Die Farben des Lebens - Svenja-Maria Lurk - E-Book

Die Farben des Lebens E-Book

Svenja-Maria Lurk

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Beschreibung

Eigentlich führt Jenna Wackerfield ein unscheinbares, ganz normales Dasein als Polizistin. Doch als ihr eines Tages die enigmatische Neela Kumar begegnet, dreht sich ihr Leben völlig auf den Kopf. Was als eine besondere Freundschaft beginnt, ist für beide bald mehr - doch Neela verbirgt eine Vergangenheit, die sie bis in die Gegenwart verfolgt und droht, ihr Zusammensien zu ruinieren. Als Jenna bewusst wird, wie wenig sie eigentlich über ihre Freundin wei0, überlegt sie, Neela vor eine Wahl zu stellen. Doch dazu kommt es nicht. Neela erhält einen Anruf, der ihr Leben für immer verändern wird. Ihr wird klar, dass sie vielleicht alles zerstörtt hat. Und scheint womöglich auch ihre letzte Chance verspeilt zu haben ...

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Let’s practice what we preach,

and with the acceptance that we expect from others,

let’s stop being so damn judgmental and crucifying

everyone who doesn’t fit in to

our boxed-in perception of what is right.

Gillian Anderson

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 1

Bis zu diesem Tag hätte sie nicht gedacht, dass der Mond ihr Leben verändern würde. Sie hätte auch niemals geglaubt, dass kleine Details, seien sie auch noch so unscheinbar, es wert waren, dass man auf sie achtete. Kleine Momente, Geschehnisse und plötzliche Erlebnisse, die vollkommen unzusammenhängend wirkten. Am Ende entstand daraus ein buntes Kunstwerk. Sie hatte es nie bemerkt - bis jetzt zumindest.

. . .

Das kleine Bistro an der Straßenecke war fast am Überquellen. Es war Mittag, und trotz der klirrenden Kälte, die sich erbarmungslos durch die Häuserschluchten schlängelte, zog es die Menschen hinaus über die Straßen, hinein in Kaffees oder Imbissbuden und Restaurants. Glücklicherweise waren ihre Kollegen und sie früh dran gewesen und hatten noch den letzten Sitzplatz ergattern können.

Sie mochte keine Menschenmassen. Bei Außeneinsätzen achtete sie immer darauf, am Rand stehen zu können. Sie war einer der Menschen, die alles im Auge haben wollten, um im Notfall rennen zu können. Nicht, um weg zu rennen – das war nicht ihre Art. Sie lief auf die Gefahr zu, um sie zu bekämpfen.

Und auch wenn sie es nicht mochte, mit vielen Menschen auf einem Haufen zusammengepfercht zu sein, so liebte Jenna es, diese zu beobachten – ihre Eigenarten zu studieren, sich zu fragen, was wohl ihre Geschichte lauten mochte. Vielleicht kam dieses Interesse durch ihren Beruf, vielleicht war sie aber einfach von Natur aus neugierig. Sie war eine passive Beobachterin, eine Person, die man nicht bemerkte.

Während sie auf ihre Kollegen wartete, ertappte sie sich dabei, wie sie mit den Fingern über die vergoldeten Verzierungen des Anhängers fuhr. Das war eine ihrer Eigenheiten. Sie trug ihre Polizeimarke immer an der langen, dünnen Metallkette – so, wie es viele ihrer männlichen Kollegen taten. Es gab ihr das Gefühl von Sicherheit, und zudem die Gewissheit, dass jeder ihren Status erkennen konnte.

Und dann erregte jemand ganz bestimmtes ihre Aufmerksamkeit. Mit einer Böe kalten Windes – die sogar Jenna spürte, obwohl sie drei Tische vom Eingang weg saß – öffnete sich die Tür und eine Frau kam hineingerauscht.

Sie trug einen bordeauxfarbenen, dunklen Wintertrenchcoat, der gerade so kurz war um Jenna erkennen zu lassen, dass sie eine Strumpfhose unter den schwarzen Stiefeln trug. Sie achtete sehr auf Details. Insbesondere bei Frauen, doppelt bei interessant wirkenden Frauen.

Und diese hier war interessant. Jenna verfolgte sie mit den Augen. Die Fremde ließ sich auf einem der Barhocker nieder – sie tat es um einiges eleganter als Jenna es jemals sein würde. Sie versuchte, deren Alter einzuschätzen - etwas jünger als sie selbst vielleicht, doch das war schwierig zu deuten. Als sie sich die Jacke von den Schultern schob, kamen ein schwarzer Rock und ein figurbetonendes, dunkelblaues Shirt zum Vorschein.

Sie war hübsch. Verdammt hübsch. Fast schon wunderschön. Das lange, schwarzglänzende Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, an den Schläfen hingen zwei Strähnchen herunter und umrahmten ihr schönes Gesicht mit den großen, dunklen Augen. Sie musste südländische Wurzeln haben, ihre dunklere, gebräunte Haut und die Gesichtszüge ließen darauf schließen, aber Jenna konnte nicht ausmachen, woher genau sie kam.

Glücklicherweise besaß sie das Talent, ihre wahren Gefühle gut verstecken zu können. Für Außenstehende konnte sie dadurch manchmal sogar unnahbar und verschlossen wirken. Somit war sie heilfroh, dass ihr niemand anmerkte, wie sie ein wenig unruhiger wurde. Jenna beobachtete, wie die interessante Unbekannte bei der Bedienung eine Bestellung abgab. Ihr Lächeln war hypnotisierend, ihre Haltung elegant wie die einer Tänzerin, insbesondere, als sie ihr Bein übereinander schlug und sich die Strumpfhose über ihrem Knie in ihrer Farbe aufhellte.

Jennas langsame, aber immer intensiver werdende Beobachtung wurde jäh unterbrochen, als jemand ihr gegenüber in die Sitzbank rutschte.

„Sag mal, hat sich Wellington im Klo heruntergespült oder weshalb braucht er so lange?“ Ihr 39-jähriger frankokanadischer Kollege Nicolas grinste sie an. Mit einem sekundenhaften Wimpernschlag riss Jenna sich von dem hinreißenden Bild los und zuckte mit den Schultern, als hätte sie die ganze Zeit nur darauf gewartet. Den manchmal schwarzen Humor ihrer Kollegen war sie gewohnt, doch sie beteiligte sich nicht sonderlich oft daran. Sie war froh, mit diesen Kerlen zusammen zu arbeiten. Sie lockerten viele Situationen auf.

Situationen wie diese hier. Jenna wollte sich nicht ausmalen, was womöglich passiert wäre, wenn Nicolas nicht aufgetaucht wäre. Also entschied sie sich, das Thema zu wechseln und sich auf die Realtität zu konzentrieren.

„Dein wievielter Kaffee ist das heute eigentlich?“ Sie zeigte mit dem Finger auf den Pappbecher. Nicolas guckte den Gegenstand an, schien ihn unter die Lupe zu nehmen, als müsse er Fingerabdrücke abnehmen.

Schließlich zuckte er mit den Schultern. „Es ist Winter. Ich mag Winter nicht. Ich brauche was zum Aufwärmen und zum Wachbleiben.“ Er trank einen Schluck und atmete übertrieben aus. Jenna schüttelte grinsend den Kopf.

„Ich gehe heute Abend trainieren“, sagte sie dann. „Wenn du dich beklagst, dass dir zu kalt ist, musst du dich nur ein wenig anstrengen.“

„Ohja Nic, sie wird dich ins Schwitzen bringen.“ Mit dem zweideutigen Grinsen auf den Lippen, welches sich bereits zu seinem Markenzeichen entwickelt hatte, ließ sich Jeff Wellington neben sie fallen.

Jenna warf ihm ein kopfschüttelndes Lächeln zu. „Männer“, seufzte sie. „Ihr werdet niemals erwachsen, oder?“

Alles, was sie erntete, war ein zweiköpfiges Grinsen. Sie kannte Jeff und Nic, seit sie als Detective beim Vancouver-Police-Departement begonnen hatte. Beide hatten sich zu sehr guten Freunden ihrerseits entwickelt, soweit man das bezüglich ihres eigenen Charakters sagen konnte. Sie war ein zurückgezogen lebender Mensch, und sie hatte nicht viele Kontakte außerhalb der Arbeit. Auch ansonsten war sie nicht der Archetyp von Frau - sie ging Joggen, während andere shoppen gingen, und setzte sich viel lieber alleine in ihrem Appartement vor den Fernseher, im Pyjama und mit einer Tasse Kakao in der Hand. Ihr war es recht so. Sie brauchte keinen Tratsch und wollte ihr Leben nicht durch Streitereien und der Jagd nach Schnäppchen verschwenden. Das Leben war viel zu wertvoll dafür.

Draußen war es eiskalt, aber immerhin trocken. Jenna bibberte, als sie als Erste aus der Türe trat, und zog ihren dunkelvioletten Schal tiefer ins Gesicht. Kanada im Winter konnte erbarmungslos sein, aber sie wollte Vancouver keinesfalls missen. Ihrer Meinung nach hatte sie großes Glück, in dieser Stadt zu leben, davon auch in einem Staat, wo sie nicht durch Brände oder Hochwasser gefährdet waren. Sie war einmal in Saskatchewan gewesen, im Sommer – diese Hitze hatte sie kaum ausgehalten, auch wenn sie kein Wintertyp war.

Sie war mehr als froh, als sie fünf Minuten später – Nicolas hatte einmal die Zeit gestoppt, und wundersamer Weise waren sie im Winter ganze drei Minuten schneller – wieder im Revier ankamen. Jenna bibberte und erntete Blicke von den beiden Männern.

„Nana“, sagte Jeff ermahnend. „Lassen Sie sich nicht so durchhängen, Detective Wackefield.“

Jenna guckte ihn an. „Halt den Mund“, sagte sie liebevoll und tätschelte ihm den Arm. „Ich mag den Winter genau so wenig wie Nicolas. Und ich bin eine Frau, ich darf auch mal einen auf zerbrechlich machen.“

Niemals, aber auch wirklich unter keinen Umständen, hätte sie diesen Satz auch nur annähernd ausgesprochen, wäre ihr jemand anderes Gegenübergestanden außer Wellington und Dupré. Sie gab ihre feministische Ader durchaus zu, aber bei ihren Freunden konnte sie auch einmal eines auch zerbrechlich machen. Eine weitere Ausnahme war Damien Murphy. Er wäre der Letzte, der sich ihr gegenüber irgendetwas zuschulden kommen lassen würde. Sein Charakter und Gemüt waren ausgeglichen und weder übertrieben noch sentimental, Humor und Ernsthaftigkeit hielten sich bei ihm die Waage. Er war ein hervorragender Polizist, und wenn sie anders gepolt wäre, wäre Damien wohl ihr Traumtyp. Doch jeder wusste, dass das niemals passieren würde. Und womöglich war es auch besser so.

Der erste, dem gegenüber sie sich damals geoutet hatte, war ihr kaum älterer Bruder Greg. Sie waren eines der seltenen Geschwisterexemplare, die sich eher mochten anstatt zu hassen. Abgesehen von Jeff, Nic und Damien war er ihr bester Freund und engster Vertrauter. Im Gegensatz dazu mieden manche Frauen sie. Jenna hatte sich einreden wollen, das sei nichts Persönliches. Aber insgeheim wusste sie, dass diese Frauen fürchteten, sie könne irgendwann mehr wollen als eine pure Freundschaft. Also gingen sie lieber den prophylaktischen Weg und nahmen reis aus.

Nun wusste beinahe das ganze Revier, dass sie lesbisch war. Sie hatte es lange selbst nicht glauben wollen, auch wenn sie sich im Nachhinein fragte, weshalb das der Fall gewesen war.

Warum sollte sie sich schämen?

Warum sollte sie sich wie ein Mensch zweiter Klasse fühlen?

Wenn sie es sich schon selbst nicht eingestand, wie konnte sie dann erwarten, von anderen akzeptiert zu werden?

Sie lebte gut damit, seit sie sich selbst gefunden hatte, insbesondere, da ihre Kollegen und Freunde sie respektierten. Jenna fand nichts schöner als diese Männer, mit denen sie zusammenarbeitete und mit denen sie zusammen Menschen beschützte, zu ihren besten Freunden zählen zu können. Ohne, dass sich daran etwas ändern würde.

. . .

Das Schöne am Winter war, dass man sich abends eine heiße Dusche gönnen und dann in ein kuscheliges, warmes Bett schlüpfen konnte. Jenna war kein Badewannen-Typ, aber dafür nutzte sie den Duschkopf im Winter umso länger. Mit einem Blick in den Spiegel stellte sie fest, dass das heute auch dringend nötig war. Das Training nach der Arbeit hatte ihre Haare verwirbelt, sie trug noch immer ihre Sportkleidung, und ein paar Strähnchen klebten ihr an den Schläfen, als hätte sie sie sich mit Gel ins Gesicht geschmiert.

Sie entledigte sich ihrer Klamotten, schmiss diese in den Wäschekorb und kämmte sich die Knoten aus den Haaren. Dabei fiel ihr Blick unwillkürlich auf den schwarzen Schriftzug an ihrem Rippenbogen, der einen starken Kontrast auf ihrer sonst hellen Haut hinterließ. Als Polizistin durfte sie keine sichtbaren Tattoos haben, aber so war es ihr ohnehin lieber. Wie Damien einmal gesagt hatte: „So kannst du sicher sein, dass es nur diejenigen Menschen sehen, die dir wirklich etwas bedeuten.“ Die Sommerzeit mal ausgenommen.

Damals, mit 29, hatte sie es gewagt und sich einen Satz tätowieren lassen. Den Schmerz durchzustehen hatte sich gelohnt. Zudem war es kein Schlechter gewesen, im Gegenteil. Es hatte sich gut angefühlt. Gut und auch irgendwie seltsam, da diese Körperstelle niemals wieder wie früher aussehen würde. Zu wissen, dass man einen Fremdkörper in der Haut hatte, den man sich mehr oder weniger selbst zugefügt hatte. Aber sie bereute es kein bisschen, keine Sekunde. Jedes Mal, wenn sie in den Spiegel schaute, wurde sie daran erinnert, dass man immer wieder auf die Beine kam. Auch, wenn man glaubte, alles stelle sich gegen einen, waren es doch die schlimmsten Zeiten, die einen selber stärker machten. Zeiten, die einem bewiesen, wer die wahren Freunde waren und auf wen man zählen konnte.

Jenna seufzte genüsslich, als das warme, fast schon heiße Wasser über ihren Körper lief. Sie schloss die Augen und stellte sich für einige Momente darunter, blendete alles andere aus. Sie genoss nur die Wärme, die ihre Verspannungen zu lösen und alle Kälte, die sich den Tag über angesammelt hatte, abzuwaschen schien.

Als das Wasser langsam kalt wurde, drehte sie den Hahn zu, trocknete sich ab und rubbelte sich durch ihre Haare, die in ihrer nassen Form eher braun anstatt wie sonst honigblond wirkten. Mit der flachen Hand wischte sie den beschlagenen Spiegel trocken, damit sie sich sehen konnte, und begann, das Chaos auf ihrem Kopf zu bändigen.

Eine ihrer Eigenarten war es, nach dem Duschen eine Weile vollkommen nackt durch die Wohnung zu laufen. Es war Luxus für sie. Das war ein Pluspunkt, Single zu sein, sie konnte tun und lassen was sie wollte. Und ein Grund, weshalb sie nur zwei Spiegel in ihrer gesamten Wohnung hatte – in ihrem Bad und ein langer, dünner in ihrem Schlafzimmer. Sie könnte es nicht ertragen, sich bei jedem Schritt anzusehen.

Als ihr langsam die Kälte in die Glieder kroch, zog sie ihren Lieblingspyjama aus dem Schrank und ließ sich, zusätzlich in Wollsocken und mit einer Tasse Tee in der Hand, aufs Sofa fallen. Das tat sie immer, wenn sie ihren Gemütlichkeitsmodus anschaltete. Sie zog die Beine an, schaltete den Fernseher an und zappte durch die Kanäle, bis sie etwas Gutes zum Zeitvertrieb gefunden hatte. Auf Sport hatte sie keine Lust, davon hatte sie heute selbst genug gehabt. Sitcoms mochte sie nicht. Aber endlich fand sie nach ein paar wenigen Minuten einen Actionfilm, den sie zwar bereits in und auswendig kannte, der ihr aber immer noch ab und zu einen Lacher entlockte.

Tee machte sie unglaublich schläfrig. Sie durfte niemals tagsüber einen trinken, sonst würde sie womöglich noch an ihrem Schreibtisch einschlafen. Erst die halbe Tasse war leer, und schon spürte sie, wie ihr Körper das Land der Wachen zu verlassen schien und sich gehörig gegen ihren Kopf wehrte, der eigentlich den Film zu Ende sehen wollte. Es war wirklich faszinierend – von Tee schlief sie ein und nur zwei Tassen Kaffee machten sie hibbelig wie einen Hund vor seinem ersten Frisbeewurf. Sie war lange nicht so kühl und langweilig, wie sie auf manche Leute zu wirken schien. Und sie war nicht so kühl und distanziert, wie sie selbst glaubte, zu sein.

Kapitel 2

Ihr Leben änderte sich nicht sofort. Es änderte sich, als das Schicksal sie auf wundersame Weise zusammen mit einer gewissen Person in einen Raum warf.

Es war früh am Morgen, zwei Tage später. Jenna hatte einen Spaziergang unternommen und für sich, Nicolas und Evie Perot etwas von Tim Hortons geholt. Evie war eine junge Frau mit kastanienroten Haaren, die sie ab und zu mit Snacks während den Arbeitszeiten versorgte und ihnen so schon oft das Leben gerettet hatte. Sie war so viel wie das Mädchen für alles und ab und zu auch Protokollantin. Genau wie Nicolas war sie Frankokanadierin, allerdings war sie erst vor drei Jahren an die Westküste gezogen. Ihr ziemlich starker Akzent machte sie noch sympathischer. Und Tim Hortons war ohnehin eines der besten Dinge, die einem in Kanada passieren konnten. Jenna fand, dass man kein echter Kanadier war, wenn man nicht jede Woche etwas von dort verkostete. Abgesehen von Ahornsirup und Wäldern war diese Schnellrestaurantkette eines der Markenzeichen des Landes.

Jenna hatte keine Ahnung, wie viele TH`s es allein um die University of Vancouver herum gab. Wahrscheinlich waren es so um die 7 im Umkreis von 500 Metern.

Sie schaffte es gerade noch, sich durch die gläserne Tür zu quetschen, bevor diese zufiel und war heilfroh, dass sie weder den Kaffee verschüttete noch die zwei Donuts fallen ließ. Es war ziemlich voll im Erdgeschoss, fast als gäbe es etwas umsonst, sodass sie die Frau nicht bemerkte, die ihr auf einmal hinterherlief.

„Entschuldigen Sie!“, hörte sie eine Stimme hinter sich. Jenna drückte auf den Knopf des Fahrstuhls und drehte sich herum, während sie sich gleichzeitig fragte, ob überhaupt sie gemeint war.

Würde sie nicht über eine gute Selbstbeherrschung und Kontrolle über ihre Gesichtsmimik verfügen, dann hätte dieser Moment wohl zu einem der peinlichsten in ihrem Leben werden können. Und in ihrer Vergangenheit waren außerordentlich viele peinliche Dinge passiert.

Eine Frau kam auf sie zugelaufen. Obwohl Jenna sie erst einmal gesehen hatte, hätte sie dieses Gesicht überall wiedererkannt.

Sie war es. Die Frau aus dem Café. Die, die sie abgescannt hatte. Die wohl umwerfendste Frau, die ihr jemals unter die Augen getreten war.

„Die Dame am Empfang hat mir geraten, ich solle mich an Sie wenden.“ Sie kam neben ihr zum Stehen und lächelte. Eher kam es einem Strahlen nach, ein Strahlen wie von tausend Sternen. Jenna verscheuchte den Gedanken, dass sie damit noch umwerfender aussah. Sie erwiderte die freundliche Geste.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte sie.

Die Frau warf einen Blick auf den Gegenstand in ihrer Hand. „Ach, eigentlich nichts Großes. Ich soll etwas Überbringen. An …“ Sie drehte den Umschlag herum und laß die Anschrift. „Carter Hines.“ Sie sah Jenna wieder an, so, als frage sie, ob sie ihn kenne.

Die Polizistin nickte. „Da kann ich Ihnen in der Tat weiterhelfen. Er ist mein Captain.“ Dann hob sie die Augenbrauen. „Sind Sie der hauseigene Kurierservice ihrer Firma oder weshalb wurde ihnen die gütige Aufgabe übertragen, der Vancouver Polizei einen Besuch abzustatten?“

Sie lachte kurz auf, was in Jennas Innerem ein seltsam angenehmes Gefühl auslöste. Sie ignorierte es.

„Nein, aber ich bin so etwas wie … eine Vertraute.“ Ein erneutes Lächeln. Jenna bemerkte, wie ihre Augen funkelten, wenn sie das tat. Wie geschmolzene Schokolade. „Und ich hatte gerade nicht viel zutun, also habe ich ihm den Gefallen getan.“

„Dann hoffe ich, dass er ein Gentleman ist und sich revanchiert“, sagte Jenna und fühlte geradezu, wie sich auf ihren Lippen ein breites Lächeln ausbreitete. Es würde sie nicht wundern, wenn ihr Gegenüber mehr für besagten Chef war als nur eine Vertraute.

Das „Ding“ des anhaltenden Fahrstuhls riss sie aus den Gedanken. Er öffnete sich, zwei Officer traten hinaus. Jenna nickte ihnen begrüßend zu, sie erwiderten. Nebeneinander traten sie und ihre Begleitung in den Fahrstuhl und Jenna drückte auf den Knopf ihrer Etage.

Langsam wurde ihr warm, trug sie ja noch immer ihre Jacke, aber sie traute dem Fahrstuhl zu wenig, um die Kaffeebecher auf dem Boden abzustellen. Zudem sah dieser aufgrund des Schneematsches, der bereits von vielen Ein- und Ausgängern zeugte, nicht gerade einladend aus. Und sie hatte wahrlich keine Lust, ihren Kaffee mit einem Schuss Dreck zu genießen.

„Ihr Captain und mein Chef kennen sich“, sagte die Frau neben ihr auf einmal. „Wahrscheinlich planen sie irgendeine geheime Fusion.“ Sie grinste und Jenna konnte einfach nicht anders, als zu erwidern. Allgemein war es, als würde diese Frau sie mit ihrer lebensfrohen Art geradezu anstecken.

Kurz darauf knöpfte sie ihren Trenchcoat auf und hängte ihn sich über den Arm. Jenna beobachtete sie so unauffällig wie möglich.

Ihre dunklen Haare trug sie diesmal zusammengebunden – nicht so streng wie ein Dutt, es sah aus, als hielte eine Haarklammer alles zusammen. Heute trug sie eine weiße Bluse, die im Kontrast zu ihrer gebräunten Haut fast strahlte, dazu eine schwarze Hose und gleichfarbige Stiefel. Um ihren Hals hing eine silberne Kette. Jenna hätte liebend gerne gewusst, was für ein Anhänger daran hing, aber spätestens dann wären ihre Blicke an eine ganz bestimmte, pikante Stelle gerutscht. Es war, als übe sie eine Art unsichtbare Anziehung aus - Jenna konnte sich einfach nicht von ihr losreißen. Sie ließ ihre Augen über die seidig glänzenden Haare wandern, die in dem Licht des Fahrstuhls mit einen farblichen Schimmer von Mahagoni bedeckt wurden. Sie betrachtete ihr Profil, studierte ihr Gesicht. Sie hatte feine und gleichzeitig ausdrucksvolle Züge und lange, dunkle Wimpern, für die Jenna töten würde. Ihre Augen, die in der Tat die Farbe von Schokolade hatten, waren mit genau dem richtigen Maße an Make-Up geschminkt. Goldfarbener Lidschatten blitzte auf, wann immer sie blinzelte. Der Begriff „schön“ war untertrieben, um sie zu beschreiben.

Endlich viel ihr etwas ein, wie sie die Stille brechen konnte. „Worüber denken Sie nach?“, fragte sie ironischerweise, obwohl sie diejenige war, die gerade jedes Detail ihrer Nachbarin studiert hatte. Diese drehte sich zu ihr und sah sie fragend an.

„Bitte?“, fragte sie und klang ehrlich verwirrt. Jenna schmunzelte.

„Sie sehen nachdenklich aus, als beschäftige Sie etwas.“ Sie hob, Interesse zeigend, die Augenbrauen. „Darf ich fragen, um was es geht?“

Ihre Mitfahrerin seufzte, aber es klang amüsiert. „In der Tat, Sie sind ein Cop.“ Sie guckte Jenna an. „Ich bin manchmal wirklich wie ein offenes Buch. Viel zu leicht zu lesen, viel zu leicht zu erraten, was ich denke.“

„Ich könnte ihnen dabei helfen. Es ist gar nicht so schwer, den kalten Blick zu erlernen.“ Es sei denn, sie sehen jeden Menschen so an, wie es auf mich wirkt.

„Ich habe mich gefragt, was für eine Stellung Sie innehaben“, sagte sie da. Jenna konnte sich gerade noch beherrschen, nicht „Unter meinem Schal ist meine Marke, Sie können sie gerne nachsehen“ zu sagen. Himmel, ihre Gedanken machten sie wahnsinnig. Aber vielleicht, tröstete sie sich, war sie es auch einfach gewöhnt, da sich jeder auf dem Revier so unterhielt.

„Ich bin Detective“, sagte sie endlich und war froh, dass ihre Stimme nicht zitterte. „Aber ab und zu rücken mein Team und ich auch einfach aus, wenn es Veranstaltungen gibt, die größte Sicherheit benötigen.“ Sie lächelte geheimnistuerisch und ertappte sich, wie sie zwinkerte. „Wir mischen uns dabei meist unter die Menge und beobachten, ob sich etwas Verdächtiges tut.“

Im selben Moment blieb der Fahrstuhl stehen und die Türen öffneten sich. Sie traten heraus und Jenna zeigte den Gang entlang. „Sein Büro ist gleich dort vorne rechts. Sie können es nicht verfehlen, sein Name ist angeschrieben.“ Im nächsten Moment hielt sie inne und blinzelte einmal. „Wissen Sie was, ich bringe Sie einfach hin.“

Sie sprachen auf dem Weg kein Wort, auch wenn Jenna ständig das Gefühl hatte, etwas sagen zu müssen. Sie verspürte eine Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung, als sie schließlich vor dem Büro standen – aber natürlich ließ sie sich nichts anmerken.

Als sich die Dunkelhaarige bedanke, winkte Jenna ab. „Keine Ursache. Wir bekommen hier selten freiwilligen Besuch, das ist eine willkommene Abwechslung“, sagte sie stattdessen.

Sie streckte die Hand aus und ihr Gegenüber ergriff sie. Sie hatte warme, glatte Hände, und Jenna konnte sich den Gedanken nicht nehmen, zu wetten, dass sie bestimmt ein ganzes Arsenal hochwertiger Kosmetikprodukte bei sich zuhause stehen hatte.

„Ganz meinerseits“, lautete die Entgegnung. Die dunklen Augen strahlten, und sie wollte sich wohl gerade abwenden, als sie noch einmal innehielt. „Vielleicht sieht man sich irgendwann wieder.“

„Spätestens auf der nächsten Betriebsfeier, sollte ihr Chef Hains und uns als Gefolge einladen“, grinste Jenna. Die noch immer Namenslose lächelte.

„Passen Sie auf sich auf, Detective“, sagte sie schließlich, die Türklinke schon in der Hand. Jenna sah sie an und blinzelte dann, nicht genau wissend, was sie darauf antworten sollte. Die plötzlichen Worte rührten sie.

Noch ganz in Gedanken versunken und bereits den Weg in ihr eigenes Büro einschlagend, bemerkte Jenna, dass sie beinahe den Kaffee und den Donut für Evie vergessen hätte. Schnell, in der Hoffnung, niemand hatte ihre peinliche Verwirrung bemerkt, drehte sie sich wieder um und ging den anderen Weg. Insgeheim wünschte sich etwas in ihr, dieser Frau wirklich noch einmal über den Weg zu laufen.

Kapitel 3

Das Leben tat wirklich seltsame Dinge. Es war manchmal nicht nur verzwickt, es war unvorhersehbar.

Sie bekamen einen Fall rein, einen Raubüberfall mit schwerer Körperverletzung, das Opfer lag noch in der Notaufnahme, aber sein Zustand, hieß es, sei stabil. Doch nicht das war das Verrückte in dieser Woche. Nicht nur, dass das Motiv des Täters zu wünschen übrig ließ und Jenna mal wieder den Glauben an der Intelligenz der Spezies Homo Sapiens verlieren ließ. Irgendwie schien ihr das Schicksal einen Wink mit dem Zaunpfahl zu geben, als sie eines Tages einen Abstecher in dieses Café machte.

Erstaunt und kopfschüttelnd stand sie mit ihrem Kaffeebecher in der Hand vor dem Tisch. „Das ist wirklich verrückt.“

Die Frau auf der Bank sah auf. Es dauerte etwa drei Sekunden, bis ihr Gesicht sich aufhellte.

„Aller guten Dinge sind drei“, sagte sie mit einem verwunderten Unterton in der Stimme. Erneut das Lächeln. Es war seltsam, dachte Jenna – ihre Mimik war zurückhaltend und verriet kaum etwas, aber ihre dunklen Augen funkelten wie Sterne inmitten eines azurblauen Himmels. Sie hätte eine Ewigkeit dastehen und sie einfach nur ansehen können. Ohne Zweifel – sie war noch nie einer Person begegnet, die eine derart magische Anziehungskraft auszuüben schien. Und sie hatte mit sehr vielen Menschen zu tun gehabt.

Da nickte die Dunkelhaarige auf die Bank vor sich. „Wollen Sie sich setzen? Da kommt sowieso niemand mehr.“

Wie kann man nur so blind sein, fragte sich Jenna in einem Bruchteil der Sekunde. Das halbe Revier hätte sich wohl darum geprügelt, sich zu ihr setzen zu dürfen. Aber nun ja, es waren Cops. Die konnten die kindischsten Leute sein, die man sich nur vorstellen konnte. Anders könnte man diesen Beruf auch gar nicht aushalten.

Erst Sekunden danach schienen ihre Worte überhaupt richtig in Jennas Gehirn anzukommen, und eine altbekannte Nervosität in ihr kehrte zurück. Ein Gefühl, von dem sie dachte, es bereits verlernt zu haben. Sie war nicht sicher, ob es ein gutes oder schlechtes Zeichen war. Sie blinzelte langsam und nickte dann.

„Gerne. Ich habe sowieso erst in zehn Minuten wieder Dienst.“ Mit diesen Worten ließ sie sich auf die Sitzbank gleiten.

Smalltalk.

Darin war sie noch nie gut gewesen, und sie hasste peinliche Stille.

Aber in genau demselben Augenblick, in dem ihr dieser Gedanke kam, brach ihr Gegenüber die Stille: „Ich denke, spätestens jetzt sollten wir wissen, mit wem wir es eigentlich zu tun haben.“ Sie streckte die Hand aus, ihr Gesicht war aufrichtig und offen. „Ich bin Neela Kumar.“

Jenna lächelte und musste sich darin eher bremsen als bemühen. „Jenna Wackefield.“ Sie erwiderte den Gruß. „Freut mich, Sie kennenzulernen.“

„So langsam wurde das Zeit.“ Neela schmunzelte. „Wer weiß, wie oft wir uns noch über den Weg laufen.“

„Neela. Woher kommt dieser Name?“ Diesmal begann Jenna das Gespräch, zumal es sie wirklich interessierte.

„Aus dem Indischen. Original spricht man ihn Nehla aus, dann bedeutet es Mond.“ Neela zog die Schultern hoch. „Ich frage mich bis heute, weshalb mir dieser Name gegeben wurde.“

Ihr Lächeln war ansteckend. Jenna konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so ungezwungen gewesen war und sich so leicht in der Gegenwart einer fremden Person gefühlt hatte.

„Ich kann es mir schon vorstellen, weshalb. Sie strahlen wie der Mond. Sie haben eine beruhigende und dennoch mystische Aura.“ Ihre Augen wanderten zu Neelas Händen, die sie nebeneinander verschränkt auf dem Tisch liegen hatte. „Allerdings würde „Sonne“ noch besser passen. Sie haben warme Hände.“

„Lederhandschuhe.“ Neela grinste. „Das Beste, das einem im kalten Winter passieren kann.“

Jenna nickte zustimmend und legte dann den Kopf schief. „Heißt das, Sie kommen aus Indien?“, fragte sie.

Neela schüttelte den Kopf. „Ich bin in Toronto geboren. Meine Eltern kommen von dort, sie sind ausgewandert.“ Sie lächelte und warf einen kurzen, fast verträumten Blick nach draußen. „Kanada ist mein Zuhause. Ich war für ein paar Monate in Indien, aber ich weiß, ich gehöre hier her.“

„Wenn wir gerade davon sprechen.“ Jenna trank einen weiteren Schluck. „Sollte man Sie dann nicht als Nehla ansprechen? Immerhin ist das doch ihr richtiger Name, oder?“ Neelas Augen zuckten für einen Moment unruhig hin und her, und Jenna glaubte zu erkennen, wie sich ihre Finger um ihre Tasse krallten.

„Nein“ sagte sie, und ihre Stimme klang irgendwie anders. Angespannt, ja beinahe gehetzt. „Neela ist besser.“ Sie wirkte, als wollte sie noch etwas sagen, beließ es dann aber dabei. Als hätte sie entschieden, dass es besser wäre, es nicht auszusprechen. Jenna zog die Stirn in Falten. Sie schien hier irgendeinen wunden Punkt getroffen zu haben, da war sie sich sicher.

Aber sie wollte nicht nachhaken, immerhin kannte sie Neela gerade einmal ein paar Minuten lang, und außerdem musste sie ja nicht gleich wieder die Analytikerin heraushängen lassen. Das hier war kein Verhör, sondern eine lockere Unterhaltung.

Nach einer kurzen Pause, während sie nach einem Themawechsel suchte, viel ihr plötzlich etwas auf. „Alle guten Dinge sind drei?“, zitierte sie verdutzt und legte Betonung auf die Zahl. Hatte Neela sie etwa auch schon einmal gesehen, bevor sie sich getroffen hatten?

Ihr Gegenüber zuckte mit den Schultern. „Sie sind nicht so unauffällig, wie sie glauben.“

Jenna zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. „Was meinen Sie damit?“, fragte sie verdutzt. Neela guckte sie an, ein verschlagenes Lächeln um ihre Lippen. Ein Lächeln, welches Jennas Inneres in Aufruhr versetzte.

„Vor ein paar Tagen. In dem Café in der Nähe Ihres Polizeireviers. Sie waren dort mit zwei Männern und haben mich beobachtet.“

Jennas Herzschlag setzte für einen Moment aus. Sie hätte sich verschluckt, wenn sie etwas getrunken hätte.

Verdammt, sie hatte es bemerkt!? Fast zeitgleich spürte sie, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Oh Gott. Wann hatte sie jemand das letzte Mal erröten lassen?

Neelas Augen bohrten sich in ihre, ihr Lächeln wurde amüsiert. Als genieße sie es, Jenna aus dem Konzept zu bringen. Als würde sie das Gespräch auf einmal an sich reißen.

Jenna schluckte den Kloß, der sich in ihrem Hals gebildet hatte, hinunter. „Ich … bin ein sehr aufmerksamer Mensch“, beschloss sie zu sagen, um sich recht zu fertigen.

Neela hob die Augenbrauen. Es war klar zu erkennen, dass sie die Ausrede entlarvt hatte und ihr kein Wort glaubte. Nervös spielte Jenna an ihren Fingernägeln herum, hoffend, dass die Konversation nicht noch weiter ins Peinliche ausarten würde.

Um sich vorsichtig vorzutasten, fragte sie schließlich: „Was machen Sie von Beruf? Sind Sie etwa auch so oft mit Menschen und deren Verhaltensweisen konfrontiert, dass Sie mich derart analysieren?“

Neela wiegte den Kopf hin und her. Glücklicherweise schien sie in Jennas Worten keinerlei Angriff interpretiert zu haben. „Wie man es nimmt“, begann sie langsam. „Ich bin im Marketing tätig. Eine Versicherungsfirma. Ich habe Wirtschaftsrecht studiert. Hatte keine großen Pläne, wusste nicht, was ich machen sollte, und es klang interessant. Nun muss ich sagen, es war definitiv die richtige Entscheidung, auf mein Bauchgefühl zu hören.“

Jenna nickte langsam, froh darüber, dass die Konversation sie langsam wieder auf sicheren Boden zurückführte. „Wirtschaftsrecht.“ Sie lehnte sich zurück und legte ihrem Arm auf der Lehne ab. Ihr Selbstbewusstsein war zurückgekehrt. „Was hat Sie gereizt. Die Wirtschaft oder das Recht?“

Neela lächelte verhalten. „Das Recht. Das Gesetz. Ich hatte mich sogar für Jura interessiert. Aber Anwältin zu sein wäre nichts für mich. Ich bin eher die Beobachterin, und ich spreche nicht gerne vor vielen Menschen.“

Aber Sie würden bestimmt unglaublich viele Fälle gewinnen, so gut wie sie aussehen, schoss ein Gedanke durch Jenna hindurch.

Stopp, ermahnte sie sich sogleich. Sie musste nun aber wirklich aufhören, sich so etwas vorzustellen. Und warum dachte sie überhaupt erst darüber nach?

Auf einmal stand Neela auf. Jenna guckte sie verwirrt an, war beinahe froh, einmal ein anderes Gesicht zu machen statt immer nur zu lächeln.

„Ich muss mal kurz …“ Sie machte eine Kopfbewegung und sagte mit vielsagendem Unterton: „Mein Make-Up auffrischen.“

Jenna fing schon wieder an zu grinsen. SO konnte man das natürlich auch ausdrücken.

Als Neela verschwunden war, sah sie nach draußen aus dem Fenster. Es hatte wieder angefangen, zu schneien. Sie beobachtete die Menschen, die draußen umhergingen - manche Arm in Arm, andere sich unterhaltend. Eine Mutter mit ihrem Kind, welches sie festhalten musste, da es sonst auf der Jagd nach Schneeflocken auf die Straße gerannt wäre. Jenna hätte wirklich keine Lust gehabt, ihre Rolle als Cop und ihre Fähikeit zur ersten Hilfe unter Beweis zu stellen.

Als hätte sie mit diesem Gedanken irgendetwas heraufbeschwört, vibrierte in fast demselben Moment ihr Handy. Beinahe genervt, obwohl sie nicht wusste, weshalb, drehte sie es herum, um die Nachricht zu lesen.

Wo bist du?

Die SMS war von Jeff.

P. hat einen Verdächtigen ausfindig gemacht. Haines fragt nach dir, wir brauchen dich, komm sofort!

Shit. Er hätte genauso gut „Beweg deinen Hintern hier her, sonst kriegst du gewaltigen Ärger“ schreiben können. Für einige Augenblicke wurde ihr heiß und kalt, und als sie auf die Uhr sah, erschrak sie. Sie war fast zehn Minuten zu spät dran. Und das wurde bei Hains nicht geduldet – er war pingelig wie vom Feinsten.

Aber sie konnte doch jetzt nicht einfach so verschwinden. Genau so wenig konnte sie noch auf Neela warten. Vor allem, was sollte sie sagen? Entschuldige, wir haben uns verplappert, gib mir mal deine Nummer? Niemals.

Und warum um alles in der Welt wollte sie überhaupt Neelas Nummer?

In Jennas Kopf fuhren die Gedanken Achterbahn. Sie tat und dachte Dinge, die sie nicht verstand. Alles, was ihr klar war, war, dass sie jetzt sofort losmusste.

Kurzerhand entschied sie sich für eine Notlösung. Sie würde ihr einfach ihre eigene Nummer da lassen, also wäre es Neelas Entscheidung, den Kontakt aufrechtzuerhalten oder nicht. Es war immer gut, Verantwortung abzugeben.

Glücklicherweise fand sie einen Kugelschreiber in ihrer Jackentasche. Jenna dachte einen Moment nach, dann leerte sie ihren Cappuccinobecher in einem Zug und kritzelte ihre Nummer darauf – ehe sie es sich irgendwie anders überlegen konnte. Dann sprang sie auf, zog ihre Jacke an, platzierte den Becher sorgsam auf dem Tisch, und machte sich auf den Rückweg.

Nach Luft ringend stand sie im Fahrstuhl, schälte sich aus ihrer Jacke und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Niemand, der sie so gesehen hätte, hätte ihr geglaubt, dass sie eigentlich eine trainierte Polizistin war. Hoffentlich, dachte sie, hatte Jeff Hains ein wenig ablenken können.

Ihr Gehirn ließ ihr ganze zehn Sekunden Zeit, um zu atmen und runterzukommen, als ihr ein Gedanke in den Sinn kam. Was, wenn sie den Becher wegwarf? Was, wenn sie total sauer und ihre Nummer überhaupt gar nicht erst …

Moment, stoppte ihr Verstand ihr Gehirn. Warum kümmerte sie das eigentlich so sehr? Sie wusste nichts über diese Frau, rein gar nichts, wie konnte ihr das so wichtig sein?

Jenna nahm ein Geräusch war, nur um zu realisieren, dass es ihr eigenes Seufzen war. So langsam schien sie verrückt zu werden.

Aber damals wusste sie noch nicht, dass das alles erst der Anfang war.

. . .

Irgendwie hatte Jeff es hinbekommen, Hains hinzuhalten, oder zumindest, ihr Fernbleiben mit Bravour zu kaschieren. Allerdings warf ihr Kollege ihr einen warnenden Blick zu, und Jenna dankte ihm in Lippensprache.

Die Stunden flogen dahin. Die Detectives waren beschäftigt bis zum Nachmittag, und als sie endlich ein wenig verschnaufen konnten, bemerkte Jenna, wie hungrig sie war. Sie war nicht die Einzige. Auch Jeff knurrte der Magen.

Also machten sie sich auf zur Kantine, auf dem Weg dorthin schlossen sich Damien und Stella Bennet mit an. Die Polizistin in den frühen 50gern war eine der wenigen, die sich mit Jenna unterhielten, ohne ein großes Trara darum zu machen. Sie war froh darum. Einige fürchteten noch immer, Opfer von Jennas unkontrollierter Libido zu werden. Bei diesem Gedanken seufzte sie nur. Sollten sie doch denken, was sie wollten. Sie wusste, dass es nicht wahr war, also brauchte es sie eigentlich auch nicht zu interessieren.

Sie ergatterten einen Tisch an der großen Glasscheibe, die in den Innenhof zeigte. Jenna entschied sich für einen grünen Salat mit Schafskäse mit einer lecker aussehender Soße, einem Brötchen und einer Flasche Wasser. Sie wollte sich gerade genüsslich darüber hermachen, als ihr Handy vibrierte. Wie ein darauf abgerichteter Hund entsperrte sie das Display, das sie und Greg zeigte, und klickte die Nachricht einer unbekannten Nummer an.

Sie sind nicht die Einzige, die auf Details achtet

Das war alles. Jenna begann, wie eine Idiotin zu grinsen und spürte, wie sich in ihr eine wunderbare, vertraute Wärme ausbreitete. Sie wusste sofort, wer das war.

Na, dann habe ich ja Glück.

Ja, Glück, dass ich Augen habe und ihren Abfall nicht einfach stehen ließ oder in den Müll geschmissen habe

Tut mir wirklich leid. Aber Verbrecher warten nicht …

Kein Problem, ich verstehe schon. Machen Sie sich keine Gedanken ;)

Jenna seufzte – offenbar etwas zu laut. Jeff, Damien und Stella sahen sie fragend an.

„Alles okay?“, fragte Damien und hielt in seinem Kauen inne.

Jenna guckte die drei an und lächelte scheinheilig. „Alles bestens“, sagte sie. Und tatsächlich fühlte sie sich so gut wie schon lange nicht mehr.

Kapitel 4

Sie fanden heraus, dass sie ungefähr zu denselben Zeiten Mittagspause hatten. Zwar musste Jenna diese ab und zu verschieben, wenn ihr wieder etwas dazwischen kam, aber Neela schien ihr das kein bisschen übel zu nehmen.

Sie trafen sich zwei Tage später auf eine Pizza – sie mussten draußen stehen in der Kälte, weil der Laden rappelvoll war und Keine der beiden Lust auf Gedränge hatte. Also nutzten sie den Vorsprung vor einem alten Schaufenster, auf dessen Scheibe „Zu vermieten“ stand, als notbedürftige Sitzmöglichkeit.

Einmal musste Jenna so sehr lachen, dass ihr die Pizza beinahe heruntergefallen wäre, was Neela so sehr zum Nachahmen animierte, sodass sie sich verschluckte und am Ende Tränen in den Augen hatte.

Es war wundervoll, jemanden gefunden zu haben, mit dem sie albern sein und über alberne Dinge lachen konnte – niveauhafte, alberne Dinge, was einen Unterschied zu den Konversationen mit ihren Kollegen darstellte. Sie boten sich kurz darauf das „Du“ an.

. . .

Ein paar Tage und das Wochenende über sahen sie sich nicht, aber das trieb keinerlei Keil zwischen sie. Sonntagabend telefonierten sie fast ganze zwei Stunden, und Jenna verfiel danach in einen so tiefen Schlaf wie schon lange nicht mehr – und das alles ohne auch nur einen Tropfen Tee. Neela tat ihr gut – sie war wie ein Seelenpflaster, eine Heilung für alles, das sie zuvor als Problem angesehen hatte.

Und da war noch etwas anderes, etwas, das Jenna nicht genau deuten konnte. Sie spürte nur, dass sich etwas veränderte. Und ob dieses Etwas positiver oder negativer Natur war, konnte sie wirklich nicht sagen. Das würde sich schon irgendwann herausstellen. Bis dahin war sie einfach nur zufrieden.

. . .

Mittwochabend brachten sie es endlich einmal fertig, sich zu verabreden. Irgendwie war es sofort klar gewesen, dass sie sich bei Jenna zuhause treffen würden. Neela würde um sechs Uhr kommen, sie hatten sich das Essen aufgeteilt – sie würde Reis und eine spezielle Soße nach indischem Rezept mitbringen, Jenna besorgte verschiedenes Gemüse und Tofu. Neela war Vegetarierin, hatte sie erfahren, und auch sie hatte kein Problem, auf Fleischliches zu verzichten.

Sie duschte ausgiebig und lief danach eine ganze Weile im Bademantel herum, um alles vorzubereiten. Sie ertappte sich dabei, wie sie zum ersten Mal seit langem darüber nachdachte, was sie anziehen sollte. Normalerweise nahm gerade das am wenigsten Anspruch in ihrem Leben ein. Für die Arbeit wählte sie momentan meist normale Shirts, einen Blazer darüber, oder ihre Rollkragenpullover. Jetzt aber war es anders. Jenna versuchte sich einzureden, dass sie ja schon ewig nicht mehr ZUHAUSE Besuch erwartet habe, dass sie deshalb nervös sei, und dass sie sich Gedanken über ihre Kleidung machte, da sie diesmal nichts Warmes brauchte.

Doch ihr wurde klar, dass man sich selbst nicht belügen konnte. Oder sie darin einfach verdammt schlecht war.

Irgendwann – sie hatte keine Ahnung, ob sie so lange benötigt hatte, wie es sich für sie anfühlte – fiel ihre Wahl auf ihre schwarze Jeans und ihr dunkelgrünes Shirt mit dem V-Ausschnitt. Jemand hatte ihr einmal gesagt, dass diese Farbe wunderbar zu dem grün ihrer Augen harmonierte.

Als es klopfte, fuhr sie fast zusammen. Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich selbst. Sie war einer der besten Detectives ihres Dezernats, und sie erschrak aufgrund etwas so Banalem? Jenna strich sich über die Haare, die sie offen gelassen hatte, und ging zur Tür. Ihr Herz machte einen seltsamen Hüpfer, als sie Neelas strahlendem Lächeln entgegensah. Sie war kleiner als sie, selbst jetzt, wo sie Stiefel und Jenna Socken trug, was ihr irgendwie gefiel.

„Hi“, sagte Neela.

„Hi“, entgegnete Jenna, irgendwie verwundert über sich selbst, da sie nicht diejenige war, die zuerst sprach. Sie schenkte Neela eine Umarmung, erhaschte den Geruch ihrer dunklen Haare, ehe sie sich wieder los ließen. „Nur herein in die gute Stube.“

Sie trat zur Seite und wiederstand dem Drang, ihrem Gast die Jacke von den Schultern zu nehmen.

Neela sah sich neugierig um, ehe sie den Mantel auszog und zu nicken begann. „Nun werde ich also Zeugin davon, wie eine Vancouver-Polizistin lebt.“

Jenna verhinderte gerade noch, ihren Arm zu berühren. Das letzte Mal, als sie das getan hatte, war vor zwei Jahren gewesen – als sie in ihrer letzten Beziehung gewesen war. Schnell verdrängte sie den Gedanken an die brünette Bankangestellte, die sie am Ende nur benutzt hatte. Die so falsch wie schön gewesen war.

„Willst du was trinken?“, fragte sie, ein wenig zu schnell, und mahnte sich gleich wieder zur Ruhe.

Neela nickte. „Gerne. Was hast du da?“

Und dann lief der Abend. Alles funktionierte. Es war schon beinahe zu perfekt. Keine peinliche Stille trat auf. Sie bereiteten das Essen in Schweigen zu, sprachen nur ab und zu, Neela erklärte ihr, wie man die Soße zubereiten musste. Es war, als hätten sie sich vieles zu sagen, aber beide wussten, dass sie Zeit hatten. Jenna fühlte sich einfach nur geborgen.

Das Essen war köstlich. Jetzt konnte sie ihre Besucherin noch mehr leiden als ohnehin – sie bewunderte Menschen, die Kochen konnten. Und, die dabei auch noch gut aussahen.

Sie ertappte sich, wie sie Neela über den Rand ihres Glases hinweg beobachtete. Sie hatte eine gewisse Eleganz an sich, irgendwie graziös. Ihre Aura war magisch, ihre Haare glänzten nun fast tiefschwarz. Jenna könnte schwören, dass sie seidig weich waren, und hatte das dringende Bedürfnis, sie zu berühren. Das royalblaue Oberteil schmeichelte ihrem Körper, und erneut trug sie ihre silberne Kette. Jenna kniff die Augen zusammen, konnte aber nur erkennen, dass es etwas filigranes, sehr fein Gearbeitetes war.

„Was ist das für ein Anhänger?“, fragte sie also. Neela sah auf. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, was niedlich aussah, weil sie noch kaute.

„Der hier?“ Sie tippte sich auf die Kette. Jenna nickte. „Eine Lotusblüte.“ Neela legte ihr Besteck ab, verschränkte die Arme im Nacken und löste den Verschluss. Sie reichte Jenna die Kette über den Tisch. Das Silber lag warm und angenehm in ihren Händen, ihre Haut schien zu pulsieren. Sie betrachtete den Anhänger, der im Licht funkelte. „Die Lotusblüte ist ein heiliges Symbol im Hinduismus mit vielen Bedeutungen.“

Jenna nickte langsam. „Sie ist wunderschön.“ Sie sah auf und lächelte. „Sie passt zu dir.“

Ein Mikroausdruck trat in Neelas Augen, und da wurde Jenna bewusst, was sie gesagt hatte. Oder besser, was ihre Worte bedeuteten. Schnell senkte sie den Kopf, hoffend, dass sie nicht rot wurde, und gab Neela die Kette wieder zurück. „Wofür steht er?“, fragte sie etwas zu hastig für ihre Verhältnisse und versuchte, so ein anderes Thema einzulenken. Als würde es sie vor etwas schützen, schob sie sich schnell eine Gabel Reis in den Mund.

Glücklicherweise ging Neela sofort auf ihre Frage ein. Entweder, sie hatte Jennas Reaktion nicht bemerkt, oder sie war ebenfalls froh über den Themawechsel. „Der Lotus steht für Reinheit, die Schöpfung und auch die Welt. Die Blütenblätter stellen dabei die vier Himmelsrichtungen dar. Er fungiert sozusagen als … Wegführung zum inneren Frieden. Und als ein Zeichen für Neubeginne und Wiedergeburt.“

Jenna überlegte für ein paar Momente, ob sie Neela von ihrem Tattoo erzählen sollte. Jetzt, da sie schon bei bedeutungsvollen Dingen waren. Aber aus irgendeinem Grund entschied sie sich dagegen.

Das Abendessen genüsslich verspeist, machten sie sich ans Aufräumen. Neela gähnte. Jenna grinste, und Neela hielt sich schnell die Hand vor den Mund und schlug die Augen nieder.

„Verzeihung“, sagte sie und klang doch tatsächlich beschämt. „Ich wollte dir nicht das Gefühl geben, gelangweilt zu sein.“

„Gähnen kann auch von Sauerstoffmangel kommen.“ Ihr Grinsen wurde breiter. „Ich bin außerdem Detective. Ich errate deine Körpersprache.“

Das war gelogen. Bezogen auf Neela schienen ihre Beobachtungsgaben Urlaub zu machen.

„Na, das ist ja beruhigend“, sagte Neela, aber sie lächelte dabei. Jenna warf einen Blick nach draußen.

„Apropos Sauerstoffmangel“, fing sie an. „Sollen wir eine Runde spazieren gehen?“ Sie drehte sich herum.

Neela verzog den Mund. „Ehrlich gesagt finde ich Vancouver bei Nacht und klirrender Kälte nicht sonderlich sexy“, sagte sie also.

Jenna lächelte. „Wir sind also beide keine Wintertypen“, kombinierte sie, während sie ihr Glas erneut mit Wasser füllte. Neela strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und lachte nervös. Auch sie trug sie heute offen, was sie selten tat, hatte Jenna bemerkt.