Die kleine Pension am Kalterer See - Sara Pepe - E-Book

Die kleine Pension am Kalterer See E-Book

Sara Pepe

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Beschreibung

"Von allen Fenstern im Haus konnte man die Kalterer Weinberge sehen, und Rosina liebte es, wenn sich die Blätter im Herbst bunt verfärbten und der See am Morgen glitzerte." Die 14-jährige Rosina verlässt in den 60er-Jahren ihr Zuhause, um bei Verwandten in Kaltern zu leben und zu arbeiten. Der jungen Frau fällt die Umstellung nicht leicht. Als sie nach einiger Zeit endlich beginnt, neue Freundschaften zu knüpfen, erhält sie eine Nachricht aus der Heimat, die ihr den Boden unter den Füßen wegzieht. Gleichzeitig bahnt sich eine zarte Liebesgeschichte mit dem charmanten Sepp an. Gemeinsam verfolgen die beiden den Traum, eine Frühstückspension am Kalterer See zu eröffnen. Doch der Bau der Pension und der Alltag sind für das junge Paar eine große Herausforderung. Mehr als einmal zweifelt Rosina an ihren Entscheidungen …

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SARA PEPE

DIE KLEINE PENSION AM

KALTERER SEE

ROMAN

Die Sonne am Morgen – Sara Pepe

Was treibt dich an,

wenn die Nacht am finsterstenist und das Zwielicht alles verschlingt?

Was treibt dich an,

außer die Gewissheit der Sterneund das Hoffen aufs Morgen?

Was treibt dich an,

außer das Wissen, dass alles vergänglich istund nach jedem Abend der Morgen anbricht?

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Danksagung

Die Autorin

Kapitel 1

1. September 1960

Fest klammerte sie sich an den Pferdewagen, als sie in ein Schlagloch fuhren. Ein Holzsplitter drückte sich in ihre Hand. Mit schmerzverzerrtem Gesicht sog sie die Luft zwischen die Zähne. Der Bauer, der sie auf seinem Karren mitnahm, sah sie von der Seite an.

„Keine Sorge, Mädchen. Dir passiert nichts. Meine Pferde sind diesen Weg unzählige Male gelaufen.“ Der Bauer war ein gutmütiger Mann mit dunklem Bart, der ihn finster aussehen ließ, doch seine Augen waren freundlich und sein Lachen herzlich.

Rosina zwang sich zu einem verkrampften Lächeln, während sie sich den Splitter aus ihrer Hand zog.

„Unterhalte mich doch ein wenig, dann vergeht die Zeit schneller. Wenn du nicht reden magst, kannst du mir auch gerne ein Lied vorsingen.“ Geschickt brachte er die Pferde dazu, einem großen Loch auf dem Weg auszuweichen.

Sie räusperte sich, doch ihre Zunge lag schwer in ihrem Mund. Erst als sie all ihren Mut zusammennahm, verließ ein Laut ihre Lippen, an Vorsingen war gar nicht zu denken. „Ich … meine Eltern schicken mich nach Kaltern, in die Fraktion Sankt Josef am See. Ich bin froh, dass ich mitfahren darf.“

„Zu Fuß hättest du einen halben Tag gebraucht, es ist eine lange Reise über Laag, Neumarkt und Tramin. Mir macht es nichts aus, ich fahre sowieso ins Überetsch. Was machst du in Kaltern?“, erkundigte er sich.

„Ich werde einer Familie zur Hand gehen.“

Hunger war in Rosinas Familie alltäglich. Die Eltern besaßen wenig und mussten viele Mäuler stopfen. Darum hatten ihre Eltern beschlossen, sie, die Älteste, zu ihrer Großtante zu schicken. Ein Kind zu Verwandten zu schicken, damit es im Haushalt und auf dem Feld mithalf, war durchaus üblich. Für die Arbeit würde Rosina Unterkunft und Verpflegung erhalten. Seit sie klein war, hatte sie ihren Eltern bei der Apfelernte und bei der Traubenlese, dem Wimmen, geholfen. Den Garten hinter dem Steinhäuschen, in dem sie wohnten, hatte sie allein bewirtschaftet. Dort waren saftige Tomaten gewachsen. Manchmal hatte sie diese im Dorf getauscht, damit die Familie eine nahrhafte Mahlzeit auf den Tisch bekam.

„Das ist sicher eine tolle Erfahrung, dann kommst du mal weg von Salurn und siehst etwas von der Welt.“ Er sprach weiter, aber Rosina hörte ihm nicht mehr zu. Sie war kürzlich vierzehn Jahre geworden, fast eine Frau, doch sie war ängstlich, denn sie wusste nicht, was sie erwartete. Sie hatte nicht aus Salurn weggewollt, sich jedoch ihrem Schicksal gefügt.

Der Bauer pfiff fröhlich vor sich hin und schien sich an ihrem Schweigen nicht zu stören. In ihrem Innersten dagegen verkrampfte sich beim Gedanken an den Neuanfang in Sankt Josef alles.

„Wir haben Tramin hinter uns gelassen, jetzt siehst du bereits den Kalterer See“, rief er, als sie ihn gerade bitten wollte, anzuhalten, weil sie dachte, sich übergeben zu müssen.

Der See war so viel größer, als sie ihn sich vorgestellt hatte. Die Berge, die ihn umgaben, spiegelten sich grün und blau im Wasser. Die Landschaft rundherum strahlte in verschiedenen Grüntönen. Rosina entdeckte sogar eine kleine Burg. Ihre Übelkeit war wie weggeblasen. Vielleicht hatte der Bauer recht und es würde ein Abenteuer werden. Es gab schlimmere Orte für einen Neuanfang.

Ehe sie sichs versah, bogen sie in eine Seitengasse ein und der Bauer brachte die Pferde zum Stehen. „Wir sind da.“

Sie standen vor einer Steinmauer mit Holztor, dahinter erspähte sie ein Häuschen. Rosina bedankte sich beim Bauern, stieg vom Karren herab und winkte ihm zum Abschied, als er davonfuhr. Ihre Hände schwitzten, das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie an das verwitterte Tor klopfte. Den Brief, den ihr die Mutter mitgegeben hatte, drückte sie fest an sich. Für September war es ungewöhnlich warm, und Rosina fächerte sich Luft zu, während sie darauf wartete, dass das Tor geöffnet wurde.

Eine ältere Frau von kleiner Statur öffnete das Tor und unterbrach Rosinas Gedanken. Ihre grauen Haare waren zu einem Dutt zusammengebunden. Über ihrem Kleid trug sie eine Schürze. Mit strengem Blick sah sie Rosina an. „Ja?“

„Ich heiße Rosina“, sagte sie leise und räusperte sich, weil ihre Kehle trocken war. „Ich soll bei euch vorstellig werden.“

„Ich habe dich schon erwartet. Bist ganz schön spät dran. Das Essen ist fast fertig und die Männer müssten auch gleich da sein. Komm herein, dann zeige ich dir, wo du schläfst. Danach kannst du mir sogleich zur Hand gehen. Ich bin Hedwig“, stellte sie sich vor.

Rosina folgte ihr in den Innenhof. Ein gepflasterter Weg führte zu einem Steinhaus mit großen Fenstern und grünen Fensterläden. Hinter dem Haus erstreckte sich eine Obstwiese und in den Steilhängen dahinter wuchsen Weinreben. Kurz träumte sie davon, wie es wäre, irgendwann selbst so ein Häuschen zu besitzen und darin zu wohnen.

„Mama hat mir einen Brief mitgegeben.“ Nervös strich sie den Umschlag glatt und gab ihn Hedwig.

Die ältere Dame riss ihn sogleich auf, um die wenigen Zeilen zu lesen. Rosina wusste, was darin stand, denn sie hatte ihn gemeinsam mit ihrer Mutter geschrieben: Mama bat Hedwig, gut auf ihre Tochter aufzupassen, und bedankte sich dafür, dass sie Rosina aufnahm. Mama … allein beim Gedanken an ihre Mutter stiegen Rosina Tränen in die Augen.

„Ich werde meiner Nichte später antworten“, sagte die ältere Dame und steckte den Brief in ihre Schürze. „Komm ins Haus.“

Im Flur war es merklich kühler. Rosinas Augen benötigten einen Augenblick, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. In dem Gang befand sich ein alter Schrank, der auf abgewetzten Holzdielen stand. Eine Treppe führte nach oben. Hedwig führte sie jedoch den Gang entlang in ein kleines Zimmer, in dem ein Bett, eine Kommode und ein Stuhl standen. „Hier schläfst du“, merkte sie an.

Beflissen nickte Rosina und legte ihr Bündel auf den Stuhl. Viel hatte sie nicht dabei: Unterwäsche, Socken, zwei Schürzen, ein Kleid sowie ein Nachthemd.

„Komm, es wartet Arbeit auf uns. Ich zeige dir nachher das restliche Haus.“

Ein kleines Fenster sorgte für Licht in der schmalen Küche mit den dunklen Schränken und dem Holzherd. In einer Ecke befand sich ein Tisch mit zwei Stühlen. Die Spüle voller schmutziger Kochutensilien quoll über, die Arbeitsflächen waren dreckig. Es roch nach gebratenem Fleisch, Rosinas Magen knurrte.

„Zuerst wirst du die Küche aufräumen, dann die Gemüseabfälle zu den Hennen bringen. Sie sind neben dem Garten“, wies Hedwig sie an und zeigte ihr, wo sich alles befand.

Rosina schluckte, bevor sie die Augen niederschlug. „Ich fange gleich an.“

Lautes Gelächter ertönte und schwere Schritte ließen den Boden erzittern. „Die Männer sind da“, bemerkte Hedwig und ging in die Stube, um sie zu begrüßen.

Rosina lauschte dem Stimmgemurmel, konnte jedoch nichts verstehen. Seufzend fing sie an zu putzen. Als sie fertig war, waren ihre Finger schrumpelig. Den schweren Eimer mit den Gemüseabfällen konnte sie nur mit Mühe hochhieven. Von der Küche führte eine Tür ins Freie. Unkraut wucherte im Garten, daneben befand sich ein Gehege. Die Hennen flatterten aufgeregt durcheinander, als Rosina den Inhalt des Eimers in eine Ecke leerte. In der Sonne spürte sie, wie ihr Schweiß über den Rücken rann. Als sie ins Haus zurückkehrte, stand in der Küche eine Platte mit Resten von Bratkartoffeln und Fleisch sowie ein Stapel dreckiges Geschirr.

„Die Männer haben fertig gegessen. Es ist noch etwas Herrengröstl und Salat übrig.“ Hedwig teilte die Reste auf zwei Teller auf und reichte ihr einen. „Du kannst dich in die Ecke setzen. Iss, du musst hungrig sein.“

Viel war nicht auf dem Teller. Trotzdem nahm Rosina ihn dankbar entgegen und ließ sich auf einen Stuhl nieder.

Hedwig stellte einen Krug Wasser und Gläser auf den Tisch und setzte sich neben sie. Sie sprachen ein kurzes Gebet. Dann meinte Hedwig: „Die Männer hatten etwas zu besprechen, aber heute Abend essen wir gemeinsam. Mahlzeit.“

Rosina nickte. „Ja, Hedwig. Mahlzeit.“

Die beiden aßen still. Es schmeckte gut, die Kartoffeln und das Fleisch waren saftig, aber der Teller war schnell leer. Seufzend musterte Hedwig sie, stand auf und legte ihr ein Stück Brot auf den Tisch. „Damit du genug bekommst.“

Rosina lächelte sie dankbar an und stopfte sich die Brotscheibe in den Mund.

„Kannst du kochen?“, fragte die ältere Frau.

Sie nickte. Mama hatte es ihr beigebracht, seit sie sieben Jahre alt war, und sie oft Speisen für die Familie zubereiten lassen. Besonders Milchreis konnte sie gut kochen.

„Wie gut, wird sich zeigen. Das Abendessen bereiten wir gemeinsam zu, dann sehe ich schnell, was du kannst. Du darfst jetzt die Teller spülen und den Boden scheuern, dann im Garten Unkraut jäten und später für die Männer eine Marende als Zwischenmahlzeit am Nachmittag vorbereiten. Wir haben Aufschnitt, Kaminwurzen und Schüttelbrot. Ich zeige dir, wo du alles findest.“

Ächzend stand Hedwig auf und ging mit ihr in die Vorratskammer. „Alles da, was du brauchst. Ich bin in der Stube, wenn du mich suchst.“

Die Sonne stand tiefer – es musste etwa drei Uhr sein –, als Rosina die Küche verließ und in den Garten trat. Sie machte sich sogleich daran, Unkraut auszurupfen.

„Mädchen, wo bist du?“, vernahm sie Hedwigs Stimme eine Stunde später.

„Ich bin hier.“ Erschrocken richtete sich Rosina auf. Vom raschen Aufstehen und der Hitze war ihr ganz schwindlig. Schweißgebadet und mit glühenden Wangen hetzte sie zurück in die Küche.

„Beeil dich, du musst eine Marende für fünf Personen vorbereiten.“

Das Mädchen befolgte Hedwigs Anweisungen und stellte wenig später die Marende und den Rotwein in die Stube. Die Wände waren mit Holz getäfelt. Es befanden sich eine Eckbank mit Tisch sowie ein Ofen darin. Stimmen erklangen, und die ersten Männer betraten den Raum. Sofort roch es nach Schweiß und Gras.

„Wer bist denn du?“, fragte ein vorwitziger Knabe. Sein Gesicht war mit Pickeln förmlich übersät und seine Ohren standen ab, aber seine braunen Augen waren sanft.

Rosina sah ihn verlegen an.

„Franz, das ist unsere neue Haushaltshilfe, Rosina aus Salurn“, erwiderte Hedwig an ihrer Stelle.

Ein junger Mann sah sie prüfend an. Seine Augen leuchteten hell, seine Schultern waren breit und das Kinn mit einem spärlichen Bart bedeckt.

„Rosina, das ist mein Sohn Klaus“, stellte Hedwig ihn vor.

Er nickte ihr zu, und sie presste ein Hallo hervor.

„Wie alt bist du denn?“, erkundigte sich ein anderer, der nur wenige Jahre älter als sie zu sein schien. Sein Kopf war mit einem Strohhut bedeckt, und er kaute auf einem Grashalm.

„Zu jung für dich, Matthias“, zog ihn Klaus auf und alle lachten.

Rosina merkte, wie ihre Wangen rot anliefen.

Matthias verdrehte gutmütig die Augen. „Wollen wir schwätzen oder essen? Ich habe Hunger.“

„Mahlzeit“, wünschte Rosina und flüchtete in die Küche.

Hedwig folgte ihr, musterte sie neugierig, äußerte sich aber nicht zu ihren roten Wangen.

„Normalerweise nimmt sich Klaus immer Verpflegung mit. Doch da er und die Nachbarn heute beim Weingut neben dem Haus gearbeitet haben, war es an uns, sie zu versorgen. Komm, ich zeige dir das restliche Haus, während sie essen. Du darfst dir nachher eine Kaminwurze und ein Stück Brot nehmen.“

Als sie den langen Flur entlanggingen, knarzte der Holzboden unter ihren Füßen. An der Wand hing ein Hochzeitsbild, auf dem ein Paar ernst dreinschaute. Neugierig betrachtete Rosina das Foto.

„Das ist mein Franz-Josef, Gott hab ihn selig. Er ist im Krieg gefallen. Auch meinen Ältesten, Daniel, hat es erwischt. Klaus war noch zu jung, er hing noch an meinem Rockzipfel, als alles begann. Im Krieg wurde unser Haus als Lazarett verwendet. Schwierige Zeiten waren das damals, viele Tote und Verletzte. Einige sind nach Deutschland geflohen. Mit der Aussicht auf ein besseres Leben. Ich hoffe, sie haben ihr Glück gefunden, auch wenn man hört, dass es vielen nicht gut ergangen ist.“

Rosina hatte von der Umsiedlung der Südtiroler, der „Option“, während der Zeit des Faschismus gehört. Die Option hatte Familien zerrissen und Liebesbande zerstört. Mama hatte oft davon erzählt, wie sich alle entscheiden mussten, ob sie in Südtirol bleiben oder weggehen wollten. Die Optanten – so wurden damals diejenigen bezeichnet, die sich entschieden zu gehen – hofften auf eine bessere Zukunft im Deutschen Reich. Die „Dableiber“ wollten ihre Heimat nicht verlassen, mussten aber ihre Kultur aufgeben. Sie durften nicht mehr Deutsch sprechen, sogar ihre deutschen Namen mussten sie ablegen. Trotzdem blieben die Italiener, die Walschen, Fremde in Südtirol, denn die Südtiroler blieben im Herzen Tiroler. Das alles hatte ihr Mama erzählt, damit sie die Geschichte nicht vergaß.

Mama hatte Papa auf einem Fest in Kaltern kennengelernt, sich in ihn, seine blauen Augen und die weichen braunen Haare verliebt. Als er sie gefragt hatte, ob sie ihn heiraten wolle, hatte sie zugestimmt und war mit ihm nach Salurn gezogen, anstatt ledig zu bleiben, wie es als Lehrerin üblich war. Sie hatte es nie bereut, das Schulleben für jenes einer hart arbeitenden Kleinbäuerin zu tauschen, sagte sie immer.

Hedwig seufzte und riss Rosina aus ihren Gedanken. „Ich war jung, als ich geheiratet habe. Es wird Zeit, dass sich Klaus eine Frau nimmt, er ist alt genug. Doch vom Heiraten will er nichts wissen.“ Bevor Rosina antworten konnte, ging Hedwig weiter in den ersten Stock.

„Unsere Zimmer befinden sich hier, aber du darfst nur auf meine Anweisung nach oben kommen. Am Abend hast du hier nichts zu suchen. Nicht, dass du einen dicken Bauch bekommst.“ Ihr Blick war prüfend.

Rosina runzelte die Stirn. Warum sollte sie einen dicken Bauch bekommen, nur weil sie unerlaubt im ersten Stock war?

Kapitel 2

Der Spiegel auf der Kommode beschlug, als Rosina eine Schüssel mit warmem Wasser abstellte. Auf ihrem Bett lagen ein Waschlappen und ein Handtuch. Als sie ihr Spiegelbild betrachtete, hörte sie die Stimme ihre Mutter: Du musst immer adrett sein, damit du einen Mann findest. Gut, dass Mama sie nicht sah. Rosinas blonde Locken hatten sich aus dem Tuch gelöst, das ihre Haare zurückhielt. Ihre blauen Augen waren müde, und auf ihrer Wange war ein dunkler Fleck zu sehen. Vermutlich hatte sie sich bei der Gartenarbeit mit den schmutzigen Händen ins Gesicht gefasst. Seufzend tauchte sie den Waschlappen ins Wasser, wusch sich notdürftig, zog sich um und schlüpfte ins Bett. Im Zimmer war es warm und das Öffnen des kleinen Fensterchens brachte keine Linderung. Die Geräusche des Hauses waren ungewohnt. Ein Knarzen hier, ein Rascheln dort. Rosina war nie von zu Hause weg gewesen und vermisste ihre zwei Schwestern, die sich abends immer an sie gekuschelt hatten. Magdalena war vier und Johanna drei. Die beiden waren immer an ihrer Seite gewesen. Rosina hatte ständig einem der Mädchen die Nase geputzt, sie getröstet oder einen Streit geschlichtet. Als Älteste oblag ihr die Pflicht, sich um die jüngeren Geschwister zu kümmern. Oft beneidete sie jene Freundinnen, die größere Geschwister hatten. Doch jetzt vermisste sie die Kleinen. Und nicht nur sie. Ihr fehlte das gewohnte Gemurmel, das aus der Stube in ihre Schlafkammer drang, wenn die Eltern sich abends leise unterhielten, das Knarzen der Treppe, wenn sie zu Bett gingen, die Geborgenheit ihres kleinen Häuschens. Der Bauch ihrer Mutter war wieder runder geworden und Rosina hatte gewusst, dass sie bald ein weiteres Geschwisterchen haben würde. Für morgen nahm sie sich vor, ihrer Familie gleich einen Brief zu schreiben. Doch noch bevor sie den Gedanken zu Ende führen konnte, fielen ihr die Augen zu.

Das Krähen eines Hahnes riss Rosina aus dem Schlaf. Übermüdet öffnete sie die Lider, wobei sie im ersten Augenblick nicht wusste, wo sie sich befand. Rosina schlug ihre Decke zurück, machte sich zurecht und ging in die Küche. Das Haus war friedlich und sie begann, das Frühstück vorzubereiten und den Ofen einzuheizen.

Mach dich nützlich, hörte sie die Stimme ihrer Mutter, als sie die Polenta aufwärmte, wie es ihr Hedwig am Vorabend aufgetragen hatte. Steh nicht im Weg und sei ein liebes Mädchen.

„Guten Morgen.“ Klaus betrat den Raum und sah sie freundlich an.

Rosina spürte, wie ihre Wangen heiß wurden, als sie dem gutaussehenden jungen Mann gegenüberstand. Sie senkte den Blick.

Sei nicht so schüchtern und antworte dem Mann, hörte sie gedanklich ihre Mutter.

Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und erwiderte den Gruß, bevor sie alles für das Frühstück auf den Tisch in der Stube stellte.

„Mutter müsste bald aufstehen. In der letzten Zeit plagt sie die Gicht. Sie wird alt, sagt sie immer.“ Klaus schmunzelte. „Hast du gut geschlafen?“

Rosina nickte und holte Teller und Besteck, wobei sie sich innerlich für ihre Schamhaftigkeit verfluchte.

„Hat Mutter dir für heute bereits einige Aufgaben gegeben?“

Sie schüttelte den Kopf.

Klaus lächelte. „Du bist ja ein schüchternes Ding. Keine Sorge, ich tue dir nichts.“

Verlegen stand Rosina vor ihm und wusste keine Antwort.

„Morgen“, grüßte Hedwig und ersparte den beiden eine Erwiderung. „Wie ich sehe, hast du das Frühstück vorbereitet. Lasst uns essen.“ Sie setzte sich mit ungelenken Bewegungen. Ihr gequälter Gesichtsausdruck verriet, dass sie Schmerzen hatte.

„Soll ich einen Kräutertee machen?“, fragte Rosina. Manchmal hatte sie ihrem Vater einen zubereitet, wenn es ihm nicht gut ging.

„Das ist lieb von dir, aber ich brauche nichts. Gegen das Alter hilft keine Medizin.“

Klaus warf Rosina einen Was-habe-ich-dir-gesagt-Blick zu, und sie verkniff sich ein Lächeln.

Nach dem Frühstück räumte Rosina das Geschirr weg und Hedwig wies ihr weitere Aufgaben zu. Zuerst versorgte sie die Hennen, sammelte die Eier ein und putzte das Gehege, wobei sie den Zaun auf Löcher kontrollierte – der Fuchs sollte es nachts auf der Jagd nicht zu leicht haben. Anschließend wusch sie in einem Bottich mit Lauge die Wäsche und rieb sie so lange über das Brett, bis der letzte Fleck verschwunden war. Das Wasser, das sie vom Brunnen holte, war eiskalt, ihre Finger wurden trotz der Wärme des Spätsommers kalt, als sie die Kleidung spülte und anschießend auswrang.

Als sie gerade die letzten Kleidungsstücke an der Leine aufhängte, vernahm sie Hedwigs Stimme: „Rosina? Bereitest du Speckknödel mit Krautsalat zu Mittag für uns zu? Klaus und die anderen Männer arbeiten heute im Weingut.“

Im Hintergrund hörte sie die Kirchenglocken, die halb zwölf schlugen.

„Ja, Hedwig“, antwortete sie, lief in die Küche und bereitete das Essen zu, wobei sie insgeheim schmunzelte. In Kaltern sagte man uns anstatt ins, wie es im Dialekt üblich war, was ihr gerade bei Hedwig aufgefallen war. Mama hatte ihr vor der Abreise erzählt, dass dies die Herrgottskinder, wie man die Einwohner von Kaltern auch nannte, verriet.

Als Rosina gerade das Essen auf den Tisch stellte, betrat Hedwig die Stube und setzte sich. Das Mädchen nahm ein Stück Brot und hielt inne. „Warum nennt man die Kalterer eigentlich Herrgottskinder?“

Amüsiert sah Hedwig sie an, ein Lächeln auf den Lippen. „Du weißt ja, dass jeden Freitag um fünfzehn Uhr, zur Sterbestunde Christi, die Glocken läuten? Nun, die Legende besagt, dass früher die großen Glocken nur zur Sterbestunde eines Kalterer Bürgers geläutet wurden. Ein Fremder habe dann Gold bezahlt, um dem Herrgott das Bürgerrecht in Kaltern zu kaufen. Damit die großen Glocken am Freitag zukünftig auch für diesen läuten.“

Rosina lächelte.

„Kennst du die Geschichte um den Kalterer See?“, fragte Hedwig.

Rosina schüttelte den Kopf und sah aus dem Fenster. Vor ihr erstreckte sich das Blau des Kalterer Sees.

„Um zu entscheiden, ob der See zu Kaltern oder zu Tramin gehört, gab es einen Wettlauf zwischen den beiden Dörfern. Die Kalterer haben gewonnen, weshalb der See seitdem zu Kaltern gehört. Wie viel Wahrheit dahintersteckt, weiß ich nicht, aber ich muss immer schmunzeln, wenn ich darüber spreche.“

„Falls es wahr ist, wird das die Traminer sehr geärgert haben.“ Rosina liebte es, den Sagen und Erzählungen aus vergangenen Zeiten zu lauschen.

„Ich würde sie nicht damit aufziehen. Es ist ihr wunder Punkt.“ Hedwig zwinkerte ihr zu und lud sich Essen auf den Teller. Rosina hatte reichlich zubereitet, denn die Knödel konnten sie zum Abendessen in Scheiben schneiden und braten.

Bevor sie etwas darauf antworten konnte, klopfte es laut an der Stubentür und ein junger Mann steckte den Kopf herein. Mit seinen dunklen Haaren und seinem sonnengebräunten Gesicht schien er beinahe südländisch. Seine braunen Augen wirkten freundlich und sanft.

„Hallo Sepp, schön dich zu sehen.“ Hedwig erhob sich. Ihre Stimme war gütig, der unangekündigte Besucher schien sie nicht zu stören.

„Entschuldigt bitte, ich habe gerufen und an die Küchentür geklopft. Sie war nur angelehnt, also bin ich eingetreten.“ Er lächelte verschmitzt. Dabei bildete sich auf seiner linken Wange ein Grübchen.

Rosina merkte, dass sie ihn anstarrte, und blinzelte.

„Sepp, darf ich vorstellen: Das ist Rosina, meine Großnichte aus Salurn.“

Rosina stand auf und bemühte sich seinem Blick standzuhalten.

„Freut mich, dich kennenzulernen“, sagte er freundlich.

„Danke, ebenfalls.“ Sie lächelte schüchtern.

„Heute Morgen habe ich Klaus getroffen“, wandte er sich an Hedwig. „Ich habe Hecht gefangen und er meinte, dass ich euch welchen für das Abendessen bringen soll.“

„Gerne. Möchtest du mit uns essen?“

Sepp winkte ab. „Ich will mich nicht aufdrängen. Der Eimer mit den Fischen steht in der Küche.“

„Das tust du nicht, ich habe es doch angeboten.“ Hedwig lächelte. „Setz dich. Das Mädchen holt dir einen Teller.“

Rosina nickte und folgte der Anweisung.

Neugierig musterte sie Sepp, als er sich hinsetzte. „Danke für das Essen.“

Hedwig nickte. Sie sprachen ein Gebet und aßen.

„Klaus meinte, ihr braucht demnächst meine Hilfe beim Wimmen.“

„Ja, bald ist es wieder so weit. Meine Knochen machen das nicht mehr mit. Rosina wird an meiner Stelle helfen.“

„Verständlich“, meinte Sepp. „Du hast dein ganzes Leben lang gearbeitet. Jetzt sind wir Jungen an der Reihe.“

Dankbar lächelte Hedwig ihn an. „Das hast du schön gesagt.“

Schweigend aßen die drei, da hielt Hedwig plötzlich inne und fragte: „Sag mal, Sepp. Du bist doch oft mit Klaus unterwegs und kennst ihn gut. Weißt du, ob er eine Frau in Aussicht hat? Seiner alten Mutter erzählt er nichts, und ich würde gerne noch die Geburt eines Enkels miterleben.“

Schnell nahm Rosina einen Bissen, um ihre Verlegenheit zu überspielen, und wartete gespannt, was Sepp antworten würde.

„Davon weiß ich nichts. Aber wenn er die richtige Frau findet, wird er es dir sicher sagen.“

„Natürlich“, lenkte Hedwig ein. „Du bist auch kein Bursche mehr, mit deinen einundzwanzig Jahren. Hast du denn noch kein Auge auf ein Mädchen geworfen?“

Er war also sieben Jahre älter als Rosina. Ihr Magen grummelte nervös und sie aß einen weiteren Bissen, um ihn zu beruhigen.

Sepp kaute langsam, bevor er antwortete. „Ich arbeite viel, bin Fischer, helfe den Nachbarn in der Landwirtschaft und bei anfallenden Handwerksarbeiten. Abends falle ich todmüde ins Bett.“

„Ich habe gehört, wie fleißig du bist“, entgegnete Hedwig, aber Rosina sah ihr an, dass ihre Neugierde nicht befriedigt war. Sie kannte Frauen wie Hedwig, die immer den neuesten Tratsch aus ihrem Dorf kannten, über ihre Söhne jammerten und versuchten, ihre Töchter unter die Haube zu bringen.

Sepp spülte das Essen mit einem Schluck Rotwein hinunter, bevor er aufstand. „Vergelt’s Gott für das Mahl und ich hoffe, die Fische schmecken. Ich muss leider weg. Ich habe dem alten Pernstich versprochen, ihm heute beim Bau eines Schuppens zu helfen.“

„Gute Arbeit! Und danke für die Fische.“

Der junge Mann verließ die Stube. Rosina bemerkte erst jetzt, dass er hinkte.

„Er ist ein fescher Bursche, nicht wahr?“, fragte Hedwig. „Schade, dass er ein lahmes Bein hat, seit er vom Dach gefallen ist. Dabei hatte er Glück im Unglück. Das hätte auch schlimmer ausgehen können. Ein Schutzengel muss über ihn gewacht haben.“ Sie bekreuzigte sich.

„Was ist denn passiert?“, fragte Rosina, während sie sich daran machte, den Tisch abzuräumen.

„Es gab ein Unwetter, das beim Andergassen das Dach abgedeckt hat. Sepp hat am nächsten Tag geholfen es zu reparieren. Dabei haben sich weitere Ziegel gelöst, und er ist vom Dach gefallen.“ Sie erschauerte. „Genug geplappert, zurück an die Arbeit.“

Rosina erledigte die Tätigkeiten im Haushalt und im Garten. Als die Sonne tief stand, machte sie sich an das Zubereiten des Abendessens. Die Fische waren in einem Eimer mit Wasser. Sie holte sie mit einem Netz heraus, entschuppte sie und nahm sie aus. Im Garten schnitt sie Kräuter ab und bereitete die gewürzten Fische in der Pfanne mit Öl zu.

„Hier riecht es gut.“

Erschrocken zuckte sie zusammen.

Klaus stand hinter ihr und lugte über ihre Schulter. Eine Schramme zog sich über seine Wange, sein blauer Schurz oder Pfirtig, wie die Kalterer ihn nannten, war dreckverschmiert und seine Hose aufgerissen.

„Hast du dich verletzt?“, erkundigte Rosina sich ohne nachzudenken und spürte sofort, wie Hitze in ihre Wangen stieg. Sie hasste es, wenn das passierte. Es gab doch nichts, wofür sie sich schämen musste.

„Ich bin an einem Nagel hängen geblieben und in den Matsch gefallen. Ich ziehe mir saubere Kleidung an, dann können wir essen.“ Bevor sie antworten konnte, verließ er die Küche.

Sie richtete einen Salat an und stellte das Essen zusammen mit einem halben Liter Rotwein auf den Tisch. Wenig später betraten Klaus und Hedwig die Stube und setzten sich.

Nachdem alle Teller leer waren, räusperte sich Klaus laut.

Hedwig und Rosina blickten ihn neugierig an. Nun hatten auch seine Wangen etwas Farbe bekommen. Was er zu sagen hatte, verlangte ihm sichtlich Mut ab. „Mutter, ich habe eine Ankündigung.“ Er kratzte sich am Kopf. „Ich habe heute um die Hand von Anna Pernstich angehalten und sie hat Ja gesagt. Die Hochzeit wird Ende Oktober stattfinden.“

Hedwig lief zuerst rot, dann weiß an. „Warum findet die Hochzeit so schnell statt? Noch nicht mal zwei Monate … Du hast mir doch keine Schande gemacht?“

Rosina runzelte die Stirn, denn sie verstand nicht, was Hedwig meinte.

Klaus seufzte. „Nein, Mutter. Ich habe gedacht, du freust dich. Seit Jahren liegst du mir mit einem Enkel in den Ohren und dabei bin ich gerade einmal fünfundzwanzig.“