Camouflage - Svenja-Maria Lurk - E-Book

Camouflage E-Book

Svenja-Maria Lurk

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Beschreibung

Als eines Abends ein junger Mann vor ihrer Tür steht und behauptet, ihr verstorbener Sohn Fynn zu sein, wird Catriona Haige bewusst, dass sie die letzten 15 Jahre mit einer Lüge gelebt hat. Eine Lüge, die auf einer Verschwörung basiert. Gemeinsam mit Fynns Freunden Angelique und Keanu machen sie sich auf, die Ursache des Komplotts aufzudecken. Mitten in der Wüste Kansas' machen sie eine erschreckende Entdeckung - und zwar, dass die verantwortliche Untergrundorganisation bald nicht mehr aufzuhalten ist. Wenn sie nicht rechtzeitig herausfinden, welche Rolle Fynn in der ganzen Sache spielt, könnte es nicht nur die Zukunft und das menschliche Leben auf der Erde für immer verändern. Niemandem ist bewusst, dass das, was diese Wissenschaftler entfesselt haben, bereits kaum mehr zu kontrollieren ist ...

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Für Nicole

Wer weiß, ob ich ohne dich je so weit gekommen wäre. Ich danke dir für deine grenzenlose Unterstützung und die wundervollen, verrückten Momente, von denen wir hoffentlich noch viele weitere haben werden : )

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

KAPITEL 1: Angel with a shotgun

KAPITEL 2: Genesis

KAPITEL 3: Happiness

KAPITEL 4: Welcome Home, Son

KAPITEL 5: When I look at you

KAPITEL 6: St. Elmo’s fire

KAPITEL 7: The last of the real ones

KAPITEL 8: Safe and sound

KAPITEL 9: Adventure of a lifetime

KAPITEL 10: To build an Army

KAPITEL 11: Before the dawn

KAPITEL 12: Night of the hunter

KAPITEL 13: Sidyana

KAPITEL 14: Strange young world

KAPITEL 15: Escape

KAPITEL 16: Hot cargo

KAPITEL 17: Still a soldier

KAPITEL 18: Radioactive

KAPITEL 19: Desert rose

KAPITEL 20: Hurricane

KAPITEL 21: Am I not human?

KAPITEL 22: 24

KAPITEL 23: Stallion

KAPITEL 24: They own this town

KAPITEL 25: Enchantment

KAPITEL 26: Science and Faith

KAPITEL 27: Crashing down

KAPITEL 28: Paranoia

KAPITEL 29: Horus

KAPITEL 30: I found

KAPITEL 31: You will count your dead

KAPITEL 32: One more light

KAPITEL 33: This is the end

KAPITEL 34: Homecoming

KAPITEL 35: Leave out all the rest

KAPITEL 36: Walking in Memphis

PROLOG

`` Exodus ´´

Two Steps from Hell

Es gibt ein paar ganz bestimmte Dinge, die immer und zu jeder Zeit auf meinem Schreibtisch zu finden sind. Würde man eine Charakterisierung über mich schreiben, müssten wohl genau diese Gegenstände auch darin vorkommen. Jeder hat seinen eigenen Platz – ich weiß selbst nicht, warum, aber wenn mir jemand diese Ordnung durcheinanderbringt, raste ich aus.

Rechts an der Seite meines Tisches, der eigentlich aus einer Platte besteht, die an der Wand unter einem Regal festgeschraubt ist, liegt mein Blankoblock. Von außen ganz schön zerfleddert, aber wie man so schön sagt, man soll sich nicht von dem Äußeren täuschen lassen. Meine Zeichnungen bewahre ich in einer Schublade darunter auf, ein Schloss davor. Möge man mich paranoid nennen, aber was ich zeichne, geht nur mich etwas an. Irgendwo steht meist noch eine Dose Monster-Energy Booster, häufig die Zero-Kalorien-Version. Das hilft mir, auf Hochtouren zu kommen – auch, wenn sich der Gebrauch danach in letzter Zeit deutlich herabgesetzt hat. Als würde mein Gehirn von Woche zu Woche schneller und leistungsfähiger arbeiten.

Aber das Wertvollste sind meine Malkreidestifte. Besonders die blauen, roten und hautfarbenen Töne. Ich besitze eine ganze Palette mit den verschiedensten Nuancen jeder dieser Töne – von türkis zu azurblau, von orangerot bis zu tiefem kastanienrot, und drei verschiedene, helle Brauntöne. Bleistifte benutze ich dafür nicht, denn ich brauche sie nicht – es gibt keine Korrekturen, wenn ich diese besonderen Bilder zeichne.

Ich habe ein außergewöhnliches Gedächtnis, ich kann Dinge in Form von Zeichnungen aufs Papier bringen, sodass sie täuschend echt wirken. Insbesondere in Bezug auf eine ganz bestimmte Person. Es sind nicht nur Bilder für mich. Es sind Erinnerungen. Erinnerungen an eine Frau, die ich nie so kennenlernen konnte, wie ich es wollte.

Mein Leben lang hat man mir erzählt, meine Mutter sei bei einem Unfall ums Leben gekommen. Deshalb wäre ich in diesem Heim. Niemand will oder wollte mir verraten, wer mein Vater ist oder war – ich erinnere mich nicht an ihn. Aber das Gesicht meiner Mutter hat mich verfolgt, in meinen Träumen, den Tag über hinweg, vor dem Einschlafen, einfach immer. Ich glaubte, sie überall zu sehen.

Aber es hatte nicht mich gestört, sondern die anderen. Unser hauseigener Psychologe – jedenfalls gibt er vor, ein solcher zu sein, ich traue ihm jedenfalls nicht – meinte, das seien meine verborgenen Wünsche, mein Drang, sie bei mir zu haben. Ich vermisste sie, sagte er, und deshalb würde ich mir vorstellen, sie wäre bei mir.

Natürlich vermisse ich sie. Für diese Diagnose brauche ich keinen Psychologen. Aber das ist nicht der Grund dafür, dass ich jetzt gerade wie so oft an meinem Schreibtischbrett sitze und mir ein Kribbeln über den Rücken läuft, sobald ich die ganz bestimmte, blaue Kreide in die Hand nehme.

Es heißt nicht ohne Grund, dass die Augen der Spiegel der Seele sind. Wahrscheinlich hätte ich mich niemals so sehr auf diese übernatürlich-spirituellen Gedanken eingelassen, wäre die Mutter meiner besten Freundin nicht ein Medium gewesen - ein Mensch, der zu Toten eine Verbindung herstellen kann. Angelique hat mir gezeigt, ja versucht, mir zu beweisen, dass es andere Dimensionen gibt. Dimensionen, die wir wahrnehmen können, wenn wir uns nur darauf einlassen. You only see what your eyes want to see, zitiert sie in diesem Zusammenhang oft Madonna. Sie liebt Madonna. Sie meint, jede Frau sollte das.

Die Augenfarbe meiner Mutter ist nicht nur blau, sondern blaugrün. Wie das Meer, dunkel und schattiert, und je nachdem, wie das Licht darauf fällt, bekommt es eine andere Nuance. Ihre Augen male ich immer zuletzt, denn dann habe ich das Gefühl, sie zum Leben zu erwecken.

Deshalb kribbelt es mich dabei immer von oben bis unten, so wie jetzt. Ich beginne immer mit ihren Haaren, die genauso charakteristisch für sie sind – es ist eine Mischung aus Rotblond und Kupfer, in dunklere Töne übergehend. Wie das Fell eines Fuchses, der durch den Wald streift und auf den die Sonne fällt.

Als ich alt genug war um zu zeichnen, begann ich, von ihr Bilder zu malen. Die alten Entwürfe habe ich immer noch – wer weiß, vielleicht mache ich irgendwann ein Büchlein daraus.

Zunächst war es pures Gekritzel, man erkannte nur rot und dunkelblau. Diese Farben haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt.

Aus dem Gekritzel wurden Skizzen, immer detaillierter, bis ich ein Gefühl für Farben bekam und die Begabung fand, Gesichter zu zeichnen.

Ich war elf, als ich zum ersten Mal das Gesicht meiner Mutter wieder vor mir sah – schwarz auf weiß und nicht nur mental repräsentiert in meinem Kopf.

Seitdem bessere ich aus – ich mache sie immer ein wenig älter, rechne nach, wie alt sie wäre. Auf meiner ersten brauchbaren Zeichnung ist sie etwas älter als 30; jetzt muss sie wohl in den späten Vierzigern sein.

Ich weiß, dass sie nicht tot ist. Da ist immer etwas in mir, das mich spüren lässt, dass sie noch da ist. Irgendwo, aber da. Angelique würde es wohl Intuition oder Mutter-Kind-Band nennen. Wer weiß, was es ist. Es ist mir egal. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass es real ist.

Ich setze einen letzten, weißen Punkt, um eine Spiegelung anzudeuten und ihre Augen lebendiger wirken zu lassen. Ich greife nach dem Booster, leere den Inhalt und knülle die silberne Dose zusammen, um sie später als Fußball zu nutzen. Als das hohle Klappern in der Ecke meines Zimmers verstummt, halte ich das Bild hoch. Ich starre ihr Gesicht an, als könnte ich es damit zum Sprechen bringen.

Mein Name ist Fynn.

Und ich muss meine Mutter finden, bevor ein paar größenwahnsinnige Wissenschaftler die Erde ins Verderben stürzen.

KAPITEL 1

`` Angel with a shotgun ´´

The Cab

Das plötzliche Ertönen einer knarzenden Stimme ließ sie zusammenzucken. Ihr Herz machte einen Sprung und ihre Hand schnellte reflexartig zur Seite.

„ … werden in zwanzig Minuten landen“, war alles, was sie von dem Satz des Piloten noch mitbekam. Langsam beruhigte sich ihr Puls wieder, als ihr Gehirn realisierte, dass es keinen Grund zur Beunruhigung gab. Catriona strich sich eine Strähne ihrer tizianroten Haare aus der Stirn und richtete sich auf.

„Na? Ausgeschlafen?“, fragte eine Stimme neben ihr. Catriona folgte dem Klang und begegnete einem grinsenden Männergesicht. Ein verhaltenes Lächeln umspielte ihre Lippen.

„Ich habe gar nicht bemerkt, dass ich weggetreten bin.“ Sie fühlte, wie sich ein Gähnen ihren Hals hinaufschlich, und hielt sich schnell den Handrücken vor den Mund. „Meine Güte, ich werde wirklich alt.“

Otis lachte. „Wir sind schon seit mehr als 24 Stunden unterwegs, da wird man irgendwann müde.“

Catriona zuckte mit den Schultern. „Eine Frau denkt über solche Dinge nach. Mit 47 fühlt man sich nicht mehr wie 30.“

Otis legte den Kopf schief. Der dunkelhäutige Hüne könnte einem Angst machen, wären da nicht seine liebevollen, warmen Augen. Sie würde ihm ihr Leben anvertrauen und sie wusste, er würde sie nicht enttäuschen.

„Du hast es immer noch drauf, Cat. Das weißt du.“ Das Lächeln auf seinen Lippen wurde zu einem Grinsen. „Besonders deine Ausstrahlung. Weißt du eigentlich, dass der eigentliche Grund für deine Beziehungsflaute ist, dass sich alle Kerle vor dir fürchten?“

Sie hob eine Augenbraue, bevor ihr ein ungläubiges Lachen entfuhr. Otis war einer ihrer besten Freunde, aber die andere Seite einer Beziehung konnte er dadurch schließlich nicht füllen. Und auch wenn sie ein Dickkopf war und sich selbst als sehr emanzipiert sah, hatte auch sie Bedürfnisse – und wusste nicht genau, ob sie seine Worte als Kompliment ansehen sollte.

„Männer haben Angst vor mir?“

Otis lachte, was seine Schultern beben ließ. Wenn er betrunken war und einen Lachanfall bekam, konnte er damit ein halbes Erdbeben auslösen.

„Na hör mal. Eine Schottin mit medizinischer Ausbildung, die bei den Ärzten ohne Grenzen mitarbeitet, einige Jahre beim Militär vorweisen kann und nach einer berühmt berüchtigten Königin benannt wurde. Da fragst du noch und glaubst, dass ich dich anschwindele, nur um dein Ego zu stärken?“

Sie schenkte ihm ein sekundengleiches, beinahe zustimmendes Lächeln, bevor sie erneut nachdenklich wurde.

Blake hatte keine Angst vor ihr gehabt. Er hatte vor nichts Angst gehabt. Außer vielleicht vor dem, was dann passiert war. Aber, und das war ihr selbst klar, sie hatte sich über die letzten Jahre hinweg ebenfalls sehr verändert. Ihre äußere Hülle war härter geworden, aber über ihre Gefühle war sie sich nicht so sicher.

Als Catriona spürte, wie ihr die Traurigkeit über die Vergangenheit den Hals hinaufgekrochen kam, wendete sie sich ab. Sie starrte aus dem Fenster und beobachtete, wie die Wolken sich langsam auflösten und darunter Land zu erkennen war. Sie mussten bereits über Tennessee sein, je nachdem, von wo aus sie einflogen – es könnten jedoch auch Kentucky oder Alabama sein.

„Kaum jemand kennt meinen Zweitnamen, also können wir diese Voreingenommenheit schon gleich einmal ausschließen. Und woher sollen die wissen, woher ich stamme?“, meinte sie. „Auch andere Menschen haben rote Haare. Und mein Akzent“ Sie räusperte sich und sprach auf Schottisch: „Der wird nur hörbar, wenn ich mich darauf konzentriere.“

Otis schien sich nicht von seiner Meinung abbringen zu lassen. Auf seinen skeptischen Blick hin fügte sie hinzu: „Außerdem bin ich lediglich eine Amerikanerin mit schottischen Wurzeln. Meine Mutter ist Schottin und mein Vater war ein gemäßigter Republikaner, der glücklicherweise die Emanzipation der Frau akzeptierte und meiner Entscheidung, zur Army zu gehen, als Einziger zustimmte.“

Otis hob die Augenbrauen. „Aha. Daher also dein Hang zum Feminismus.“

Catriona richtete sich kerzengerade auf und blickte ihn an, fast provozierend. „Dieser Feminismus kommt daher, weil ich eine Frau bin. Und es gibt keinen Grund, darauf nicht stolz zu sein.“

Otis‘ schelmischer Ausdruck verschwand und verwandelte sich in das freundliche Gesicht, das sie so an ihm schätzte und lieben gelernt hatte. „Weißt du was?“ Er streckte die Hand aus und drückte die ihre. „Deshalb mag ich dich. Du bist so wunderbar forsch und ehrlich.“

Catriona begegnete seinem Blick, ehe sie ihre Hand umdrehte, sodass sie ihre Finger um seine schlingen konnte. Ein paar Minuten hielten sie beide schweigend inne, lauschten dem Surren der Turbinen.

„Ich bin froh, dich zu haben, Otis.“ Sie suchte seinen Blick. „Ich hoffe, du weißt das. Es gibt nicht viele Menschen, über die ich dasselbe sagen würde.“

Um 17 Uhr 13 durchbrachen sie den Rest der Wolkendecke, die so den Blick auf ihre Heimatsstadt freigab. Catriona schob sich einen Kaugummi in den Mund, um den Druck in ihren Ohren auszugleichen. So oft sie in ihrem Leben schon geflogen war, sie hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt – geschweige denn konnte sie das Fliegen leiden. Aber der Grund und Sinn hinter dem, weshalb sie sich stundenlang über den Wolken aufhielt, war wertvoller als jegliche negativen Aspekte oder Unbequemlichkeiten, die dadurch entstanden.

Als das Flugzeug nach der Landung endlich zum Stehen kam und überall um sie herum das vertraute Klicken der sich öffnenden Sicherheitsgurte ertönte, seufzte Otis laut auf. Er erhob sich und gab gleich darauf ein Stöhnen von sich. „Mein armer Rücken“, jammerte er.

Catriona grinste. „Du Hypochonder.“ Sie gab ihm einen Klaps mit der Zeitschrift, die sie während des Fluges gelesen hatte. Reiner Zeitvertreib. Gewöhnlicher Weise las sie nicht einmal Romane. „Wenn sich hier jemand beschweren darf, dann ich. Meine Knochen sind älter als deine.“

Otis warf ihr einen Hundeblick zu. „Ich bin es nun einmal nicht gewohnt, stundenlang in derselben Pose zu verweilen.“

Catriona, die genau wusste, auf was er anspielte und dass er sie necken wollte, hob die Augenbrauen. „Ach, seit Neustem nennt man die Einsätze der Streitkräfte also „in derselben Pose verweilen“.“ Sie schnallte sich ab und nickte über Otis‘ Schulter Richtung Gang. „Na los, alter Mann. Seien Sie ein Gentlemen und holen Sie mir mein Handgepäck.“

Während Otis ihrem Befehl nachging, erhob sie sich und strich ihre beigefarbene Leinenhose glatt. Sie war froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Die Luft war noch nie ihr Element gewesen, weder aus astrologischer noch astronomischer Sicht.

Nachdem sie ihre Taschen vom Gepäckband geholt hatten, machten sie sich auf den Weg zum Ankunftsterminal. Es war erstaunlich belebt in der Halle, fast wie in der Hochsaison während der Ferien.

Draußen bei den Parkplätzen wurden sie bereits von einer Frau und einem Jungen im Teenager-Alter erwartet. Otis begann zu strahlen, als er seine Schritte beschleunigte und seiner Familie entgegenlief. Mit einem Lächeln betrachtete Catriona die Szene und hielt sich höflich im Hintergrund, bis sie sich begrüßt hatten. Sie fühlte eine seltsame Mischung aus Melancholie und Freude in sich aufkommen, als sie die drei beobachtete.

Schließlich blieb der Blick seiner Frau auf ihr hängen.

„Hallo Catriona“, begrüßte Sheela sie mit dem Strahlen einer lebenslustigen Südstaatlerin und einer herzlichen Umarmung. „Schön, dass ihr wieder da seid.“

Catriona machte ein High-Five mit Tyrone und erkundigte sich, wie es ihm ging.

„Die Ferien waren super“, lautete seine Antwort. „Mein Kumpel hatte Geburtstag. Wir hatten eine riesige Halle ganz für uns, mit DJ und einem Buffet, das man kaum leer essen konnte, so viel war das. „Das große Fressen“ nannten wir die ganze Feier.“

Catriona grinste. Sie war sich sicher, dass er mit „Buffet“ auch den Alkohol mitzählte, aber weder sie noch er sprachen es aus. Er war ein guter Junge, sie kannte ihn seit etwa sechs Jahren, und sie mochte ihn. Es hatte sich zu einem Hobby ihrerseits entwickelt, mit ihm Basketball zu spielen, wann immer sie bei Otis und Sheela eingeladen war. Und fast war es, als hätten die drei sie in ihre Familie aufgenommen. Denn sie wussten, dass sie genau eine solche vermisste.

„Wie kommst du nach Hause?“, fragte Sheela schließlich.

Catriona sah sich um. „Ach“, sagte sie. „Ich kann ein Taxi nehmen.“

„So ein Quatsch. Du fährst mit uns.“ Im selben Moment nahm Otis ihr auch schon die Reisetasche aus der Hand.

Catriona lachte kopfschüttelnd. „Ich muss aber noch einkaufen“, sagte sie, als Tyrone seinem Vater alle Ehre machte und sie Richtung Auto schob.

Sheela lächelte zufrieden. „Das trifft sich gut. Ich nämlich auch. Und danach fahren wir dich nach Hause.“

Und da sie wusste, dass Widerstand zwecklos war, ließ sie sich von Tyrone zum Auto ziehen und nahm neben ihm auf dem Rücksitz Platz.

Auf der Fahrt zum nächstgelegenen Supermarkt löcherten Sheela und Tyrone die Beiden mit Fragen.

„Könnt ihr jetzt Hindi sprechen?“, lautete eine Frage des Jungen.

Otis lachte, Catriona zuckte mit den Schultern. „Ich wünschte es“, sagte sie. „Aber außer „Namaste“ und ein paar Flüchen, die es nicht wert waren, sie sich zu merken, weiß ich nichts mehr.“

„Ich glaube auch, dass ihr andere Sorgen hattet als die Sprache der Einheimischen zu lernen“, meinte Sheela und ihre Stimme signalisierte deutlich den Hintergrund ihrer Gedanken. Catriona nickte nachdenklich. Die Erlebnisse, mit denen sie konfrontiert wurden, machten ihr immer wieder bewusst, wie gut sie es doch hatten. Welches Glück sie hatten, dort zu leben, wo sie lebten. Mit einem Dach über dem Kopf, einem Job, einer guten Gesundheitsversorgung.

Sie ließ ihre Augen über die vorbeihuschenden Häuser und langsam dichter stehenden Läden wandern. Vor ihrem inneren Auge verschwamm alles und verwandelte sich in zerfallene Hütten und Straßenschluchten, in denen abgemagerte Hunde nach Futter suchten und Kinder zwischen Müllbergen spielten. Als sie an das kleine Mädchen mit dem verkrüppelten Bein dachte, trat ihr eine vertraute und ebenso verhasste Feuchtigkeit in die Augen.

Schnell blinzelte sie. Die Sicht vor ihr wurde wieder zum vertrauten Memphis, mit seinen bunten Gebäuden und den zu dieser Zeit geschäftigen Straßen.

Sie konnte die Welt nicht retten, das stimmte. Das war wohl einer der meistgesprochenen Sätze ihrer Mutter. Aber sie konnte etwas dazu beitragen, dass sich die Situation einiger Menschen wenigstens für einige Zeit verbesserte. Und das war noch immer besser als nichts.

Otis bog auf den Parkplatz ein und parkte im Schatten einer Akazie. Während Vater und Sohn sich stritten, welche Musik sie in der Zwischenzeit anhören sollten, machten sich die beiden Frauen auf zum Einkaufen.

„Eine Regel, die ich in den letzten 16 Jahren gelernt habe, ist, niemals mit Otis oder Tyrone einkaufen zu gehen“, sagte sie, als sie durch die Tür traten und ihnen die kühle Luft entgegenschlug. „Du kommst mit wesentlich mehr unnützem Zeug heraus, als du eigentlich vorgehabt hattest zu kaufen.“

Catriona lächelte mitleidig. Sie wusste, was Sheela meinte. Aber dennoch würde sie alles dafür geben, mit quengelnden Menschen und „unnützem Zeug“ nach Hause zu kommen.

Alles erledigt und in der Schlange stehend nahm sie ihr Handy hervor. Sie scrollte durch ihre Kontaktliste, bis sie beim letzten Kontakt des Buchstaben „B“ angekommen war. Ihr Herz machte einen kleinen, kaum spürbaren Satz, als sie seine Nummer anklickte.

Bin soeben gelandet. Alles ist gut gelaufen.

Mehr schrieb sie nicht. Sie wusste, es war nicht nötig.

Die Connors setzten Catriona direkt vor dem Haus, in dem sich ihre Wohnung befand, ab. Otis trug ihr die Tasche noch bis vor die Tür, wo sie sich herzlich umarmten.

„Es ist schön, dich bei dieser ganzen Sache dabei zu haben“, flüsterte er ihr ins Ohr.

Sie erwiderte mit einem Lächeln und drückte ihn noch einmal. „Ganz meinerseits, DOC.“ Das war ihr Spitzname für ihn, eine Abkürzung für „Doctor Otis Connor“. Auch wenn es ein Kürzel für Gefängnisinsassen war, sie mochte ihn, und Otis schien ebenfalls nichts dagegen zu haben.

Sie winkte dem Auto nach, ehe sie die Tür zu dem Wohnhaus aufschloss und den Flur betrat. Ihre Wohnung lag im zweiten Stock, weshalb sie es nicht für nötig empfand, den Fahrstuhl zu nehmen. Vor ihrer Tür angekommen steckte sie den Schlüssel, an dessen Anhänger ein kleiner, silberner Asklepiosstab hing, hinein und schloss auf.

Manchmal hatte Catriona das Gefühl, ihr vertrautes Heim begrüße sie. Heute erschien es ihr wie ein „Schön, dass du wieder da bist“. Und sie war in der Tat froh, wieder zuhause zu sein.

Nachdem sie ihre Schuhe neben der Tür abgelegt hatte, steuerte sie als erstes ihr Schlafzimmer an und begann, dort ihre Umhängetasche auszupacken. Mit einer fast ehrfurchtsvollen Geste legte sie das Armband, welches ihr drei Mädchen gebastelt hatten, auf den Schrank gegenüber dem Bett. Es bestand aus drei dünnen Lederbändern, auf die verschiedenfarbige Holzperlen aufgefädelt waren.

Die Wand darüber zierten ein Duzend Bilder in chronologischer Reihenfolge, angefangen mit ihrem ersten Einsatz in Guatemala. Von fast jedem Trip brachte sie etwas mit – nicht, weil sie ihr Ego damit stärken wollte, sondern, um die schönen Momente in Erinnerung zu halten. Mal war es Schmuck, eine Zeichnung auf der Hand, ein Kleidungsstück. Es tat ihr gut, zu wissen, dass sie mit ihrem Handeln etwas erreichen konnte. Das war schon immer ihr Charakter gewesen – egal, ob es Menschen, Tiere oder die Natur betraf. Sie wollte etwas zum Allgemeinwesen beitragen. Denn wenn nicht, dachte sie oft, warum wäre sie dann hier? Sie glaubte daran, dass jeder Mensch eine Aufgabe in seinem Leben hatte.

Ihre war es, zu helfen und zu kämpfen.

Sie hatte zwar nicht viel mitgenommen, aber ihre Klamotten hatten einen Gang durch die Waschmaschine dringend nötig. Die Tasche ausgepackt beschloss sie, auch sich selbst eine Dusche zu gönnen. Im Bad begann sie, ihre Bluse aufzuknöpfen, und bemerkte erst, als ihr die Augen schwer wurden, dass sie die ganze Zeit ins Nichts gestarrt hatte. Sie erhaschte einen Blick im Spiegel – und hielt inne.

Niemals würde sie darüber hinwegkommen. Körperliches verheilte, aber es hinterließ Spuren im Herzen. Und es gab Momente, in denen diese Spuren zu klaffenden Wunden wurden und plötzlich und ohne Vorwarnung aufrissen, obwohl man gedacht hatte, es überstanden zu haben. Der einzige Unterschied war, dass Catriona wusste, dass Letzteres nicht auf sie zutraf.

Bedächtig streckte sie ihre linke Hand aus und berührte mit den Fingerspitzen die kaum sichtbare Narbe, die sich ein paar Zentimeter auf ihrem Unterbauch entlang zog. Sie tat das immer mit der linken Hand – die weibliche Seite, die der Intuition und des Gefühls. Die Körperseite, die mit der Vergangenheit in Verbindung stand.

Es war der 27. Mai gewesen. Der Himmel war blau, vereinzelte Wölkchen ließen hin und wieder etwas Regen auf die Erde fallen. Doch für sie war es der furchtbarste Tag ihres Lebens. Der Tag, an dem das passierte, was sich niemand auch nur in seinen tiefsten Albträumen vorstellen wollte. Das Schlimmste, das einer Mutter oder einem Vater widerfahren konnte.

Blake hatte gesagt, er nehme ihn mit zum Kindergarten. Das kam selten vor, da er immer sehr früh arbeiten gehen musste oder oft unter der Woche weg war. Sie hatte beiden Frühstück gemacht, dem Kleinen sein Lieblingsmüsli mit den Schokostreuseln und den Cornflakes. Da es Freitag war, gab es auch Orangensaft – das war eine Art Ritual. Vor der Tür schließlich hatte sie sich hinuntergebeugt, seine blaue Jacke mit den grünen und weißen Punkten darauf zurechtgezogen und ihm einen Kuss auf die Stirn gegeben, mit den Worten „Ich hab dich lieb“. „Ich hab dich auch lieb“, hatte er geantwortet. Dabei hatte er gelächelt – dieses süße, unschuldige Lächeln, bei dem man seine Zahnlücke sehen konnte. Diese Zahnlücke, auf die er so stolz war. Er sei ein tapferer Pirat, sagte er dann immer und zeigte darauf. Den Zahn habe er im Kampf gegen seinen Feind verloren – wenn man ihm Glauben schenken wollte. Seine Freunde taten es.

Seine Augen hatten gefunkelt wie blaue Murmeln, ein wenig nervös, aber glücklich. Ja, er war ein glückliches Kind gewesen. Ein glückliches Kind voller Fantasie, dessen Atem sie auf der Wange kitzelte, wann immer sie es umarmte.

Das war das Letzte, was sie jemals wieder von ihm gehört hatte. Der letzte Moment, als sie in sein Gesicht gesehen hatte, war gewesen, als er ins Auto gestiegen war. Die Zahnlücke, das Grinsen, die funkelnden Augen.

Und dann dieser Anruf – nur etwa eine halbe Stunde später. Der Anruf, der ihr Leben für immer verändert und ihr Herz zu einem schwarzen Loch gemacht hatte. Der ihr sagte, dass sie das Wichtigste, das sie liebte, verloren hatte.

Sie hatte Blake Vorwürfe gemacht, hatte ihn angeschrien. Sie hatte ihm die Schuld gegeben, und im Nachhinein war das etwas, das sie zutiefst bereute. Sie tat das nicht oft. Für sie war die Vergangenheit vorbei, etwas, das nicht rückgängig gemacht werden konnte. Alles hatte seinen Grund. Aber wenn sie diesen Tag noch einmal erleben könnte, würde sie alles dafür tun, dass Fynn, ihr Sohn, nicht in diesem Auto gesessen hätte.

Catriona wischte sich über die Augen, als sie spürte, wie diese wässrig wurden. Schnell entledigte sie sich ihrer restlichen Kleidungsstücke, schnappte sich ein Handtuch und stieg in die Dusche. Als das heiße Wasser auf ihren Körper prasselte, hielt sie das Gesicht direkt in den Strahl. Auch um zu versuchen, die Trauer in sich abzutöten. Erneut.

Ihr ganzes Leben lang hatte sie eine Schutzmauer um sich aufgebaut, und diese war durch diesen Verlust nur noch stärker geworden. Womöglich war sie nur nicht daran zerbrochen, weil sie sich Hilfe gesucht hatte – seitdem gehörte ihre Psychologin zu einem wichtigen Teil ihres Lebens, auch, wenn ihre Besuche von Monat zu Monat weniger wurden. Die Traumata der Army hatte sie weitestgehend überwunden und außer selten vorkommenden Albträumen spürte sie davon nichts mehr. Der Verlust des eigenen Kindes aber war etwas, worüber man niemals hinwegkommen würde. Sie war kein Mensch, der seine Gefühle vertuschte – ihr Name bedeutete nicht umsonst „Die Wahre“. Sie wusste, nur, wenn sie ihre Emotionen zuließ, sie sich eingestand, konnte sie damit fertig werden. Ehrlichkeit war eine ihrer Grundcharakterzüge. Auch wenn diese manchmal wehtat.

Ihr Sohn war an einem besseren Ort, hatte sie sich eingeredet. Er hatte den Weg des Mondes gewählt. Auch wenn sie ihn nicht sehen konnte, würde er immer da sein.

Umgezogen in eine Jogginghose und ein Top ging sie zurück ins Wohnzimmer. Ihr Handy, welches sie auf dem kleinen, gläsernen Tisch vor dem Sofa abgelegt hatte, blinkte und signalisierte ihr eine Nachricht. Sie griff danach, drehte es herum und klickte die Nachricht an.

Willkommen zurück. Diese Menschen haben Glück, dass du dich für sie einsetzt.

Das war alles. Und es genügte ihr.

Bei vielen Menschen kamen die Sorgen und Ängste nachts aus den Ecken gekrochen, wenn es dunkel war und man Zeit hatte, über diese nachzudenken. Vielleicht lag es daran, dass sie es sich abtrainiert hatte, in ihrem Bett über solche Dinge nachzugrübeln. In der Zeit bei der Army hatte sie gewusst, dass sie schlafen musste - es hatte keine andere Möglichkeit gegeben, Kräfte zu tanken. Eigentlich aber war der Grund ein anderer: für sie hatte die Nacht eine schöne Seite. Dann fühlte sie sich den Verstorbenen, die sie geliebt hatte, verbunden. Dann wusste sie, dass sie nicht allein war. Fynn war bei ihr, wenn es Nacht war. Der Mond schien für ihn, er schien für sie. Sie wurde sentimental bei Sonnenuntergängen – wenn es weder Tag noch Nacht war. Als trudele sie in einem Strom zwischen Diesseits und Jenseits, aus dem es kein Entkommen gab.

Genau wie jetzt. Jetzt krochen die Gedanken an damals in ihr Gedächtnis zurück und ließen ihr Herz verkrampfen und schmerzen, alles zugleich. Dass Blake ihr genau jetzt geschrieben hatte, machte die Sache nicht unbedingt besser.

Auch wenn die Erinnerung, die kam, wunderschön war. Wunderschön und schmerzlich zugleich.

Sie hatten sich aus den Augen verloren, Blake und sie, insbesondere, nachdem sie zur Army zurückgegangen war. Bis sie eines Tages ein Brief erreicht und er ihr darin sein Herz ausgeschüttet hatte. Catriona war nie ein sonderlich sensibler oder gar gefühlsbetonter Mensch gewesen, im Gegenteil. Sie weinte bei Filmen nicht, sie hatte es nie getan. Fiktive Geschichte zeigten kaum Wirkung bei ihr, vielleicht war sie deswegen weder ein Fan vom Lesen oder Fernsehen. Die Schicksale anderer Menschen berührten sie, aber sie zerbrach nicht dabei. Sie lebte nach einem von Ghandis Grundsätzen, der besagte, dass Mitgefühl stärker und positiver war als Mitleid. Und doch hatte sie das Gefühl, je älter sie wurde, desto stärker wurde diese emotionale Seite in ihr.

Als sie zurück vom Einsatz gekommen waren, hatte Blake sie überrascht und sie am Flughafen erwartet. Dann waren ihr die Tränen gekommen. Alles, was sich über die drei Jahre, in denen sie sich nicht gesehen hatten, angesammelt hatte, war aus ihr herausgeströmt.

Blake hatte sie zum Essen eingeladen, nachdem sie sich frisch gemacht hatte. Sie redeten und redeten bis Mitternacht, waren die letzten, die das Restaurant verließen. Danach schlenderten sie Arm in Arm durch das nächtliche Memphis, ohne sich Gedanken um die Uhrzeit oder den nächsten Tag zu machen. Blake begleitete sie nach Hause, und ehe sie sich versahen, waren sie in mehr oder weniger alte Gewohnheiten verfallen.

„Wie machst du das bloß“, grummelte er in ihr Ohr, als sie aneinander gekuschelt da lagen und er den Arm um sie gelegt hatte. Sein Atem kitzelte sie am Hals. Sie lächelte. „Was meinst du?“, fragte sie, ohne die Augen zu öffnen. „So wunderschön zu sein. So perfekt.“ Diesmal schlug Catriona die Augen auf. Sie verharrte einen kurzen Moment lang, ehe sie sich herumdrehte, um ihn anzusehen.

„Ich bin nicht perfekt, und das weißt du.“

Er lächelte. „Doch, das bist du.“ Er küsste sie auf die Nase, auf den Hals, dann auf das Schlüsselbein. Sie erschauderte. Er quälte sie. Und gleichzeitig war es das wunderbarste Gefühl seit langem. Catriona fielen die Augen zu, aber nicht vor Erschöpfung.

„Willst du mich eigentlich hinhalten?“, fragte sie, womöglich ein wenig provozierend. Er hob den Kopf und grinste sie an. „Was meinen Sie, Ma‘am?“ Ihre Antwort bestand darin, die Hände um sein Gesicht zu legen und ihn für eine Weile einfach nur anzusehen.

„Ich liebe dich“, flüsterte sie dann. Seine Augen begannen zu funkeln und er drehte den Kopf weg. Catriona blinzelte verwundert. „Blake?“ Sie richtete sich auf und stützte sich mit dem Arm ab, einen besorgten Ausdruck auf dem Gesicht. „Hey, was ist los?“

Kurze Stille. „Du wirst immer schöner und ich werde sentimental.“ Er lachte, aber es klang erstickt. Catriona zog verwirrt die Augenbrauen zusammen.

„Und was soll daran schlecht sein?“ Sie zog ihn zu sich und fuhr mit der Hand über seinen Arm. Er stieß einen tiefen, gequälten Seufzer aus und lehnte sich vor, bis seine Stirn gegen ihre traf. So verharrten sie einige Augenblicke, ehe er tief und lange ausatmete.

„Du bist diejenige, die ihr Kind verloren hat“, flüsterte er. „Ich sollte derjenige sein, der stark bleibt.“

Beinahe fassungslos zuckte sie zurück und schüttelte den Kopf. „Fynn war unser Sohn, nicht nur meiner.“

„Ich war doch niemals da. Ich kannte ihn kaum, genau so wenig kannte er mich. Du warst seine Mutter.“ Seine Stimme klang bitter, und während er sprach, sah er sie kein einziges Mal direkt an. Sie hasste es, wenn Menschen das taten, aber in diesem Moment band sie ihm das nicht auf die Nase. Stattdessen entschied sie sich für eine weitaus passendere Variante.

„Ich will keinen Kerl, dessen Gedanken sich nur um seine Männlichkeit und toxische Stereotypen drehen.“ Sie hob die Hand und legte sie ihm unter das Kinn. „Weißt du, warum ich dich liebe?“

Diesmal starrte er sie an, er musste nichts sagen. Sie lächelte zurückhaltend. „Weil ich sogar ohne Klamotten neben dir liegen und dich stundenlang ansehen kann, ohne dass einer von uns über den anderen herfällt. Weil wir wie beste Freunde sein können. Weil du der einfühlsamste Mann bist, dem ich jemals begegnet bin. Du hast mir niemals das Gefühl gegeben, mehr oder weniger als die Frau zu sein, die du liebst.“ Endlich erschien ein zaghaftes Lächeln auf seinen Lippen. Das vertraute Glänzen, in welches sie sich verliebt hatte, trat zurück in seine dunklen Augen.

„Das ist nicht schwer.“ Seine Hand wanderte ihren Rücken nach oben bis in ihren Nacken. „Du bist eine wundervolle Frau.“ Seine Lippen trafen auf die ihren, aber obwohl er diesmal nicht mehr so zurückhaltend war wie zuvor, wirkte es nicht, als wolle er etwas andeuten. Catriona erwiderte den Kuss und schlang die Arme um seine Schultern, während seine Fingerspitzen über ihren Rücken strichen – auf und ab, liebevoll und neckend zugleich. Sie spürte die Berührung wie elektrische Impulse durch das dünne Shirt, das sie noch immer trug. Ihr Atem und Herzschlag beschleunigten sich, aber sie ließ nicht von ihm ab. Als seine Hand über ihre Seite nach unten wanderte und er auf ihrer Taille verharrte, trat ein Geräusch aus ihrer Kehle. Sie konnte fühlen, wie er grinste. Seine Fingerspitzen fuhren über die Kuhle zwischen ihrem Beckenknochen und ihrem Unterbauch. Und dann kitzelte er sie. Catriona gab ein Kieksen von sich und schnappte nach Luft, ihr Körper kontrahierte und sie fuhr zusammen.

„Hör auf, bitte!“, lachte sie. Doch alles, was er darauf erwiderte, war ein amüsiertes Grinsen. Er dachte nicht daran, sie loszulassen, schlang den Arm um sie und zog sie zurück auf die Matratze. Catriona benötigte eine Weile, bis sie wieder zu Atem gekommen war, und warf ihm einen spielerischen Mörderblick zu. „Wehe, du tust das noch einmal.“

Blake grinste. „Dann was?“ Catriona verharrte, dachte nach. Besann sich eines Besseren. Stattdessen drehte sie sich auf den Bauch, legte ihr Kinn auf seiner Brust ab und sah ihm in die Augen. Intensiv, lange. So lange, bis sie sehen konnte, wie der Ausdruck in ihren Augen die Wirkung zeigte, die sie jedes Mal erreichen konnte, wenn sie nur allzu lange auf ein und denselben Punkt starrte. Insbesondere bei Männern hatte es Effekte. „Versprochen“, sagte Blake leise. Er lächelte und strich ihr eine rote Strähne zurück. Catriona tastete nach seiner Hand, ihre Finger verschränkten sich ineinander. Eine Weile bewegte sich keiner von ihnen, sondern hörte nur auf den Herzschlag des anderen.

„Catriona“, drang seine Stimme auf einmal durch die Stille, viel tiefer, da er flüsterte. „Alles in Ordnung?“ Sie blinzelte und eine Träne lief ihre Wange hinab. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass sie zu weinen angefangen hatte. Sie lächelte. „Es ist alles in Ordnung“, flüsterte sie überzeugend – auch um sich selbst zu überzeugen. „Solange du bei mir bist, ist alles in Ordnung.“

Ein Vogel kreischte und sie fuhr zusammen. Herausgerissen aus dem Tagtraum blinzelte sie, nur um zu bemerken, dass sie tatsächlich angefangen hatte, zu weinen. Wütend wischte Catriona sich die Tränen aus den Augen. Sie verfluchte sich, dass ihr dieser Abend in Erinnerung gekommen war. Sie hatte nie wieder einen Mann kennengelernt, mit dem sie solche Momente genießen konnte. Nichts zwischen ihnen war flapsig, unromantisch oder gar triebgesteuert gewesen. Von außen mochte sie vielleicht kühl und unnahbar wirken, sie konnte einen Feind erschießen ohne mit der Wimper zu zucken. Wenn sie wollte, konnten ihre Augen glühen wie Feuer und ihr Gegenüber alleine dadurch zu Fall bringen. Aber wenn es um Liebe ging, war sie zerbrechlich wie Glas.

Sie legte ihr mit Erinnerungen verseuchtes Handy zur Seite und massierte sich die Stelle zwischen Stirn und Nase. Blake und sie telefonierten nie, hatten sich seit Jahren nicht mehr gesehen, und so sehr sie ihn manchmal bei sich haben wollte, so wenig wollte sie diejenige sein, die zurückgekrochen kam. Sie hatte ein gewaltiges Ego, das war schon immer ihr Problem gewesen. Eine Catriona Haige bettelte nicht, niemals. Auch nicht, wenn sie wusste, dass sie jemanden brauchte. Und nach so vielen Jahren wollte sie ihm nicht von einem Moment auf den anderen ihr Herz ausschütten. Sie hatte sich davon distanziert, hatte gelernt, ihre Emotionen abzustellen. Das war eines der integralen Teile ihres Boot-Camp-Trainings gewesen. Und ob es Liebe war, was sie fühlte oder einfach nur die Sehnsucht nach vertrauter Nähe … daran zweifelte sie schon eine ganze Zeit lang.

Seit sie der Army vor sechs Jahren endgültig den Rücken gekehrt hatte, hatte sie glücklicherweise einen Ersatz gefunden. Kochen hatte ihr schon immer dabei geholfen, ihre Sorgen zu vergessen. Und genau das musste sie jetzt tun, um nicht komplett in Selbstmitleid zu verfallen.

Sie schnappte sich ein paar Brocken des Tiefkühlgemüses und wärmte es zunächst einmal in der Mikrowelle an. Währenddessen wusch sie das Quinoa, ließ Wasser aufkochen und überließ die kleinen Kügelchen ihrem Schicksal. Sie zog eine Pfanne aus dem Küchenschrank, ließ ein wenig von dem Kokosöl, welches Sheela ihr empfohlen hatte, hineintropfen und briet sich ein paar vegetarische Frikadellen an. Sofort erfüllte ein angenehmer Duft ihr Heim, der einzige ihrer Aufenthaltsorte, der weder von großem Leid geplagt noch von etwas bedroht wurde.

Catriona stellte das Radio an. Ein vertrautes Klavierintro erklang durch ihre Küche. Eines, das ihr Herz erwärmte, und zwar jedes Mal aufs Neue. Für ein paar Momente schloss sie die Augen und nahm die außergewöhnliche, tiefe Stimme in sich auf wie einen lebensnotwendigen Geruch.

Sie liebte diesen Song. Er erinnerte sie an die Stadt, in der sie lebte, an den Tag, an dem sie selbst in indigoblauen Schuhen durch die Straßen geschlendert war, mit zwei guten Freundinnen Seite an Seite. An den Tag, an dem auch sie Karaoke gesungen hatten, weil ihnen langweilig gewesen war. Eine „Song-Bucket-List“ hatte Lisa, die Brünette mit den warmen, dunklen Augen es genannt. Sie war eine ihrer wenigen, wahren Freundinnen, die ihr über die Jahre hinweg geblieben waren. Die, die eines Tages mit einer ihrer Filmtrilogien aus der Teenagerzeit vor ihrer Tür gestanden hatte und ihr somit einmal mehr bewiesen hatte, welch unglaublicher Mensch sie war.

Chers Stimme war nicht von dieser Welt, so jemanden gab es nur einmal. Sie würde nie müde werden, dieses Lied zu hören.

Als ihre eigene Stimme nur wenig später mit der der Sängerin durch ihre Wohnung hallte, schienen ihre Sorgen mit einem Mal wieder wie vergessen.

Beinahe. Denn ihr Unterbewusstsein vergaß nichts. Und egal, wie sehr es schmerzte, gewisse Dinge konnte und wollte sie auch niemals vergessen.

KAPITEL 2

`` Genesis ´´

Ruelle

Die komplette Reise nach Memphis würde etwa 9 Stunden dauern – wenn ich Glück hatte. Mit Glück meine ich nicht nur, dass ich hoffte, alle Züge und Busse zu bekommen, sondern am allermeisten, nicht geschnappt zu werden – von wem auch immer. Und ich musste beten, dass meine Mutter noch dieselbe Adresse hatte. Ansonsten hätte ich, flapsig gesagt, echt die Arschkarte gezogen.

Ich saß im zweiten Zug, der jetzt ohne Halt erstmal eine Weile nach Süden rasen würde. Ich sah nach draußen und ließ meine Augen über die Landschaft gleiten, während mich Gedanken an meine Freunde überkamen.

„Du gehst also wirklich.“ Mein bester Freund sah mich besorgt an, und das war etwas, das mich beinahe mehr verunsicherte als alles andere. Ich hatte Keanu noch niemals ängstlich erlebt. Nicht einmal damals, als ich ihn kennengelernt und er mir erzählt hatte, dass seine Eltern bei einem Brand ums Leben gekommen waren. Er und sein kleiner Bruder Leon waren unzertrennlich – ich hatte noch nie zwei Geschwister erlebt, die so zusammenhielten. Während Keanu impulsiv sein konnte, war Leon ruhig und in sich gekehrt – und erstaunlich erwachsen für sein Alter, weshalb wir uns mit ihm abgaben. Keanu war zynischsarkastisch, besaß einen manchmal echt krassen Humor. Leon könnte eigentlich eher Angeliques Bruder sein.

Ich nickte. Mein Entschluss stand fest. Spätestens jetzt, nachdem auch noch jemand verschwunden war, der mir etwas bedeutete, musste ich einfach etwas tun. Angelique trat vor. „Pass auf dich auf, ja?“, sagte sie leise und umarmte mich. Ich erwiderte die Geste und atmete für ein paar Sekunden lang ihren Geruch ein. Sie trug kein Parfüm, das war nicht ihr Stil, aber es kam wohl von den Räucherstäbchen, die sie ab und zu in ihrem Zimmer anzündete. „Und wenn du Hilfe brauchst, melde dich sofort.“ Ich nickte. Ihre braunen, gesträhnten Haare kitzelten mich im Gesicht. „Werde ich“, sagte ich. Auch wenn ich mir dabei nicht so sicher war. „Also dann.“ Keanu rang sich ein Grinsen ab, aber ich wusste, dass auch ihn Ängste plagten. Er würde es niemals zugeben. Schon immer war er der Starke gewesen. Gegen ihn war ich manchmal echt eine Memme. „Viel Glück bei der Reise.“ Wir umarmten uns und klopften uns auf den Rücken. „Auf dass deine Mutter so ist, wie wir uns es alle erhoffen.“ In mir machte sich ein Ziehen breit, als mich die Angst überkam, die sich in mich hineingefressen hatte. Nicht einmal Angelique wusste von diesen Bedenken. Es gab nur ein Mädchen, das davon wusste. Und genau dieses Mädchen war nicht hier. Ich nickte nachdenklich, während ich meinen Rucksack schulterte. „Das hoffe ich auch.“

Etwa eine Dreiviertelstunde später hastete ich über den Asphaltplatz und erreichte gerade noch im Hechtsprung den Bus, in dem ich jetzt erst einmal zwei Stunden sitzen würde. Es war gerade einmal 15 Uhr und ich hatte schon viermal umsteigen müssen, deshalb sah ich das als große Erholung an. In der nächsten Stadt, nahm ich mir vor, würde ich mir erst einmal was Größeres zu essen kaufen. Alles, was ich nämlich heute gegessen hatte, war ein kleines Sandwich. Ich hatte ja schlecht was mitnehmen können, das wäre aufgefallen. Aber immerhin war Angelique so aufmerksam gewesen und hatte mir einen grünen Smoothie gemixt.

Ich schraubte die Thermoskanne auf – Angelique benutzt kein Plastik – und trank ein paar Schlucke. Fast waren grüne Smoothies zu meinem Ritual geworden. Ich trinke keinen Kaffee, da ich von Koffein richtig seltsame, punktuelle Kopfschmerzen bekomme, und stattdessen mache ich mir morgens immer diese Energiebomben. Außerdem war es viel gesünder als das Aufputschmittel der gewöhnlichen Leute.

Und dann fielen mir die Gedanken wieder ein. Die Ängste, die in den letzten Tagen in mir aufgekommen waren, die mich beinahe von meinem Vorhaben abgebracht hätten.

Was, wenn sie mich abgegeben hatte? Wenn sie mich zur Adoption freigegeben und selber die Ausrede ihres Todes erfunden hätte, dass ich nicht nach ihr suchte? Es wäre echt abartig, aber möglich. Das war es gewesen, was ich niemandem gesagt hatte. Niemandem außer ihr. Dem Mädchen mit den außergewöhnlichen Augen, die aus einer anderen Welt zu stammen schien.

Dennoch saß ich hier. Ich würde nicht so kurz vor meinem Ziel aufgeben, hatte ich mir gesagt. Ich wollte sie nicht im Stich lassen. Ich konnte nicht. Außerdem würde man die Wahrheit nie entdecken, wenn man es nicht versuchte.

Ich warf einen Blick in meinen Rucksack. Mein Herz klopfte schneller, als meine Augen den braunen Umschlag streiften.

„Diese beiden Dinge wirst du brauchen. Damit schaffst du es“

hatte darauf gestanden. Er hatte in meinem Zimmer gelegen. Die Inhalte waren meine Geburtsurkunde und ein Kettenanhänger mit einem seltsamen Symbol, es sah ein bisschen aus wie ein abstrakt entworfenes Auge. Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, über die Bedeutung zu recherchieren, noch nicht. Was mich beunruhigte, war das Wissen, dass jemand in meinem Zimmer gewesen und mir dieses verdammt wichtige Dokument mit dem Namen meiner Mutter einfach hingelegt hatte. Erstens mal war es verboten, dass die Erwachsenen ohne unsere Erlaubnis in unsere Zimmer kamen, und zweitens war allein das Wissen, nicht zu wissen wer es gewesen war, ziemlich beängstigend.

Von diesem Tag an hatte ich endgültig gewusst, dass da etwas im Busch war. Und entweder hatte ich einen Verbündeten, der auf mysteriöse Weise wusste, dass ich etwas vorhatte, oder es war jemand, der mir eine Falle stellen wollte. Als ich mich dazu entschlossen hatte, meine Mutter zu suchen, wusste ich, dass es gefährlich war. Die Chancen standen 50 zu 50, dass ich geschnappt werden würde. Aber dieses Risiko war es wert.

Ich hatte einige Minuten Zeit zum Umsteigen. Am Bahnhof deckte ich mich mit Sandwich, Schokoriegel, einem Apfel und einer Literflasche Wasser ein, ehe ich mich auf den Weg zu meinem letzten Bus machte – der, der mich endlich nach Memphis bringen würde. Die Suche nach dem Getränk wäre furchtbar, wenn ich nicht meine Spezialedition an Flasche hätte, die eine Art integrierten Filter beinhaltete. Wer mir dieses Ding geschenkt hat, weiß ich nicht mehr genau. Ich habe es schon eine halbe Ewigkeit, glaube mich zu erinnern, dass es ein Mann gewesen war. Ich vertrage Fluorid nicht gut, und ich musste davor immer nach der Sorte Wasser suchen, die die geringste Prozentzahl davon aufwies. Echt dämlich.

Wir fuhren pünktlich ab und ich ergatterte einen freien Platz am Fenster. Kaum setzten wir uns in Bewegung, wendete ich meinen Blick ab und starrte hinaus. Eigentlich könnte ich mich jetzt entspannen, musste ja keine Angst mehr haben, in die falsche Linie einzusteigen. Und wenn mich jemand verfolgte, dann hätte er mich bestimmt nicht die Grenze nach Tennesse überschreiten lassen.

Ich redete mir ein, es mir einzubilden, aber ich wurde mit jedem einzelnen Kilometer nervöser. Am Horizont ging bereits die Sonne unter und tauchte alles in ein magisches, rotes Licht. Ich hatte mein Fußgelenk auf mein Knie gelegt und meinen Kugelschreiber herausgekramt. Diese Gliedmaßen als Unterlage nutzend lag mein Block darauf, als ich anfing, irgendetwas zu zeichnen. Um mich abzulenken. Und auch, um etwas zu tun, das mir Sicherheit gab.

Erst, als ich eine Stimme wahrnahm, realisierte ich, dass wir schon wieder gestoppt hatten. „Ist der Platz neben Ihnen noch frei?“

Ich sah auf. Eine ältere Dame stand im Gang und lächelte mich an. „Klar doch“, sagte ich freundlich, nahm meinen Rucksack vom Sitz und stopfte ihn unter meinen eigenen. Sie bedankte sich, setzte sich, die Reise ging weiter.

Irgendwann bemerkte ich, dass sie mich beobachtete – genauer gesagt, meine Zeichnung – aber seltsamerweise störte mich das diesmal nicht. Naja, von ihr ging auch keine Bedrohung aus.

„Entschuldigen Sie, junger Mann.“ Ihre Stimme ließ mich innehalten und ich sah hoch. Sie nickte auf den Block und lächelte dann. „Sie zeichnen wirklich gut. Sind Sie Künstler?“

Ich musste lachen. „Nein nein“, sagte ich. „Ich geh noch zur Schule. Ich mache das … rein privat.“

Ich warf einen kurzen Blick zurück auf das Papier, auf dem sich bereits die Konturen des Gesichts abzeichneten. Das außergewöhnlichste an ihr war ihre Augenpartie. Die Brauen waren markant und scharf geschnitten, sodass sie manchmal wütend aussah, obwohl sie es gar nicht war. Und gleichzeitig konnte sie so unglaublich süß aussehen mit ihren dunklen Kulleraugen. Ich kramte in meinem zerfransten Mäppchen und griff nach dem ersten schwarzen Stift, der mir in die Hände fiel. So schraffierte ich ein paar Konturen der Haarsträhnen.

„Darf ich fragen, wer das ist?“, fragte sie neugierig.

Ich hielt inne, während ich die Skizze anstarrte. In mir machte sich ein Ziehen breit. Vor meinen Augen verschwamm das Bild und verwandelte sich in die reale Person. In das Mädchen mit den außergewöhnlichen Augen und dem magnetischen Lächeln. Das Mädchen, das der Grund war, dass ich mir endlich den Ruck gegeben hatte.

„Sie heißt Monica. Sie ist eine Freundin.“

Die alte Dame nickte. „Ein hübsches Mädchen“, sagte sie lächelnd.

Ich starrte die Zeichnung an, noch intensiver als zuvor. Ja, das war sie wirklich. Wir verfielen beide in Schweigen.

Der Bus fuhr weiter, diesmal ohne Unterbrechung. Meine Hand schien sich von meinem Bewusstsein abzukapseln – es war, als dachte ich nicht mehr nach, sondern, als würde mein Herz die Befehle geben.

Monica ist das perfekte Beispiel dafür, dass man sich nicht von seinem ersten Eindruck ein Urteil bilden sollte. Als ich sie das erste Mal gesehen hatte – ich weiß noch, dass es im Sportunterricht gewesen war, da sind wir nämlich immer zwei Klassen unterschiedlicher Stufen – dachte ich, sie wollte von uns allen nichts wissen. Sie hatte isoliert gewirkt, zurückhaltend, und sprach auch nicht sonderlich viel. Eine wahre Einzelgängerin. Man konnte gut mit ihr arbeiten, aber sie wirkte auch nicht, als suche sie den Kontakt. Und dennoch hatte ich eines Tages den Schritt gewagt.

Wir hatten Mittagspause, manche von uns gingen nach draußen, andere blieben im Klassenzimmer. Ich würde draußen auf Keanu warten. Also stand ich dort, gegen die Wand gelehnt und starrte so vor mich hin.

Bis ich sie sah.

Die Neue. Monica Koolard, vor ein paar Tagen in eines unserer Häuser gekommen.

Ich hatte noch kaum ein Wort mit ihr gewechselt, wollte dies aber schleunigst ändern. Also fasste ich mir ein Herz und ging zu ihr hinüber.

Sie saß auf der kleinen Bank, die unter einem Baum stand, und hatte ein aufgeschlagenes Buch auf ihrem Schoß. Ihre schwarzbraunen, schulterlangen Haare, die ihr an den Enden in Wellen abstanden, setzten sich wie dunkles Mahagoni von dem Grün des Grases und dem Dunkelrot ihres Langarmshirts ab. Wenn sie meine Schritte bemerkte oder dass ich auf sie zulief, ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Ich atmete tief durch. Seltsam, eigentlich war ich gut darin, auf Menschen zuzugehen.

„Hi.“ Sie hob den Kopf. Ihre haselnussfarbenen Augen bohrten sich wie Laserstrahlen in meine. Aber obwohl es mir eine Gänsehaut bereitete, machte es mich neugierig.

„Hi“, erwiderte sie. In ihrer Stimme klang Verwirrung mit.

„Gutes Buch?“, fragte ich und nickte auf das ihre. Monica senkte den Kopf, guckte das Buch an. Dann zuckte sie mit den Schultern.

„Es geht. Ich hatte schon bessere, aber es ist immer noch ein leichteres Los, als Löcher ins Nichts zu starren.“ Sie legte den Kopf schief, die außergewöhnlich schräg verlaufenden Augenbrauen zusammengekniffen. Irgendwie erinnerte sie mich an einen schwarzen Falken, einen Raubvogel im Allgemeinen. Ein Raubvogel mit Augen wie Diamanten. Wenn es grünbraune Diamanten geben würde.

„Du bist Fynn, richtig?“, fragte sie. Erstaunt nickte ich. Sie war also eine der Sorte Menschen, die beobachteten, statt zu sprechen.

Und so begannen unsere Unterhaltungen. Sie war hübsch, und irgendwie schien ihre distanzierte, mysteriöse Art noch zusätzlich dazu beizutragen. Ich mochte interessante Menschen. Und während Angelique ein Sonnenschein und Keanu ein Spaßkopf mit schwarzem Humor war, war Monica facettenreich. Über die Tage, Wochen und Monate hinweg trafen wir uns öfter. Manchmal redeten wir gar nicht, sondern saßen nebeneinander, wenn wir zufällig zur selben Zeit Pause hatten. Das war selten, aber in Sport arbeiteten wir ab und zu zusammen. Sie war erstaunlich gut in dem Fach, insbesondere wenn es um Ausdauertraining ging.

Es war so ganz anders als mit Angelique – bei ihr gingen die Themen nie aus, sie war immer für einen Spaß zu haben, auch wenn sie gewissenhaft war. Wenn ich mit Monica zusammen war, schien die Stille beinahe mehr zu bedeuten. Sie war bei weitem nicht der kalte Typ Mensch, wie sie wirkte. Sie konnte erstaunlich warmherzig sein. Wenn wir redeten, dann waren unsere Gespräche fast nie oberflächlich. Selbst, wenn wir über Banales sprachen, wirkte es, als hätte es einen Sinn. Sie konnte auch lachen, und ihr Lachen war wundervoll. Sie war zurückhaltend, aber nicht schüchtern.

Eines Tages fragte ich sie, warum sie bei uns war. Sie sagte, ihre Mutter sei vor drei Jahren gestorben, und ihr Stiefvater habe sie nicht gewollt. Also sei sie abgehauen, sozusagen, und zu uns gekommen. Niemand hatte sie je zurückgeholt. Sie sagte das so ohne jegliche Emotionen, dass ich mich in diesem Moment fragte, ob sie sich deshalb diese Fassade aufgebaut hatte.

„Ich vertraue Menschen nicht so wirklich“, sagte sie und starrte dabei auf ihre Hände. Aber in ihrer Stimme klang weder Wut noch Hass mit. „Ich möchte nicht noch einmal verletzt werden, und ich öffne mich nur sehr wenigen.“ Mit diesen Worten sah sie mich an.

Von diesem Tag an sah ich nie wieder das unheimliche, ständig bedrohlich aussehende Mädchen vor mir. Sondern eine junge Frau, die ebenso wie ich etwas verloren hatte, das ihr fehlte. Und die nur versuchte, sich zu schützen.

Die Erinnerung verschwand, und ich war froh darum. Kaum hatte ich die beiden Gesichter fertig gezeichnet, hob ich das Bild an, sodass ich es betrachten konnte. Fast schon melancholisch starrte ich darauf. Monicas Gesicht sah in die Ferne – ein wenig nachdenklich, so, wie sie es in Wahrheit auch war. Sie schien immer ein wenig abwesend zu sein, und genau das war das Gefährliche an ihr – sie bekam ALLES mit. Den Ausdruck in ihren Augen bekam ich nicht hin, beinahe frustrierte es mich. Das zeigte mir erneut, wie wenig ich doch von ihr wusste. Und wie viel ich von ihr noch erfahren wollte. Ich hoffte nur, dass ich dafür noch Zeit haben würde.

Sie war vor etwa einer Woche verschwunden. Noch nie hatte sich eine Woche so kläglich lang angefühlt.

Die rechte Seite des Blattes zierte nun eine lächelnde, warmherzige Angelique. Eine ihrer violett gefärbten Strähnen wehte ihr ins Gesicht. Sie war meine beste Freundin, mit der man Witze reißen und im Pyjama sitzend auf dem Dach hocken konnte. Fast hätten wir uns dabei einmal einen Schulverweis geholt. Sie war so ganz anders als Monica, und dennoch mochte ich sie beide auf unterschiedliche Weise.

„Sie sollten sich irgendwo im Kunstbereich bewerben“, ertönte die sanfte Stimme der alten Frau neben mir. Ich hatte völlig vergessen, dass sie noch da war.

„Wissen Sie, ich glaube nicht, dass ich das könnte.“ Mein Mund sprach, ehe mein Bewusstsein so richtig zu kapieren schien, weshalb ich das überhaupt gesagt hatte.

Sie hob die Augenbrauen, warf einen Blick auf das Papier und lächelte kopfschüttelnd. „Warum denn nicht? Sehen Sie sich das doch einmal an.“ Vorsichtig, als könne es zerbrechen, tippte sie das Papier an. „Sie haben Talent, junger Mann. Das sehe sogar ich ohne meine Brille.“

Ich lachte. „Das meine ich nicht“, sagte ich. Ein fragender Blick folgte. „Ich zeichne nur, wenn mir danach ist. Ich brauche … Inspirationen.“ Und meistens sind das Sehnsüchte oder Ängste, dachte ich mir. Aber das sagte ich nicht. Denn ich wusste selbst nicht genau, was ich damit meinte.

„Naja.“ Sie lächelte aufmunternd und tätschelte mir den Arm. „Ich will Ihnen mal nichts vorschreiben. Sie werden schon wissen, was für Sie das Beste ist.“ Sie klang nicht beleidigt, und ich war froh darum. Diese Frau meinte es nur gut mit mir, und ich hatte wirklich nicht vor, sie vor den Kopf zu stoßen.

Kaum merklich nickte ich. „Ich hoffe es“, murmelte ich, beinahe so leise, dass ich glaubte, sie hätte es nicht verstanden. Ich drehte den Kopf und sah erneut aus dem Fenster, verfolgte die vorbeihuschende Landschaft, die nun kaum noch eine Spur menschlicher Zivilisation erkennen ließ und sich so langsam in wüstenartige Steppe verwandelte. In meinem Bauch spielten die Organe Seilspringen, womöglich mit meinem Darm.

Ich wusste nicht, ob ich eine Zukunft haben würde. Aber was ich wusste, war, dass wenn ich nichts tat, wir alle keine mehr haben würden. Das war meine Aufgabe. Und ich würde alles daran setzen, sie zu beenden.

KAPITEL 3

`` Happiness ´´

The Fray

Manche Menschen empfanden es als langweilig, aber sie mochte die Routine. Das Klingeln ihres Weckers um halb sieben war Musik in ihren Ohren, wenn sie es mit der lauten Stimme ihrer Drillsergeants um sechs Uhr morgens verglich. Sie war kein besonders eitler Mensch, geschweige denn benötigte sie lange, um sich zurecht zu machen. Außerdem musste sie in dem Veteranen-Krankenhaus, in dem sie arbeitete, nicht aufgetakelt erscheinen. Es ging nicht darum, wie man aussah, dachte sie sich wie so oft, als sie vor dem Spiegel stand und sich die Knoten aus den roten Haaren kämmte. Das, was zählte, waren die inneren Werte.

Während sie ihren Joghurt löffelte und immer wieder von dem Apfel abbiss, den sie sich daneben gelegt hatte, lauschte sie den Nachrichten. Irgendwo waren zwei gegnerische Parteien aufeinandergetroffen und hatten sich beschimpft und herumgegrölt, dass sogar die Polizei einschreiten musste. Innerlich seufzte Catriona. Sie fragte sich, ob die Menschheit jemals verstehen würde, dass sie alle eine Rasse waren.

Ihre Eltern hatten ihr die politische Wahl offen gelassen, und obwohl sie die gemäßigte, demokratische Bahn gewählt hatte, gab es einige Dinge, worin sie der Gegenpartei glich: die Liebe zu ihrem Land und die Zeit beim Militär. Ihre Mutter hatte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als sie sagte, sie wolle sich nach der Ausbildung fürs Militär verpflichten. Ihr Vater war begeistert gewesen, hatte überall mit dem Mut seiner Tochter geprahlt; mehr oder weniger jedenfalls. Als der Tag der Abreise gekommen war und er realisierte, dass sie sich in Todesgefahr begab, waren dann auch ihm Zweifel gekommen.

Immerhin war es ihr gewährt worden, ihn ein letztes Mal zu sehen – und anders als manche Kollegen hatte sie die ihren überdauert und war nicht auf dem Schlachtfeld gefallen. Ihr Vater hatte im Sterben gelegen, weshalb sie für einige Tage vom Einsatz freigestellt wurde. Er hatte eine Nervenkrankheit gehabt, die ihn einige Monate davor an den Rollstuhl gefesselt hatte. Schon relativ lange sei er damit erkrankt gewesen, hatte sie von ihrer Mutter erfahren.

Zunächst war sie wütend gewesen, wütend und enttäuscht und panisch, dass die beiden ihr das verschwiegen und ihr erst davon berichtet hatten, als er auf dem Sterbebett lag und es klar war, dass er nicht mehr lange unter den Lebenden weilen würde. Aber schon immer war sie ein sehr verständnisvoller und einsichtiger Mensch gewesen. Das Leben war zu wertvoll, um wütend zu sein. Insbesondere, wenn es die beiden Menschen betraf, die sie liebte. Sie hatte verstanden, dass ihre Eltern sie nicht unnötig hatten belasten wollen. Und ihr Vater hatte alles getan und erreicht, was er sich gewünscht hatte.

„Ihr sollt nicht um mich trauern. Ich hatte ein erfülltes Leben, aber meine Zeit ist nun zu Ende“, hatte er gesagt. Das hatte ihr geholfen.

Diese Einstellung hatte sie wohl von ihm geerbt. Dies und eine andere ihrer Charaktereigenschaften. Schon als sie jünger gewesen war, hatte ihr Vater sie mit aller Art von Waffen vertraut gemacht. Er hatte sie sensibilisiert und ihr gleichzeitig beigebracht, wie sie sich zu verteidigen hatte. Er hatte ihre Liebe dazu entfacht, aber gleichzeitig auch den Hass. Niemals hatte er etwas schöngeredet, und immer hatte er ihr eingehämmert, dass Waffengewalt nur im allerletzten Fall notwendig sein dürfe. Angst kreiert Angst, hatte er gesagt.

Auch wenn sie nicht mehr in der Army tätig war und ihr Job nun darin bestand, Leben zu retten, hatte sie das Schießen nie aufgegeben – zweimal pro Monat besuchte sie mit einem Freund von der Polizei den Schießstand, um nicht aus der Übung zu kommen. Catriona gab zu, dass es ihr einen Kick gab, ihre SIG Sauer in den Händen zu halten, abzudrücken und dem Knall nachzuspüren. Und würde man sie fragen, ob sie einen Menschen erschießen würde, würde sie ohne zu zögern ja sagen – aber nur, wenn es nötig war, um jemanden zu beschützen.

Das Krankenhaus lag am Ende der Stadt. Gewöhnlich benötigte sie etwa 10 Minuten mit dem Auto, wenn der Verkehr mitmachte. Manchmal, wenn es schönes Wetter war, nahm sie ihr Fahrrad. Heute war es jedoch noch frisch, und da sie ohnehin ein wenig spät dran war, entschloss sie sich für die schnellere Variante.

Der Kies knirschte unter ihren schwarzen Schuhen, als sie auf den Eingang zuging. Der Weg schlängelte sich durch den Garten mit seinen Bänken und Bäumen und wies eher auf ein Erholungszentrum als auf ein Krankenhaus hin. Es war ein wunderschöner Tag, jetzt hatte es gerade die richtige Temperatur, um mit einer dünnen Jacke morgens aus dem Haus gehen zu können.

Draußen in der Nähe des Weges saß ein älterer Mann mit Krücken auf einer Bank. Als er ihre Schritte wahrnahm, blinzelte er und sah sich um, woher das Geräusch kam. Seine Augen trafen auf sie, und im selben Moment breitete sich ein strahlendes Lächeln auf seinen Lippen aus. Catriona tat dasselbe.

„Da ist sie ja wieder, meine Lieblingsschwester.“ Der 69-jährige Jackson Riders erhob sich vorsichtig und kam ihr entgegen.

„Hey Jack“, sagte sie und ergriff seine Hand, die er ihr hinstreckte. „Wie geht es Ihnen?“

Er verfestigte den Griff und lächelte sie herzlich an. „Jetzt um einiges besser. Die Sonne strahlt immer um ein Vielfaches mehr, wenn ich Sie sehe.“

Catrionas Lächeln wurde zu einem Grinsen, als sie den Kopf schüttelte. „Sie sind ein Schmeichler, wissen Sie das?“

Nun lachte Jackson. „Nur für Sie, Catriona. Nur für Sie.“ Seine Augen bekamen einen aufmerksamen Ausdruck, als er ihr die Hand tätschelte. „Erzählen Sie mal schnell. Wie war es in Indien?“