luft. Sie hatte doch gerade erst von der Krankheit ihrer Großmutter erfahren und heute sollte sie bereits an ihrem Sterbebett sitzen? Sie verharrte einige Minuten, nahm tiefe Atemzüge, bis sie sich gewappnet fühlte, für das, was auch immer kommen würde. Als sie sich neben Mamie setzte, bemerkte sie, dass diese die Augen geöffnet hatte.

»Ich wollte dich nicht wecken«, sprach Rose, während sie nach der Hand ihrer Großmutter griff, um sie sanft zu drücken.

»Das hast du nicht. Ich bin froh, dass du hier bist.« Mamie sah sie liebevoll an. »Reichst du mir bitte das Wasser?«

Rose sah sich um, bevor sie ein Glas auf dem Nachttisch entdeckte und es ihr gab.

»Wie geht es dir?«, sprudelte es aus ihr hervor, nachdem Mamie getrunken hatte. »Vater hat gesagt –«

»Das tut nichts zur Sache«, unterbrach ihre Großmutter sie. »Ich merke, wie meine Kräfte schwinden. Ich bin müde, habe Angst, dass ich irgendwann einschlafe und nicht mehr aufwache, und ein Geheimnis mit ins Grab nehme.«

»Ich kann dir Papier und Stift bringen oder es für dich aufschreiben«, bot Rose sogleich an, um Contenance bemüht, während es sie innerlich zerriss. Sie würde alles tun, damit Mamie aufhörte, über ihren Tod zu sprechen, gleichzeitig ahnte sie, dass die Offenbarung unangenehmer Natur war, wenn ihre Großmutter diese so lange für sich behalten hatte.

»Ma puce, du musst mir zuhören.« Sie umklammerte den Arm ihrer Enkelin, der Griff war fest und passte nicht zu ihrem zerbrechlichen Äußeren. »Es geht darum, was dein Großvater getan hat und ich nicht verhindert habe. Doch um der Geschichte gerecht zu werden, muss ich weit ausholen …«

Kapitel 3

Oscar de Benoit

5. März 1999

Ein Husten fuhr durch seinen Körper. Er hielt sich ein Stofftaschentuch vor dem Mund, als er es beiseitelegte, befand sich Blut darauf. Doch davon ließ er sich nicht abbringen, sein Schriftstück zu beenden. Oscar De Benoit war ein stolzer Mann, dem selbst eine Krankheit nicht aus der Bahn warf. Er umklammerte die Ecken des abgenutzten Mahagoni-Schreibtisches, als ihm ein erneuter Hustenanfall schüttelte. Dann schob er das fertiggestellte Schreiben zur Seite, aus Angst, es zu beschmutzen und erhob sich mit einem Ächzen. Manchmal fragte er sich, ob seine Erkrankung eine Bestrafung Gottes sein könnte, weil er vom rechten Pfad abgekommen war. Oscar, der sich im Gegensatz zu seiner Mutter, der Herr habe sie selig, für keinen gottesfürchtigen Menschen hielt und die Gottesdienste nur aus Pflichtbewusstsein besuchte, dachte in letzter Zeit oft daran, wie es sein würde zu sterben. Doch dann wischte er die Gedanken beiseite, weil es Wichtigeres gab, um das er sich kümmern musste. Sein Blick fiel auf das Familienporträt von seiner Frau, seinem Sohn, damals noch ein Knabe, und ihm. Ernst blickten sie ihn an. Er fragte sich, wo die Zeit geblieben war, denn seit dem Gemälde waren zwei Jahrzehnte verstrichen. Die Hochzeit mit seiner Frau Anne, war eine arrangierte Ehe unter Adeligen gewesen, ein Versuch seiner Eltern sich mit ihrer Mitgift von den Geldsorgen zu befreien. Dies hatte er jedoch erst im Nachhinein erfahren. Oscar hatte sich damit abgefunden, wie mit so vielem in seinem Leben, und seine Frau lieben gelernt. Nach dem Tod seiner Eltern wurde er mit der bitteren Wahrheit konfrontiert: Anstelle eines Vermögens hinterließen sie ihm Schulden und ein Haus, dessen Erhalt sie finanziell ruinierte. Plötzlich Waise fand er sich mit einer hochschwangeren Frau, einer kürzlich eröffneten Kanzlei und ohne Geld wieder. Um seinen Ruf nicht zu riskieren, tat er alles, um zu überleben und das Dach über ihrem Kopf nicht zu verlieren – auch wenn dies bedeutete, sich mit den falschen Leuten einzulassen und diese unter der Hand zu vertreten. Ihre schmutzigen Scheine füllten seine Kassen. Anne fragte nie nach, obwohl sie zu ahnen schien, dass spätabendliche Besuche beim Hintereingang nicht zur Norm gehörten. Er arbeitete hart, bis alle Schulden beglichen und die Familie wieder von Wohlstand sprechen konnte. Erst, als Thoma nach seinem Juraabschluss angefangen hatte, in der Familienkanzlei zu arbeiten, hatte er so etwas wie Scham verspürt, weil er den Namen der De Benoit beschmutze. Sein Sohn stellte Fragen, die eines Anwalts würdig waren, ihn jedoch in Bedrängnis brachte. Thoma war es wichtig, ehrliches Geld zu verdienen und sich in keine moralischen Abgründe zu begeben, wie er ihm einige Male erklärt hatte. Aus diesem Grund beschloss Oscar die Zusammenarbeit mit seinen berüchtigteren Mandanten aufzukündigen. Im Gegensatz zu seinen Eltern wollte er seinem Sohn ein geordnetes Erbe hinterlassen.

Helles Kinderlachen erklang, was ihm gleichzeitig ein warmes und wütendes Gefühl bescherte. Thoma hatte in Paris während des letzten Jahres seines Jurastudiums ein Mädchen, Lola, kennengelernt. Sie war Straßenkünstlerin und fertigte Porträts sowie Zeichnungen an, doch vor allem ihre Schönheit, die langen blonden Locken, die graue Iris und zierliche Gestalt, brachte die Vorbeigehenden dazu, stehen zu bleiben. So war es ihm zumindest von Thoma erzählt worden, der seine Augen nicht von ihr wenden konnte und alles tat, damit sie ihn bemerkte. Lola war ein englischer Freigeist, sie lebte in einem ausrangierten VW-Bus, schlug sich mit Gelegenheitsjobs in Paris durch und besaß gerade genug, um zu überleben, wofür sie Oscars Respekt hatte. Die Freiheit, zu tun, was man wollte, ohne den gesellschaftlichen Normen zu entsprechen, zog Thoma, der sich stets den strengen Regeln seines Vaters unterordnen musste, wie ein Magnet an. Das Oberhaupt der De Benoit verstand dies, denn es war ihm nicht anders ergangen. Doch was er nicht in den Kopf bekam, war der Moment, an dem Thoma an die Tür des Elternhauses klingelte, eine hochschwangere Lola im Schlepptau mit einem Ring an ihrem Finger. Wie es sich herausstellte, war sie bereits wenige Wochen nach ihrer ersten Begegnung guter Hoffnung.

»Das ist meine Frau Lola«, stellte Thoma sie seinen sprachlosen Eltern vor und erzählte, wie sie sich kennengelernt hatten. Sie winkte schüchtern, während sie eine Hand schützend auf ihren Bauch legte.

»Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, tobte Oscar, als er mit seinem Sohn alleine war. »Du hast eine Frau geschwängert und ohne Ehevertrag geheiratet? Weißt du, was für uns auf dem Spiel steht?« Er hatte sich für ihn eine angemessene Partie aus noblem Hause gewünscht, keine vermögenslose Straßenkünstlerin. Oscar hatte für seine Familie alles riskiert. Sein Sohn hingegen gefährdete seine Opfer, indem er seine Hosen nicht anbehalten und Lola zu ihnen gebracht hatte.

»Ich liebe sie, Vater.« Thoma sah ihn an. »Ich will mein Leben mit ihr verbringen.«

»Sag mir, Sohn …« Er legte seine Stirn in Falten. »Seid ihr auch vor dem Gesetz Mann und Frau?«

Thoma schlug die Augen nieder. »Nein, wir müssen noch standesamtlich heiraten, damit unsere Verbindung anerkannt ist.«

Erleichterung durchströmte Oscar, die er sich nicht anmerken ließ. »Ich werde den Ehevertrag vorbereiten, den soll sie unterschreiben.«

»Vater –«

»Genug, Sohn. Dieser Punkt ist nicht verhandelbar.«

So kam es, dass Lola blind vor Liebe eine Vereinbarung unterschrieb, der sie im Falle einer Trennung mittellos und ohne Kind zurücklassen würde. Thoma glaubte an ihre Verbindung, weshalb er sie im Dunkeln ließ. Einen Monat später gebar Lola ein Mädchen, Rose. Die Geburt seiner Enkelin versöhnte ihn mit den Entscheidungen seines Sohnes. Die Jahre vergingen. Alles war gut, bis er seine Schwiegertochter kürzlich mit Thoma darüber sprechen hörte, dass sie sich ein einfaches Leben, abseits von den erdrückenden Verpflichtungen der Gesellschaft, wünschte. Sie fühlte sich in diesem Haus wie in einem Mausoleum und wollte, dass Rose auf dem Land aufwuchs. Von da an war sie ihm ein Dorn im Auge, eine Gefahr, die es zu bannen galt. Denn Thoma war sein Alleinerbe, der sein Lebenswerk fortsetzen und das gute Ansehen der Familie bewahren sollte. Solange Oscar am Leben war, würde sich Lolas Traum nicht erfüllen, dafür sorgte er. Doch nach seinem Tod gab es niemand mehr, der sie aufhalten würde. Er musste sie loswerden, bevor er starb, und hatte bereits einen Plan.

Als ihm Lola am Abend das Essen ans Bett trug, seine Kräfte reichten nicht mehr aus, um den ganzen Tag zu überstehen, bedankte er sich wie immer bei ihr.

»Ich würde mich gerne mit dir unterhalten.« Er schenkte ihr ein knappes Lächeln.

Sie nickte, wobei sie ihm aus unschuldigen Augen ansah.

»Du warst immer gut zu mir, weshalb ich ehrlich zu dir bin: Ich weiß von deiner Vergangenheit, in welchen Nachtclubs du dich herumgetrieben und mit wem du verkehrt hast.«

Sprachlos sah sie ihn an.

»Wusstest du, dass Thoma einer anderen Frau versprochen war? Er hat dich nur geheiratet, weil du schwanger geworden bist. Ich will dich mit diesen Worten nicht verletzen, aber du bist die Falsche für ihn. Du hältst ihn davon ab, großes in seinem Leben zu erreichen. Frag ihn, er wird es dir bestätigen.« Oscar sah sie eindringlich an. »Du gehörst nicht hierher. Ein unbedachtes Wort und man wird sich über dich das Maul zerreißen. Du bist der Meinung im Zirkel der Adeligen aufgenommen worden zu sein? Thoma hat deine Vergangenheit verschwiegen, doch was, wenn die Wahrheit ans Licht kommen würde? Sie würden euch verstoßen und in den finanziellen Ruin treiben.«

»Ich habe mein Geld stets ehrlich verdient. Was ich von dir nicht behaupten kann«, entgegnete Lola. Ihre Hände zitterten, was verriet, wie viel Mut es sie kosten musste, diese Worte auszusprechen.

»Mädchen, du weißt gar nichts.« Er starrte sie an, bis sie den Blick abwenden musste. »Eine obdachlose Straßenkünstlerin an Thomas Seite. Eine Frau, die in bestimmten Establishments gekellnert hat. Wer weiß, ob sie nicht sogar selbst angeschafft hat, um zu überleben.«

»Das habe ich nie –«