Die Fesseln des Bösen - Jean-Christophe Grangé - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Fesseln des Bösen E-Book

Jean-Christophe Grangé

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In einem Pariser Nachtclub werden zwei junge Tänzerinnen tot aufgefunden. Commandant Stéphane Corso findet heraus, dass beide mit einem mysteriösen älteren Maler liiert waren. Dieser Sobieski ist erfolgreich, arrogant und - ohne jede Moral. Er scheint der perfekte Täter zu sein, doch er hat ein stichfestes Alibi. Je weiter Corso sich in den Fall vertieft, desto stärker drohen ihn Sobieskis unheilvolle Geheimnisse in den Abgrund zu reißen ...

"Ein exzellenter Thriller, der einen bis zum fulminanten Ende in Atem hält" Le Parisien

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 679

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

CoverÜber das BuchÜber den AutorTitelImpressumErster Teil1234567891011121314151617181920212223242526272829303132Zweiter Teil333435363738394041424344454647484950515253545556575859606162Dritter Teil63646566676869707172737475767778798081828384858687888990919293949596979899100101102103104

Über das Buch

In einem Pariser Nachtclub werden zwei junge Tänzerinnen tot aufgefunden. Commandant Stéphane Corso findet heraus, dass sie mit einem mysteriösen älteren Maler liiert waren. Dieser Sobiesky ist erfolgreich, arrogant und ohne jede Moral. Er scheint der perfekte Täter zu sein, doch er hat stichfeste Alibis für beide Morde. Je weiter Corso sich in den Fall vertieft, desto stärker drohen ihn Sobieskys unheilvolle Geheimnisse in den Abgrund zu reißen …

Über den Autor

Jean-Christophe Grangé, 1961 in Paris geboren, war als freier Journalist für verschiedene internationale Zeitungen (Paris Match, Gala, Sunday Times, Observer, El Pais, Spiegel, Stern) tätig. Für seine Reportagen reiste er zu den Eskimos, den Pygmäen und begleitete wochenlang die Tuareg. »Der Flug der Störche« war sein erster Roman und zugleich sein Debüt als französischer Topautor im Genre des Thrillers. Jean-Christophe Grangés Markenzeichen ist Gänsehaut pur. Frankreichs Superstar ist inzwischen weltweit bekannt für unerträgliche Spannung, außergewöhnliche Stoffe und exotische Schauplätze. Viele seiner Thriller wurden verfilmt. In Deutschland bereits erschienen sind seine Romane »Der Flug der Störche«, »Die purpurnen Flüsse«, »Der steinerne Kreis«, »Das Imperium der Wölfe«, »Das schwarze Blut« und »Das Herz der Hölle.«

JEAN-CHRISTOPHE

GRANGÉ

DIE

FESSELN

DES

BÖSEN

Thriller

Übersetzung aus dem Französischen von Ulrike Werner

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen

  

Titel der französischen Originalausgabe:

»La terre des morts«

  

Für die Originalausgabe:

Copyright © Éditions Albin Michel, 2018

  

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Titelgestaltung: Kirstin Osenau unter Verwendung von Motiven von © Oleg Maidakov, Moskau; © Vicky Chc / EyeEm/gettyimages; © javarman/Shutterstock

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

  

ISBN 978-3-7325-7783-5

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Erster Teil

1

Das Le Squonk missfiel ihm in jeglicher Hinsicht. Ein Strip-Club, angeblich angesagt, im dritten Untergeschoss eines heruntergekommenen Gebäudes im 10. Arrondissement. Wände, Boden, Decke, alles schwarz. Schon als Stéphane Corso, Leiter von Team 1 der Pariser Kriminalpolizei, die Treppe hinabgestiegen war, hatte sich ein dumpfes Dröhnen, wie das einer U-Bahn, durch seinen Magen gewunden. Doch nein, es war ein simpler Soundeffekt à la David Lynch, der ihm den Atem raubte.

Der Korridor war mit Fotos von Pin-up-Girls aus den Fünfzigerjahren dekoriert, erhellt von einem schmalen LED-Leuchtband. Er mündete in einer Bar, in der die traditionellen Flaschenreihen hinter der Theke durch Schwarz-Weiß-Fotos von baufälligen Industrieanlagen und verlassenen Hotels ersetzt worden waren. No comment.

Corso war den anderen Zuschauern nach rechts in einen Saal mit roten, ansteigend angeordneten Sitzen gefolgt. Er hatte sich in eine Ecke gesetzt, Voyeur unter Voyeuren, und darauf gewartet, dass die Lichter ausgingen. Er war gekommen, um das Terrain zu sondieren, und war, was das betraf, bedient.

Laut Programm, das auf einer schwarzen Plastikfolie mit weißer Schrift notiert war, die an ein Röntgenbild erinnerte, waren zwei Drittel der Show überstanden, und Corso fragte sich zum wohl hundertsten Mal, welchem bizarren Snobismus es zu verdanken war, dass diese Art kitschiger Darbietungen, die hier gemäß der gewählten amerikanischen Terminologie als »New Burlesque« bezeichnet wurde, wieder in Mode kam.

Er hatte bereits Miss Velvet über sich ergehen lassen, eine tätowierte Brünette mit einem Louise-Brooks-Haarschnitt, außerdem Candy Moon mit ihrem Tanz der sieben Schleier sowie Gypsy La Rose, die eine Brücke machen und dabei ihre Schuhe ausziehen konnte. Nun wartete das Publikum auf Mam’zelle Nitouche und Lova Doll … Corso hatte diese von Art von Shows nie gemocht, und auch der Körperbau der Damen stimmte ihn keineswegs nachsichtiger. Sie waren alle eher drall, viel zu stark geschminkt und grimassierten, was dem, was ihm gefiel, diametral entgegenstand.

Emiliya kam ihm in den Sinn, und die Scheidungspapiere, die seine Anwältin ihm an diesem Tag geschickt hatte. Sie waren der eigentliche Grund für seine schlechte Laune. Rechtlich gesehen kennzeichneten diese Schriftsätze nicht etwa das Ende des Verfahrens, sondern im Gegenteil erst den Beginn der Feindseligkeiten. Es handelte sich um eine offenbar von Emiliya diktierte Flut aus Verletzungen und Lügen, auf die er mit der gleichen Heftigkeit würde reagieren müssen.

Grund für die Auseinandersetzung war ihr gemeinsames Kind Thaddée, ein kleiner Junge von demnächst zehn Jahren, für den Corso das alleinige Sorgerecht beantragt hatte. Dabei ging es ihm weniger darum, seinen Sohn bei sich zu behalten, als darum, das Kind von seiner Mutter fernzuhalten, dem seiner Meinung nach schlimmsten Übel überhaupt, war sie doch eine hohe Beamtin bulgarischer Herkunft, die auf harten SM stand. Der Gedanke trieb einen Schwall Säure in seine Kehle, und er fürchtete, dass diese Angelegenheit in einem Magengeschwür, Leberkrebs oder vielleicht sogar Mord und Totschlag enden könnte.

Mam’zelle Nitouche betrat die Bühne, und Corso konzentrierte sich. Eine Blondine mit milchweißer Haut und Hüften wie ein Mammut, die nichts trug als eine Federboa, zwei silberne Sterne auf den Brustwarzen und einen schwarzen String, der die Dame nur mit Mühe komplett umspannte. Plötzlich bückte sich die Künstlerin und fummelte an ihrem Hinterteil herum, bis sie schließlich kläffend wie ein kleiner Hund eine Weihnachtsgirlande hervorzog. Corso traute seinen Augen nicht. Die Stripperin begann, sich wie ein gigantischer Kreisel gut ausbalanciert auf ihren 12-cm-Absätzen zu drehen und das Seidenband unter dem begeisterten Applaus der Zuschauer herumzuwirbeln.

Das brachte Corsos Gedanken zu dem eigentlichen Grund seiner Anwesenheit in dieser obskuren Spelunke nach dreiundzwanzig Uhr. Zwölf Tage zuvor, am Freitag, den 17. Juni 2016, war die Leiche einer Tänzerin aus dem Le Squonk am Rand der Mülldeponie an der Poterne des Peupliers in der Nähe der Place d’Italie gefunden worden. Sophie Sereys alias Nina Vice, 32 Jahre, nackt und mit ihrer Unterwäsche gefesselt. Die junge Frau war auf schreckliche Weise entstellt: Der Mörder hatte ihr Gesicht in einem überdimensionalen Schrei erstarren lassen, indem er die Mundwinkel bis zu den Ohren aufgeschnitten und ihr einen Stein in den Hals gesteckt hatte, der ihren Mund weit offen hielt.

Kommandant Patrick Bornek, Leiter von Team 3 der Pariser Kriminalpolizei, hatte die Ermittlungen übernommen. Der sehr erfahrene Beamte hatte das Standardprogramm abgespult: Fotos vom Tatort gemacht und Proben genommen, die Nachbarschaft sowie Bekannte aus dem Umfeld der Toten befragt, Videoüberwachungsbänder überprüft, nach Zeugen gesucht usw.

Im Fokus hatten die Kunden des Le Squonk gestanden. Bornek hatte erwartet, sich mit Sexbesessenen und Perversen herumschlagen zu müssen, doch er irrte. Die Kundschaft bestand aus modebewussten jungen Leuten, koksenden Bankern und Pseudo-Intellektuellen, die es ausgesprochen schick fanden, Live-Shows aus einer anderen Epoche zu besuchen. Auch die Überprüfung von kürzlich aus der Haft entlassenen Sexualstraftätern und anderen im Visier der Sittenpolizei befindlichen Verdächtigen hatte nichts ergeben. Außerdem hatte Borneks Team in der Bondage-Szene recherchiert, weil die Fesselung mit Unterwäsche an bestimmte BDSM-Praktiken erinnerte. Ebenfalls vergeblich.

Sämtliche digitalisierten Akten einschlägig vorbestrafter Täter wurden durchforstet, ohne den geringsten Erfolg. Sogar Anzeigen in Zusammenhang mit Unterwäsche hatten die Kollegen unter die Lupe genommen, aber keinerlei nützliche Hinweise gefunden, außer für jemanden, der einen Damenunterwäscheladen eröffnen wollte.

Die Nachbarschaftsbefragungen, sowohl im Viertel der Deponie als auch am Wohnort des Opfers in der Rue Marceau in Ivry-sur-Seine brachten nichts. In der Nacht vom 15. auf den 16. Juni hatte ein Uber-Taxi Sophie Sereys um ein Uhr morgens nach Hause gefahren und vor ihrem Wohnhaus abgesetzt, danach wurde sie nie wieder gesehen. Da sie am nächsten Tag frei hatte, hatte sich im Le Squonk niemand Gedanken gemacht. Polnische Bauarbeiter, die auf der Mülldeponie Bauschutt abladen wollten, hatten die Leiche gefunden. Bis dahin hatten weder die Wachleute noch die Überwachungskameras etwas Verdächtiges bemerkt.

Man hatte eine Zeichnung des Opfers angefertigt und ihre Vergangenheit durchleuchtet. Sophie hatte sich selbst als Künstlerin bezeichnet und sich um Engagements bemüht wie so viele andere nicht fest angestellte Schauspielerinnen. Sie hatte nur wenige Freunde, keinen Lover und keine Familie. Sie war anonym geboren, also kannte niemand, nicht einmal die Polizei, die Identität ihrer leiblichen Eltern, und in Ostfrankreich teils in Heimen, teils in Pflegefamilien aufgewachsen. Nach einem Fachschulabschluss in Betriebswirtschaft in Grenoble zog sie 2008 nach Paris, um sich ihren wahren Leidenschaften, dem Tanzen und dem Striptease, zu widmen.

Auch bei ihren Arbeitgebern kamen die Ermittler nicht weiter. Die Stripperin war beim Arbeitsamt als »Tänzerin« registriert, arbeitete lediglich an drei Tagen in der Woche im Le Squonk und hielt sich ansonsten mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Sie suchte ständig nach kleinen Engagements in Provinzclubs, ließ sich privat für Junggesellenabschiede buchen und bot Stripperkurse bei Junggesellinnenabschieden an. Als ob Striptease der erste und letzte Wunsch junger Leute vor der Hochzeit wäre …

Bornek, der gegen so manches Klischee nicht gefeit war, hatte angenommen, dass Sophie gegen Monatsende die Ebbe in der Kasse aufbesserte, indem sie mit ihren Bewunderern schlief. Doch er lag falsch. Es gab nicht den kleinsten Hinweis auf einen Liebhaber. Die junge Frau stand auf spirituelle und sportliche Aktivitäten wie Hatha-Yoga, Meditation, Marathon und Mountainbiking. Weshalb sie jeden Monat bei ihren Shows oder auf Radwegen Hunderte von Männern kennenlernte, die alle als bislang anonyme Verdächtige infrage kamen.

Nach einer Woche war Corso aufgegangen, dass die Übernahme der Ermittlungen in dem Fall gefährlich dicht auf ihn zuraste. In Ermangelung von Ergebnissen tauscht die Polizei manchmal das Team aus, um sich das Gefühl zu geben, vorwärtszukommen. Zumal gerade bei dieser Geschichte der mediale Druck immer stärker wurde, bot sie doch sämtliche Zutaten der guten alten Rubrik »Vermischtes«, darunter Anrüchiges, Blut und Geheimnisse.

Catherine Bompart, die Leiterin der Pariser Kriminalpolizei, hatte bei der Staatsanwaltschaft eine Verlängerung der Frist erwirken können, die der Polizei trotz fehlenden Gerichtsbeschlusses relativ freie Hand gewährte, und dann Corso in ihr Büro gerufen. Stéphane hatte sich gesträubt, aber Bompart hatte ihn schnell eingenordet: Er hatte keine Wahl. Sie war nicht nur seine Vorgesetzte, sondern auch seine »Patin des Herzens«, die ihn davor gerettet hatte, im Knast zu enden wie die anderen Gauner, die er nun seit fast zwanzig Jahren hinter Schloss und Riegel brachte.

Die Ablösung der Teams war an diesem Morgen erfolgt. Corso hatte sich den ganzen Tag mit der Akte eingeschlossen, die bereits fünf dicke Ordner umfasste, um seinem Team am Spätnachmittag dann mit einer selbst zusammengefassten Kurzdarstellung die Neuigkeit mitzuteilen. Er hatte ihnen aufgetragen, die Bearbeitung der laufenden Fälle so zu organisieren, dass sie am nächsten Tag mit der Arbeit an diesem Fall anfangen konnten. Briefing um 9 Uhr.

Die Lichter im Saal gingen an. Mam’zelle Nitouche hatte ihre Girlanden eingepackt, und zweifellos war auch Lova Doll aufgetreten. Corso hatte nichts davon mitbekommen. Jetzt, als alle aufstanden, war er überrascht über die heiteren und zufriedenen Mienen des Publikums. Wieder einmal, und das war ein vertrautes Gefühl, verspürte er einen Anflug von Hass auf all diese ehrlichen Menschen.

Er ließ sie gehen und wandte sich der schwarzen Tür rechts von der Bühne zu, die Backstage führte. Es war an der Zeit, Pierre Kaminski einen Besuch abzustatten, dem Inhaber.

2

Corso rief sich den Werdegang dieses Missetäters ins Gedächtnis, den er schon lange kannte. 2009, als er noch bei der Sittenpolizei arbeitete, hatte er ihn persönlich verhaftet.

Pierre Kaminski kam 1966 in der Nähe von Chartres zur Welt und verließ den Bauernhof der Familie im Alter von sechzehn Jahren. Zunächst streunte er als Punk mit Hund umher, dann wurde er Jongleur und schließlich Feuerschlucker, ehe er im Alter von zweiundzwanzig Jahren in die Vereinigten Staaten übersiedelte, wo er in der Off-Broadway-Szene tätig war, zumindest behauptete er das. 1992 kehrte er nach Frankreich zurück, um in der Nähe der Place de la République einen Nachtclub namens Le Charisma zu eröffnen. Drei Jahre später wurde er wegen Körperverletzung an einer seiner Serviererinnen verhaftet und verurteilt. Bewährung. Bankrott. Untertauchen.

Einige Zeit später eröffnete er einen Club, Le Chafouin, in der Nähe des Canal Saint-Martin. Das Geschäft florierte, ehe er wieder straffällig wurde, dieses Mal wegen Zuhälterei. Drei Jahre Haft, von denen er nur zwei absaß. Im Jahr 2001 stieg er wie Phönix aus der Asche auf und eröffnete Le Shar Pei, einen Striptease-Club in der Rue de Ponthieu, der acht Jahre lief, bevor er wegen Menschenhandels geschlossen wurde. Kaminski hatte die nächste Klage am Hals und wurde gleich anschließend sogar des Mordes an einer seiner Tänzerinnen verdächtigt, die man entstellt in einer Mülltonne ein paar Blocks von seinem Etablissement entfernt gefunden hatte. Man konnte ihm nichts nachweisen, auch weil Zeugen und Kläger verschwunden waren, und er tauchte erneut unter. Das war auch gut so, denn Corso, der von seiner Schuld überzeugt war, hätte den Fall durchaus auf seine Weise erledigt. 2013 schließlich erschien der Zuhälter wieder auf der Bildfläche und eröffnete das Le Squonk, ein sehr erfolgreiches Etablissement.

Corso landete in einer Garderobe. An zwei Wänden befanden sich Kleiderstangen mit Kostümen, an der dritten hingen mit Glühbirnen umrahmte Schminkspiegel. Es herrschte ein fröhliches Durcheinander: Auf den Tischen lagen Schminksachen herum, Rollkoffer, Schuhe und Accessoires waren über den Boden verstreut. Es sah aus wie auf einem Schlachtfeld.

Die meisten der Damen waren noch splitterfasernackt. In einer Ecke war eine stage kitten – das Äquivalent zu einem Balljungen auf einem Tennisplatz, außer dass sie BHs und Höschen einsammelte – damit beschäftigt, ihre Ausbeute auf Kleiderbügel zu hängen. Auf einem Hocker saß ein Stepptänzer mit schwarzer Haut im rosa Kostüm und schraubte Eisen unter seinen Schuhen fest.

»Wo ist Kaminski?«, sprach Corso den Schwarzen an.

Der Typ musterte ihn mit einem einzigen Blick. Er schien weder überrascht zu sein noch Angst vor diesem neuen Beamten zu haben. Seit Ninas Ermordung gaben sich die Bullen hier die Klinke in die Hand.

»Den Flur runter.«

Corso stieg über ein aufgeblasenes Sitzkissen in der Form eines Hamburgers, Kopfputze mit Federn, Satinkorsetts und Tahiti-Halsketten hinweg. Er dachte an seine eigene Kindheit, als er sich als Indiana Jones verkleidet oder vor dem Spiegel im Schlafsaal Bruce Lee imitiert hatte, und empfand mit einem Mal eine gewisse Zärtlichkeit für diese Mädchen, die ihre Nummern selbst kreierten, ihre Kleidung nähten und ihre Choreographie perfektionierten.

Corso trat ohne anzuklopfen ein. Auf einer Leiter stand ein Bühnenarbeiter, der eine Deckenleuchte reparierte. Kaminski überwachte die Aktion, als sei es der Bau der Brücke am Kwai, mit nacktem Oberkörper und in Drillichhosen, die Fäuste auf die Hüften gestemmt.

Das Gesicht unter seinem Legionärshaarschnitt war dürr und kantig. Er hatte einen ansprechenden Körper voller wie mit der Richtschnur gezogener, trainierter und einsatzbereiter Muskeln. Der berühmteste Lude der Hauptstadt glich einem dem Konflikt entflohenen Fallschirmjäger.

»Sieh einer an«, sagte er nach einem kurzen Blick auf Corso, »die Polente ist da.«

Corso bemerkte, dass er keine Schuhe trug und der Boden mit Kokosmatten ausgelegt war, die als Tatami-Ersatz durchgehen konnten.

»Du scheinst nicht überrascht, mich zu sehen.«

»In letzter Zeit habe ich genug Polizisten gesehen, um mir den Arsch bis zur Schnauze damit vollstopfen zu können.«

Corso zwang sich zu einem Lächeln.

»Ich wollte dir ein paar Fragen stellen.«

Ohne Vorwarnung nahm Kaminski die Zenkutsu-Dachi-Stellung ein, mit gebeugtem vorderem und gestrecktem hinterem Bein und geballten Fäusten.

»Hat es euch nicht gereicht, mich in Gewahrsam zu nehmen?«

Aufgrund von Kaminskis Strafregister war es Borneks erste Amtshandlung gewesen, den Mann zu verhaften. Ein weiterer Irrtum. Nach Überprüfung seines Alibis hatte der Polizist ihn einige Stunden später wieder freilassen müssen.

Kaminski drehte sich in Richtung des Bühnenarbeiters und vollführte einen Mawashi Geri, einen »drehenden Fußtritt«, den er nur Millimeter vor dem Mann stoppte. Der Techniker schien daran gewöhnt zu sein, denn er zuckte nicht einmal mit der Wimper.

»Ihr seid ungefähr zehnmal hier gewesen«, fuhr er fort. »Ihr habt meine Tänzerinnen befragt, mein Personal zu euch zitiert, meine Kunden genervt. Mein Name und der Name meiner Firma werden seit einer Woche durch die Scheiße gezerrt. Das ist nicht gut fürs Geschäft.«

»Quatsch. Seit Ninas Ermordung ist dein Laden voller denn je. Es gibt nichts Besseres als den Geschmack von Blut, um Kunden anzulocken.«

Kaminski breitete die Arme aus.

»Dann hast du ja endlich ein Motiv für mich gefunden!«

»Lass uns ernsthaft von Mann zu Mann reden.«

Der Zuhälter lachte.

»Mensch, Corso, was willst du von mir? Wir waren noch nie zusammen bei den Nutten, und wenn ich mich recht entsinne, hatten wir zuletzt Kontakt, als du mich 2009 in den Knast geschickt hast.«

Corso ging nicht auf die Provokation des Gangsters ein.

»Ich möchte, dass du mir Nina beschreibst. Ihre menschliche, intime Seite. Du hast ihr doch nahegestanden, oder?«

Kaminski brachte sich wieder in die Zenkutsu-Dachi-Position.

»Es war die angemessene Distanz zwischen einem Chef und seiner Angestellten.«

Corso musste an die Kellnerin denken, der Kaminski den Kiefer ausgerenkt hatte, und an die gesichtslose Tänzerin in der Rue Jean-Mermoz.

»Ihr habt nicht miteinander geschlafen?«

»Nina hat mit niemandem geschlafen.«

»Wie kam sie über die Runden?«

Kaminski drehte sich und vollführte einen Yoko Geri, den »Seitenkick«, bis zur Kniehöhe des Arbeiters, der noch mit seiner Leuchtleiste kämpfte.

»Ihre Lieblingsbeschäftigung war, nackt an weißen Sandstränden herumzulaufen.«

Corso hatte in der Akte gelesen, dass Sophie Sereys FKK-Anhängerin war. Nicht einmal ein Höschen trennte ihr Privatleben von ihrem künstlerischen Dasein.

»Keine Drogen oder Alkohol?«

»Rede ich vielleicht Chinesisch? Nina war so rein wie eine Thermalquelle.«

»Keine Nümmerchen mit Kunden?«

Der Zuhälter atmete tief ein und ging in die Shiko-Dachi-Stellung, Beine gebeugt, Füße im 45-Grad-Winkel, Hände auf den Knien – die Position der Sumoringer. Für einen Fünfzigjährigen war er geradezu in olympischer Form.

»Such nicht nach irgendwelcher Scheiße, Corso. Nina war ein Mädchen ohne Fehl und Tadel, ganz sicher. Sie bestand nur aus Freundlichkeit. Allein ihre Anwesenheit in diesem Laden hat unser Ansehen ein wenig verbessert. Vor drei Tagen war ihre Beerdigung. Nina hatte keine Familie, aber ganz ehrlich: Ich habe noch nie so viele Menschen auf einem Friedhof gesehen. Alles Freunde, Kollegen, Bewunderer.«

Corso hätte gerne an der Beisetzung teilgenommen und die Atmosphäre selbst in Augenschein genommen.

»Und außerdem war sie ein echter Profi!«, fuhr der Karateka fort. »Sie war eine der Besten in Frankreich. Schrieb ihre eigenen Drehbücher, erfand Haltungen und gewisse Ausdrücke sowie kleine Details. Himmelherrgott noch mal, ich hätte ihr eine Zukunft als Star vorausgesagt. Die neue Dita Von Teese!«

Kaminski übertrieb. Im Internet hatte Corso nur eine hübsche Blondine mit dem ausgefallenen Aussehen einer Stummfilmschauspielerin bei recht einfachen Choreographien gesehen.

Grundstellung. Doppelschritt, nicht gekreuzt. Okuri Ashi.

»Ein nettes Mädchen, das einfach dem Falschen begegnet ist.«

»Vielleicht hier bei dir.«

»Du verschwendest deine Zeit, Corso. Nichts ist sauberer als mein Etablissement und sein Publikum. Perverse findet man nur unter den sexuell Verklemmten. Es ist die Moral, die das Böse hervorruft, nicht umgekehrt. Das solltest du doch wissen, oder?«

Corso schluckte mit dem unangenehmen Gefühl, nackt dazustehen. Er hatte schon immer Spuren verwischt: Zwar war er steif wie ein Jansenist, kleidete sich aber auch mit fast vierzig Jahren wie ein Fan von Nirvana; trotz des in seiner Seele verwurzelten Flegelhaften war er Polizeibeamter geworden; als selbsternannter Christ besuchte er nie oder fast nie eine Kirche. Und was Sex betraf, so gefielen ihm ausschließlich ätherische Jungfrauen, aber nur, weil sie sich besser beschmutzen ließen. Wen wollte er täuschen? Sich selbst?

»Was ist mit deinen Freunden?«, hakte er nach. »Hast du keinen Kontakt mehr zu deinen Kumpels aus dem Knast? Oder zu Anhängern eher stürmischer Liebe?«

Kaminski vollführte einen Ura Mawashi Geri mit der Rückseite des Fußes und einen Tsumasaki Geri mit gestreckten Zehen. Corso war selbst Karatekämpfer gewesen und musste zugeben, dass der Lude die Technik einwandfrei beherrschte. Die Knie des Bühnenarbeiters begannen zu zittern.

»Du irrst dich schon wieder, Maricón. Der Mörder, den du suchst, hat nicht hinter Gittern gesessen und trägt kein Schild mit der Aufschrift ›Serienmörder‹. Er ist ein normaler Kerl, vollkommen unauffällig und ohne irgendwelche Geschichten.«

Corso war derselben Meinung. Die innere Gewalt, die den Mörder bei seiner Tat überwältigt hatte, stand zweifellos proportional der Ruhe entgegen, die er an der Oberfläche zeigte.

»Wie haben deine Mädchen reagiert?«

»Was glaubst du wohl? Wir mussten sie psychologisch betreuen lassen.«

Corso hätte beinahe aufgelacht.

»Aber immerhin arbeiten sie schon wieder«, fuhr der andere fort. »Aus Solidarität. Sie sind der Meinung, dass es das Beste ist, was man zu Ninas Gedenken tun kann.«

»Show must go on …«

Endlich schloss der Arbeiter die letzten Drähte an und befestigte die Deckenleuchte. Die roten Augen eines Skeletts leuchteten auf, das sein Dasein in einer Zimmerecke fristete und Kaminski als Sparringspartner dienen sollte.

Corso hatte sich lange genug hier herumgetrieben. Er hatte eine bedrückende Show gesehen und seine Zeit mit einem verrückten Karateka verschwendet. Der Zuhälter stank nach Schweiß und Beschränktheit, aber nicht nach Angst und schon gar nicht nach dem organisierten Wahnsinn, der den Mord an Nina Vice kennzeichnete. Corso war in der Tat zu der Überzeugung gelangt, dass der Mörder nicht zum Kreis um das Le Squonk gehörte, dann hätte Bornek ihn längst ausfindig gemacht. Sie hatten es mit einem externen Angreifer zu tun.

Während der Bühnenarbeiter von seiner Stehleiter stieg, verbeugte sich Kaminski zu einem formvollendeten Gruß. Der Techniker nickte kurz, packte seinen Werkzeugkasten und verschwand.

»Corso, jeder weiß, dass du ein guter Bulle bist«, flüsterte der Lude und angelte nach einem Stück Shit und Zigarettenpapier. »Finde den Bastard, der sie auf dem Gewissen hat, anstatt mich um diese unchristliche Zeit zu nerven.«

»Hebst du deinen Mawashi Geri für ihn auf?«

Kaminski leckte am Zigarettenpapier und zwinkerte ihm zu.

»Vielleicht verwahre ich ihn für dich …«

Corso hatte den schwarzen Gürtel im zweiten Dan gehabt, allerdings in seiner Jugend, die ihm heute wie die Jugend eines anderen erschien. Gegen Kaminski würde er keine zwei Minuten durchhalten.

»Mit dir nehme ich es auf, wann immer du willst«, antwortete er trotzdem, um nicht klein beigeben zu müssen.

Kaminski hatte seinen Joint fertig gedreht, zündete ihn an und vollführte einen weiteren Yoko Geri zum Gesicht des Beamten. Corso, der den Schlag nicht kommen sah, spürte, wie die Fußkante sein Kinn streifte.

Er schluckte mit trockenem Mund und versuchte zu lächeln.

»Lass mich mal ziehen.«

3

Corso bewohnte eine Zweizimmerwohnung in einem Gebäude aus den Sechzigerjahren in der Rue Cassini, deren Miete wegen der unverbaubaren Sicht nach unten korrigiert worden war: Der Blick ging auf die Blindmauer des Hôpital Cochin. Die Wohnung war nicht toll, aber der Beamte mochte das Viertel, das sich jenseits des Boulevard Arago zu öffnen schien und sich bis zum Parc Montsouris ausbreitete. Vor allem die Avenue René-Coty mit ihrer Rambla-Atmosphäre, ihren Platanen und ihren Künstlerateliers hatte es ihm angetan.

Corso ließ Jacke und Holster auf sein Sofa fallen und trat an den Tresen, der den Großteil der Küche ausmachte. Er öffnete den Kühlschrank und blickte auf das erstarrte Abbild seines Junggesellenlebens, darunter verfallene Lebensmittel, offene Konserven, Reste von Junkfood. Er nahm ein Bier heraus und setzte sich auf das Schlafsofa, das neben dem Schreibtisch sein einziges Möbelstück war. Nach der Trennung von Emiliya hatte er diese Zuflucht gefunden, sie aber gar nicht erst eingerichtet – bis auf das für Thaddée vorgesehene Zimmer, das er mit viel Hingabe renoviert hatte. Was den Rest betraf, so gefiel ihm dieses Provisorium, es erinnerte ihn an seinen Status als Ausgestoßener, als auf ewig der Heimat Verwiesener.

Corso kam von ganz unten, ebenso anonym geboren wie Nina Vice. Er war in Heimen und Pflegefamilien aufgewachsen und in seiner Jugend wie ein Hund herumgestreunt. Nie hatte er eine feste Anlaufstelle gehabt oder je gelernt, sich anzupassen. Er hatte sich als Dieb durchgeschlagen, drogensüchtig und asozial, ehe er buchstäblich in letzter Sekunde von Catherine Bompart gerettet worden war, die ihn unter ihre Fittiche nahm und ihm gestattete, das einzige zu erreichen, worauf er, außer auf seinen Sohn, wirklich stolz war: seine Karriere als Polizeibeamter.

Aber trotz seines Dienstausweises, seiner blitzsauberen Akte und einer extremen Härte, die ihm als Integrität ausgelegt wurde, wucherte das Unkraut weiter tief in seinem Herzen. Als verheirateter Beamter und Steuerzahler hatte er in den 2000er-Jahren versucht, sich ein gutbürgerliches Verhalten zu erkaufen, aber seine wahre Natur war im Galopp zurückgekehrt. Nach wenigen Jahren lebte er getrennt, war Außenseiter unter den Kollegen und wanderte wie ein Nomade durch sein eigenes Leben. Ein Heimatloser im Ödland.

Schon nach wenigen Schlucken Bier revoltierte sein Magen. Er stürzte zur Toilette und erbrach seine letzten Stunden – den Alkohol, den Joint und die Cellulite der Stripperinnen. Als Polizist hatte Corso eine Schwachstelle: Er konnte die Nacht nicht ertragen. Weder ihre Stunden noch ihre Gestalten. Das, was den braven Bürger zum Träumen und manche Intellektuelle zum Fantasieren brachte, war für ihn nur ein Pfuhl aus Dummheit und Lastern eines Rudels fauler Idioten. Ein fälschlicherweise zum Mythos erklärtes Universum, eine Welt der kleinen Händel und mit Trinken, Schwadronieren und Ficken vergeudeten Stunden. Nichts als Anmaßung.

Nach Mitternacht verspürte er einen unbändigen Wunsch nach Schlaf. Seine Beine schmerzten, und die Übelkeit wühlte in seinen Eingeweiden. Vielleicht hätte er besser zum Militär gehen und sich vom Klang des Horns wecken lassen sollen. Oder Sportlehrer werden sollen, um früh am Morgen im Laufschritt der Sonne entgegenzujoggen.

Als er seinen Kopf von der Klobrille hob, fühlte er sich besser. Er spritzte sich Wasser ins Gesicht, putzte die Zähne und setzte sich an seinen Schreibtisch. Mit einem Mal war er nicht mehr müde. Vor seinem Computer hatte er die Wahl zwischen zwei vollkommen verschiedenen Albträumen: Borneks Ermittlungsakte, deren sämtliche Dokumente er hatte einscannen lassen, oder die ersten Schriftsätze seines Scheidungsverfahrens. Er zog den Schrecken des Ersteren den Lügen des Letzteren vor.

Er begann mit den Bildern des Fundortes. Die Leiche wirkte im trüben Licht des regnerischen Tages sehr blass. Ihre Haltung war außergewöhnlich: Die Hände auf dem Rücken gefesselt, die Beine in Fötushaltung angezogen, der Kopf in einem fast unmöglichen Winkel nach hinten gebogen. Der Mörder hatte Handgelenke und Knöchel seines Opfers mit ihrem Slip gefesselt und sie anschließend mit ihrem BH erwürgt. Corsos erster, ziemlich absurder Gedanke drehte sich darum, sich über die extreme Reißfestigkeit dieser Unterwäsche der Marke Princesse tam.tam zu wundern.

Auf den ersten Blick schien es wie eine Vergewaltigung durch einen brutalen Kerl, der das verwendet hatte, was ihm gerade zwischen die Finger kam, um sein Opfer ruhigzustellen und zu töten. In Wirklichkeit allerdings waren die Dinge komplizierter. Zunächst einmal war die Frau nicht vergewaltigt worden. Man hatte weder die dafür typischen Verletzungen noch die geringste Spur von Sperma gefunden. Außerdem hatte der Killer den BH und das Höschen auf dem Rücken der Frau mit einem fachmännischen Knoten verbunden. Darüber hinaus gab es Grund zu der Annahme, dass er ihr die Schnitte im Gesicht beigebracht hatte, als sie noch lebte, und sich das Opfer selbst stranguliert hatte, indem es sich vor Schmerzen wand.

Die Verletzungen im Gesicht waren grauenhaft. Der Mörder hatte die Wangen mit seiner Waffe – einem Messer oder Cutter, auf jeden Fall einer sehr dünnen Klinge – so weit aufgeschnitten, dass der Mund bis zu den Ohren klaffte. Dann hatte er einen Stein tief in die Kehle geschoben, um den Mund offen zu halten. Das Ergebnis war ein schwarzer und unproportionierter Schrei, der an Edvard Munchs Bild erinnerte. Dazu kam ein weiteres entsetzliches Detail: Die Kapillaren der Augenlider und das Weiß der Augen waren durch den Überdruck geplatzt, was in einem gleichmäßig roten Blick mündete.

Beim Anblick der Fotos empfand Corso nichts. Wie die meisten Polizisten hatte seine Fähigkeit, sich über menschliche Gewalt zu empören, im Lauf der Jahre abgenommen. Er ging schlicht davon aus, dass sie es mit einem Ungeheuer erster Klasse zu tun hatten, das diesen Mord akribisch geplant hatte und vollkommen verrückt agierte, sobald es die Zügel seiner Grausamkeit schleifen ließ.

Corso blätterte noch einige Verhörprotokolle durch. Bornek hatte ohne Zweifel ganze Arbeit geleistet, nichts fehlte. Vielleicht hatte der Mörder Nina gekannt, vielleicht auch nicht. Vielleicht war er ihr schon zwanzig Jahre früher begegnet, vielleicht erst am Vorabend ihres Todes. Irgendwo in Zeit und Raum hatte er ihren Weg gekreuzt, und es war unmöglich, zu dem Auftauchen dieses Schattens und seinem mörderischen Blick zurückzukehren.

2 Uhr. Corso war immer noch nicht müde. Er holte sich ein weiteres Bier und beschloss, sich dem schlimmsten Albtraum zu stellen. Mit einem Klick öffnete er die Schriftstücke der Anwältin und studierte die Liste seiner Mängel, seiner Missetaten und seiner Versäumnisse. Darauf fand sich alles: Alkoholmissbrauch, häusliche Gewalt, häufige Abwesenheit, moralische Belästigung. Das Einzige, was Emiliya noch nicht gewagt hatte, war der Vorwurf, er hätte den gemeinsamen Sohn berührt. Aber im Notfall würde sie das nachreichen, daran zweifelte er nicht.

Alles war so dick aufgetragen, dass es unglaubwürdig schien, und er konnte nur hoffen, dass das Gericht nicht darauf hereinfiel. Heimtückisch war die Art und Weise, in der es Emiliya und ihrer Anwältin gelang, jeden seiner Charakterzüge einschließlich seiner Qualitäten ins Negative zu verdrehen. Er arbeitete fleißig? Dann war er ein ständig abwesender Vater. Er kümmerte sich um die Hausaufgaben seines Sohnes oder sorgte dafür, dass er Klavier übte? Dann war er ein fordernder, autoritärer Tyrann. Er versuchte, sich den Hobbys seines Sohnes zu widmen? Nur, um ihn von seiner Mutter fernzuhalten.

Als die Zeilen auf dem Bildschirm verwischten und zu elektrischen Drähten kurz vor dem Verglühen wurden, schloss er die Datei und konnte sich nur mit Mühe beherrschen, den Computer nicht gegen die Wand zu knallen.

Er musste einen Weg finden, seiner Wut freien Lauf zu lassen. Deshalb rief er Lambert an, den Leiter von Team 2 beim Drogendezernat.

»Lambert? Corso.«

»Alles klar, Kumpel?« Der andere lachte. »Ich dachte, ihr von der Kripo geht um zehn ins Bett.«

»Habt ihr heute Abend was?«

»Was geht dich das an? Bist du bei der Polizei?«

»Ich meine es ernst.«

Der Beamte lachte missmutig.

»Nur eine kleine Hausdurchsuchung.«

»Heiß?«

»Bei den Brüdern Zaraoui, Bruder. Drei Jahre haben wir darauf gewartet. Laut unserer Quelle haben sie eine brandneue Produktionseinheit mit Labor, hydraulischer Presse und allem Drum und Dran. Sehr schön und sehr heiß.«

»Wie viel?«

»Hundert Kilo Harz, ebenso viel Gras und ein ordentliches Paket reines Kokain.«

Corso pfiff anerkennend. Er hatte auf ein kleines Manöver zu seiner Aufheiterung gehofft, aber das entpuppte sich mit einem Mal zu einem groß angelegten Einsatz.

»Wo?«

»Picasso.«

Die Siedlung Pablo-Picasso in Nanterre stand ganz oben auf der Liste der rechtsfreien Zonen. Hier herrschten Bedrohung und Unsicherheit.

»Ich bin dabei.«

»Hallo, Bruder, wir sind das Drogendezernat. Das wird kein Kindergeburtstag.«

»Ich kann euch nützlich sein. Ich bin dort aufgewachsen.«

»Angeber! Warum willst du mitmachen?«

»Ich muss mich abreagieren.«

»Wir sind kein Ventil.«

»Was du nicht sagst.«

Doch plötzlich schien Lamberts Interesse geweckt.

»Probleme mit den Vorgesetzten?«

»Mit meiner Ex. Ihre Anwältin hat die ersten Scheidungsunterlagen geschickt.«

Der Beamte kicherte. Er klang wie ein Truthahn.

»Das nenne ich einen Fall von höherer Gewalt. Be my guest.«

4

Genau genommen gab es gar keine Siedlung Pablo-Picasso. Was so bezeichnet wurde, war ein Wohngebäudekomplex an der Avenue Pablo-Picasso in Nanterre. Die vom Architekten Émile Aillaud entworfenen hohen runden Türme zeigten auf ihren Fassaden farbige Muster, die an Wolken erinnerten, die Fenster hatten die Form von Wassertropfen. Doch der ansprechende Traum des Architekten hatte sich in einen Albtraum aus Elend und Kriminalität verwandelt.

Corso hatte seine Jugend dort verbracht und erinnerte sich an jedes Detail der Innenausstattung. In den Gemeinschaftsräumen waren die Türen farbig gestrichen und die Wände bunt verputzt. In den Wohnungen waren die Wände rund und die Böden mit Teppichen ausgelegt, die an sehr kurz gemähtes Gras erinnerten. Man hatte großzügige Räume geschaffen und viel Utopie investiert, doch die Bewohner hatten schon sehr bald alles beschädigt, verunreinigt und zerstört. Was schert uns die Flasche, Hauptsache, wir haben den Rausch.

Corso konnte die Türme vor dem indioblauen Hintergrund bereits vom Boulevard de la Défense aus sehen. 3:45 Uhr. Er war pünktlich. Lambert hatte ihm gesagt, dass das Drogendezernat die gerichtliche Erlaubnis für einen nächtlichen Einsatz erhalten hatte und sie um Punkt 4 Uhr zuschlagen würden.

Er verließ den Ringboulevard und fuhr an Geschäftsgebäuden mit klaren Linien aus Glas und Stahl vorbei, die es in seiner Jugend noch nicht gegeben hatte. Am ersten Kreisverkehr bemerkte er, dass die Party bereits begonnen hatte. Blaulichtblitze zuckten über die Basis der Türme. Detonationen zerrissen die Nacht. Polizeiautos rasten mit Höchstgeschwindigkeit und quietschenden Reifen an ihm vorbei.

Corso befestigte das Blaulicht auf dem Dach und schaltete das Funkgerät ein. Durch ein lautes Knistern dröhnte die Durchsage:

»TN5 an alle Patrouillen, ein Beamter am Boden. TN5 an alle Patrouillen, ich wiederhole: Beamter am Boden!«

Lambert konnte den Beginn des Einsatzes nicht vorverlegt haben. Waren sie von den Choufs, den Wachposten entdeckt worden? War das Team in eine Falle geraten? Es brauchte nicht viel, damit ein Informant die Seiten wechselte.

Am zweiten Kreisverkehr musste Corso voll in die Eisen steigen, weil in versetzten Reihen geparkte Transporter ihm den Weg versperrten. Alles, was in Nanterre eine Uniform trug, schien sich hier versammelt zu haben, Corso erkannte Kollegen aus den unterschiedlichsten Abteilungen. Ironischerweise befand sich nur ein paar hundert Meter entfernt in der Rue des Trois-Fontanot ein Nebengebäude des Innenministeriums.

Er parkte auf dem Bürgersteig und sprang aus seinem Auto. Kofferraum. Schusssichere Weste. Sig Sauer SP 2022. Mit der Waffe in der Hand lief er die Straße entlang der geparkten Autos hinauf, während er versuchte herauszufinden, was geschehen war. Die Schießerei fand am Fuß des vom Kreisverkehr aus zweiten Aillaud-Turms statt. Der Turm, in dem er gelebt hatte.

Als er auf die erste Ordonnanz traf, zeigte Corso seinen Dienstausweis.

»Was zum Teufel ist hier los?«, rief er.

»Brigadier Ménard. Polizeiwache Nanterre.«

»Ich habe dich etwas gefragt. Was ist hier los?«

»Erst zwei Eingreiftrupps. Wir erwarten noch drei weitere.«

Corso fragte sich, ob der Kerl sich über ihn lustig machte oder etwas geraucht hatte, doch dann begriff er. Er trat unmittelbar vor den jungen Mann.

»Nimm diese verdammten Dinger raus!«, schrie er ihm ins Ohr.

Der Polizist zuckte zusammen und nahm seine Gehörschutzstöpsel heraus.

»Entschuldigung«, stammelte er, »ich hatte sie ganz vergessen.« Er zitterte am ganzen Körper und hielt seine Waffe mit bebender Hand. »Was haben Sie gesagt?«

»Ich will wissen, was zum Teufel hier los ist!«

»Wir wissen es nicht. Sie schießen seit zehn Minuten …«

Corso lief mit kleinen Schritten weiter, die Waffe fest mit beiden Händen umklammert. Er konnte auf der beleuchteten Rampe nun mehrere Schützen ausmachen. Unterhalb des Turms zu seiner Rechten, hinter den gepflasterten Wällen, die in diesem Viertel anstelle von Grünflächen angelegt worden waren, feuerten zwei Polizisten in kugelsicheren Westen Schrotflinten ab.

Links, auf der anderen Straßenseite, hielt ein Absperrband Neugierige auf Abstand, obwohl sich niemand in die Nähe des Kampfgebiets wagte.

Hinter den Autos bemerkte Corso mehrere Polizisten. Er sah zwischen den Kämpfern unter den Straßenlaternen zudem eine große Frau stehen, mit Schleier und Djellaba.

»’Iibni! ’Iibni! ’Ayn hu? ’Ayn hu?«, schrie sie.

Er konnte genug Arabisch, um die Botschaft zu verstehen. »Mein Sohn! Mein Sohn! Wo ist er? Wo ist er?« Vor ihr kniete ein Polizist und versuchte, sie durch Ziehen am Kleid auf den Boden zu zwingen.

Corso rückte weiter vor bis zur Seite der Türme, wobei er mehrere bewaffnete Polizisten überholte, die blind drauflos schossen. Kugeln pfiffen durch die Luft wie die letzten bengalischen Feuer eines todbringenden Festes. Im Hintergrund ergänzte das Krächzen der Funkgeräte das Chaos.

Er suchte hinter einigen Müllcontainern Deckung – und entdeckte eine Leiche. Das Gesicht war weggeschossen, eine Blutlache verklebte die Rollen der Container und Müllsäcke auf dem Boden. Corso, ein Knie auf dem Boden, kümmerte das nicht. ’Iibni! ’Iibni! ’Ayn hu? ’Ayn hu? Vermutlich war dieser Sohn der Tote.

Er kletterte auf einen der gepflasterten Wälle, der ihn vom Schlachtfeld trennte. Zunächst sah er nichts als Blitze, die die Nacht zerrissen, bis er schließlich die Schuppen der riesigen Schlangenskulptur ausmachen konnte, die den Platz schmückte. Erst da entdeckte er ein verblüffendes Bild: Oberhalb der Parkbänke hing ein Mann an einem Laternenpfahl, den Kopf im rechten Winkel zum Mast.

Lambert und seine Männer hatten sich unter dem ovalen Eingang des Gebäudes verschanzt und schossen immer weiter. Sie trugen schwarze Kleidung und kugelsichere Westen, der einzige Farbklecks waren ihre roten Armbandagen.

Corso lief zu ihnen, doch noch bevor er sie begrüßte, sah er, dass sie halbautomatische HK G36 Sturmgewehre mit 5,56 mm Munition in den Händen hielten. Die Standardwaffe der NATO.

Lambert warf einen Blick über seine Schulter und lachte angespannt.

»Konntest du dir frei nehmen? Du wirst auf deine Kosten kommen.«

5

Wer ist der Erhängte?«, wollte Corso wissen, während er versuchte, den Bullen über die Schulter zu schauen.

»Unser Informant. Der Blödmann hat sich erwischen lassen, nachdem er uns den Tipp gegeben hatte. Er muss uns aber verpfiffen haben. Die Kerle haben uns erwartet.«

Im Licht der Eingangshalle konnte Corso seine Kollegen besser erkennen. Lambert war groß und blass, mit einer strohfarbigen Haarmähne und farblosen Augenbrauen. Seine Haut war vernarbt und seine Zähne faulig. Seine beiden Stellvertreter passten zusammen, denn der eine war vom Hals bis zu den Schläfen mit Mareros-Tattoos verziert, der andere hatte ein »tunesisches Lächeln«, eine Narbe, die sich vom Mundwinkel bis zu seinem Ohr erstreckte, als Andenken an Dealer, die er hinter Gitter gebracht hatte.

»Ich geb dir jetzt die Kurzversion«, kündigte Lambert an. »Hinter der Schlange befinden sich die Brüder Zaraoui samt Komplizen und schießen auf uns. Hinter denen wiederum, neben dem Turm im Hintergrund, haben sich die Freunde des Erhängten verschanzt und ballern ebenfalls. Von Zeit zu Zeit erinnern sich die ersten an die zweiten und brennen ihnen ein paar Kugeln auf den Pelz, ehe sie wieder auf uns losgehen. Dann wieder erinnern sich die im Hintergrund daran, dass auch Polizisten da sind und schicken uns ein paar Salven. Ein wahrlich flotter Dreier.«

Lamberts Heiterkeit hatte einen verzweifelten Unterton. Heute würde es wieder einmal Tote und Verwundete geben, aber nicht einmal einen Kaninchenfurz zugunsten der gerechten Sache.

»Ich habe den Funk abgehört«, sagte Corso. »Einer von uns liegt am Boden?«

»Nur eine oberflächliche Verletzung. Die Zaraouis hingegen haben einen Mann verloren, ein weiterer ist schwer getroffen. Mit ein bisschen Glück liegen hinter der Schlange ein oder zwei Leichen.«

»Wie sieht euer Plan aus?«

»Es gibt keinen Plan. Wir warten auf die Leute vom regionalen Einsatzkommando, die greifen an und verstreuen alle. Wenn wir unbeschadet hier rauskommen, danken wir der heiligen Rita von Cascia.«

»Was ist mit dem Labor?«

»Ein Satz mit X. Während wir alle hier wild rumballern, transportieren manche von denen die Ware längst unter dem Platz ab. Die Mistkerle verteidigen die Zufahrt zur Tiefgarage. Bis die Verstärkung hier ist, ist alles weg.«

Corso hatte eine Idee.

»Es gibt noch einen anderen Zugang.«

»Was?«

»Die Keller haben einen Zugang zur Tiefgarage.«

»Du irrst dich. Wir haben die Pläne hier, die Zugänge sind im Erdgeschoss.«

»Ich habe dir doch gesagt, dass ich hier mal gewohnt habe. Man kann über die Lüftungsschächte der Tiefgarage vordringen.«

Lamberts Blick flackerte zwischen Interesse und Zurückhaltung.

»Die Keller wurden zu einer Moschee umgebaut«, antwortete er. »Man kann nur noch von außen hinein.«

»Deine Leute sollen uns Deckung geben. Die Feuertür ist zehn Meter vor uns, wir müssen an der Wand entlangschleichen.«

Lambert entsicherte sein HK G36 und schrie:

»Habt ihr das gehört, Jungs? Heute Abend gibt es eine Party. Eintritt frei!«

Die Polizisten bezogen ihre Positionen. Auf das Signal ihres Teamleiters hin begannen sie zu schießen, während Lambert und Corso entlang der Vorderseite des Turms geduckt vorwärts schlichen. Als Corso zum Maul der Schlangenskulptur hinüberspähte, die sich mit ihren großen Steinschuppen aus den Platten des Vorplatzes erhob, dankte er Gott dafür, Kriminalbeamter zu sein und diese außergewöhnliche, durch den Tod elektrisierte Existenz erleben zu dürfen.

Lambert blieb stehen. Gleich würden sie die Deckung verlassen. Wieder gab er ein Signal, und sie legten die wenigen Meter zurück, die sie noch von der Feuertür trennten. Mosaiken zerplatzten, in der Dunkelheit suchten Kugeln nach den beiden Männern. Lambert öffnete die Tür zur Kellermoschee mit einem Fußtritt, und beide tauchten hindurch und schalteten ihre Taschenlampen ein. Niemand war zu sehen.

Früher hatte der Raum einmal als Garage für Zweiräder gedient. Corso hatte dort unzählige Nachmittage mit dem Herumschrauben an Mofas verbracht. Jetzt jedoch erschienen Teppiche im Strahl der Taschenlampen, an der Wand gerahmte Koranverse und die göttlichen Namen, außerdem die Mihrab aus Holz, welche die Richtung nach Mekka anzeigte.

Corso nahm sich ein paar Sekunden Zeit, um sich zu orientieren.

»Da entlang!«

Sie durchquerten den Raum schräg nach links bis zum Heizungsraum. Corso versuchte die Tür mit einem Tritt zu öffnen, hatte aber weniger Glück als Lambert, denn das Vorhängeschloss hielt. Der Drogen-Bulle schob ihn beiseite und feuerte einen Schuss auf den Stahlbügel, der sofort wie eine Patronenhülse explodierte. Schüsse in einer Moschee: Vom Sakrileg zur Entweihung.

Sie erreichten einen Verschlag mit einer ganzen Batterie an Knöpfen, Hebeln und Sicherungen. Zwei Meter über dem Boden schützte ein seitliches Gitter den Lüftungsschacht. Lambert kletterte auf die Armaturen und entfernte die Schrauben mit seinem Messer, einem finnischen Puukko, das der Beamte gern beim gemeinsamen Mittagessen im Restaurant präsentierte.

Das Gitter fiel herunter, und Lambert schlängelte sich samt seinem Gewehr in die mit Glaswolle ausgekleidete Röhre. Corso folgte ihm, doch er verspürte Unsicherheit. Hier war er noch nie gewesen, er wusste nicht einmal genau, ob der Schacht tatsächlich zur Tiefgarage führte. Nach wenigen Metern wurde die Dunkelheit bedrückend. Schwitzend überschlug Corso die zurückgelegte Wegstrecke – vermutlich hatten sie ungefähr die Hälfte des Weges zurückgelegt.

Plötzlich schrie Lambert auf. Corso bemerkte, dass sich die Hitze verändert hatte, sie war jetzt bissig und scharf wie ein Tier, das in seiner Höhle aufgeweckt worden war.

»Zurück! Sie haben Feuer gelegt!«

Corso legte den Rückwärtsgang ein, stieß sich mit den Ellenbogen ab und versuchte, mit den Knien eine ähnliche Bewegung zu machen. Rauch, Fasern und Rußpartikel drangen in seine Kehle. Die brennende Glaswolle würde sie in einem Mantel aus Feuer einhüllen.

»Zurück! Scheiße! ZURÜCK!«

In seiner Panik trat Lambert mit den Füßen. Corso bekam die Tritte ab, während er sich mühte, rückwärts zu kriechen wie ein Holzwurm in einem Loch. Endlich spürte er leeren Raum unter seinen Sohlen. Er schob noch einmal nach und stürzte in den Verschlag, in dem jetzt giftige Dämpfe waberten. Nur Sekundenbruchteile später fiel Lambert mit seinen eisenbeschlagenen Stiefeln auf ihn. Die beiden Männer fanden sich hustend und spuckend in einer 69er-Stellung wieder.

»Tür auf!«, keuchte Lambert. »Sonst krepieren wir!«

Mit dem Absatz stieß Corso die Holztür beiseite, und sie schleppten sich auf allen vieren aus dem Verschlag. Zusammengekauert und halb blind spuckten sie Wollfasern und schnappten nach Luft wie Ertrinkende, die im allerletzten Augenblick die Oberfläche erreicht hatten.

Lambert rappelte sich auf und packte Corso an der Jacke.

»Wir müssen hier raus, sonst verbrennen wir in dem Mist!«

Corso warf einen Blick in den Verschlag. Nirgendwo waren Flammen zu sehen. Er brauchte noch einen Moment, ehe er begriff, warum: Die Glaswolle war feuerfest, und der Rauch in der Röhre stammte von einer Brandbombe am anderen Ende.

»Und jetzt?«, fragte Lambert, nachdem Corso ihm seine Überlegung mitgeteilt hatte.

»Wir gehen wieder rein. Die Arschlöcher denken vermutlich, dass wir verbrannt oder abgehauen sind. Jetzt kriegen wir sie!«

Lambert kauerte mit den Händen auf den Knien und hustete immer noch.

»Ich hatte vergessen, dass du krank bist …«

Corso hievte sich bereits wieder in den Schacht. Er musste nur die Luft anhalten, blind vorankriechen und am anderen Ende rauskommen. Die Dealer würden glauben, sie hätten es mit Untoten zu tun, und sich ohne Widerstand ergeben. Zumindest betete er sich das vor, während er mit geschlossenen Augen und angehaltenem Atem vorwärts robbte. Alles, was er hören konnte, war das Geräusch von Lamberts Schuhen an der verkohlten Glaswolle und den verzinkten Stahlwänden – Monsieur Drogendezernat kroch tatsächlich hinter ihm her.

Schon bald konnte er das Ende der Röhre ausmachen. Die Dealer hatten das Gitter abgeschraubt, um ihre Bombe hineinzuwerfen. Die Decke der Tiefgarage mit ihren versifften Neonröhren kam in Sicht.

Corso robbte weiter, bis er schließlich aus der Vogelperspektive einen Überblick über die Situation hatte: Ein Mann schleppte einen Block Cannabisharz von der Größe eines Umzugskartons durch die Garage. Zwei andere schoben eine hydraulische Presse. Ein vierter trug Zehn-Liter-Kanister mit irgendeiner chemischen Lösung.

Mit tränenden Augen und der Lunge voller Kohlendioxid versuchte Corso zu beurteilen, ob er und Lambert eine Chance hatten, die Männer unschädlich zu machen. Sie hatten einen Vorteil: Die Mistkerle hatten die Hände voll. Die Schwachstelle war, dass es einige Sekunden dauern würde, dieses Loch zwei Meter über dem Boden zu verlassen. Das würde den Typen Zeit geben, ihre Waffen zu ziehen.

»Rutsch weiter, verdammt,« flüsterte Lambert, der hinter ihm nach Luft rang.

Corso schob seine Waffe in den Gürtel, packte die Außenkanten der Röhre und kroch so gut es eben ging hinaus. Mit dem Kopf voraus ließ er sich an der Wand entlanggleiten, während seine Beine ebenfalls den Schacht verließen. Schließlich schlug er krachend auf der Motorhaube eines Autos auf. Beim Sturz verlor er seine Waffe.

Er rollte auf dem Boden aus, rannte auf allen vieren zu seiner Waffe und nahm die Dealer aufs Geratewohl ins Visier. Wie gehofft hatten die Kerle ein paar Sekunden gebraucht, um die Überraschung zu verdauen.

»Keine Bewegung!«, rief er.

Der erste Gangster erstarrte mitten in der Bewegung in der Mitte der Tiefgarage, ohne seinen Cannabis-Block loszulassen. Zwei andere hatten die hydraulische Presse abgesetzt und standen jetzt neben einem Mercedes-Minivan mit geöffneter Heckklappe. Der Letzte ließ seine Plastikkanister fallen.

Und dann geschah alles gleichzeitig. Corso sah, wie einer der Jungs neben dem Mercedes seine Hand hinten in das Fahrzeug schob, der Kanisterträger weglief und der Cannabis-Mann zurückwich, während Lambert nebst Gewehr hinter ihm auf genau das Auto krachte, das auch ihm schon als Sprungbrett gedient hatte.

Corso schoss in Richtung des Duos, das er im Moment für am gefährlichsten hielt, und traf den Kerl, der im Minivan herumtastete, dann zielte er auf den Cannabis-Block des ersten, der vom Aufprall nach hinten geschleudert wurde. Seit 2012 benutzte die Polizei neuartige Hohlspitzgeschosse, die im Ziel aufpilzten, ohne es zu durchbohren, und Corso wusste, was er tat.

Dann herrschte Ruhe. Der Verletzte war in den Fond des Mercedes gefallen. Sein Komplize hatte die Hände gehoben. Der Cannabis-Träger war auf den Allerwertesten gekracht und wurde von seinem Vorbau aus braunem Rauschgift gegen ein Auto gepresst. Der letzte Gauner war verschwunden.

Corso, der noch immer seine Waffe auf die Dealer richtete, rief Lambert zu:

»Leg ihnen Handschellen an!«

Keine Antwort. Die Atmosphäre war angespannt und sendete tausend Warnsignale. Hatte Lambert bei seinem Sturz das Bewusstsein verloren? Corso warf einen kurzen Blick nach hinten und sah, dass sein Begleiter auf dem Boden kniete und mit einem vermummten Schläger kämpfte, der aus dem Nichts aufgetaucht war. Der Kapuzenmann verdrehte mit beiden Händen die Arme des Beamten in dem Versuch, Lamberts Gewehr auf ihn zu richten, er hatte bereits den Finger am Abzug. Corso sprang zwei Schritte zur Seite, um einen Winkel zu finden, in dem die Kugel nicht den Kopf des Mistkerls durchdringen und anschließend seinen Kollegen töten würde, neue Munition hin oder her.

Als er richtig stand, sah er, dass sich der Finger bewegte. Der Mund des Kapuzenmanns war verzerrt, denn Lambert wehrte sich heftig. Corso drückte ab. Seine Kugel traf den Hinterkopf des Angreifers, Knochen und Gehirn spritzten auf. Corso stürzte so schnell los, dass er noch den Rauch seines Schusses sehen konnte, der aus dem Mund des Dealers am Boden drang.

Lambert hatte sich sofort wieder unter Kontrolle und richtete sein HK G36 auf die anderen, die sich wundersamerweise nicht bewegt hatten. Corso trat ein paar Schritte zurück und lehnte sich für einen Moment an ein Auto, seine Beine zitterten. Lambert war bereits dabei, den beiden Verbrechern Handschellen anzulegen.

Dann näherte sich Corso, von einer Ahnung getrieben, vorsichtig der V-Klasse. Ein Blick genügte, um ihm klarzumachen, dass er in der Tat keine seiner Fähigkeiten als Schütze eingebüßt hatte. Seine Kugel hatte den halben Bauch des Dealers weggerissen, das Fleisch verbrannt und lebenswichtige Organe zerstört. Beim Gedanken an seine Erfolgsquote an diesem Abend wurde Corso übel.

Lambert versetzte ihm einen kräftigen Schlag auf den Rücken.

»Wieder zwei Idioten, die deiner Ex das Leben gerettet haben!«

6

Neun Uhr. Briefing im Polizeipräsidium am Quai des Orfèvres 36, von Insidern nur »das 36« genannt.

Corso hatte von fünf bis acht vollständig bekleidet geschlafen, dann geduscht, sich rasiert, frische Klamotten angezogen und dabei versucht, nicht an das Blutbad in der Nacht zuvor zu denken.

Mit Lambert hatte er vereinbart, seine Anwesenheit am Einsatzort nicht zu erwähnen. Der Teamleiter würde die Verantwortung für den Einsatz übernehmen, sowohl für den Erfolg als auch für die Leichen, von denen eine Mehdi Zaraoui höchstpersönlich war, während Corso zu seinen Ermittlungen und seinem Papierkram zurückkehrte. Die Jungs vom Einsatzkommando hatten die Schützen hinter der Schlangenskulptur schließlich überwältigen können, nur den Freunden des Erhängten war die Flucht gelungen. Die Bilanz: ein zerstörtes Geheimlabor, eine Handvoll verhafteter Drogendealer, drei Tote und zwei Verletzte bei den Bösen, einer davon der Bandenchef, und ein Verletzter bei den Polizisten. Prestigegewinn für Lambert. Und für Corso, wenn man so wollte, eine Katharsis.

Zwei Männer innerhalb einer Nacht zu töten war keine Kleinigkeit. Seine sechste und siebte Leiche in achtzehn Dienstjahren. Normalerweise folgte er einem Ritual, um ein solches Trauma zu verarbeiten: Er besuchte die Kirche Saint-Jacques-du-Haut-Pas, das erste Gotteshaus, das er nach seiner Befreiung aus der Vorstadt in Paris entdeckt hatte, und bat Gott um Vergebung.

Trotz seiner Arbeit bei der Polizei, und obwohl er sich der Allgegenwart des Bösen in jedem Menschen bewusst war, verfolgte er stets seine optimistische Vision des Kosmos, einschließlich einer fünften fundamentalen Kraft: der Liebe. Und genau deshalb setzte er sich nach einem Blutvergießen in der Stille der nach Weihrauch duftenden Pfarrkirche stets einem Exorzismus an sich selbst aus. Versuchte mit Gebeten und Bitten die Dämonen zu ersticken, von denen er besessen war und die wieder einmal erwacht waren …

An diesem Morgen jedoch blieb keine Zeit für die Zeremonie. Um 8:45 Uhr fuhr er los und preschte mit Martinshorn in Richtung Seine. Was ihn am meisten beschäftigte, war seine Leichtsinnigkeit. Als Vater eines Jungen von neun Jahren, dem all seine Liebe galt und um den er erbittert kämpfte, hatte er sich wieder einmal unnötig einer Gefahr ausgesetzt.

Dritter Stock, Kaffeemaschine. In seinem Mund spürte er nur das Brennen des geschmacklosen Gebräus, ohne jegliches Aroma. Aber mehr brauchte er im Moment nicht.

Die Mitglieder seines Teams saßen bereits im Besprechungsraum. Seit vier Jahren leitete er ein effizientes, eng zusammengeschweißtes Team, dessen zerbrechliches Gleichgewicht ihm bisweilen schlaflose Nächte bereitete. Wenn nur ein Element daraus verschwand, würde die Alchemie brechen.

Da war Barbara Chaumette alias »Barbie«. Weder ihr Vorname, mit dem Corso eine langgliedrige, schmachtende Frau assoziierte, noch ihr Spitzname passten zu ihr. Seine Stellvertreterin war eine kleine Frau von dreißig Jahren, mit kastanienbraunem Haar und einem nichtssagenden Gesichtsausdruck. Sie war spindeldürr, trug schwarze Wollkleider, Strumpfhosen mit Löchern und ausgetretene Stan Smith’s. Sie redete wie ein Wasserfall, bewegte sich ruckartig und verströmte Nervosität und Unzufriedenheit.

Sie hatte Politikwissenschaft studiert und schon fast die Nationale Hochschule für Verwaltung geentert, als sie im Alter von sechsundzwanzig Jahren plötzlich den Kurs wechselte und sich auf der Polizeischule einschrieb – allerdings nicht bei der Eliteuni École nationale supérieure de la police in Saint-Cyr-au-Mont-d’Or, die Beamte für die höhere Laufbahn ausbildete, sondern bei der einfachen Polizistenfabrik in Cannes-Écluse. Niemand verstand, warum. Auch ihr familiärer Hintergrund und ihr Privatleben waren niemandem bekannt. Falls sie einen Freund hatte, wurde er bemitleidet, denn sie war so stabil wie eine Maraca. Im Augenblick hatte sie noch den Dienstgrad eines Hauptkommissars inne, aber Corso sah sie in naher Zukunft als Kommandant. Er hatte noch nie eine Beamtin mit derartig analytischem Verstand und Erinnerungsvermögen erlebt. Telefonverbindungen oder Kontoauszüge bearbeitete sie so akribisch wie ein Decoder.

Nathalie Vallon, achtundvierzig, war das genaue Gegenteil. Viele Jahre Bodybuilding hatten ihr den aus der Jugendsprache Verlan entliehenen Spitznamen »Stokos«, kräftig, eingebracht. Oder einfach nur »Stock«, wenn man es eilig hatte. Dank ihrer imposanten Statur vermuteten viele Kollegen, sie sei lesbisch, obwohl sie seit zwanzig Jahren mit einem Lehrer verheiratet und Mutter von zwei intelligenten Kindern war.

Immer trug sie ein schwarzes, wenig elegantes Kostüm, eine weiße Bluse und feste Männerschuhe. Sie war eine echte Soldatin der Mordkommission, irgendetwas zwischen Beamtin und Bestatterin.

Weil sie nicht sehr ehrgeizig war, hatte sie nie einen höheren Rang angestrebt, geschweige denn erreicht. Ihre einzig wirkliche Leidenschaft war die Flasche. Corso musste sie regelmäßig an die Grundsätze seines Teams erinnern: weder Alkohol noch Drogen im Dienst, keine schweinischen Witze, und die Dienstwaffe gehörte in eine Schublade, bitte.

Menschlich war Stock unschlagbar. Lächelnd, höflich und beruhigend gelang es ihr wie keinem anderen, das Vertrauen von Zeugen und auch von Verdächtigen zu gewinnen. Nathalies Verhöre waren immer erfolgreicher als die jedes anderen Beamten.

Die Nummer drei des Teams, und der, den Corso am wenigsten leiden konnte, hieß Ludovic Landremer. Der in Toulouse geborene Landremer war fünfunddreißig Jahre alt, Diplom-Volkswirt und dank seiner brillanten Intelligenz problemlos die Karriereleiter hinaufgestiegen. In seinem taillierten Anzug und den spitzen Schuhen sah er aus wie ein Autohändler. Er hatte krauses rotes Haar und eine einzige wahre Leidenschaft: Rugby. Wurde er nach seiner Herkunft gefragt, antwortete er: »Rugbyland«.

Seine geheime Schwachstelle waren Dating-Plattformen. Er war Single und lebte nur für seine Pläne nach Feierabend. Sein Motto lautete: »Eine Frau pro Abend, ein Spiel pro Wochenende.« Auf seinem Computer hatte man bestimmte Seiten sperren müssen, und sein privates Handy musste in der Garderobe bleiben.

Sein Trumpf bei der Polizeiarbeit war seine Geduld. Er konnte ganze Gebäude durchsuchen, an jeder Tür klingeln und tausendmal dieselben Fragen stellen, ohne unter Langeweile oder Konzentrationsproblemen zu leiden. »Ludo das Schleppnetz«, wie die anderen ihn nannten, wusste das entscheidende Element in seinen Maschen einzufangen: die eine kleine Unstimmigkeit, die bei einer Ermittlung die Wende herbeiführen konnte.

Und schließlich war da noch Krishna Valier. Seine coolen Hippie-Eltern, die ihm den Namen einer hinduistischen Gottheit gegeben hatten, waren sicher verzweifelt gewesen, als ihnen aufging, dass aus ihrem Sprössling nicht nur ein Polizist, sondern vor allem ein Beamter geworden war. Ein Prozesshansel, der seine Tage in einem Einzelbüro verbrachte – dem »Verlies«, wie die anderen es nannten –, wo er Protokolle von Anhörungen, Berichte und Notizen verfasste. Als ausgebildeter Jurist war er der Einzige, der die Sprache der Richter beherrschte und administrativen Ärger auflösen konnte. Er war es auch, der die Archive verwaltete und sich mit der der gigantischen Datenbank für Schwerverbrechen mit Namen Salvac beschäftigte, die bei jedem Fall durch das Ausfüllen eines endlosen Fragebogens gefüttert werden musste.

Die anderen waren keine Hindus, aber sie verehrten ihren persönlichen Krishna, weil er es ihnen gestattete, mehr Zeit draußen als am Computer sitzend zu verbringen.

Krishnas Aussehen passte zu seinem Beruf, aber vielleicht war es auch umgekehrt. Er war klein und zerbrechlich, trotz seiner weniger als fünfunddreißig Jahre vollkommen kahl und überließ es seiner Brille, seinem Gesicht Ausdruck zu verleihen, denn er trug einen eckigen Schildpattrahmen mit prestigeträchtigem Markennamen, der ihn wie ein Legomännchen aussehen ließ. Niemand wusste etwas über sein Privatleben, aber mit diesem Gesicht passte es vermutlich auf einen Post-it.

Er nahm weder an Sitzungen teil, noch ermittelte er vor Ort oder verließ jemals sein Büro, aber er war ein wichtiger Teil des Teams. Seine Geduld war grenzenlos, vor allem gegenüber seinen Kollegen, die, anstatt an seine Tür zu klopfen, hartnäckig »Hare Krishna« riefen.

»Also«, begann Corso und klatschte in die Hände, »habt ihr die laufenden Fälle geregelt?«

»Ich bin dabei, den Fall Martel abzuschließen«, berichtete Barbie. »Ludo hat das letzte Verhörprotokoll in der Sache mit der koreanischen Werkstatt geschrieben. Wir warten nur noch auf das Gutachten der Garage in Aubervilliers. Die Zeugenvernehmung zur Lynchjustiz von Château-Rouge haben wir erst einmal hintenan gestellt.«

Das Wort »Lynchjustiz« erinnerte Corso an den Erhängten der vergangenen Nacht und seine eigenen Verbrechen. Bei dem Gedanken daran, dass sein Team den Auftrag erhalten könnte, die Toten des Pablo-Picasso-Einsatzes zu zählen, kam er ins Schwitzen. Aber vermutlich würde Lambert ihn da raushalten und die Sache mit der örtlichen Polizeidienststelle regeln, schließlich sollte jeder vor seiner eigenen Tür kehren.

»Dann können wir uns also voll und ganz dem Fall Le Squonk widmen?«

»Und was genau soll das?«, erkundigte sich Stock, die sich nie Notizen machte und folglich auch jetzt die Hände in den Taschen hatte.

»Das habe ich euch gestern schon gesagt: Uns wurde der Fall zugeteilt in der Hoffnung, dass wir die Dinge vorantreiben können.«

»Wir haben alle die Akte gelesen«, sagte Ludo. »Bornek und seine Leute haben gute Arbeit geleistet.«

»Aber wir können es besser«, versicherte Corso.

Dem folgte zustimmendes Schweigen, genährt aus Stolz, dem Hauptnerv aller Kriege.

»Wir widmen uns diesem Fall zu fünfhundert Prozent, und zwar Tag und Nacht, zumindest bis Montag. Wenn wir nichts finden, endet an diesem Tag die gesetzliche Frist für Ermittlungen mit freier Hand. Danach wird ein Untersuchungsrichter ernannt, und das Soufflé fällt in sich zusammen.«

Nathalie lächelte. »Wir bestreiten also das letzte Ehrengefecht?«

»Genau. Ihr habt die Fotos des Opfers gesehen. Wir werden nicht zulassen, dass dieses Arschloch von Mörder sich in Erinnerung an seine Heldentaten einen runterholt oder vielleicht sogar noch mal zuschlägt.«

Alle nickten. Corso heizte ihnen weiter ein.

»Also, wir fangen mit den Ermittlungen noch mal bei null an und weiten sie aus. Das andere Team hat die Geschäftsleute in Ninas Straße befragt? Wir quetschen die im ganzen Viertel aus. Das Team hat die Telefonnachweise des Vormonats analysiert? Wir sichten das letzte Vierteljahr. Und so weiter.«

Ludo blickte von seinem Computer auf.

»Nach welcher Art von Profil suchen wir?«

»Alles weist darauf hin, dass der Mord vorsätzlich begangen wurde. Der Mörder kannte also sein Opfer, entweder von Nahem oder aus der Ferne.«

»Ja klar, und eine Viertelstunde vor ihrem Tod lebte Nina noch.«

Corso ging nicht auf den Scherz ein. »Wir müssen alle ins Visier nehmen, die sie kannten und ihr nahestanden, aber auch diejenigen, denen sie bei einer Aufführung oder einem Lehrgang begegnet ist.«

»Das dürften ziemlich viele sein.«

»Deshalb müssen wir bei ihrem Terminkalender ansetzen. Irgendein Schwein hatte es auf sie abgesehen, und zwar auf die schlimmstmögliche Weise. Der Typ muss irgendwo sein, wir müssen ihn nur finden. Wir spulen den Film rückwärts ab und halten jedes einzelne Bild an.«

Die Kollegen tauschten Blicke aus. Diese Brandrede war zwar sehr nett, aber arbeitstechnisch würde sie Hunderte Stunden nerviger und langwieriger Ermittlungen nach sich ziehen. Und wahrscheinlich für nichts und wieder nichts.

»Wer kümmert sich um was?«, fragte Barbie, nicht sonderlich begeistert.

»Du kümmerst dich um die Telefonverbindungen, ihre persönlichen Konten und ihren Computer. Du durchkämmst jede E-Mail, jeden Kontakt usw. Erkundige dich bei den Nerds des entsprechenden Dezernats, ob es eine Möglichkeit gibt, gelöschte Daten wiederherzustellen.«

»Ihr Handy war nicht bei den Beweisstücken.«

Corso nickte und nutzte die Gelegenheit, eine Sache noch einmal zu betonen.

»Die Leiche war nackt. Weder ihre Tasche noch irgendwelche persönlichen Gegenstände wurden gefunden. Vielleicht hat das nichts zu bedeuten, vielleicht ist es aber auch ein Zeichen, dass der Mörder nicht wollte, dass wir auf ihre Notizen zugreifen. Deshalb sind die Telefonverbindungen so wichtig.«

»Das haben Borneks Leute doch alles schon gemacht.«

»Spreche ich Chinesisch, oder was?«, fragte Corso jetzt lauter. »Wenn sie nichts gefunden haben, dann vielleicht, weil das gesuchte Sandkorn älter ist oder kleiner. Ruf die Telefongesellschaft an. Übertriff dich selbst.«

Dann wandte er sich an Nathalie, die am Türrahmen lehnte.

»Du kümmerst dich um die Ladenbesitzer, Nachbarn und Bekannten. Dann erweiterst du den Kreis, Nina war FKK-Anhängerin, Yoga-Fan, diese Art von Schwachsinn. Wer weiß? Vielleicht ist unser Mörder Nudist.«

Der Scherz ging in die Hose. Aber das machte nichts. Ein Briefing wurde nach der Energie beurteilt, die man seinen Truppen eintrichtern konnte.